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Farhad Khosrokhavar

Radikalisierung

Farhad Khosrokhavar, geboren in Teheran, französisch-iranischer Soziologe, ist Studienleiter an der EHESS (École des Hautes Études en Sciences Sociales) und Forscher am Centre d’analyse et d’intervention sociologique (CADIS, EHESS-CNRS).

Seine Forschung konzentriert sich auf die Soziologie des modernen Iran, die sozialen und anthropologischen Probleme des Islam in Frankreich sowie die Philosophie der Sozialwissenschaften.

 

Farhad Khosrokhavar

Radikalisierung

Aus dem Französischen übersetzt
von Stefan Lorenzer

CEP Europäische Verlagsanstalt

Inhalt

Vorwort von Claus Leggewie

Einleitung: Wer radikalisiert sich?

Bedeutung und Tragweite des Begriffs der Radikalisierung

Ein Minderheitenphänomen

Der Begriff der Radikalisierung in den Sozialwissenschaften

Geschichte der Radikalisierung

Die „Assassinen“ – Anfänge der Radikalisierung

Der anarchistische Terror im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert

Die linksextreme Gewalt der 1970er und 1980er Jahre: Rote Brigaden, Rote Armee Fraktion und Action directe

Die Entwicklungsphasen von al-Qaida und das Wiedererstarken des Dschihadismus mit den arabischen Revolutionen

Islamistische Radikalisierung in der muslimischen Welt

Schiitische und sunnitische Radikalisierung: Unterschiede und Gemeinsamkeiten

Radikalisierte Frauen – eine extreme Minderheit

Die dschihadistische Intelligenz und ihre Globalisierung

Das Netz

Wer finanziert die Radikalisierung?

Orte der Radikalisierung

Die zweideutige Rolle der Frustration im Prozess der Radikalisierung

Das europäische Modell der Radikalisierung

White Trash

Der radikale Islamist

Der viktimisierte Jugendliche

Der Wille, in der Mittelschicht aufzugehen, und seine Folgen für die Ausgeschlossenen

Die Kriminalität, der Hass und seine Sakralisierung

Der sektiererische Weg

Die heilige Gewalt und der Status des negativen Helden

Von den alten zu den neuen Radikalisierten

Der Typus des introvertierten Dschihadisten

Die Selbstradikalisierung des Einzelnen

Vom Präradikalisierten zum Hyperradikalisierten

Radikalisierungstypen

Die Rolle des Fundamentalismus im Prozess der Radikalisierung

Der Salafismus: Eine neue Ausprägung des Sektierertums im Islam

Radikalisierung im Gefängnis

Frustration im Gefängnis

Die muslimischen Gefängnisgeistlichen und ihre schwierige Mittlerrolle

Die Radikalisierung in der Haft und ihre Akteure

Ein neuer Radikalismus auf dem Vormarsch

Radikalisierung versus Deradikalisierung

Weiblicher Dschihadismus

Schlusswort

Literatur

Claus Leggewie

Vorwort zu Radikalisierung von Farhad Khosrokhavar

Die Kulturwissenschaften sind entstanden und haben ihre besten Momente in jenen Zeiten, in denen die Welt aus den Fugen zu geraten scheint und sich Phänomene zeigen, die schwer in jenen „sinnhaften Aufbau der sozialen Welt“ (Alfred Schütz) passen, den man „normalerweise“ für garantiert hält. Eine solche Irritation produziert seit Jahrzehnten der Terror, der zuletzt von islamistischen Gruppen ausgeht. Woher kommt die mörderische Entschlossenheit, wahllos Wehrlose abzuschlachten? Wie kann es sein, dass jemand sein eigenes Leben dafür opfert? Wie ist es möglich, dass sich säkular-agnostische Menschen zu einer Spielart von Religion bekehren, die den barbarischen Dschihad zum Markenkern erhoben hat? Warum lassen sich Konvertiten als Selbstmord-­attentäter verheizen, und warum sind unter ihnen junge Frauen, die sich einem brutalen Patriarchat unterwerfen müssen? Warum verlassen junge Leute die westliche Konsumkultur, warum schlagen muslimische Einwanderer diese so radikal aus?

Über solche Fragen wird auf Podien und in Talkshows spekuliert, akademische Kreise werfen ihre Ableitungsmaschine an, um irritierende Anomien sozialpsychologisch und sozialstrukturell auf nachvollziehbare Ursachen zurückzuführen. Da das oft zu unzulässigen Generalisierungen oder hilflosen Gemeinplätzen führt, ist die genaue Beschreibung eines Einzelfalls gegeben. Denn in Hunderten von Fällen haben gleiche oder ähnliche Voraussetzungen alles andere als Terrorismus produziert. Beweggründe und Wirkungen des von Dschihadisten ausgelösten Schreckens kann man auch (und manchmal besonders gut) verstehen, wenn man seinen subjektiven, also je individuellen und inkommensurablen Bedingungen nachgeht. Das ist keine kulturwissenschaftliche Fingerübung, sondern die methodische Beobachtung von Gegnern, ja erklärten Feinden, die mit ihren Mordtaten ganze Gesellschaften aus dem Gleichgewicht bringen wollen.

