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Buch

In Heike Knaubers Roman lauert an jeder Ecke tödliche Magie, geheimnisvolle Wesen kämpfen in der Arena um Leben und Tod, und die Seiten knistern nur so vor Romantik. Dabei spielt die vielschichtige Handlung sowohl am Grunde des Meeres als auch in einem Wüstenreich, das im Sandmeer zu versinken droht: Knaubers Heldin Meliaé ist Thronfolgerin des legendären Najaden-Volkes – doch weiß sie nichts über ihre Herkunft. Als zwei grausame Brüder sie entführen, scheint Meliaés Tod unausweichlich, doch dann entdeckt sie ihre dunkle Liebe zu einem Mann, der sich für sie sogar mit dem Gott der Unterwelt anlegen wird …

Autorin

Heike Knauber, 1967 geboren, lebt mit ihrer Familie in Schwalbach an der Saar. Ein Jahrzehnt war sie im Vertrieb für einen multinationalen Softwareentwicklungskonzern tätig, heute bereist sie als dolmetschende Assistentin für einen Industriekonzern Europa. Daneben hat sie sich der Phantastik verschrieben. Inspiriert von den großen Meistern der Fantasy wie J. R. R. Tolkien, George R. R. Martin, aber auch Bernhard Hennen und Kai Mayer hat die Autorin mit ihrem Debüt Najaden – Das Siegel des Meeres eine ganz eigene fantastische Welt erschaffen.

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HEIKE KNAUBER

DAS SIEGEL DES MEERES

ROMAN

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1. Auflage

Copyright © 2018 by Blanvalet
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Catherine Beck

Umschlaggestaltung und -illustration: Melanie Korte, Inkcraft

Karte: © Melanie Korte

BL · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-21546-0
V001

www.blanvalet.de

Für Thomas

»Sieg! Er ist mein!« So ruft die Naíad, und jegliche Hülle schleudert sie fort und wirft sich mitten hinein in die Wellen, Hält den Streitenden fest und raubt im Ringen ihm Küsse …
… Endlich hält sie, wie sehr er sich sträubt und sucht zu entkommen, Ihn wie die Schlange umstrickt, die der Königsvogel davonträgt …

Ovid, Metamorphosen: Salmacis und Hermaphrodit

»Lege mich wie ein Siegel auf dein Herz,
wie ein Siegel auf deinen Arm.
Denn Liebe ist stark wie der Tod
und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich.
Ihre Glut ist feurig und eine Flamme des Herrn.«

– Hoheslied 8,6 (DAS HOHELIED SALOMOS)

Kapitel 1

Der Hüter des Siegels

Der kalte Wind in der Hafenbucht zerrte an Miltiades’ Gewändern. Die Tracht der northanischen Seeleute, die er zur Tarnung trug, bereitete ihm Unbehagen, denn er war es nicht gewohnt, seinen Körper derart primitiv zu verhüllen. Die grobe Tunika juckte und scheuerte auf seiner Haut. Außerdem sickerte Regen durch das minderwertige Manteltuch in seinem Nacken.

Miltiades schob die Finger in den Halsausschnitt und kratzte sich. Diese Lumpen machten es einem wirklich leicht, sich wie ein Barbar zu benehmen.

Wieder wallte der Zorn über seine Lage in ihm auf, und das Jucken wurde noch schlimmer. Seit drei Tagen nun irrte er auf der Suche nach dem Gilde-Ersten und seiner Familie durch die besetzte Stadt Glarnos. Die Priester waren schuld – die verweichlichte Bruderschaft von Göttervater Xern. Einst hatten sie viel Gold von der najadischen Königin erhalten, dafür, dass sie im Falle einer Besatzung den Gilde-Ersten und seine Familie in ihren Katakomben verstecken. Doch statt den Verhören der Feldherren mit Gelassenheit zu begegnen, waren sie wie die Kaninchen in die Stollen unter dem Tempel geflüchtet. Dort war ihnen dann recht schnell die Ausweglosigkeit ihrer Situation bewusst geworden, und sie hatten den Freitod gewählt. Die ganze Stadt sprach von der Feigheit dieser Männer. Miltiades entrang sich ein frustriertes Schnauben. Für die Dauer eines Lidschlags konzentrierte er sich darauf, Magie aus seinen Poren strömen zu lassen. Aufatmend bewegte er die Schultern. Die dünne Luftschicht, die jetzt zwischen ihm und diesen Lumpen lag, war eine Wohltat!

Er blickte den Ochsenkarren und Pferdefuhrwerken hinterher, die auf der breiten Hafenstraße an ihm vorbei in Richtung Wasser rumpelten. Den ganzen Morgen beobachtete er nun schon, wie sie in Kolonnen zu den bauchigen Frachtseglern fuhren, die behäbig vor den Pieren im dunklen Hafenwasser schaukelten. Das geschäftige Treiben sah nach einem wenig durchdachten, sogar überstürzten Aufbruch der Besatzungsmacht der Aššuner aus.

Sein verwunderter Blick glitt von den schlanken Trieren, die mit ihren Rammspornen und den seitlich aufgemalten Augen wie Spottbildnisse von Delfinen wirkten, zu zwei Konteren. Die gewaltigen Schiffe waren schwimmende Festungen mit einem von Säulen getragenen Mitteldeck. Auf den Kastellen und zwischen den Katapulten auf den Oberdecks bewegten sich die in Schwarz gerüsteten Soldaten des Sultans. Schakalfratzige Ashák, die Krieger der Aššuner.

Die Anzahl der Schiffe, bei denen nun das Wappen des Sultans an den Mastspitzen flatterte, wuchs mit jedem Tag. Der dreiköpfige Schakal auf dunklem Purpur.

Verständnislos schüttelte Miltiades den Kopf. Die Aššuner waren vollkommen unerfahren, was die Seefahrt anging! Wenn sie schlau wären, hätten sie auf die Seeleute von Glarnos gehört, die während der Monde der starken Winde und Strömungen ihre Schiffe im Hafen ließen und nur die allernötigsten Fahrten unternahmen. Der Siegestaumel machte die Sultanssöhne wohl übermütig, und sie konnten es nicht abwarten, ihrem Vater die Kriegsbeute zu präsentieren.

Miltiades lächelte. Lägen die Dinge anders, wäre er geblieben, nur um sich an dem Verderben zu ergötzen, in das die Aššuner auf der stürmischen Glarnsee unweigerlich hineinsteuern würden.

Doch auf einem dieser Schiffe, möglicherweise auch auf mehreren, befanden sich Menschen, für deren Leben er bürgte.

Ein Lastkarren polterte dicht an ihm vorbei. Miltiades ließ ihn passieren und ging dann grübelnd auf der dem Meer zugewandten Seite der Hafenstraße weiter. Wie sollte er allein die Familie des Gilde-Ersten in dieser riesigen Flotte ausfindig machen? Wenn er hinter den Weltengürtel zurückkehrte, um Verstärkung zu holen, riskierte er, dass die Schiffe mit seinen Schützlingen in der Zwischenzeit ablegten. Kurz kniff er die Augen zu. Er hatte die Situation in der besetzten Stadt unterschätzt.

