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Nr. 2966

 

Sektor X

 

Sie suchen nach der Proto-Eiris – und wollen in die Milchstraße

 

Michelle Stern

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

Prolog: Abgedankte

1. Sperrgebiet

2. Origami

3. Todesboten

4. Eitiden

5. Silo

6. Der Hüter

7. Nachtrhododendron

Epilog: Abgedankte

Stellaris 64

Vorwort

»Fremde Welt« von Dieter Bohn

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Gut dreitausend Jahre in der Zukunft: Perry Rhodan hat nach wie vor die Vision, die Milchstraße in eine Sterneninsel ohne Kriege zu verwandeln. Der Mann von der Erde, der einst die Menschen zu den Sternen führte, möchte endlich Frieden in der Galaxis haben.

Unterschwellig herrschen zwar Konflikte zwischen den großen Sternenreichen, aber man arbeitet zusammen. Das gilt nicht nur für die von Menschen bewohnten Planeten und Monde. Tausende von Welten haben sich zur Liga Freier Galaktiker zusammengeschlossen, Besucher aus anderen Galaxien suchen Kontakt zu den Menschen und ihren Verbündeten.

Derzeit machen vor allem die Thoogondu aus der Galaxis Sevcooris von sich reden, die vor Jahrzehntausenden ein Sternenreich in der Milchstraße hatten. Dazu gesellen sich die Gemeni, die angeblich den Frieden im Auftrag einer Superintelligenz namens GESHOD wahren wollen.

Hinzu kommt die Wissenschaftler-Vereinigung des Techno-Mahdi, die vom geheimnisvollen Adam von Aures gelenkt wird und im Handstreich die Herrschaft über das Solsystem übernommen hat. Ihr Ziel ist die völlige Freiheit von jedem Gängelband.

Atlan indessen ist bei seiner Rückkehr aus den Jenzeitigen Landen in einer Galaxis gelandet, in der die Gemeni rege sind und ihm sofort nachstellen. Der Arkonide gelangt in die Zwerggalaxis Cetus und dort in den SEKTOR X ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Atlan – Der Arkonide sucht die Proto-Eiris.

Florence Hornigold – Die Kapitänin findet das Abenteuer.

Tamareil – Die Pedotransfererin will das Amulett.

Fitz Klem – Der Agent möchte sein Amulett gerne behalten.

Prolog

Abgedankte

 

Die beiden Kugeln schweben über die Ebene, senken sich dem roten Staub entgegen. Ihre Körper weiten sich, ziehen sich zusammen, nehmen Messungen vor. Die Außenhülle empfängt keinen Laut, keine Erschütterung. Sie sind die einzigen, die durch die Mondluft gleiten, verloren in einer Wüste, die kein Leben kennt.

Viele sind gegangen, aber sie sind noch da. Anders als die Lee wohnen sie nicht mehr zwischen den Sternen. Sie sind gefangen, im freiwilligen Exil; haben die Hyperstürme ausgesessen, die über die Galaxis hinwegfegten und die Technik zurück in die kristalline Zeit warfen, in der es unmöglich war, das System der eigenen Sonne zu verlassen.

Nun sind die Stürme abgeflaut, die Besucher aus der fernen Milchstraße verschwunden. Nur wenige leben in dieser Galaxis zwischen den Roten Riesen. Umgeben von aufgeblähten, kalten Monstren verwalten sie Trümmerwelten, die sie zu Ringen formen. Ihr Dasein ist karg, erfordert Geschick und Beharrlichkeit.

Die beiden Kugeln wissen das. Sie beobachten, messen und kümmern sich nicht weiter darum. Sie haben abgedankt. Was sie sind, haben sie vergessen. Lebewesen, Technik, Relikt oder alles in einem – es spielt keine Rolle mehr. Ihr Bewusstsein ist nicht aktiv. Einzig ihre Instinkte leiten sie, lassen sie tun, was sie tun.

Sie gleiten über den Mond, von da nach dort, wiegen sich im Licht und würden sich treiben lassen, wäre da nicht dieser eine Ort.

Immer wieder zieht es sie an diesen Platz, der unscheinbar wirkt und doch anders ist als der Rest des Himmelskörpers. Ein Vibrieren geht von ihm aus, ein Summen, kaum anzumessen und doch enervierend laut, sobald sie nah genug heranschweben. Niemand hört es außer ihnen, niemand fühlt es. Es ist ihr Geheimnis, ein stummer Gesang, der ihnen allein gehört.

