Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe München 2018

© 2018 arsEdition GmbH, Friedrichstr. 9, 80801 München

Alle Rechte vorbehalten

© Text: Frank Maria Reifenberg

© Coverillustration und Vignetten: Fréderic Bertrand

Textlektorat: Kerstin Kipker

ISBN eBook 978-3-8458-2720-9

ISBN Printausgabe 978-3-8458-1747-7

www.arsedition.de

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Cover

Titel

Impressum

Ein Gast mit Hintergedanken

Ein Auge auf Abwegen

Ein paar Augen und Beine zu viel

Ein Gerät, das plaudert

Ein geisterhafter Hausputz

Ein unbequemes Versteck

Ein überraschender Besuch aus der Vergangenheit

Ein paar Leute drehen durch

Ein hundsgemeiner Diebstahl

Eine leichte Beute, die schwer wiegt

Eine Schummelei und ein unglaublicher Plan

Ein sprechendes Schaf

Ein Missgeschick mit Folgen

Eine verhängnisvolle Leidenschaft

Eine wissbegierige Meute

Ein paar Leute erfahren die Wahrheit

Ein unerwarteter Besuch

Einer stürzt ab

Einer steigt auf

Der Autor

Weitere Titel

Leseprobe zu "House of Ghosts - Der aus der Kälte kam"

»HERZLICH WILLKOMMEN IN DER PENSION EMILIE«, begrüßte Mama den Neuankömmling.

Der Mann stand mit vier Koffern, zwei Reisetaschen und einem Holzkasten ungefähr von der Größe eines Schuhkartons in der großen Eingangshalle. Sein Blick schweifte durch den hohen Raum, an dessen Wänden sich ausgestopfte Tiere aus aller Welt, Geweihe von Hirschen und Elchen sowie Glasschränke mit getrockneten Insekten bis hinauf zur Decke zogen. Den ledernen Griff des etwas abgestoßenen Behälters, den er in der einen Hand hielt, umklammerte er mit knochigen Fingern. Er gab ihn nicht her, als Mama ihm anbot, dass jemand (nämlich Hotte oder ich) das Gepäck auf sein Zimmer bringen könnte. Mit der anderen Hand strich er sich durch den buschigen Vollbart, der sein Gesicht nach unten hin verlängerte.

»Der ist gefärbt«, flüsterte ich. »So einen schwarzen Bart hat keiner in dem Alter.« Kein einziges graues Haar war in dem Busch zu erkennen, auch nicht in seinem Kopfhaar, das er sich von links nach rechts über den ziemlich kahlen Schädel gelegt hatte. Ich schätzte ihn auf mindestens so alt wie Mister Tamonelli, den Zeitungshändler an der Ecke unserer Straße, als wir noch in New York gewohnt hatten. Tamonelli hatte immer behauptet, er sei 61, aber alle in der Straße hatten gewusst, dass er zehn Jahre wegschummelte.

»Der ist mir nicht geheuer«, flüsterte Hotte.

»Mir auch nicht«, flüsterte ich.

Wir hatten uns im ersten Stock hinter dem Holzgeländer versteckt und die Ankunft unseres ersten Gasts erwartet. Unseres ersten zahlenden Gasts, wie Mama mehrmals betont hatte.

»Wer ist ein Ungeheuer?«

Hotte und ich zuckten zusammen.

»Du sollst dich nicht immer von hinten anschleichen«, zischte ich meinen kleinen Bruder an, der sich uns völlig lautlos genähert hatte. »Und lauschen sollst du auch nicht.«

Das war eine von Bobbyboys Unarten. In meinen Sachen wühlen, sich das größte Stück Kuchen schnappen und immer im falschen Augenblick an der falschen Stelle auftauchen gehörten auch dazu.

»Aber ihr lauscht doch auch«, sagte Bobbyboy.

»Wir lauschen nicht, wir beobachten unauffällig«, gab ich zurück.

»Ach so«, sagte Bobbyboy. »Dann helfe ich euch dabei. Ich bin sehr gut im Unauffällig-Beobachten.« Er hockte sich neben uns.

Ich verdrehte die Augen, sagte aber nichts.

Haltet euch erst einmal zurück, hatte Mama uns eingeschärft. Die Gäste sollen bei ihrer Ankunft nicht befürchten müssen, dass ihr Aufenthalt durch einen Haufen herumtobender Kinder gestört wird und sie keine Ruhe finden werden.

Bobbyboy setzte sich und hielt zum Glück die Klappe.