Farhad Khosrokhavar unternimmt diesen Versuch. Der 1948 im Iran geborene und seit Ende der 1960er Jahre in Frankreich tätige Soziologe ist Studiendirektor des von Alain Touraine initiierten Centre d’Analyse et d’Intervention Sociologiques an der renommierten Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris und hat schon diverse Studien über die (unter anderem dschihadistische) Radikalisierung junger Leute erarbeitet. Zugute kommen ihm dabei zum einen seine philosophische Ausbildung als an Husserl und Heidegger geschulter Phänomenologe und zum anderen Erfahrungen, die er bei einem Intermezzo im Iran der Islamischen Revolution gemacht hat. Aus seinen Feldbeobachtungen und Fallstudien in Frankreich ergibt sich eine Wirkungskette, die im depravierten Leben in den Vorstädten startet und über die jugendliche Kleinkriminalität (Schwarzfahren, Drogenhandel, Stehlen) und das Gefängnis in den Kriegstourismus und nach der Rückkehr zum Dschihad im Westen führt. Wie gesagt: bei einigen, und nicht notwendigerweise. Wut und Frustration sind in der Banlieue weit verbreitet, aber die bis zum Dschihad führende Radikalisierung ist ein “ultraminoritäres Phänomen”.

Fehlt hier etwas? Nicht unbedingt muss Religion, genauer: eine radikal einseitige Auslegung des Islam als Treiber individueller und kollektiver Radikalisierung hinzukommen – der Weg in den Terror kann, muss aber nicht über die Moschee führen. Bei immer mehr „ausländischen Kämpfern“ und Attentätern stellt man nur ganz oberflächliche Berührungen mit der Religion fest; der Islam beeindruckt eher eine nicht unbeträchtliche Zahl überangepasster Konvertiten.

Was für die meisten Täter hingegen zutrifft, ist eine soziale Isolation und Frustration, deren Ursprungsort oft eine dysfunktionale Familie ist. Eine ultramilitante Aggressivität ist für viele Kämpfer der Weg, endlich Bedeutung zu erlangen, ihrem Leben einen Sinn zu geben, sich in der Welt bemerkbar zu machen. Auf diese Weise, zeigt Farhad Khosrokhavar, imagnieren sie einen sozialen Aufstieg, den ihnen die alteingesessene, aber auch die eingewanderte Mittelschicht verweigert. Bei allen Unterschieden sind sie damit den Anhängern des Front National ähnlich, die sich ebenso abgehängt und fremd fühlen.

Revanchegelüste und Ressentiments spielen dabei eine enorme Rolle, und genau hier tritt die funktionale Rolle des religiösen Universums auf den Plan, das die weltumspannende islamische Umma verheißt. Mit einem Mal sind alle Unklarheiten und Unreinheiten des modernen Lebens und der eigenen Vergangenheit beseitigt, mit einem Mal bietet sich eine trennscharf strukturierte Welt, die Gut und Böse scheidet. Obwohl die Mudschahedin unsagbar Unrechtes vorhaben und ausführen, fühlen sie sich als Gerechte, die den Terror der anderen rächen, ob das arabische Diktatoren wie Assad sind oder die amerikanischen Invasoren im Irak.

Khosrokhavar hat gut daran getan, diese aktuelle Radikalisierungstendenz historisch einzuordnen. Da sind in der Geschichte der islamischen Welt die Assassinen, eine religiöse Sekte, die zwischen dem Ende des 11. Jahrhunderts und der Mitte des 13. Jahrhunderts in Persien und in Syrien Mordattentate auf politische Gegner verübte. Sie wurden „Opferbereite“ genannt, weil sie bei diesen Aktionen oft den Tod fanden. Der Autor streift die anarchistischen Propa­gandisten der Tat im 19. und 20. Jahrhundert und analysiert dann eine delinquente Subkultur in den reichen Ländern (Westeuropa, USA, Japan), die in den 1960er und 1970er Jahren auf (weniger depravierte und Abenteuer suchende) Jugendliche Eindruck machte. Damals war ein Auslöser der opferreiche Krieg in Südostasien gegen Befreiungsbewegungen, deren Bekämpfung entschiedene Gegengewalt gerechtfertigt erscheinen ließ. Damit sollen ungleiche Phänomene nicht gleichgesetzt werden, aber es soll unterstrichen werden, dass Radikalisierung und ihre Begleiterscheinungen (Gehirnwäsche, Paranoia) nicht auf religiöse Fanatiker beschränkt bleiben. Allerdings können sie aus säkularen Zielsetzungen solche machen, die mit quasi-religiöser Inbrunst und Einäugigkeit verfolgt werden.