Sie kommen oft in diesen Bereich, wenn sie sich unbeobachtet wissen, lauschen dem Summen und umkreisen den hölzernen Turm, der auf acht hohen Beinen in den Himmel ragt.

In seiner Nähe ist es vitaler, lebendiger, als würde eine unsichtbare Blume ihre Blätter im Staub entfalten. Ein Mysterium verbirgt sich im Nichts, unentdeckt von den Pflanzenabkömmlingen, die sich Nodhkaris nennen. Es ist da – und auch wieder nicht. Die Abgedankten spüren es, ohne es finden zu können. Wenn sie ganz nah herankommen, verstummt das Summen, als hätte es nie existiert. Wieder und wieder durchqueren sie den leeren Raum, in dem das pulsierende Etwas ist und doch unfassbar bleibt.

Sie entfernen sich, zittern vor Erregung, sinken ab, steigen wieder auf. Würden sie noch Angst kennen, dann hätten sie Angst. Auch wenn alles um sie her ausgestorben scheint, wissen sie, dass etwas in der Tiefe lauert.

Zwischen den Trümmern und dem staubbedeckten Unrat am Fuß des Turms verbirgt sich der Tod. Er wartet auf die Unglücklichen, die nach ihm suchen.

1.

Sperrgebiet

 

Ich schaute auf den Panoramaschirm der Zentrale, suchte im leeren Raum nach Symbolen, die für Schiffe der Gemeni und ihrer Helfer standen. Mein Herz schlug heftig unter der Brustplatte, erinnerte mich daran, dass ich trotz der Jahrtausende währenden Erfahrung jeden Moment neu erlebte und jede Minute meine letzte sein konnte. Selbst wenn ein Zellaktivator aus den Jenzeitigen Landen unter dem Schlüsselbein pulsierte – falls unser Schiff explodierte, würden von mir kaum mehr als verwehende Atome bleiben.

Entspann dich!, forderte mein Extrasinn. Es ist unwahrscheinlich, dass sie automatische Abschussvorrichtungen haben, und wenn sie euch finden, wollen sie dich und deine Begleiter mit etwas Glück lebend.

Auf dieses Glück wollte ich nicht vertrauen. Die letzten Tage hatten gezeigt, dass die Nodhkaris in der Kleingalaxis Cetus aufs Ganze gingen. Wir waren ihnen mehrmals entkommen – wie weit reichte ihre Geduld, ehe sie erst fragten, nachdem sie geschossen hatten?

Ich hob den Kopf, fixierte die eingespielten Daten. Wir verließen die freie Zone. Die WOODES ROGERS tauchte in den Sektor X ein, das verbotene Gebiet im Himmelsreifen von Tson. Der 850 Meter durchmessende Raumer der DRAKE-Klasse verfügte über Deflektoren und Holoprojektoren zur Eigentarnung. Nun würde sich zeigen, was diese Ausstattung wert war. Wenn wir Glück hatten, konnten wir durch das weitmaschige Überwachungsnetz schlüpfen, das vom Weltraum leichter zu durchbrechen war als innerhalb des Himmelsreifens.

Wir näherten uns einem kargen, von einer künstlichen Atmosphäre umgebenen Kleinmond. Unser Raumschiff trieb dem Himmelskörper energetisch tot entgegen und würde ihn in einer Bogenbahn passieren. Wenn mein Plan aufging, stürzten wir in weniger als zwanzig Minuten in einem Beiboot kontrolliert der Oberfläche entgegen.

Ich blickte zu Klem, auf dessen Brust das winzige, dreieckige Amulett baumelte – unser Kompass, der uns in diese Richtung führte. Der Anhänger wies auf den Kleinmond. Ich hoffte, dass Klem vor Ort näher eingrenzen konnte, wohin wir mussten, um den Silo zu finden.

»Wir dringen ins Kerngebiet der Sperrzone ein«, sagte Florence Hornigold, die im Kommandantensessel saß. Sie hatte eine aufrechte, nahezu starre Haltung eingenommen, als wagte sie es kaum zu atmen. Auf ihrem Gesicht zeigten sich weder Angst noch Sorge, lediglich erhöhte Aufmerksamkeit.