»Eigentlich eröffnen wir erst in ein paar Tagen«, sagte Mama zu dem Schwarzbart. »Aber weil Sie es so eilig hatten, haben wir ein wunderschönes Zimmer für Sie hergerichtet. Den Safari-Salon.«

Meine Urgroßschwiegercousine Emilie Bauerfeind und ihre Vorfahren hatten in der Villa Gegenstände aus aller Welt gesammelt. Mama hatte alles, was irgendwie an Afrika erinnerte, zur Dekoration dieses Zimmers genutzt. Das Bett wurde von der hölzernen Statue eines Massai-Kriegers bewacht. Er hielt eine gefährlich aussehende Lanze in der Hand, mit der man sich garantiert auch einen hungrigen Löwen vom Leib halten konnte.

Die Aussicht darauf beeindruckte den Mann nicht besonders. Er knurrte nur etwas Unverständliches.

»Im ersten Stock, mit Blick auf den Park«, sagte Mama.

Hotte gluckste. »Park? Seit wann habt ihr einen Park?«

»Der Garten ist doch ein Park. Fast.« Ich stupste ihn in die Seite.

Hotte gluckste wieder. »Erasmus würde jetzt sagen: Stups mich nicht.« Er hatte den guten alten Erasmus Schöngeist so treffend nachgemacht, dass ich kichern musste.

»Wer ist denn Erasmus?«, fragte Bobbyboy.

»Ach nichts … jemand … niemand …«, stotterte ich. Bobbyboy war in diesem Haus der Letzte, dem ich das erklären wollte. Mir war zwar schon klar, dass ich die Besonderheiten dieser Villa nicht mehr lange vor meiner Familie verbergen konnte, zumindest vor Mama und Papa nicht. Ob es jedoch eine gute Idee sein würde, meinen kleinen Bruder einzuweihen, dass es in diesem Haus Gespenster gab, war mehr als fraglich.

»Frühstück gibt es von sieben bis zehn Uhr. Unten im Gartenzimmer. Auf Wunsch bringen wir es Ihnen auch ans Bett«, flötete Mama übertrieben freundlich.

Ich kannte diesen Tonfall. Sie musste sich zusammenreißen. Der Mann gefiel ihr nicht.

»Ich frühstücke nicht«, brummte dieser.

»Dann eben nicht«, rutschte es Mama patzig heraus.

Bei der Idee, aus unserer Villa eine Pension zu machen, hatte sie wohl nicht bedacht, dass die Gäste einer solchen Herberge nicht nur nette Leute sein würden.

Als wir das Haus von Emilie geerbt hatten, befand sich die Villa in einem jämmerlichen Zustand. Unser Bankkonto war jedoch in einer noch viel schlimmeren Verfassung, sodass wir erst mal nur froh waren, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben. Emilie hatte uns zudem eine Menge Schulden hinterlassen, allerdings – wie sich dann später herausstellte – auch einen ziemlich ordentlichen Schatz in Form von Goldmünzen. Ihre Tätigkeit als Pförtnerin zum Jenseits für verlorene Seelen, Spukgestalten und Gespenster jeder Art hatte ihr dieses Vermögen beschert. Bisher wusste Mama nichts davon, dass Emilie mir nicht nur die Villa vererbt hatte, sondern auch den Job an dieser Pforte. Jedenfalls hatte Mama dessen ungeachtet eine etwas verwunschene, romantische und altmodische Pension daraus gemacht, der eigentlich nur noch die zahlenden Gäste fehlten.

Dass gleich der erste von ihnen leider ein Griesgram war, konnte man schon von Weitem erkennen.

»Irgendwie kommt der mir bekannt vor«, murmelte Hotte.

»Ich will das Zimmer mit den meisten …«, forderte der Mann.

Worum es ihm ging, konnte ich nicht verstehen, denn mein Bruder flüsterte mir ins Ohr: »Herr Ichwill ist ausgegangen. Fragen Sie mal Herrn Ichmöchtegern.«

Hotte und ich starrten Bobbyboy an. Wir konnten uns nicht mehr halten, denn diesen Spruch hörte sonst immer nur Bobbyboy selbst. Von Mama und Papa. Wir prusteten laut los.

Der Mann warf einen bösen Blick hinauf zur Galerie. Notgedrungen rief Mama uns hinunter in die Halle.

»Der Kleine ist unser Sohn Bobby und die junge Dame ist meine Tochter Melli und der Junge ist ihr bester Freund Hotte.«

»Horst Friedrich Karl Hippolytus von Mengenfeld Freiherr zu Blankenburg«, stellte Hotte sich mit seinem vollen Namen vor. Er wollte klarstellen, dass dieser unfreundliche Kerl nicht zu den Leuten gehörte, die ihn einfach nur Hotte nennen durften.