Vor dem Rand des Kais blieb er stehen und blickte auf das verdreckte Hafenwasser, das gegen das Mauerwerk schwappte. Der Gedanke, in dieses Wasser zu steigen, war nicht gerade verlockend. Dennoch würde er den Tag verstreichen lassen müssen, um im Dunkeln hinauszutauchen.

Er zählte die Frachtsegler und Kriegsschiffe, die für den Sklaventransport infrage kamen. Zweifelnd presste er die Lippen zusammen. Selbst wenn er es schaffte, diese schwimmenden Festungen vom Wasser aus zu erklimmen – wie sollte er seine Schützlinge unbemerkt von Bord schaffen? Er hob den Kopf und sog die salzige Seeluft durch die Nase ein, dann stieß er den Atem frustriert wieder aus. Was nutzte es ihm, wenn er sowohl Luft als auch Wasser atmen konnte? Die Menschen konnten es schließlich nicht.

Miltiades kehrte der Hafenbucht den Rücken zu und beobachtete gebannt ein vergittertes Ochsenfuhrwerk, das vorbeizog. Das Gespann wurde von einem Ašhāk gelenkt. Zum Schutz vor dem Regen hatte der Sultanskrieger eine geölte Decke übergezogen. Nur seine spitze Schakalschnauze und die fellbedeckten Arme lugten darunter hervor.

Hinter den Gittern drückten junge Adlige ihre grün und blau geprügelten Gesichter gegen die Eisenstreben, reckten ihre Fäuste hindurch und grölten Racheschwüre. Die Prügel, die sie bezogen hatten, schien sie nicht gebrochen zu haben. Das würde sich ändern, wenn die Sklavenaufseher erst mit ihnen fertig waren.

Miltiades sah den Gefangenen hinterher. Simos, der Sohn des Gilde-Ersten, war nicht darunter. Die Fuhre kam hinter einer Schlange aus Lastenkarren auf dem Pier zum Stehen. Dort beluden northanische Seeleute und – zu Miltiades’ Überraschung – auch Kentauren, die im Dienst des Sultans standen, die Frachtschiffe mittels hoher Kräne. Sklaven, Pferde und Holz schafften sie über Rampen an Bord.

Der Anblick der Kentauren brachte Miltiades auf einen Gedanken, und er wandte der Hafenbucht abrupt den Rücken zu. Der Kentaurenfürst Brevenor war mit seinen Söldnern in der Stadt. Möglicherweise wusste er, wo der Gilde-Erste und seine Familie gefangen gehalten wurden.

Im Windschatten der Häuser traf Miltiades der Gestank von faulem Fisch und menschlichen Exkrementen wie ein Fausthieb in den Magen. Durch den Regen waren die Abwasserfurchen der Gassen zu reißenden Bächen angeschwollen. Er raffte seine Hose bis zu den Waden und watete hindurch. Gern hätte er einen magischen Kokon um sich gewoben, der ihm den Unflat vom Leib hielt. Aber er durfte es nicht riskieren, durch saubere Kleidung aufzufallen.

Vor ihm quiekte es, und er wich aus, als ihm im Abwasserstrom eine Ratte entgegenschwamm. Das ölig glänzende Tier paddelte mit einem unkenntlichen Brocken im Maul an ihm vorüber. Miltiades watete weiter, während sich die Gasse vor ihm verzweigte und anstieg.

Er gelangte in die Arkaden der Fischhändler, wo der Putz verfault von den Wänden bröckelte. Der Gestank lud zu vielem ein, bloß nicht dazu, etwas zu kaufen. Von den Tischen rann ein Gemisch aus Blut und Schleim herab, Äxte steckten im Holz, zerlegte Thunfische und ausgenommene Makrelen stapelten sich darauf. Als Miltiades an drei Haien vorbeiging, die zum Ausbluten an Eisenstangen hingen, sträubten sich ihm die Nackenhaare. Ausgeweidet und mit eingeschlagenen Köpfen starrten sie auf das dreckige Pflaster hinab. Rasch ging er weiter. In ihm regte sich etwas, das ihn sonst nur im Tiefenrausch des Meeres überfiel: die Lust an der Jagd.

Menschen waren die schlimmeren Haie; feige saßen sie in ihren Booten und jagten mit Harpunen. Sie bewunderten die springenden Delfine, erstickten sie aber schon einen Moment später in ihren Fangnetzen.

Dem Fischmarkt folgte ein Gemüsemarkt mit welker Ware, dann kamen die Läden der Handwerker. Zwischen den Häusern klafften Durchgänge, die in mit Unrat überladene Hinterhöfe führten. Irgendwo klirrte der Amboss eines Schmieds.

Immer wieder ertappte sich Miltiades dabei, wie er in der von Menschen überfüllten Gasse nach oben starrte und um Luft rang. Es kam ihm vor, als rückte die düstere Häuserschlucht immer enger zusammen. Angestrengt heftete er schließlich den Blick auf den Boden und ignorierte die schmutzigen Füße, die ihm auswichen, und die Flüche der Leute, die er anrempelte.

In unregelmäßigen Abständen waren Tonsteine mit dem Phallussymbol in das Pflaster eingelassen – die Wegweiser zu den Tavernen und Bordellen. Jetzt, zur Mittagsstunde, waren dort sicher die Söldner Brevenors beim Bier und einer gebratenen Hammelkeule anzutreffen.

»He, kann’s sein, dass Ihr einen Knaben sucht?«

Miltiades drehte sich um. An der schmutzigen Hauswand lehnten zwei magere Gestalten in den gelben Gewändern der käuflichen Lust. Er trat zu den Jungen und sah zuerst in ein braunes Augenpaar, das ihm unsicher auswich. Borstiges Flachshaar rahmte das kantige Gesicht des Burschen ein, auf seinen eingefallenen Wangen spross goldener Flaum.

Den Blick des zweiten Knaben fühlte Miltiades wie eine Berührung. Blaue Augen, die lebhaft um Beachtung buhlten. Ein Kind noch, schwarz gelockt mit mädchenhaften Zügen. Der Lockenschopf schabte mit den Zähnen über seine blau gefrorenen Lippen und grinste dann gewinnend.

Miltiades verzog den Mund. »Ich suche einen fuchsroten Kentauren mit einer Augenbinde. Er heißt Brevenor und führt ein Söldnerheer an. Habt ihr von ihm gehört oder ihn gar gesehen?«

»Klar, erst gestern um diese Zeit!«, platzte der Lockenschopf heraus und handelte sich von dem Älteren einen Rempler ein.

»Wo? Wo war das?«

»Ich kann Euch hinführen«, trumpfte der Kleine auf und rieb die Fingerspitzen als Aufforderung zur Bezahlung aneinander, während der Ältere »Schleimige Ratte!« zischte.