Viel auffälliger als sie war Tamareil: Sie stand zwischen den beiden Kontursesseln von Fitz Klem und Nisg. Ihr Roboteroberkörper drehte sich von links nach rechts, simulierte ein hektisches Atmen, als ob sie die Luft tatsächlich brauchte. Auf ihren silbrigen Wangen lag eine leichte Rötung, die sie chemisch oder mechanisch erzeugt haben musste.

»Das letzte Mal, als ich in Gruelfin in ein Sperrgebiet eingedrungen bin, wurden wir sofort unter Feuer genommen! Wir haben nur überlebt, weil die Zentrale eine autarke Rettungskapsel war, die den Gewalten standhielt. 3484 Cappins sind dabei umgekommen. Die Kapsel war zu klein, sie alle aufzunehmen. Ein paar starben im Handgemenge um die letzten freien Plätze, ehe die Explosion für eine Katastrophe sorgte.«

Florence Hornigold zog die Augenbrauen zusammen. »Auf was für einem Schiff war das? Gab es keine Beiboote?«

»Die Beiboote haben sie uns zuerst zu Klump geschossen.«

Fitz Klem winkte ab. »Glaub ihr kein Wort, egal, was sie sagt. Vor fünf Minuten hat sie mir weismachen wollen, dass sie von Atlan schwanger wäre, dabei hat sie nicht einmal einen Bauch!«

Tamareil streckte ihre Hände dorthin, wo bei Humanoiden der untere Torso lag. Ihr Brustbereich war lediglich durch eine Reihe wirbelsäulenartiger Stränge mit dem Becken verbunden. »Kleingeist! Als ob ein Wesen wie ich ein Kind im Schmuckkörper austragen würde! Natürlich befindet sich mein Nachwuchs, der auf rein geistige Weise gezeugt worden ist, nicht in meinem Bauch. Das habe ich nie behauptet. Es handelt sich um einen Bewusstseinskern, der im innersten Bereich meines PEW-Metalls heranreift und später selbst einen Schmuckkörper erhalten wird!«

Ich lehnte mich im Sitz zurück, erleichtert, dass ein sofortiger Angriff ausgeblieben war. Was mein Bewusstsein betraf, war ich überzeugt, dass es ganz mir gehörte und sich kein Teil davon in Tamareils Inneres verirrt hatte. Besonders in angespannten Situationen schien Tamareil Lügengeschichten zu lieben. Offensichtlich war das ihr Ventil, das ihr half, mit der Situation umzugehen.

»Kann ich da als werdender Vater ein Wörtchen mitreden, oder ist unser gemeinsamer Spross beschlossene Sache?«, fragte ich.

Klem lachte auf.

»Pst!«, fuhr Nisg ihn an. Er knetete die Verzierungen am Knauf seines Leemaghs. Der s-förmig geschwungene Stab lief in bronzefarbenen Verdickungen mit eingravierten Mustern aus. »Wer in einer Krise lacht, zieht das Unglück an.«

»Wer sagt denn so was?«, fragte Tamareil.

»Der ehrenvolle Saghirk. Möge der Leemagh aus seinen Knochen Segen bringen.«

Ich bezweifelte, dass Nisg wirklich so abergläubisch war, wie mir seine Worte weismachen wollten. Vermutlich sagte er lediglich Redewendungen auf, die in seinem Volk geläufig waren.

Vielleicht irrst du dich, warf der Extrasinn ein. Möglicherweise kann Nisg gar nicht anders, weil es eine Eigenart der Lee ist, solche Dinge zu glauben. Wer ein karges Leben führt, weiß mentale Hilfe zu schätzen, sogar, wenn sie aus Aberglauben besteht.

»Ortung!«, meldete Segmin Rackham.

Gleichzeitig veränderte sich das Bild auf dem Schirm. Vor uns tauchte ein Schiff auf, das an einen Keil mit einem Loch in der Mitte erinnerte. Aus dem Loch baute sich ein flimmernder Schutzschirm auf, der den Rumpf umhüllte.