»Mengenfeld?«, fragte der Mann. »Bist du etwa mit diesem anderen Mengenfeld, diesem August Gottlieb Servatius Freiherr von Mengenfeld verwandt?«

Hotte schaute ihn erstaunt an. »Äh, ja …«

»Dem Autor des Handbuchs der Spukerscheinungen von 1849 in der vollständig überarbeiteten Auflage von 1923 mit 37 Bildtafeln

Hottes Augen weiteten sich noch ein bisschen. »Äh, ja …«

»Völlig überbewertet, dieses Machwerk«, schnaubte der Mann verächtlich. »Vöööllig überbewertet!«

Hottes Miene verdüsterte sich. Auf seinen Urgroßvater August ließ er nichts kommen und auf das Handbuch schon gar nicht, schließlich arbeitete Hotte an der dritten Ausgabe, ebenfalls vollständig überarbeitet, und zwar von niemand anderem als Hotte selbst.

Bevor Hotte den Mann zurechtweisen konnte, sagte Mama: »Die Kinder werden Sie gar nicht stören!« Und dann fuhr sie mit der Vorstellungsrunde fort: »Das ist Herr Professor Schnucks.«

»Schnöcks«, verbesserte der Professor sie.

Mama warf einen Blick in das Gästebuch. »Oh, Schnöcks, ja, richtig. Heinrich Schnöcks, so habe ich es auch eingetragen.«

»Hubert Schnöcks«, verbesserte der Professor sie noch einmal.

Hotte rammte mir den Ellbogen in die Seite. Er war kreidebleich, sagte aber nichts. Was war nur los mit ihm? Ich schaute mir den Mann genauer an.

Herr Schnöcks brauchte genau eine Zehntelsekunde, um mich von drei Dingen zu überzeugen: Er mochte mich nicht, ich mochte ihn nicht und mit ihm stimmte etwas nicht.

»Ich hätte gerne das Zimmer mit den meisten Besuchern, Sie wissen schon. Erscheinungen und so weiter«, forderte er.

Hotte holte tief Luft, aber ich stupste ihn in die Seite, bevor er einen Laut von sich geben konnte. »Stups mich nicht«, hustete er hervor.

Besucher.

Erscheinungen.

Woher wusste der Mann, dass es so etwas in diesem Haus gab?

Sicher nicht von Mama. Sie sagte: »Wir hatten noch keine Besucher. Sie sind unser erster Gast.«

Da täuschte sie sich gewaltig. Es waren schon einige Besucher da gewesen …

Zuerst der Geist des italienischen Mädchens: Für die unglückliche Seele hatte ich zum ersten Mal mit dem Schmetterlingsschlüssel die Pforte geöffnet.

Der zweite Besucher war Aldwyn, der aus der Kälte des ewigen Eises kam und die Metzgersfrau Isolde Rackermann fast um den Verstand gebracht hatte, weil er sich ausgerechnet das Kühlhaus ihrer Metzgerei als Unterschlupf aussuchte. Nicht vergessen darf man die Besucher Erasmus Schöngeist und Lodovico Geistreich, die in der Villa mehr oder weniger ein und aus gingen.

Und den Einäugigen. Beim Gedanken an ihn überfuhr mich ein kalter Schauer.

»Nun ja, wir werden sehen«, sagte Professor Schnöcks.

»GEISTER UND GESPENSTER IM GESTERN UND HEUTE – 57 wirksame Wege zur Erkennung und Klassifizierung aller Phänomene des Spuks und des Pseudo-Spuks«, las Hotte den Titel des Buches, das er in der Hand hielt, vor.

»Ich kann selbst lesen«, sagte ich und nahm das Buch an mich. Wir hatten uns in den hintersten Teil des Gartens zurückgezogen, wo sich inmitten von üppigen Kletterrosen eine Bank versteckte. Von dort aus gelangte man mit ein paar Schritten zum Haus von Hottes Onkel, bei dem Hotte wohnte. Und von dort hatte er das Buch geholt.

»Dann guck dir mal den Namen des Autors an«, sagte Hotte.

»H. Schnöcks«, las ich nun vor.

»H wie Hubert«, sagte Hotte. »Ausgerechnet Hubert Schnöcks ist euer erster Gast. Der Kerl ist besessen davon, Besucher aufzuspüren.« Hotte nannte Geister und Gespenster Besucher, genau wie dieser Schnöcks es getan hatte.

»Na ja, darauf bist du doch auch scharf«, gab ich zu bedenken.