Unwillkürlich schmunzelte Miltiades und kramte aus dem Lederbeutel unter seinem Manteltuch einige Kupferlinge hervor, die er dem Älteren hinhielt. »Hier, nimm und verschwinde!«

»Wie heißt du?«, wandte er sich an den Lockenschopf, nachdem der Ältere gegangen war, und wurde prompt wieder breit angegrinst.

»Nennt mich, wie Ihr wollt, Herr.«

»Ich erwarte eine Antwort!«

Das Grinsen im Gesicht des Jungen erlosch. »Erys«, murmelte er und blinzelte verunsichert.

»Also gut, Erys, wenn du mich zu Brevenor führst, gehört dir ein Silberling!«

Die Taverne, zu der Erys ihn führte, befand sich auf einem Hofgelände zwischen dem Handwerkerviertel und den Rückseiten der Werfthallen und hieß Orons Odem. Der rote Lehmziegelbau war einst eine Werftschmiede gewesen. Fenster gab es keine, nur ein Tor, das in Richtung Schiffshallen mit einem Flügel offen stand. Trotz der Weite des Schanksaals schlug Miltiades verqualmte Hitze entgegen. Dazu stank es nach angebranntem Hammel, Schweiß und saurem Wein. Die hohe Decke war verkohlt, die Schanktheke unter der größten Esse war aus Wrackplanken gezimmert. Dahinter standen Tavernenknechte und drehten über der offenen Feuerstelle Spieße, an denen Ziegen- und Hammelhälften brieten. Die Flammen in den kleineren Essen tauchten den Schanksaal in flackerndes Halblicht. Auf den Bänken saßen überwiegend northanische Seefahrer in Fellumhängen.

Miltiades sah sich um. Im Dämmerlicht machte er vor dem Ausschank tatsächlich mehrere dunkle Kentauren mit ledernem Brustpanzer aus, die ihre Schwerter auf den Rücken gegurtet trugen. Von Brevenor jedoch keine Spur.

Miltiades drängte Erys zu einem freien Tisch, von dem aus er das Tor sehen konnte, und zog ihn neben sich auf die Bank. »Du hast behauptet, ich würde Brevenor hier finden.« Er griff in die Locken des Burschen. »Du hast meine Zeit verschwendet, du Nichtsnutz!«

»Brevenor wird kommen«, ächzte Erys. »Orons Odem ist die einzige Taverne, in der sich die Pferdekerle nicht den Schädel an der Decke stoßen. Bekomme ich nun meinen Silberling?«

»Der, den ich suche, ist nicht da. Mach, dass du wegkommst!«

»Der rote Kentaur kommt jeden Tag hierher. Ich seh ihn immer, wenn ich hier um Küchenabfälle bettle.«

Miltiades ignorierte den Jungen, denn auf dem Hof erschollen Hufschläge, und kurz darauf verdunkelten die Umrisse eines Kentauren den Eingang.

Eilig tastete er in seinem Münzenbeutel nach Silberstücken. Es gab Zeiten, da hätte er nicht gezögert, einen Menschen zu töten, nachdem der ihm seinen Dienst erwiesen hatte. Er wusste nicht genau, warum, aber er legte alles, was er an Silber ertasten konnte, durch seine Hand verdeckt auf den Tisch. Genug, um den Rotzbengel und seinen großen Freund ein Jahr lang durchzufüttern. Offenbar berührten die Jungen etwas in ihm, das er vor langer Zeit schon abgelegt hatte – seine Menschlichkeit.

Miltiades spürte Erys’ eindringlichen Blick. Der Junge sah, was er ihn sehen ließ: einen grauhaarigen Northaner in der Mitte seines Lebens; vom Wetter gegerbte Züge, aus denen ozeanblaue Augen hervorstachen. Manches, was Miltiades den Menschen nahm, konnte er ihnen nicht wiedergeben. So auch dem Jarl aus Northan, dessen Aussehen er sich vor einigen Jahren angeeignet hatte.

Miltiades schob seine Hand mit den Münzen zu Erys hinüber. »Geh zu deinem großen Freund und heuert heute noch bei den Söldnern Northans an. Lernt, ein Schwert zu führen, damit ihr euch Glarnos eines Tages zurückholen könnt.«

Langsam hob Miltiades die Hand und hörte Erys entzückt nach Luft schnappen. »Verschwinde!«

»Danke, Herr, den Segen der Götter auf Euch«, keuchte der Junge und sammelte die Münzen ein.

»Lass dir nichts abnehmen.«

»Bestimmt nicht.« Erys rutschte von der Bank und rannte an dem Kentauren vorbei auf den Hof. Niemand nahm Notiz von ihm.

Der Kentaur trug eine Augenbinde aus Leder. Ein roter Zopf, dick wie ein Seil, hing über seine Schulter, dahinter ragte der Griff seines Beidhänders auf. Brevenor.

Miltiades blieb sitzen, bestellte beim Schankburschen einen Becher Wein und beobachtete eine Weile, wie Brevenor mit seinen Männern scherzte. Zwei der Kentauren schienen seine Offiziere zu sein. Sie alle sprachen im Dialekt der northanischen Steppen.

Ein Tavernenknecht kam um den Tresen herum und stellte ein Tablett mit dampfenden Schalen und mehreren Krügen Wein zwischen den Pferdemännern ab. Miltiades sah seine Geduld auf eine harte Probe gestellt, als die Kentauren anfingen, mit Ausdauer zu essen und zu trinken. Dann endlich hatten sie ihr Gelage beendet.

Miltiades erhob sich, legte ein paar abgezählte Münzen auf den Tisch und schlenderte zum Tresen. »Na’ eschte Hoar!«, grüßte er den Anführer der Kentauren im Dialekt der Steppe und blieb hinter dessen peitschendem Pferdeschweif stehen.

Mit stampfenden Hufen fuhr Brevenor zu ihm herum und musterte ihn mit seinem funkelnden Auge. »Feuerbrut! Miltiades?« Er stieß die Luft aus. »Scheiße, du rennst ja noch immer mit Jarl Gunnars Fresse rum!« Mit der Faust schlug er neben sich auf den Tresen. »Komm, lass uns einen heben, und dann erzählst du mir, was du hier treibst.«

Miltiades stellte sich neben ihn und wartete, bis ein Tavernenknecht zwei neue Weinkrüge und Becher gebracht hatte. »Du könntest mir einen Gefallen tun«, kam er ohne Einleitung zur Sache und legte eine Goldmünze neben Brevenors Pranke.