Hornigold lehnte sich vor. »Die SANFUUHR!«

Nisg umklammerte das Stabende mit beiden Händen so fest, dass die Knöchel der vier Daumen weiß aus der flaschengrünen Haut hervortraten. Sein Oberkörper gab ein helles Licht ab, das durch den dünnen Stoff des beigebraunen Gewands leuchtete. »Alverdh! Er hat uns gefunden! Nur er benutzt dieses Schiff. Seine Lee-Söldner fliegen es.«

Einen Augenblick herrschte Schweigen. Der Nodhkari hatte uns bereits zuvor angegriffen. Die erste Attacke hatte das Markthaus verwüstet und großen Schaden angerichtet. Alverdh hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er in mir und meinen Begleitern eine Bedrohung sah, die er ausschalten wollte. Zuletzt hatte sein Schiff die WOODES ROGERS beschossen und uns zur Flucht gezwungen.

Wusste Alverdh wirklich, dass wir hier waren, oder hielt er sich einfach auf gut Glück in der Nähe des Mondes auf, weil er vermuten konnte, dass wir ins Sperrgebiet wollten?

»Haben sie uns entdeckt?«, brach ich das Schweigen.

»Scheint nicht so«, antwortete Rackham. Der hochgewachsene, spindeldürre Freihändler war fast so groß wie Nisg. Die Hälfte seines kahlen Kopfs war von bunten Tätowierungen überzogen. »Sie zeigen keine Reaktion. Aber wenn sie den Kurs beibehalten, wird es eng.«

»Ausweichmanöver!«, befahl Hornigold.

»Nein!« Ich rutschte an die Sesselkante. »Wenn wir den Kurs ändern, erreichen wir den Mond nicht mehr! Wir dürfen keine Energiesignatur abgeben! Widerruf den Befehl!«

Das Schweigen, das folgte, war mindestens so gespannt wie das vor wenigen Sekunden. Hornigold versteifte sich. Ihre vollen Lippen wurden schmal. Sie war niemand, der sich von einem anderen in ihre Schiffsführung hineinreden ließ, doch sie war keine Soldatin, sondern eine Händlerin. Ich durfte nicht zulassen, dass sie einen Fehler beging.

»Bitte«, setzte ich hinzu.

»Kurs halten!«, sagte Hornigold.

Unruhe brach aus. Die Männer und Frauen in der Zentrale hielt es kaum auf den Sitzen. Niemand wagte, mir und Hornigold zu widersprechen, doch ich spürte, dass die meisten mit dieser Anordnung nicht einverstanden waren. Unsicherheit und Angst lagen wie eine Dunstwolke im Raum.

Tamareil kniff die Augen zusammen. »Soll ich versuchen, auf einen der Lee-Söldner zuzugreifen?« Als Pedotransfererin konnte Tamareil das Bewusstsein von Humanoiden übernehmen. Aber selbst auf diese Entfernung?

»Zu riskant«, entschied ich. »Warte! Diese Option bleibt uns für den absoluten Notfall.«

Alverdhs Schiff kam rasch näher. Wir hielten den Atem an. Ich fürchtete, die SANFUUHR könnte jeden Augenblick den Kurs ändern und das Feuer auf die nahezu unbewaffnete WOODES ROGERS eröffnen.

Nichts dergleichen geschah. Das Schiff jagte an uns vorbei, ohne eine Reaktion zu zeigen. Es flog zielstrebig die abgewandte Mondseite an.

Nisg atmete hörbar aus, wobei das Leuchten seines Oberkörpers abklang.

Vor uns wurde der Mond rasch größer. Ich erkannte die Meere, die sich auf der Tagseite von den Landmassen absetzten. Es gab kaum Wolkenbänder am Himmel.

»Wir sollten umsteigen«, sagte Hornigold.

Tamareil stieß die Faust in die Luft. »Klingt nach Spaß! Los geht's!«

Während sie mit kleinen Hüpfern auf den roten Stöckelschuhen aus der Zentrale tanzte, hatte Nisg Probleme aufzustehen. Seine Beine zitterten. Er stützte sich schwer auf den Leemagh. »Nach euch«, sagte der Lee.

Ich bot Florence Hornigold den Arm. Die Kapitänin legte ihre Hand darauf. Der Griff war angenehm, weder zu fest noch zu locker. Sie schenkte mir ein Lächeln. »Lernt man so was auf Arkon?«

»Dort und auf der Erde. In Terras Geschichte gab es Umgangsformen, die man nicht verachten sollte. Sie haben ihren Charme.«

Klem schloss sich Nisg an. Ich genoss Hornigolds Nähe.

Gemeinsam folgten wir Tamareil zum Hangar.