»Ich bin ein seriöser Forscher und Autor, äh, bald jedenfalls, wenn ich mein Buch herausgebracht habe. Schnöcks dagegen hat schon eine Menge Unheil über Menschen gebracht, in deren Häusern es spukte. Leider mögen die Leute solche Skandale. Sein Buch wurde in 14 Sprachen übersetzt.«

Ich nahm das Buch und überflog die Einleitung. Schon die ersten Sätze machten klar, was Schnöcks von Spuk, Gespenstern oder Geistern hielt: fast nichts. Ich trug Hotte vor: »Geister finden sich in vielen alten Gebäuden und stellen eine große Gefahr dar, der sich die meisten – für dieses Phänomen zu unsensiblen und tumben Menschen – nicht bewusst sind …«

»Ich kann selbst lesen«, sagte Hotte nun. »Und ich habe es schon zwanzig Mal gelesen. Er hat keinerlei Interesse an der seriösen Geisterforschung. Schnöcks ist nur scharf auf die Medien. Er will alles ans Licht der Öffentlichkeit zerren und sich selbst im Scheinwerferlicht sonnen. Was meinst du, was hier abgeht, wenn der über eure Villa schreibt. Ich sage dir, mit seiner professionellen Ausrüstung findet er im Nullkommanix heraus, was hier los ist. Ich würde zu gerne wissen, was in der Kiste war, die er nicht aus der Hand gegeben hat.«

»Ich würde zu gerne wissen, wie er auf unsere Villa aufmerksam geworden ist«, sagte ich nachdenklich.

»Irgendwer hat geplaudert«, erwiderte Hotte. »In der Geisterjäger-Szene wird getratscht, wie überall anders auch.«

»Und warum kommt dieser Schnöcks also erst jetzt?«

»Auf jeden Fall wird er Ärger machen. Schnöcks war sieben Jahre von der Bildfläche verschwunden, weil er sich die Zähne an einem englischen Geisterhaus in Hampshire ausgebissen hat.«

Ich musste kichern. »Das waren wohl ziemlich unverdauliche Ziegelsteine.«

Hotte verschränkte die Arme vor der Brust. Wenn man sein Know-how über Geister nicht ernst nahm, reagierte er schnell beleidigt. »Da gibt es nichts zu kichern. Die Geister dort haben ihn ziemlich veräppelt. Was genau passiert ist, wurde nie aufgeklärt. Alle haben über ihn gelacht.« Er sah mich an. »Jetzt will er bestimmt seine Weste reinwaschen.«

Ich nickte ernst. »Da könnte was dran sein.«

»Eines wundert mich jedoch.« Hotte legte die Stirn in Falten wie sein Hund Roddie, wenn man ihm ein Stück Fleischwurst vor der Nase wegschnappte. »Schnöcks liebt eigentlich berühmte oder besondere Orte. Kohlfincken ist weder das eine noch das andere. Was will er hier? Womöglich verspricht er sich eine besonders heiße Story, mit der er die Weltpresse sogar bis in dieses Nest hier locken kann. Wenn wir Pech haben, trampeln in drei Tagen die Kamerateams der Fernsehsender durch den Vorgarten.«

Ein bisschen Werbung könnte unsere Villa brauchen, dachte ich, aber mir war klar, dass es Schnöcks nicht um Werbung für die Pension Emilie ging.

»Aber solange nicht ausgerechnet jetzt irgendwelche verlorenen Seelen auftauchen, kann nicht viel passieren«, überlegte Hotte laut. »Hier ist ja kein ständiger Spuk.«

Ich dachte nach. »Außer … er besitzt ein Ektofokular«, gab ich zu bedenken. Mit diesem Gerät, das zu Hottes Ausrüstung gehörte, konnte man nicht nur Geister auch für Untalentierte sichtbar machen, sondern man konnte auch das Ektoplasma aufspüren, das die Geister fast immer zurückließen. Dieser Stoff, den die Spukgestalten ausschieden, leuchtete grünlich, wenn man durch das Ektofokular schaute. »Fast alle Seelen, die durch die Villa ins Jenseits gegangen sind, haben Spuren davon hinterlassen.«

»Nur einer nicht«, jammerte jemand.

Ich erkannte die Stimme sofort. Es war nicht Hotte. Die Stimme kam aus dem Nichts, denn die dazugehörige Person brauchte offenbar noch ein paar Augenblicke, bis sie sichtbar wurde. Außerhalb von geschlossenen Räumen dauerte dieser Vorgang immer ein bisschen länger.

»Lodovico?«, fragte ich.