Schnaubend blickte der Kentaur auf die Münze, die Königin Lydraia im Profil zeigte. »Verstehe, die Schlange hat ihren Meuchler ausgesandt.« Er schnalzte mit der Zunge. »Wer steht ihr denn diesmal im Weg?«

Geflissentlich überhörte Miltiades die Frage. »Der Gilde-Erste darf dem Sultan nicht in die Hände fallen. Wenn du mir hilfst, ihn und seine Familie aus der Stadt zu schaffen, lasse ich dir so viel Gold in deinen Graspalast bringen, dass du deinen Hintern für niemanden mehr in der Schlacht riskieren musst!«

»Soso.« Brevenor bleckte die Zähne und schüttelte den Kopf. »Such dir einen anderen. Ich falle den Feldherren, die mir und meinen Männern pünktlich den Sold zahlen, nicht in den Rücken.« Er setzte den Becher an, kippte den Inhalt hinunter und rülpste vernehmlich.

Miltiades legte eine Goldmünze nach. »Wo ist der Gilde-Erste? Wo halten sie ihn und seine Familie gefangen?«

Der Kentaur schob die Münzen von sich weg und stieß einen Seufzer aus. »Behalt dein Gold. Außerdem kommst du zu spät!«

»Was soll das heißen?«

»Heute Morgen gab es Tote auf der Agora. Spontane Hinrichtungen, wenn du so willst.« Brevenor schnaubte. »Die Gemahlin des Gilde-Ersten war eine der Unglücklichen.«

Ein kalter Schreck fuhr Miltiades durch die Glieder. »Woher willst du wissen, dass sie es war?«

»Die Soldaten des Sultans haben sie und ihre Tochter in den Katakomben aufgelesen und zum Verhör auf den Platz gebracht.«

Miltiades griff nach seinem Weinbecher und merkte, wie seine Hand zitterte. »Wie hat das Mädchen denn ausgesehen?«

Brevenor brummte etwas in sich hinein. »Zartes Ding mit dunkelroten Locken«, sagte er dann. »Ihre Mutter, die überhebliche Ziege, war selbst schuld an ihrem Tod. Ist dem Satrapen derart frech übers Maul gefahren, dass der Pöbel auf dem Platz zu jubeln begann.« Mit dem Daumennagel fuhr er sich die Kehle entlang. »Tja, daraufhin hat der Satrap nicht lange gefackelt. Mit einem Wink hat er die Frau zum Schweigen bringen lassen. Sein Tribun hat ihr vom Pferd aus die Lanze in den Rücken gestoßen.«

»Was ist mit dem Mädchen?« Es kostete Miltiades einiges, seine wachsende Ungeduld zu verbergen.

»Die Kleine hat für ziemlichen Wirbel gesorgt«, schnaubte Brevenor belustigt.

»Inwiefern?«, stieß Miltiades durch die Zähne hervor.

Doch Brevenor ignorierte die Frage, in Plauderlaune fuhr er fort: »Als der Tribun dann auf ein Nicken hin ein weiteres Mal ausgeholt hatte, um auch das Mädchen zu töten, ist ihm Heeresfürst Abu Sayaf mit seinem Säbel zuvorgekommen. Stell dir vor, der Satrap bekam Maulsperre, als sein Tribun ohne Kopf vom Gaul gekippt ist. Ich kann dir sagen, die Menge hat vor Begeisterung getobt. Wo gibt’s denn so was? Die Eroberer töten sich gegenseitig. Und Amir Khayam hat ausgesehen, als hätte er beide – Satrap und Bruder – am liebsten an den Eiern aufhängen lassen.«

»Was ist mit dem Mädchen passiert?«

»Abu Sayaf hat es seinem Legaten überlassen, sich das heulende Gör zu schnappen.«

Vor Erleichterung stieß Miltiades die Luft aus. »Wohin hat man sie gebracht?«

»Auf sein Schiff. Amir Khayam hat seinen Bruder vorerst gewähren lassen, er wollte wohl keinen weiteren peinlichen Zwischenfall riskieren.« Vergnügt gluckste Brevenor vor sich hin und schüttelte den Kopf. »Verrückte Geschichte, nicht? Zu was sich ein Mann wie der Heeresfürst nicht alles wegen eines Mädchens hinreißen lässt.«

Miltiades nippte am Wein, der wie Säure in seinem Mund ätzte, und rang den Impuls nieder, sich sofort nach dem Schiff des Heeresfürsten zu erkundigen. Meliaé, dachte er, sprach ihren Namen aber natürlich nicht aus. »Weißt du, was aus dem Gilde-Ersten und seinem Sohn geworden ist?«, erkundigte er sich.

Brevenor nahm die Münzen nun doch in die Hand. »Wie ich schon sagte, du bist etwas zu spät. Die beiden liegen genau wie König Medon und seine Sippe in Ketten, und zwar im Laderaum einer Kontere. Dank Khayams Foltermeister sind die mittlerweile mehr tot als lebendig. Wenn du mich fragst, gehen sie dieser Tage noch in Leinen gewickelt von Bord.«

Miltiades verzog den Mund. Was Brevenor sagte, klang nicht gut, aber auch nicht hoffnungslos. Vielleicht konnte er doch noch etwas für die beiden tun. Aber bevor er mit dem Kentauren noch einmal in Verhandlung trat, musste er wissen, wo Meliaé hingebracht worden war. »In welchem Schiff reist der Heeresfürst?«

»Vergiss es«, zischte der Kentaur und knallte die Münzen wieder hin. »Abu Sayaf hat die Kleine in seine Kabine sperren lassen. Da kommst du nicht an sie ran.«

»Auf welchem Schiff reist Abu Sayaf?«

Brevenor starrte ihn an. »Also gut«, seufzte er. »Seine Triere ist die letzte am Pier nördlich der Mole. Seine Kabine liegt Backbord unterhalb des Heckkastells. Dürfte verdammt schwierig werden, da ungesehen reinzukommen. Meine Männer und ich können dir dabei nicht helfen.«

»Das ist auch nicht nötig.« Miltiades nickte. Dann überlegte er einen Moment. »Nun zu dem Gefallen, den du mir erweisen könntest.« Er legte Brevenor noch eine dritte Goldmünze hin.

Als der Luft holte, um abzuwehren, hob Miltiades die Hand.

»Hör dir doch wenigstens an, was ich zu sagen habe. Deine Feldherren brauchen ja nichts davon zu erfahren.«

Der Kentaur rollte mit dem Auge, nickte dann aber.

»Wie ich dich kenne, bist du nicht ohne Dryad in die Schlacht gezogen?« Dryad war der Meuchler des Kentaurenfürsten. Ein Baumnymph, der sich nahezu überall ungesehen einschleichen konnte.

Schnaubend nickte der Kentaur erneut.

»Gut, dann soll der sich heute Nacht auf das Folterdeck der Kontere schmuggeln und das tun, was er am besten kann. In einem Stapel Leichen sollte es doch möglich sein, zwei besinnungslose Männer von Bord zu schaffen. Oder?«

Brevenor griff nach der dritten Münze, um sie zu betrachten, und schob die Unterlippe vor. »Tja, und was soll ich dann mit den halb toten Gestalten anfangen? Ich kann sie ja schlecht in eine northanische Rüstung stecken.« Er lachte.