 

*

 

Tamareil schaute zu, wie Florence Hornigold die einfache Kampfmontur anzog. Sie selbst brauchte keinen Einsatzanzug. Ihr Körper war robust genug. Das wenige, das sie sich gönnte, waren ein HÜ-Schirmgenerator und ein Strahler.

Während Atlan und Klem bereits in der Zentrale waren und mithilfe der Positronik den Start vorbereiteten, hatte Tamareil die Kapitänin ganz für sich allein. Eine faszinierende Frau. Dunkel, sportlich, mit vollen Lippen und einer tiefen, samtenen Stimme, die gut zu den kurzen, rabenschwarzen Haaren passte. Ob Hornigold viele interessante Geschichten kannte? Tamareil liebte gute Geschichten. Sie waren die Bausteine ihrer Lügen.

»Wie lange bist du schon Kapitänin der WOODES ROGERS?«

»Ziemlich lange.« Hornigold griff nach einem Strahler, hängte ihn an der Hüfte in die Halterung.

»Wie ist das, Kapitänin in Cetus zu sein, auf dem letzten Schiff, das nach der Hyperimpedanz-Erhöhung noch weite Strecken fliegt?«

»Ganz nett.«

Tamareil tat, als würde sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht pusten. »Du bist ja eine Ausgeburt an Redseligkeit. Warum erzählst du mir nicht ein bisschen was über dich? Im Gegenzug könnte ich dir ebenfalls ein wenig verraten.«

Die Kapitänin kniete sich hin, überprüfte den Verschluss des linken Stiefels. »Es gibt nichts, was ich derzeit von dir wissen möchte.«

»Ach wirklich? Du weißt ja nicht einmal, was wir im Sperrgebiet suchen.«

»Klar weiß ich es – einen Silo.«

»Und was ist darin?«

Hornigold schwieg.

»Na?«

»Du darfst es mir gerne sagen, ehe du daran erstickst.«

Erwischt. Tamareil wollte wirklich gerne darüber sprechen. »Proto-Eiris. Ausgelagert von der Superintelligenz ES!«

Hornigold wirkte nicht im mindestens beeindruckt oder überrascht. »Ich dachte mir schon, dass es kein Kodegeber für einen Gleiter ist. Aber was genau ist Eiris?«

»Puh. Sagen wir mal, das Haftmittel, durch das ES sich auf seinem abgesteckten Terrain halten kann. Der alte Herr ist allerdings abgerutscht, wenn du so willst. Er hat seine Mächtigkeitsballung nach der Scherung verlassen müssen, weil die Eiris abgeflossen ist. Aber anscheinend hat er sich ein Hintertürchen für seine Rückkehr offen gehalten. Ein schlaues Kerlchen, das muss man ihm lassen. Immer einen Plan B in der Tasche.«

Tamareil erkannte die Verwirrung auf Hornigolds Gesicht. »Du hast keine Ahnung, was die Scherung ist, oder?«

»Willst du mir eine neue Lügengeschichte auftischen?«

»Oh, in dem Fall muss ich das gar nicht. Manchmal ist die Wahrheit bunter als die wildesten Phantasien. In Gruelfin gab es einmal einen Planetensprenger, der bei einer intergalaktischen Routinekontrolle seines Raumschiffs plötzlich in sich zusammenbrach und sagte: ›Jetzt habt ihr mich!‹ Ohne diesen Zufall hätte man ihn nie gefasst.«

»Die Scherung ... Was ist das?«

»Ein Verdienst Atlans. In der Milchstraße waren vor einigen Jahren die Onryonen aufgetaucht. Ziemliche Kontrollfreaks, wenn du mich fragst. Eine Entität hatte sie geschickt, Thez. So was wie eine weiterentwickelte Superintelligenz mit Mutterkomplex. Sie wollte die Milchstraße vor einem möglichen Weltenbrand schützen. Was immer das sein soll, da ist nie jemand konkret geworden. Seltsam, was?