Wer dafür anfällige Personenkreise von Radikalisierung abhalten und Kämpfer, die dem Wahnsinn auf den Schlachtfelder Syriens und des Irak entronnen sind oder hier zu Lande zu Attentaten fähig wären, deradikalisieren möchte, sollte Farhad Khosrokhavars Studie aufmerksam lesen. Bei aller Einzigartigkeit der Einzelfälle produziert die Soziologie ein Inventar von Radikalisierungsvarianten, die man ergründen kann. Khosrokhavar untersucht reale und virtuelle Entstehungsorte, Finanzierungsquellen und die Rolle des Salafismus. Dabei zeigt sich, dass zwischen dem französischen und deutschen Milieu der Radikalisierung neben vielen Gemeinsamkeiten auch bedeutsame Unterschiede bestehen, deren Herausarbeitung diese instruktive und gut lesbare Studie ermöglicht. Da ist zum einen der, wie Khosrokhavar darlegt, zunehmend kontraproduktive Laizismus der französischen Republik im Vergleich zu einem in Deutschland praktizierten Multikulturalismus, zum anderen die Prävalenz eines kolonialen Antagonismus, der weit ins 19. Jahrhundert zurückdatiert und im Algerienkrieg eine immer noch nicht aufgearbeitete Hypothek hat.

Deutschland, Frankreich und der Rest der Welt müssen sich gemeinsam gegen eine immense Gefahr zur Wehr setzen, die nicht mehr von irgendwelchen Tora-Bora-Kommandozen-­tralen weit weg angeordnet wird, sondern mitten unter uns grassiert. Sie auszuschalten und zu überwinden, wird Jahre und Jahrzehnte dauern. Beginnen sollte man damit, dass man auch Phänomene, die sich einem sinnhaften Aufbau der sozialen Welt so drastisch zu widersetzen scheinen, zu verstehen und zu durchdringen sucht.

Wer radikalisiert sich?

Wer radikalisiert sich? Warum? In welchen Prozessen? In Frankreich lassen sich zwei Gruppen mit ganz unterschiedlichen Antrieben ausmachen. Die eine kommt aus den Vorstadtgettos und hat oft schon eine kriminelle Vergangenheit, die andere kommt aus den Mittelschichten und richtet den Blick nach Syrien.

Die Anschläge, die am Freitag, den 13. November 2015 Paris erschüttert haben, werfen weniger als ein Jahr nach dem Massaker in den Redaktionsräumen von Charlie Hebdo erneut die Frage nach dem Dschihadismus und seiner Ideologie auf – aber auch und vor allem nach dem Dschihadisten, der zur Tat schreitet und kaltblütig seine Verbrechen verübt. Was geht in seinem Kopf vor? Woher rührt seine Entschlossenheit? Und wie soll man die Besessenheit begreifen, mit der er tötet und sogar den eigenen Tod als Vollendung seines Schicksals im Märtyrertum vorausplant?

In Frankreich ist der Terrorismus im Namen Allahs ein Phänomen, das eine kleine Minderheit unter den Muslimen betrifft, tatsächlich nur einen winzigen Bruchteil. Seine Auswirkungen jedoch stehen in keinem Verhältnis zur Zahl der Getöteten. Er verstört die Gesellschaft und zeitigt eine tiefe Krise, von der die Grundfesten sozialer Ordnung erschüttert werden.

Die Vorstadtgettos, ein Rekrutierungspool

Von den Attentaten auf die Pariser Regionalbahn RER B bis zum Massaker in den Redaktionsräumen von Charlie Hebdo lassen sich inzwischen mehrere Generationen radikaler Islamisten in Frankreich unterscheiden (siehe unten).

Gemeinsam ist ihnen, dass es sich um „hausgemachte Terroristen“ handelt, die in Frankreich zur Schule gegangen und ausgebildet worden sind. Zudem haben sie ein ganz ähnliches Profil: Alle blicken bereits auf eine kriminelle Vergangenheit zurück. Sie haben Raubüberfälle begangen oder mit Drogen gehandelt und mehr oder weniger lange Haftstrafen verbüßt. Nur Khaled Kelkal, der in die Bombenanschläge von 1995 verwickelt war, scheint in einer relativ „normalen“ Familie aufgewachsen zu sein; die Übrigen hatten eine schwierige Kindheit, häufig mit Heimaufenthalten. Ihre psychischen Probleme haben sie schon früh zu anfälligen Charakteren gemacht (das war auch der Fall bei Zacarias Moussaoui, der in den Vereinigten Staaten in Zusammenhang mit den Attentaten vom 11. September 2001 zu lebenslanger Haft verurteilt wurde). Überdies teilen sie denselben religiösen Werdegang. Sie waren sämtlich deislamisiert, bevor sie zu wiedergeborenen Muslimen oder unter dem Einfluss eines Gurus, ihrer Freunde oder ihrer Lektüren im Internet konvertierten und Dschihadisten wurden. Schließlich haben alle eine Initiationsreise in ein Land des Nahen und Mittleren Ostens oder in Kriegsgebiete unternommen (Irak, Syrien, Afghanistan, Pakistan …). Man kann also von fünf Phasen sprechen: Leben in der Banlieue, Straffälligkeit, Gefängnis, kriegerische Reise und radikale Islamisierung.