»Bring sie aus der Stadt und versteck sie in den Wäldern. Sobald das erledigt ist, schicke mir morgen Abend einen Boten in den Götterhain hinter dem Pantheon, der mir sagt, wo ich die beiden finde. Egal, in welchem Zustand sie ist, ich kann sie heilen. Später, wenn du mit deinem Heer nach Hause ziehst, nimm sie mit. In einem halben Jahr schicke ich jemanden vorbei, der die beiden dann abholt. Mit Gold.«

Kapitel 2

Im Wein liegt Wahrheit

Meliaé schlug die Augen auf und stöhnte gegen den Knebel in ihrem Mund an. Um sie herum war es stockfinster. Sie lag auf dicken Fellen, und irgendwie schien alles unter ihr zu schwanken. Als sie die über dem Kopf festgebundenen Hände zu bewegen versuchte, entrang sich ihr ein Winseln. Die straff gezogenen Lederriemen schnitten ihr ins Fleisch.

Angespannt lauschte sie auf ihre Umgebung, hörte aber nur das Knarzen des Schiffsrumpfs und ihre eigenen rasselnden Atemzüge. Schlagartig holte sie das Grauen ein.

Alles war so schnell gegangen. Die Ermordung ihrer Mutter inmitten der Leute. Der Wink des Satrapen und dann das Zustoßen des schakalfratzigen Ašhāk mit der Lanze, eiskalt und ohne Gnade. Und dann war alles unter dem Zorngebrüll des aššunischen Heeresfürsten erstarrt. Ohne Vorwarnung hatte er sein Schwert gezogen und dem Ašhāk den Kopf abgeschlagen.

Es hatte Blut geregnet, und Meliaé war nur knapp den vor ihr aufstampfenden Pferdehufen entgangen. Allein die Erinnerung daran ließ ihr Herz schneller schlagen und trieb ihr wieder den metallischen Geruch von Blut in die Nase. Sie schluckte, Übelkeit wallte in ihr auf.

Ein Titan von einem Ašhāk aus dem Gefolge des Heeresfürsten war vom Pferd gesprungen und hatte sie gepackt.

»Bringt sie auf mein Schiff!«, hatte Abu Sayaf befohlen. Das war das Letzte, an das sie sich erinnern konnte, ehe der schakalfratzige Titan sie bewusstlos geschlagen hatte.

Meliaé bewegte ihre durch die Fesseln ebenso tauben Füße und stöhnte gegen den speicheltriefenden Knebel in ihrem Mund. Wie lange sie nun hier lag, ob erst einige Stunden oder schon die ganze Nacht, vermochte sie nicht zu sagen.

Oh, ihr Götter, lasst uns noch nicht ausgelaufen sein!

Tränen rannen ihr heiß über die Schläfen. Sie warf den Kopf zur Seite und entdeckte umherhuschende Schatten unter einem verzogenen Türblatt. Verhalten drangen Männerstimmen an ihr Ohr. Aber das waren keine Männer, es waren Ašhāk! Schakalköpfige Sultanskrieger.

Meliaé zog die Nase hoch, erneut wallte Panik in ihr auf. Was, wenn sie an diesem Knebel erstickte? Nicht weinen! Verzweifelt konzentrierte sie sich darauf, ruhiger zu atmen, und nach einer Weile ging es tatsächlich leichter. Ihr Herzrasen ließ nach. Um sich abzulenken, sah sie dorthin, wo sie ein mit rotem Stoff verhangenes Fenster vermutete. Wie geronnenes Blut sickerte Licht durch den Vorhang. Dahinter war die Struktur eines Ornamentgitters zu erkennen.

Meliaé erinnerte sich, solche Gitter an den Kastellen der prächtigen Trieren gesehen zu haben, die die meiste Zeit des Jahres in Glarnos’ Hafen lagen.

Die Männerstimmen vor der Kammer wurden lauter. Als sie den Kopf zur Tür drehte, ging sie auf, und ihr Herz überschlug sich.

Der Titan, der sie bewusstlos geschlagen hatte, trat mit eingezogenem Kopf ein. Jedoch war er kein Ašhāk mehr – statt eines schwarzen Schakalschädels saß nun ein menschliches Haupt auf seinen Schultern, und er hatte jetzt Menschenhände statt der fellbewachsenen Klauen. Er trug ein Tablett mit dampfenden Schüsseln und Öllampen herein, Helligkeit drang in die Kammer.

Hinter ihm schloss jemand die Tür. Flüchtig sah der Titan in ihre Richtung und ging zu einem mit Pergamentkarten überhäuften Tisch nahe dem dunkelroten Vorhang.

Meliaé schauderte. Die Wangenknochen in seinem sonnengegerbten Gesicht traten so scharf hervor wie bei einem Totenschädel. Einen hässlicheren Aššuner hatte sie noch nie gesehen.

Mit dem Rücken zu ihr stellte er das Tablett auf dem Tisch ab. Im Nacken wurde sein welliges Haar von Metallspangen zusammengehalten. Er räumte Papyrusrollen beiseite und schob Pergamentkarten übereinander, dann hantierte er mit den Öllampen. Eine nach der anderen befestigte er in schmiedeeisernen Halterungen, die aus den Holzwänden ragten, und allmählich vertrieb ihr Schein den Rest Finsternis.

Hastig bog Meliaé den Kopf zurück. Ineinander verdrehte Riemen fesselten ihre überkreuzten Handgelenke an die Querbalken des Bettes. Sie sah an sich hinunter, doch an dem mit schwarzen Fellen belegten Lager konnte sie nicht erkennen, wo die Riemen um ihre Fußgelenke befestigt waren.

Meliaé starrte auf den Rücken des Titanen. Ob das seine Kammer war? Bang blieb ihr Blick an der schwarzen Kleidung hängen, die über einem Stuhl hing.

Der Geruch fremdartiger Speisen drang ihr in die Nase, und sie blähte angewidert die Nasenflügel. Obwohl sie tagelang gehungert hatte, drehte sich ihr der Magen um. Sie würgte an dem bitteren Schleim, und der Knebel in ihrem Mund schien immer dicker zu werden. Hustend bäumte sie sich auf, doch plötzlich war der Titan über ihr, lockerte die Knebelfessel in ihrem Nacken und zerrte ihr den nassen Brocken aus dem Mund.

»Lieg still, Mädchen!«, befahl der Aššuner ihr mit hartem Akzent und drückte sie in die Felle.

»Nein, nicht!«, wimmerte sie, als seine schwieligen Hände über ihre Arme glitten und ihr sein weinschwerer Atem entgegenwehte. Sie drehte den Kopf weg und weinte. Das gierige Flackern in seinen schwarzen Augen machte ihr Angst. »Hau ab, verschwinde!« Verzweifelt und weinend kämpfte sie gegen ihre Fesseln. In einer überwältigenden Bilderflut kam das Grauen zurück.