Atlan ist durch die Zeit zu Thez gereist und hat erwirkt, dass die Onryonen abziehen. Aber Thez hatte Angst vor dem Weltenbrand, also hat er das Universum umgedacht. Er hat es ... na ja, geschert. Zwei Teile. Ein wenig, wie man einen Zellkern zerlegt, in zwei Tochterkerne mit gleicher genetischer Information. In seinem Teil gibt es definitiv keinen Weltenbrand. In der thezfreien Zone dagegen? Keine Ahnung. Da stecken wir jedenfalls drin, wenn ich Atlan glauben darf. Hier könnten schon bald die Lichter aufglühen. Ist das nicht spannend?«

»Woher weißt du das alles?«

»Atlan redet im Schlaf.«

»Eine Lüge.«

Tamareil grinste. »Er hat es mir erzählt. Er muss ja mal mit jemandem sprechen können, der ihm intellektuell ebenbürtig ist.«

Hornigold hatte die Anzugüberprüfung abgeschlossen. Sie ging zur Tür, die vor ihr aufglitt. »Das heißt, es gibt mich doppelt? Sowohl hier als auch auf der anderen Seite der Scherung?«

Bei den großen Schritten, die Hornigold machte, hatte Tamareil Mühe, mitzuhalten. Gewöhnlich mochte sie es, sich mehr in die Breite als in die Länge zu bewegen. Ihr Schmuckkörper war dazu da, bespielt zu werden. »Oh, vermutlich noch viel öfter. Wir haben ein Multiversum, schon vergessen? Aber tröste dich – du bist trotzdem einzigartig. Das, was hier nicht ist, ist für uns so unerreichbar, als würde es gar nicht existieren. Die Gedanken in deinem Kopf sind realer.«

»Bist du Philosophin?«

»Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken, als ich ohne Körper war.«

»Und um dir Lügenmärchen auszudenken.«

»Die Sache mit der Scherung stimmt! Oder nimmst du ernsthaft an, ich käme mit so einer unkapierbaren Lüge daher?«

Hornigold sah nicht überzeugt aus.

Sie betraten die Zentrale. Atlan nickte ihnen zu. »Bereit zum Start. Noch drei Minuten.«

»Bestens.« Die Kapitänin setzte sich in den Kommandantensessel und ordnete die Ausschleusung an. Drei Minuten später waren sie auf dem Weg Richtung Mond.

Tamareil starrte fasziniert auf den Holoschirm. In der Vergrößerung erkannte sie rote Wüsten, weißes Kargland, felsenartige Erhebungen und ein glitzerndes Meer, das absolut reglos dazuliegen schien. Was sie da unten wohl erwartete? Neugierig blickte sie zu Hornigold. »Du bist dran! Was weißt du über das Sperrgebiet?«

Die Augen aller richteten sich auf die Kapitänin. Die hob die Schultern, ließ sie wieder sinken. »Im Grunde nichts. Wir nennen es Sektor X. Von einer Proto-Eiris habe ich nie zuvor gehört.«

Nisg nestelte nervös am HÜ-Schirmgenerator, der am Gürtel um seine Hüfte hing. »Was ist das da?«

Er zeigte auf das Bild, das zu einer Nahaufnahme der Mondoberfläche überging.

Auf einer weiten Ebene ragten anthrazitfarbene, kristalline Gebilde auf. Sie wirkten, als hätte sie jemand mehrfach geknickt und dann in verschiedene Richtungen gefaltet.

»Mineralische Konstrukte«, vermutete Atlan.

»Bauwerke!«, rief Tamareil. »Das da drüben erinnert mich an einen Tempel!«

Hornigold kniff die Augen zusammen. »Das eine schließt das andere nicht aus. Auch wenn ich kaum glaube, dass die Gebilde Tempel sind. Womöglich verfallene Wohnstätten oder Kunstwerke.«

»Sie sehen aus wie Origami.«

»Wie was?«, hakte Tamareil nach. Nicht jeder Begriff, den Atlan benutzte, ergab für sie im Interkosmo Sinn. Er kannte eine ganze Reihe Fremdwörter und Fachbegriffe. Kein Wunder, bei der Zeit, die er gehabt hatte, um sie anzusammeln.