Das Leben in den Vorstadtgettos und das Gefühl des Ausgeschlossenseins

Die jungen Menschen aus der Banlieue, die sich dem radikalen Islam anschließen, haben eine grundlegende Gemeinsamkeit: den Hass auf die Gesellschaft. Sie leiden unter einem tiefen Gefühl sozialer Ungerechtigkeit. Soziologische Untersuchungen zeigen, dass sie ihren Ausschluss als eine unverrückbare Gegebenheit erleben, als Stigmatisierung, die ihnen auf die Stirn geschrieben steht und ihrem Akzent so unwiderruflich anhaftet wie ihrer vom Argot der Vorstadtgettos und den angloarabischen Ausdrücken geprägten Sprache. Ihr körperliches Auftreten wird von anderen Bürgern oft als bedrohlich wahrgenommen. Sie haben mit der Gesellschaft gebrochen und verabscheuen Uniformen, selbst die von Feuerwehrmännern, als Ausgeburt einer unterdrückerischen Ordnung. Ihre Identität ist zutiefst geprägt vom Antagonismus zwischen „Integrierten“ – ob sie nun „Gallier“ sind oder Franzosen nordafrikanischer Herkunft, denen der Aufstieg in die Mittelschichten gelungen ist – und Ausgeschlossenen. Stigmatisiert in den Augen der anderen, leiden sie unter dem intensiven Gefühl der eigenen Herabsetzung, das sich in einer Aggressivität ausdrückt, die beim geringsten Anlass aufflammen kann. Diese wendet sich nicht nur gegen Fremde, sondern häufig auch gegen Familienmitglieder, insbesondere den jüngeren Bruder oder auch die jüngere Schwester, falls sie es wagt, mit einem Jungen auszugehen (sie gehen zwar ihrerseits mit den Schwestern anderer aus, messen aber in ihrem Verhältnis zu Frauen mit zweierlei Maß). Das Vorstadtgetto wird zum inneren Gefängnis und die Selbstverachtung verkehrt sich in den Hass auf andere.

Vom Unbehagen zur Delinquenz

Durch sehr harte Arbeit gelingt es einem Teil dieser Jugendlichen, die Exklusion zu überwinden und in die Mittelschichten aufzusteigen. Oft brechen sie dann alle Beziehungen zu ihrem Viertel und den alten Freunden ab. Andere versuchen auf kriminellem Wege schnell zu Geld zu kommen und das erträumte Leben der Mittelschichten zu führen. Was ihnen am meisten zu schaffen macht, ist das Gefühl der Viktimisierung, also Opfer zu sein. Tatsächlich neigen sie zu der Überzeugung, Kriminalität sei der einzige Weg, auf dem sie in einer Gesellschaft, in der sie überall vor verschlossenen Türen stehen, Zugang finden können zu den Annehmlichkeiten eines Lebens, wie es die Mittelschichten führen. Ihr Hass und das Gefühl der Ungerechtigkeit finden ein Ventil in der Kriminalität und werden für eine Weile besänftigt durch den Zugang zu materiellen Annehmlichkeiten und die Verschwendung illegal beschaffter Güter. Aber einer sehr kleinen Minderheit reicht ein solches abweichendes Verhalten allein nicht aus. Häufig sind dies Jugendliche, die sich in ihrer Haut nicht wohlfühlen. Ihre Selbstverachtung sitzt tief, die Stigmata, die mit dem Leben in den Trabantenstädten, der Kriminalität und einem aus den Fugen geratenen Leben einhergehen, sind ihnen zur zweiten Natur geworden. Was sie brauchen, ist eine Selbstbestätigung, durch die sie nicht nur ihre Würde wiedergewinnen, sondern zugleich ihre Überlegenheit über andere unter Beweis stellen können.

Im Dschihadismus nimmt ihr Hass eine neue Form an. Ihre ohnmächtige Wut verwandelt sich in heiligen Zorn. Sie wird sakralisiert. Das erlaubt es ihnen, ihre Misere durch das Bekenntnis zu einer Weltanschauung zu überwinden, die sie selbst zu Rittern des Glaubens macht und die anderen zu Ungläubigen, die ihr Existenzrecht verwirkt haben. Der radikale Islamismus bewirkt eine Umkehrung der Vorzeichen, eine existenzielle Häutung: Das Ich wird rein, die anderen unrein, Selbstverachtung verwandelt sich in Verachtung der anderen. Endlich ist man jemand und kann das Gefühl der Bedeutungs- und Bestimmungslosigkeit in einer Gesellschaft, in der man sich nur durch Gelegenheitsjobs oder Kriminalität über Wasser halten kann, hinter sich lassen. Eine Identität, die sich im Bruch mit den Anderen konstituiert, sinnt jetzt auf Vergeltung für das erlittene Unrecht. Und es ist die ganze Gesellschaft, die schuldig gesprochen wird. Sie ist, im dschihadistischen Jargon gesprochen, abtrünnig, gottlos, ungläubig. Diese Gesellschaft gilt es zu bekämpfen, selbst wenn man für die heilige Sache in den Tod gehen muss.

Das Gefängnis: Den Hass auf den anderen ausbrüten

Im Werdegang der jungen Dschihadisten aus den Vorstadtgettos spielt das Gefängnis eine maßgebliche Rolle – nicht so sehr, weil man sich dort radikalisiert, sondern weil dort der Hass auf den Anderen wie nirgends sonst heranreifen kann. Die täglichen Beziehungen sind von Reibereien mit dem Wachpersonal und der Haftanstalt als Institution geprägt. Sobald er gegen die im Gefängnis geltenden Regeln verstößt, erinnern die Sanktionen den Gefangenen an die Existenz eines Systems, dem er jede Legitimität abspricht. Darum finden die meisten Jugendlichen im Gefängnis nur noch mehr Gründe, die Gesellschaft zu hassen.