Unter der Brust ihrer Mutter ragte eine blutige Lanzenspitze aus ihrem Leib. Hinter ihr thronte der Ašhāk auf einem riesigen Pferd. Er hatte sie hinterrücks durchbohrt und zerrte nun an dem Schaft, um seine Lanze freizubekommen.

Meliaé fiel schreiend auf die Knie, um sie herum das Gebrüll aufgebrachter Aššuner. Vor ihr auf dem Pflaster lag ihre Mutter. Blut rann ihr aus dem Mund, und es war auch überall auf ihrem Gewand, ihre Augen blickten leer.

Plötzlich vibrierte die Luft vor Gefahr. Ein Pferd wieherte schrill, und im nächsten Moment schlugen Hufe vor ihr auf dem Pflaster auf.

Eine harte Ohrfeige traf Meliaé, und der reale Schmerz vertrieb die Schreckensbilder in ihrem Kopf. Tränenüberströmt sah sie in die hässliche Fratze des Aššuners. »Los, warum tötest du mich nicht? Das ist doch das Einzige, was ihr räudigen Hundesöhne könnt!«

In seinem Blick wandelte sich Zorn zu Verblüffung. Dann warf er den Kopf zurück und lachte, dass es in der ganzen Kammer dröhnte. Zu Meliaés Erstaunen machte er kehrt und marschierte mit eingezogenem Kopf zur Tür hinaus.

Mit pochendem Herzen beobachtete sie die Wachen auf dem Flur. Zwei Ungeheuer, halb Mann, halb Wüstenwolf. Sie standen mit dem Rücken zur Tür und hatten die Ohren gespitzt. Aus ihren Klauen ragten Lanzen empor. Lanzen wie die, mit der ihre Mutter niedergestochen worden war.

Wenige Augenblicke später erklangen Schritte auf den Planken, und eine stattliche Gestalt schälte sich aus dem Dunkel des Flurs.

Als sie erkannte, wer da durch die Tür trat, blieb Meliaé die Luft weg. Abu Sayaf. Der Heeresfürst von Aššu.

Aber er sah so ganz anders aus als auf der Agora. Kein Mantel aus nachtdunklem Purpur, kein ornamentverzierter Helm, keine prächtige Bronzerüstung. Stattdessen trug er einen metallbeschlagenen Sarrock aus schwarzem Leder, der ihm bis zu den Schenkeln reichte, eine eng anliegende Hose und Schnabelstiefel mit metallenen Beinschienen. Die Lederbänder seines Sarrocks hingen offen herab, so als sei er hastig hineingeschlüpft, und offenbarten seine gebräunte Brust und den muskulösen Leib. Sein dunkles Haar war von der Sonne ausgebleicht und nur nachlässig zusammengebunden. Für einen Aššuner besaß er ein ungewöhnlich wohlgestaltes Gesicht. Ein gut aussehender Höllenhund mit goldenen Augen.

Auf einen Wink von ihm schloss die Wache die Tür. Am Fußende des Lagers blieb er stehen.

»Was heult Ihr?« Abu Sayaf senkte den Kopf und erinnerte sie an einen Wolf, der Beute witterte. »Hat Euch mein Legat geschlagen? Oder gar unschicklich berührt?«

»Als ob Euch das etwas schert!«, fauchte sie. Dieser Heuchler! »Warum hat Euer Satrap das getan? Meine Mutter wollte bloß verhindern, dass ich der Hundemeute in die Hände falle, die Ihr Soldaten nennt.«

Er trat ein wenig näher und zuckte nur die Schultern, jedoch sprach sein Blick jetzt eine deutliche Warnung aus.

Die aufsteigenden Tränen zogen Meliaé die Kehle zusammen, sodass sie nicht mehr sprechen konnte, aber gleichzeitig erhitzte sie ein so unbändiger Zorn, dass sie unmöglich Ruhe geben konnte. »Warum habt Ihr nicht eher etwas unternommen? Warum habt Ihr den Feigling mit der Lanze gewähren lassen? Meine Mutter war eine Frau, von der niemand auf dieser Welt je ein böses Wort gehört hat.« Schluchzend brach sie ab. Unter seiner abschätzenden Musterung wurde ihr ganz schlecht. Er hielt an ihr Beschau, als wäre sie eine gehäutete Ziege auf dem Fleischmarkt.

»Eure Mutter ließ dem Satrapen meines Bruders keine andere Wahl. Mit ihrem Gekeife hat sie es fertiggebracht, den ganzen Platz aufzuwiegeln. Sie hätte auf seine Fragen eingehen müssen. Stattdessen hat sie nur auf die Freilassung ihres Sohns und ihres Gemahls gepocht.« Abu Sayaf kreuzte die Arme vor der Brust und legte den Kopf schräg. »Na? Wo hätte es denn sonst hingehen sollen? Zurück in die Katakomben? Damit Ihr Euch im Dunkeln wieder verlauft und verhungert? Einfach nur dumm nenne ich das!«

Sie stieß einen verächtlichen Laut aus. »Jetzt wollt Ihr mir auch noch weismachen, Ihr hättet nur die edelsten Absichten gehabt? Warum habt Ihr den Satrapen die Sache nicht zu Ende bringen lassen? Warum lebe ich noch?«

Ein schmales Lächeln glitt über seine Züge. »Nun, vielleicht bin ich der Meinung, Ihr wärt mir noch von Nutzen.« Erneut zuckte er die Schultern. »Möglicherweise hat es mich auch einfach nur gereizt, Eurer habhaft zu werden.« In seinen Augen blitzte es auf.

Meliaé hob den Kopf und versuchte, ihn anzuspucken. Sie scheiterte kläglich, die Spucke landete auf ihrem eigenen Gewand. »Verflucht sollt Ihr sein, Ihr und Eure räudige Bande von aasfressenden Hunden!« Mit einem wütenden Aufschrei warf sie den Kopf zurück. Ein Jammer, dass sie angebunden war!

»Hüte deine Zunge, Mädchen, sonst schneide ich sie dir heraus!«, grummelte er, doch in seinen Augen funkelte es jetzt eher belustigt als beleidigt.

Aber damit stachelte er Meliaés Wut nur noch mehr an. »Nur zu! Ich winsle bestimmt nicht um Gnade!«

Mit zwei Schritten kam Abu Sayaf an das Lager und packte sie am Kinn. »Wenn du weiter herumkeifst, werde ich dich wieder knebeln! Die Soldaten vor der Tür verstehen deine Sprache nicht, wohl aber deinen frechen Ton.« Er ließ sie los und stützte die Hände neben ihrem Kopf ab. Ganz dicht brachte er sein Gesicht vor ihres. »Ginge es nach meinem Bruder, wärt Ihr jetzt auf seinem Schiff. In seiner Kabine. Keine Ahnung, was er in diesem Moment mit Euch anstellen würde. Aber vielleicht hättet Ihr es auch schon hinter Euch, und seine Wachen würden das, was er übrig gelassen hat, über Bord werfen.«

Dass er wieder zur förmlichen Anrede gewechselt hatte, obwohl er ihr mit seinen Worten nur noch größere Angst machen wollte, irritierte sie. Für einen atemlosen Moment sah sie in seine zornigen Augen, die dunkel waren und goldene Einsprengsel besaßen.