»Wie Faltkunstwerke. Als hätte man Papier zu Figuren geformt. Gibt es Anzeichen von Leben?«

Hornigold schüttelte den Kopf. »Kein einheimisches. Es würde mich auch wundern. Aber auf der anderen Seite, außer Ortungsreichweite, liegt der Nachtrhododendron.«

Atlan runzelte die Stirn. »Der Nachtrhododendron?«

»Das Lager Boughs. Er hält sich angeblich auf diesem Mond auf. Ich kenne allerdings nur Gerüchte.«

Tamareil fragte sich, ob die Kapitänin sich über sie lustig machte. »Ich dachte, du weißt nichts über das Sperrgebiet?«

»Ich habe von Bough gehört«, mischte Atlan sich ein. »Ein Pikodh, nicht wahr? Ein Erforscher und Erkunder der Gemeni.«

»Richtig.« Die Art, wie Hornigold lächelte, schien ausschließlich für Atlan reserviert zu sein. »Sein Kleid ist violett. Ich habe ihn einmal im Himmelsreifen gesehen, als wir Ladung gelöscht haben.«

Atlan wirkte angespannt. »Hoffen wir, dass dieser Mond nicht allzu genau überwacht wird. Steuere die Felsen da hinten an! Dort gibt es gute Versteckmöglichkeiten.«

»Bin schon dabei.«

Während Hornigold das Kleinstschiff unter einen Kristallbogen steuerte, beobachtete Tamareil unauffällig Klem. Das winzige Dreieck auf seiner Brust zog ihre Blicke magnetisch an. Sie liebte das Tribar. Wie gerne würde sie es in ihren Besitz bringen, selbst wenn das vielleicht gar nicht mehr nötig war.

Ursprünglich hatte sie das Amulett haben wollen, um es gegen eine Passage nach Hause zu tauschen. Doch an Atlans Seite konnte es eine andere Möglichkeit geben, zurück nach Gruelfin zu kommen. Vielleicht von der Milchstraße aus, in der es viele Zivilisationen, hochwertige Technik und sogar diverse Fernraumschiffe geben musste.

Sie berührte ihre Nase. Einige Informationen, die sie in den letzten Tagen gesammelt hatte, hatte sie ihren Lügengeschichten zu verdanken. Außer im hoffnungslosen Fall Hornigold war Tamareil gut darin, andere dazu zu bringen, über alles Mögliche zu reden. Gleichzeitig wusste sie, dass Atlan ihr auch deshalb so viel erzählte, weil er ihr mehr und mehr vertraute. Tat er das zu Recht?

Wenn Tamareil den fünf Millimeter durchmessenden Anhänger aus schimmerndem Eisgrau ansah, war sie sich nicht sicher. Das Schmuckstück übte eine nahezu übermächtige Faszination auf sie aus. Ob sie vielleicht auf dem Mond etwas fand, aus dem sich ein Duplikat anfertigen ließ? Sie war geschickt im Bearbeiten von Dingen. Sofern es ihr gelang, eine hinreichend echt wirkende Fälschung herzustellen, konnte sie Klem damit eine Weile in Sicherheit wiegen.

Klems Augenbrauen wanderten aufeinander zu. »Denkst du dir eine neue Lügengeschichte für mich aus?«

»Nein. Ich habe mich bloß gefragt, wie es wäre, ein Kind von dir zu haben.«

Die Antwort schien Klem zu überraschen. Er stieß einen Laut aus, der an ein Schnauben erinnerte.

Mit einem kaum merklichen Ruck setzte Hornigold das Beiboot ab. Weißer Sand wirbelte vor den Außenkameras in die Höhe.

Hornigold drehte sich zu Klem um. »Lass dir von ihr die Story mit der Scherung erzählen. Ist unterhaltsam.«

Nisgs Doppelauge weitete sich. »Welche Scherung?«

Tamareil kam zu ihm und legte ihre Hand vertraulich auf seine. »Alles begann mit einem aufmüpfigen, unsterblichen Arkoniden, der zusammen mit seinem besten Freund aus der Milchstraße auszog, um Chaos zu stiften ...«

 

 

Zwischenspiel

Abgedankte

 

Eine Erschütterung durchläuft die Sensoren der Außenhüllen. Die Abgedankten rotieren umeinander, stimmen die Messergebnisse ab. Sie orten die Quelle, schweben ihr entgegen. An zwei Stellen heben sich dünne, silberne Stränge wie Zweige in die Höhe. Roter Staub wirbelt auf, bildet eine Dunstglocke über den sich windenden Körpern und den Füßen des hölzernen Turms.

Was ist das? Es ist neu. Gehört es zum schlafenden Tod? Ist er aufgewacht?

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Illustration: Dirk Schulz

Hektisch fliegen die Kugeln einen Zickzackkurs, suchen sich eine Bahn um das Phänomen. Die Zweige wachsen in die Höhe, entwickeln sich zu Fäden, die sich – Fühlern gleich – in alle Himmelsrichtungen strecken.