Im Gefängnis macht der junge Straftäter zudem die Erfahrung der Geringschätzung des Islam in ihrer institutionalisierten und depersonalisierten Form. Die Institution Gefängnis nimmt nicht immer groß Rücksicht auf Muslime: der Mangel an Imamen, kollektive Freitagsgebete, die, wenn überhaupt, dann unter Bedingungen stattfinden, die vom Argwohn gegenüber den Teilnehmern zeugen, Verbot von Gebetsteppichen im Hof … Der wachsende Einfluss der Salafisten auf inhaftierte Muslime vertieft den Bruch. Salafisten sind keine Dschihadisten, aber sie predigen eine sektiererische Version des Islams, die zur Desozialisierung der jungen Anhänger beiträgt, indem sie einen unüberwindbaren Graben nicht nur zwischen Gläubigen und Ungläubigen aufreißt, sondern auch zwischen guten Muslimen, die ihren Glauben gewissenhaft ausüben, und schlechten Muslimen, die es mit den religiösen Vorschriften und Verboten nicht so genau nehmen.

Wer islamistische Neigungen hat, wird durch die Haft, die Härten des Gefängnisalltags und die unausgefüllte Zeit, mit der man nichts Rechtes anzufangen weiß, noch anfälliger für die Sirenengesänge, die zur heiligen Gewalt aufrufen. Verwirrten Gemütern verheißt der radikale Islamismus eine Umkehrung der Rollen. Der junge Mann ist verurteilt worden, man hat ihn ins Gefängnis geschickt – aber künftig wird er es sein, der diese Gesellschaft ohne Erbarmen verurteilt, künftig wird er die Rolle des Richters übernehmen und als Ritter des Glaubens wider die Ungläubigen kämpfen. Der Gefangene gewinnt infolgedessen neues Vertrauen in sich selbst als jemand, der berufen ist, das göttliche Urteil zu vollstrecken.

Die Initiationsreise

Was den angehenden Dschihadisten endgültig von der Legitimität der Sache überzeugt, für die er kämpfen will, ist eine Initiationsreise in ein Land des Nahen und Mittleren Ostens, zu den Schauplätzen des Heiligen Krieges. Mohammed Merah war in Pakistan und Afghanistan; Mehdi Nemmouche ist in die Türkei gereist und steht im Verdacht, 2012 ein Jahr an der Seite von Dschihadisten in Syrien verbracht zu haben; die Brüder Kouachi waren im Jemen, wo sie eine militärische Ausbildung bei „al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel“ genossen haben. Der Fall von Amedy Coulibaly mag die Ausnahme sein, obgleich sich Spuren von ihm in der Türkei finden und man vermutet, dass er sich in Syrien aufgehalten hat.

In der Mehrheit der Fälle bestätigt die Initiationsreise den jungen Dschihadisten in seiner neuen Identität: Sie erlaubt es ihm, mythische Bande zu den muslimischen Gesellschaften zu knüpfen, obwohl er ihre Sprache nicht spricht und mit ihren Sitten und Gebräuchen nicht vertraut ist. Eine solche Reise bietet ihm zudem die Möglichkeit, sich im Umgang mit Waffen zu schulen. Vor allem aber dient sie dazu, gegenüber der eigenen Gesellschaft zum „Fremden“ zu werden. Der junge Dschihadist lernt, „mitleidslos“ zu werden, Geiseln oder inkriminierte Personen (Polizisten, Soldaten, Juden, „schlechte Muslime“) ohne Gefühlsregung professionell zu exekutieren, alle moralischen Bedenken über Bord zu werfen, kurzum: zum hartgesottenen Kämpfer in einem bis zum Äußersten gehenden Heiligen Krieg zu werden.

Ein negativer Held werden

In diesem Stadium verspürt der junge Dschihadist das unwiderstehliche Bedürfnis, gegen seine eigene ungeliebte Gesellschaft mit der Neo-Umma eins zu werden. Der dschihadistische Islam stellt ihm den Status des absoluten Helden in Aussicht. Als Mudschahed (Glaubenskrieger, vom selben Wortstamm wie Dschihad) wird er ein Märtyrer sein. Er wird töten und Angst verbreiten. Der Hass, der ihm entgegenschlägt, wird ihm Größe verleihen und ihn mit Stolz erfüllen. Umso mehr wird er alles daransetzen müssen, dass die anderen und vor allem die Medien sein Bekenntnis zum Dschihadismus als solches erkennen und anerkennen. Und es sind in der Tat die Medien, in denen die Kunde von seinen Untaten um die ganze Welt geht, die seinen Ruhm verbreiten, ihn zum Weltstar machen werden. Mit ihrer Hilfe wird er aus der Anonymität und Bedeutungslosigkeit heraustreten und zum „negativen Helden“ werden. An die Stelle der Verachtung, die ihm die weißen arrivierten Franzosen entgegengebracht haben, tritt Todesangst. Seine Überlegenheit bemisst sich daran, dass die anderen um ihr Leben fürchten. Im Übrigen fühlt er sich von den Medien anerkannt, wenn er tagelang die Nachrichten und die Schlagzeilen beherrscht. Mohammed Merah und Amedy Coulibaly wussten sehr gut, dass die Kameras der Welt auf sie gerichtet waren.