»Was ist?«, drängte er. »Nur ein Wort, und ich lasse Euch zu Amir Khayam in die Kabine schaffen!«

Langsam schüttelte sie den Kopf. Doch der Heeresfürst von Aššu rührte sich nicht von der Stelle. Offenbar wartete er darauf, dass sie ihn anflehte, es nicht zu tun.

Meliaé blinzelte die erneut aufsteigenden Tränen weg, denn ihr ging durch den Sinn, was ihre Mutter gesagt hatte, kurz bevor sie gestorben war. »Am Ende wird Amir Khayam mit leeren Händen dastehen. Nichts bekommt er! Weder das Siegel noch meine Tochter!«

Sie biss sich auf die Unterlippe. »Ich weiß nichts über die Geheimnisse der Gilde meines Vaters«, flüsterte sie. »Das müsst Ihr mir glauben! Euer Bruder kann mit mir anstellen, was immer er will, ich werde ihm nichts sagen können.«

»Möglicherweise wisst Ihr mehr, als Ihr denkt …«, murmelte Abu Sayaf und schwieg, während er gründlich ihr Gesicht erforschte. »Was habt Ihr und Eure Mutter in den Katakomben zu suchen gehabt? Gibt es von dort aus einen Weg aus der Stadt? Wie ist Euer Name? Ihr seid doch die Tochter des Gilde-Ersten, richtig?«

Die unerwartete Frage in samtweichem Ton fuhr ihr in den Magen wie eine Nadel. Sie musste auf der Hut sein, er horchte sie aus. Was sollte sie jetzt tun? Zudem wusste sie ja tatsächlich nicht, ob es in den Katakomben einen Weg aus der Stadt gab. Ihre Mutter hatte nur gemeint, sie müssten sich dort unten verstecken und auf Hilfe warten. Hilfe, die nicht gekommen war.

Schweigend hielt sie seinem forschenden Blick stand.

Der spöttische Zug um seinen Mund verschwand, seine Miene wurde ausdruckslos. »Habt Ihr noch andere Geschwister außer Simos?«, herrschte er sie scharf an. »Nennt mir die Namen aller Kaufleute von Glarnos. Welche Adligen sind in Eurem Haus ein und aus gegangen?«

Heftig schüttelte sie den Kopf.

Triumphierend bleckte er seine Raubtierfänge. »Das heißt also, es gibt eine ganze Menge, was mein Bruder aus Euch herauspressen kann. Und das wird er, da könnt Ihr Euch sicher sein.«

»Würdet Ihr Eure Familie und Eure Freunde an Eure Feinde ausliefern?«

Er blieb ihr die Antwort schuldig, wich vor ihr zurück und ging zum Tisch. Dort machte er sich in aller Ruhe an den tönernen Gefäßen auf dem Tablett zu schaffen.

»Spart Euch die Mühe!«, krächzte sie. »Ich will nichts!« In ihrer Kehle kratzte noch immer die Galle, und der Gedanke, etwas von diesen fremdartig gewürzten Speisen zu sich zu nehmen, stieß sie ab.

Gleich darauf kam Abu Sayaf mit einem dampfenden Tonbecher zurück und setzte sich neben sie. »Trinkt! Es ist warmer Wein mit Honig und Gewürzen.«

Langsam bewegte Meliaé den Kopf hin und her. »Ich bin nicht durstig!«

»Doch, das seid Ihr, und hungrig dazu.« Mit der freien Hand wedelte er vor seiner Nase herum. »Außerdem stinkt Ihr wie eine Herde Ziegen. Wenn ich Euch weiterhin gestatten soll, in meinem Bett zu liegen, werdet Ihr ein Bad nehmen müssen.«

Sie riss die Augen auf. Sein Bett! Ihr brach der Schweiß aus allen Poren. »Bindet mich los! Ich bade nicht!«

Zwischen seinen dunklen Brauen erschien eine Falte. »Ihr werdet trinken, essen und baden!«

»Nein!«

Seine Hand glitt unter ihren Kopf. »Mund auf!« Schmerzhaft vergrub er die Finger in ihrem Haar, und der Tonbecher schlug gegen ihre Zähne. »Trinkt! Dann binde ich Euch los!«

Hasserfüllt funkelte sie ihn an. Er köderte sie mit leeren Versprechungen. Aber letztendlich blieb ihr nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Zögernd lockerte sie den verkrampften Kiefer und teilte die Lippen. Der bittersüße Wein rann brennend ihre Kehle hinab und setzte ihren Magen in Flammen. Meliaé stockte der Atem, als sein Daumen an ihrem nassen Kinn entlangstrich, bis hoch zu ihrer Schläfe. Das Kratzen des getrockneten Salzes auf ihrer Wange jagte ihr Schauer durch den Leib. Doch sie schluckte folgsam, bis Abu Sayaf den Becher absetzte.

Pures Vergnügen leuchtete aus seinen Augen. Behutsam legte er ihren Kopf auf den Fellen ab. Dann schleuderte er den Becher achtlos weg und zog einen Dolch aus der Halterung an seiner Stiefelschiene.

Erschrocken drückte sich Meliaé in die Felle, dann war er erneut über ihr, und wieder kam ihr sein Gesicht so nah, dass sie den Bartschatten auf seiner Haut erkennen konnte. Er roch nach dem kostbaren Öl der Holzorange und nach Leder. Blinzelnd hielt sie die Luft an, während er sich an den Riemen über ihrem Kopf zu schaffen machte. Er schnitt sie los, und begleitet von einem sengenden Schmerz rissen ihre Fesseln.

Sie ließ zu, dass er ihr die Arme vor die Brust drückte, um die Riemen von ihren Handgelenken zu wickeln. Brennend schoss das Blut zurück in ihre Hände, während er sich von ihr abwandte, um auch noch die Lederriemen von ihren Fußgelenken zu zerschneiden. Als er damit fertig war, zupfte er ihr das Gewand über die nackten Beine, umfasste ihren Arm und half ihr auf.

Während sie ein Stöhnen unterdrückte, blickte sie auf ihre gefühllosen Füße. An Weglaufen war nicht zu denken, keines ihrer Glieder gehorchte. Sie rutschte bis zum Kopfende des Lagers und vergrub das Gesicht im Ärmel ihres Gewands.