Eine neue Gruppe: Jugendliche aus den Mittelschichten

Die regressive Utopie der Neo-Umma übt kombiniert mit der Rolle des furchtlosen Ritters im Dschihad eine unwiderstehliche Faszination auf bestimmte Jugendliche in den Vorstadtgettos aus. Seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien 2013 gibt es indessen einen zweiten Rekrutierungspool für den Dschihadismus: Jugendliche aus den Mittelschichten, die in einer Sinnkrise stecken.

Vor 2014 mehr oder weniger unbekannt, machen sie inzwischen neben Jugendlichen aus der Banlieue einen nicht unbedeutenden Teil der angehenden Dschihadisten aus, die nach Syrien aufbrechen, um sich in den Dienst des „Islamischen Staates“ (Daesh) oder anderer, aus dem Umfeld von al-Qaida stammender dschihadistischer Gruppen wie der al-Nusra-Front (Jabhat al-Nusra) zu stellen.

Diese Jugendlichen, oft Heranwachsende mit Entwicklungsstörungen, verstärken die Reservearmee des Dschihad, nachdem sie zum Islam konvertiert sind. Unter ihnen finden sich ernüchterte Christen auf der Suche nach starken Erlebnissen, wie sie der institutionalisierte Katholizismus nicht bieten kann, ebenso wie säkularisierte Juden, die eines Judentums ohne religiöse Verankerung müde sind, und Buddhisten, die mit der friedfertigen Spielart dieser Religion in Europa brechen, um nach einer im Dienste des Heiligen Krieges erstarkten Identität zu suchen …

In der Horde der Dschihad-Aspiranten sind auch junge Mädchen aus gutem Hause auf der Suche nach einer postfeministischen Erfahrung, die mit dem Reiz des Fremden lockt und geeignet scheint, einem zu prosaisch gewordenen Leben neuen Sinn zu verleihen. Oft zieht es sie zu den jungen Männern, die ihre Männlichkeit und Verlässlichkeit unter Beweis stellen, indem sie dem Tod ins Auge blicken. Bei ihnen glauben sie Schutz zu finden, ohne ihre Würde als Frau preisgeben zu müssen. Und sie stellen sich auch selbst in den Dienst des Heiligen Krieges: Mit ihrem Bekenntnis zum radikalen Islam werden sie zu Gefährtinnen der Glaubenskrieger und erleben in dieser freiwilligen Knechtschaft ein Vertrauensverhältnis zu Männern, die nichts mit den von Unreife und Lebensangst geprägten Jungen aus ihrer Umgebung gemein haben, die unbeständig sind und nach Lust und Laune ihre Freundinnen wechseln.

Anti-68er

Anders als die Dschihadisten aus der Banlieue beseelt diese Jugendlichen aus den Mittelschichten nicht der Hass auf die Gesellschaft. Und anders als diejenigen, die ihre Ausgrenzung durch die Gesellschaft verinnerlicht haben, ist ihr Leben auch vom Drama der Viktimisierung verschont geblieben. Ihr Problem ist eines der Autorität und der Normen. Die Patchwork-Familie hat in dieser Generation zu einem Autoritätszerfall geführt, und das erstarkte Recht des Kindes hat einen Typus des „früherwachsenen“, aber häufig zugleich unreifen Jugendlichen auf den Plan gerufen. Die Kombination aus Rechtsansprüchen, der Aufsplitterung der Autorität zwischen verschiedenen Elterninstanzen sowie einer Aufweichung von Normen (republikanische eingeschlossen) lässt im Gegenzug den Ruf nach unverbrüchlichen Regeln und starken Autoritäten laut werden. Eine Minderheit dieser neuen Generation leidet darunter, es mit mehreren diffusen Erziehungsinstanzen, aber mit keiner klar definierten Autorität zu tun zu haben. Daher ihr Wunsch nach trennscharfen Grenzen zwischen Erlaubtem und Verbotenem. Die islamistischen Normen bieten eine solche unzweideutige Abgrenzung, die das Verbotene in aller Schärfe namhaft macht. Der radikale Islamismus erlaubt es dieser Jugend, das spielerische Wagnis mit dem tödlichen Ernst dschihadistischer Glaubenssätze zu verknüpfen. Er gibt ihnen das Gefühl, sich nicht allein unverrückbaren Normen zu beugen, sondern mit deren Durchsetzung in der Welt betraut zu sein, das Verhältnis von Heranwachsendem und Erwachsenem umzukehren und derjenige zu sein, der die heiligen Normen aufrichtet und sie den anderen auferlegt.

Die sich für den Dschihad begeisternde Jugend verkörpert Ideale, die denen des Mai ’68 diametral entgegengesetzt sind. Ging es damals um Steigerung der Lust in der Unendlichkeit eines gegen gesellschaftliche Zwänge zurückeroberten Begehrens, so ist es dieser neuen Generation im Gegenteil darum zu tun, dem Begehren strikte Regeln aufzuerlegen: Im Bekenntnis zu einem strenggläubigen Islamismus wird es Einschränkungen unterworfen, die ihm in den Augen der Jugendlichen eine neue Würde verleihen. Und wollte man sich damals von Einschränkungen und illegitimen Hierarchien befreien, so wünscht man sie heute herbei und sehnt sich nach sakralen Normen, die dem freien Willen des Menschen entzogen sind. Damals war man Anarchist und vom Hass auf patriarchale Mächte durchdrungen. Heute rehabilitiert sich der radikale Islamismus, indem er sich gegen die Gleichheit von Mann und Frau wendet, eine verquere Form des Patriarchats im Rekurs auf einen unversöhnlichen und ungnädigen Gott – Widerpart sowohl eines verweichlichten Republikanismus als auch eines allzu humanisierten Christentums. Der Mai ’68 war ein ununterbrochenes Fest, das sich im Rausch der Reisen nach Kathmandu und Afghanistan fortsetzte. Heute folgt die dschihadistische Initiationsreise dem Streben einer Reinheit, die sich in einem dem Tod ins Auge sehenden Märtyrertum erfüllt.

Der Niedergang des Politischen

Neben den Phantasmen einer sakralisierten Normativität spielt auch die internationale Situation eine nicht unerhebliche Rolle. Zahllose Jugendliche treibt die Forderung nach Gerechtigkeit für Syrien an, wo ein blutrünstiges Regime 200 000 Menschen getötet und Millionen anderer in die Flucht geschlagen hat. Sie wähnen sich auf einer humanitären Mission, die sich mit einem sich selbst als gutwillig verstehenden Dschihadismus verbindet. Wo der Westen sein Unvermögen gegenüber einer verbrecherischen Diktatur unter Beweis gestellt hat, kämpfen jene Jugendlichen, mit einem naiven Glauben gerüstet, gegen das Böse – im Namen eines Dschihad, dessen monströsen und entmenschenden Charakter sie häufig nicht ermessen. Der Übergang kann sich schleichend vollziehen, wie das bei bestimmten Mitgliedern der Roubaix-Gang der Fall war, etwa bei Christophe Caze, der sich in den 1990er Jahren humanitären Projekten gewidmet hatte, bevor er zum radikalen Islamisten wurde.

Dass Jugendliche aus den Mittelschichten sich der nach Syrien exportierten Spielart des Dschihadismus anschließen, wirft die Frage nach dem Unbehagen auf, das diese Jugend empfindet. Sie leidet am Niedergang des Politischen, sie ist empört über die Ungerechtigkeit in einem durch die Medien nähergerückten Syrien, dessen Regime Verbrechen gegen die Menschlichkeit in monströsen Ausmaßen verübt. Und sie sucht nach etwas, das ihrem Dasein einen Sinn verleiht. Die Jugend aus den Vorstadtgettos hat in der Regel eine infra- oder suprapolitische Einstellung. Die Abschottung, der Rückzug ins Getto oder die Gewalt in ihrer vulgären (Kriminalität) oder sakralisierten Gestalt (Dschihadismus) sind Haltungen sei es diesseits, sei es jenseits des Politischen. In den Mittelschichten hat das Politische als Bezugspunkt seit den 1980er Jahren eine tiefe Krise durchlaufen und für eine ganze Generation seine identitätsstiftende Kraft verloren. Für sie ist der Dschihadismus eine Konsequenz, die sie aus dem Niedergang des politischen Projekts als kollektiven Hoffnungsträgers zieht.

Von den Anschlägen auf die Pariser Regionalbahn (RER B) zu den Terroranschlägen vom 13. November 2015: Zwanzig Jahre Terrorismus in Frankreich

1994-95: Frankreich wird Opfer einer Anschlagswelle. Begonnen hat alles mit dem Militärputsch von 1992 in Algerien, der den Front islamique du salut (FIS), die Islamische Heilsfront, Sieger der Parlamentswahlen von 1991, stürzte. Der FIS verwandelt sich daraufhin allmählich in eine terroristische Vereinigung. Die von ihm abgespaltene GIA (Groupe islamique armé) und andere Splittergruppen wollen Frankreich für seine Unterstützung der Militärs bestrafen. Der Imam Sahraoui, der dem gemäßigten Flügel des FIS angehört, wird am 11. Juli 1995 in Paris getötet. Am 25. Juli desselben Jahres fordert eine in der Linie B des RER (Réseau express régional) deponierte Bombe an der Station Saint-Michel/Notre Dame 8 Tote und 117 Verletzte. Am 17. August findet an der Place de l’Étoile in Paris ein weiterer Anschlag statt, bei dem 17 Personen durch eine selbstgebaute Bombe verletzt werden. Ein weiterer Sprengkörper wird am 26. August 1995 im TGV Paris–Lyon entschärft.

Ein junger Mann algerischer Herkunft, Khaled Kelkal, ist in die Anschläge verwickelt. Am 29. September 1995 wird er in einem Feuergefecht mit den Ordnungskräften getötet. Mehrere Kleingruppen treten in seine Fußstapfen, wie die Roubaix-Gang, deren Mitglieder größtenteils während des Bosnienkriegs 1994/95 an der Seite muslimischer Milizionäre gekämpft hatten. Unter ihnen sind mehrere konvertierte Franzosen, wie Lionel Dumont und Christophe Caze, und weitere junge Männer wie Omar Zemmiri, Mouloud Bouguelane, Hocine Bendaoui … Am 29. März 1996 stürmt die Polizei ihr Appartement in Roubaix. Die Gang wird zerschlagen.