»Nicht weinen«, murmelte Abu Sayaf und griff nach ihrer Hand. Sie versuchte, sich ihm zu entziehen, aber er hielt sie fest und fuhr mit dem Daumen über ihre blutig gescheuerten Handgelenke. »Naphassa!«, zischte er durch die Zähne und sah in Richtung Tür. Ein unheilverkündender Wortschwall in seiner Sprache folgte, ehe er ihr den Blick wieder zuwandte. »Eure Wunden müssen gesäubert und verbunden werden.«

»So?«, krächzte sie. Eine seltsame Benommenheit machte sich in ihr breit. Der Wein, den er ihr aufgezwungen hatte, war ungewöhnlich stark gewesen.

Seine Augen wurden schmal. »Wo waren wir stehen geblieben? Ah ja, richtig, Ihr wolltet mir Euren Namen verraten.«

»Eher ersticke ich!«

Er schnaubte. »Aber ich habe Wort gehalten und Euch losgeschnitten.«

Sie presste die Lippen zusammen. Sollte er doch gegen die Wand reden. Sie würde sich von seinem scheinheiligen Getue nicht einwickeln lassen. Ihre Benommenheit nahm zu. Die Kammer fing an zu schwanken. Haltsuchend tastete sie nach dem hölzernen Pfosten am Kopfende des Lagers.

Er legte den Kopf schräg. »Ein bisschen seltsam zumute, hm? So, als hättet Ihr zu viel Wein getrunken?«

»Ich weiß nicht, ich …« Ihr gesamter Körper fühlte sich an wie mit warmer Grütze gefüllt. Ihr Hinterkopf prallte gegen das Holz.

»Das kommt von dem Mardom, den ich in den Wein getan habe.«

»Mardom?«, nuschelte sie. In ihren Lippen kribbelte es derart, dass sie nicht anders konnte, als zu grinsen.

»Eine Schlafdroge, die, sparsam dosiert, auch noch anderes bewirkt. Sie lässt Euch alle Scham und Zurückhaltung vergessen.« Er lächelte verschlagen.

»Ah ja?« Sie verdrehte die Augen, ihre Lider waren auf einmal ganz schwer. Wieder dröhnte ihr Kopf gegen das Holz. Er hatte ihr ein Rauschmittel verabreicht. Eigentlich hätte sie wütend sein sollen, doch seltsamerweise empfand sie keinen Zorn. Ganz im Gegenteil.

Am liebsten hätte sie gelacht. Aus voller Kehle. Aber sie beherrschte sich und kniff die Lippen zusammen. Ihr Kopf rutschte gegen seine Schulter. Und obwohl der letzte Rest ihres Verstands sie klar davor warnte, ließ sie es geschehen, dass er den Arm unter ihren Körper schob und sie zu sich zog. »Sagt, wie heißt Ihr?« Er griff nach ihrem Kinn und hob ihr Gesicht an.

»Meliaé«, murmelte sie. Mit einem Mal hatte sie das Bedürfnis, auf seine Fragen einzugehen.

»Klingt hübsch. Aber nicht gerade tharisch.« In seinen Augen flackerte Interesse auf, und ihr wurde ganz seltsam zumute. »Woher stammt dieser Name?« Sein Gesicht war jetzt so dicht vor ihrem, dass sein Atem sie an den Lippen kitzelte.

Sie bewegte den Kopf. »Keine Ahnung.« Sie würde ihm nicht auf die Nase binden, dass ihr Vater sie nach einer Najade aus den Legenden benannt hatte.

Er rückte von ihr ab und musterte sie schmunzelnd. Dann hob er die Hand, und sie zuckte zusammen, als er die Beule an ihrer Schläfe befühlte, die sein Titan ihr verpasst hatte. Mit dem Fingerknöchel strich er über ihre Unterlippe. »Nun, Meliaé, vielleicht noch etwas Wein? Ich habe das Gefühl, dass es mit Euch noch eine aufschlussreiche Nacht werden könnte.«

Irgendwo klopfte es gegen Holz, und von weit weg rief eine resolute Männerstimme harsche Worte, denen Meliaé jedoch keine Bedeutung abringen konnte.

»Hat Euer Vater in Eurem Beisein je über seine Geschäfte gesprochen?«, drängte Abu Sayafs Stimme sanft neben ihrem Ohr. »Hat er vielleicht ein Siegel erwähnt? Oder etwas in der Art?«

»Ähm …« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Das Siegel war ein Mysterium der Gilde. Sie selbst vermutete eine Art Synonym dahinter. Aber weder ihr Vater noch sonst jemand aus der Gilde hatte sich in ihrem Beisein je näher dazu geäußert. »Kann ich noch etwas zu trinken haben? Wasser, bitte«, versuchte sie Zeit zu schinden, doch das Verlangen, ihm zu antworten, wurde übermächtig. »Mein Vater spricht zu Hause nie über seine Geschäfte, jedenfalls nicht, wenn ich dabei bin.« Sie schaffte es, seinem Blick standzuhalten und sich auf die Frage zu konzentrieren, die ihr in der Seele brannte. »Geht es ihm gut? Ich meine, ist er … Hat Euer Bruder … Und was ist mit Simos?« Heiß strömten die Tränen über ihr Gesicht. »Bitte!«, flehte sie nun. »Amir Khayam darf meinem Bruder nichts tun. Simos weiß doch ebenso wenig über Vaters Geschäfte wie ich.«

Abu Sayaf zog seinen Arm unter ihr hervor, schob ihr die Felle in den Rücken und erhob sich vom Lager. Verwirrt blickte sie ihm hinterher.

Mit einem scharfen Wort riss er die Tür auf, verharrte einen Moment mit gestrafften Schultern, bevor er seinen Legaten hereinwinkte.

Kurz begegnete Meliaé dem unwirschen Funkeln in den Augen des Titanen, sein Blick verhieß nichts Gutes. Dann verstellte ihr Abu Sayafs Rücken die Sicht. Es folgte ein Wortwechsel in dem kehligen Singsang der Aššuner. Ernüchternd drang Amir Khayams Name durch den Nebel, der ihr Denken und Fühlen beherrschte.

Sie zog die Beine an und schlang die Arme darum.

Die Unterhaltung verebbte, Abu Sayaf deutete mit dem Daumen über die Schulter auf sie und brummte etwas, das wie eine Anweisung klang.

Instinktiv krümmte sie sich noch enger zusammen. Würde er sie doch an seinen Bruder ausliefern? Selbst durch den Rausch des Mardoms kroch die Furcht vor Amir Khayam in ihr empor.

Die ruppige Antwort des Legaten ließ sie zusammenzucken. Der Titan schlug sich die Faust gegen die Brust, verbeugte sich knapp und verließ die Kammer.

Einige Herzschläge lang starrte der Heeresfürst auf die Tür, vergrub die Finger in seinem zusammengebundenen Haar, sodass sich einzelne Strähnen lösten. »Mein Bruder verlangt nach mir.« Zischend stieß er die Luft aus und griff nach dem Türriegel. »Wenn ich zurückkomme, erwarte ich, Euch in einem ansehnlichen Zustand vorzufinden!«