Die Dschihadistenzelle von Buttes-Chaumont ist eine andere Gruppe, die sich um den jungen Guru Farid Benyettou im Umkreis der Addawa-Moschee in der Rue de Tanger gebildet hat. Der junge Prediger bildet Anhänger aus, trainiert sie im Park von Buttes-Chaumont und schickt sie dann in den Irak, wo sie gegen die amerikanischen Streitkräfte kämpfen. Drei kommen dort ums Leben. 2005 wird das Netzwerk zerschlagen. 2008 werden mehrere dieser jungen Dschihadisten wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Planung terroristischer Akte zu Haftstrafen verurteilt. (Eines der Mitglieder, Chérif Kouachi, wird gemeinsam mit seinem älteren Bruder Saïd Urheber des Anschlags auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo im Januar 2015.)

Seither sind in Frankreich mehrere Anschläge von den Ordnungskräften vereitelt worden. Erst im März 2012 sieht sich das Land wieder mit erfolgreichen Attentaten konfrontiert, deren Urheber ein junger Franzose algerischer Herkunft ist, Mohammed Merah. Er ermordet in Toulouse und Montauban sieben Personen, sechs werden verwundet. Unter ihnen sind drei Soldaten, zwei von ihnen Muslime, und vier Juden. Zwei Jahre später, am 24. Mai 2014, werden im Jüdischen Museum in Brüssel vier Personen von Mehdi Nemmouche getötet.

Um Journalisten zu bestrafen, die durch ihre Karikaturen den Propheten beleidigt haben sollen, richten am 7. Januar 2015 die Brüder Saïd und Chérif Kouachi bei ihrem Anschlag auf Charlie Hebdo ein Massaker an, dem zwölf Personen zum Opfer fallen. Amédy Coulibaly, der mit den Brüdern in Verbindung steht, deren jüngeren er im Gefängnis kennengelernt hat, tötet am 8. und 9. Februar fünf Personen, eine Polizistin und vier Juden.

Weniger als ein Jahr später, am 13. November 2015, fallen in Paris 130 Personen acht koordinierten Anschlägen zum Opfer. Unter den Terroristen sind mindestens vier Franzosen: Bilal Hadfi, zwanzig Jahre alt und wohnhaft in Belgien, sprengt sich vor dem Stade de France in die Luft; Samy Amimour, 28, und Omar Ismaïl Mostefaï, 29, gehören zum Mordkommando im Club Bataclan, wo 89 Menschen den Tod finden. Ein weiterer Franzose, Brahim Abdelam, 31, zündet seinen Sprengstoffgürtel in einem Restaurant am Boulevard Voltaire.

Drei Generationen von Dschihadisten

Seit den 1980er Jahren hat der Dschihadismus mehrere Phasen durchlaufen:

• Die „Afghanen“: Der Ursprung von al-Qaida geht auf die Zeit zurück, in der sich Islamisten mit Unterstützung des Westens nach Afghanistan aufmachen, um gegen die sowjetische Besatzung zu kämpfen.

1989 kehren diese Veteranen – unter ihnen Osama bin Laden – in ihre Heimatländer zurück, um den Dschihad dort „von innen“ zu führen. Sie bilden den ersten harten Kern derjenigen, die andere im Umgang mit der Waffe und in Kampftechniken schulen.

• Terrornetzwerke im Internet: in der Folge tritt eine neue Generation auf den Plan, die weniger vor Ort als vielmehr im Internet ausgebildet wird. Diese Generation verfügt über genaue Kenntnisse des Internet, das sie als Propagandamittel nutzt.

• Die syrische Front: Eine dritte Generation erhält ihre Ausbildung in den vom Staatszerfall gezeichneten arabischen Ländern: im Jemen, in Libyen, an der algerisch-tunesischen Grenze und vor allem, seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs 2013, in Syrien. Mehr als 10 000 ausländischer Dschihadisten kämpfen derzeit in Syrien, darunter ungefähr 2000 Europäer.

Die Neo-Umma, eine gefährliche Utopie

Historisch gesehen war die muslimische Gemeinschaft (die Umma) eine Bezugsgröße, um lokal, regional oder national (gegen den westlichen Kolonialismus) zur islamischen Solidarität aufzurufen. Aufgrund der Spaltung zwischen Schiiten und Sunniten schloss die Umma indessen nie die Gesamtheit der Muslime ein. Die radikalislamistische Bewegung hat das Phantasma einer weltweiten Neo-Umma ins Leben gerufen. Die historische Entwicklung der muslimischen Gesellschaften wird im Begriff der Neo-Umma geleugnet, ihr Ursprung schlicht und einfach auf die Salaf (Gefährten des Propheten) zurückgeführt und in einer Form gepredigt, die Praktiken wie die Sklaverei wieder zum Leben erweckt: Die Jesiden im Irak werden versklavt und ihre Frauen und Töchter verkauft, das Gesetz der Vergeltung (qisas) und das Standrecht werden unter Berufung auf die vermeintliche Transparenz der islamischen Rechtsprechung wieder eingesetzt.