»Jawohl, meine Liebe, ich bin’s, und ich habe Probleme, meine Gestalt zu finden. Es ist nicht gut für Leute wie Erasmus und mich, sich im Freien zu zeigen. Wer weiß, ob hier jemand in den Büschen hockt?« Lodovico, der jetzt langsam sichtbar wurde, spähte nach links, dann nach rechts. Er schien sich wirklich zu ängstigen. So hatte ich den sonst immer zu Scherzen aufgelegten Kerl noch nicht erlebt. Er stieß einen besorgten Seufzer aus. »Alles ist durcheinander, Melli. Etwas stimmt nicht …«

Dass etwas nicht stimmte, konnte ich mir schon denken: Lodovico Geistreich und sein Partner Erasmus Schöngeist erschienen eigentlich nie unaufgefordert. Nur wenn ich sie rief, machten sie sich auf den Weg hierher. Und sie erschienen immer zu zweit.

Als Lodovico endlich vor mir stand, sah ich es sofort. Er stand nicht, sondern er schwebte. Lodovicos Füße fehlten. »Erasmus ist verschwunden«, keuchte er.

»Ihre Füße auch«, sagte Hotte.

LODOVICO SCHAUTE AN SICH HINAB. Ich wollte etwas sagen, aber er wedelte aufgeregt mit den Händen und schloss die Augen. »Ruhe, ich muss mich konzentrieren«, flüsterte er. »Volle Konzentration! Auch einem Geistwesen tut es auf Dauer gar nicht gut, wenn es Teile von sich verliert.«

Es dauerte eine Weile, in der Lodovico die Augen zukniff und die Lippen immer fester zusammenpresste. Ein wenig wirkte es, als hielte er die Luft an, was bei jemandem wie ihm natürlich nicht ging: Gespenster atmen nicht, denn sie haben keinen Körper. Auch wenn es im Idealfall fast so aussieht, als hätten sie einen.

Nach ein paar Minuten stand Lodovico Geistreich endlich in vollem Format vor mir, mit Beinen und Füßen und allem Drum und Dran, ein Herr im hellblauen Anzug. In der einen Hand hielt er weiße Handschuhe und einen weißen Hut mit Krempe, in der anderen einen Spazierstock. Er war eine sehr elegante Erscheinung. Schneeweiße, perfekt gescheitelte Haare umrahmten sein zerknittertes Gesicht.

Ich hatte immer noch nicht herausgefunden, was Lodovicos und Erasmus’ Aufgabe wirklich war. Meistens stichelten sie aneinander herum, gelegentlich zankten sie sich auch wie ein altes Ehepaar, aber eigentlich arbeiteten sie seit vielen Jahrzehnten zusammen. Das hatte ich den Notizbüchern meiner Urgroßschwiegercousine Emilie entnommen, dort gab es sogar aus Zeiten weit vor der Geburt meiner Eltern einige Eintragungen, in denen die Namen der beiden auftauchten.

Wahrscheinlich hatten die Herren schon Emilies Vorgängerinnen beim Hüten der Pforte beraten. Nun konnte ich sie immer rufen, wenn es Probleme gab mit neuen Besuchern, die hinüberwollten. Wenn ich es mir richtig zusammenreimte, waren Erasmus und Lodovico jedoch nicht nur für mich und die Pforte in unserem Haus zuständig, sondern hatten noch andere Jobs, die etwas mit Geistern und Gespenstern zu tun hatten. Bisher hatten sie darüber selten ein Wort verloren und waren allen meinen Fragen ausgewichen.

»Nun erzählen Sie schon, Lodovico!«, drängte Hotte. »Was ist mit Erasmus passiert?«

»Könnten wir vorher ins Haus gehen?«, fragte Lodovico und schaute sich wieder ängstlich um.

»Das ist keine so gute Idee«, erwiderte ich. »Wir haben Besuch.«

»Eine widerborstige verlorene Seele?«, fragte Lodovico. »Etwa ein Stühlerücker oder ein Polterer?«

Ich schüttelte den Kopf. »Schlimmer.«

»Ach herrje!«, rief Lodovico aus. »Ich ahne es. Schon wieder der Einäugige?«

»Noch schlimmer.« Hotte grinste.

Lodovico warf mir einen fragenden Blick zu. Seine Miene verfinsterte sich. »Liebste Mademoiselle Melli, mir ist nicht nach Scherzen zumute.«

»Mama hat aus der Villa eine Pension gemacht und unser erster Gast ist ausgerechnet …«

»… Hubert Schnöcks, falls Ihnen das etwas sagt«, ergänzte Hotte.

»SCHNÖCKS?!?«, rief Lodovico entsetzt aus. »Ausgerechnet Schnöcks? Der schärfste Hund seit Harry Price?«

»Harry Price war ein kuscheliges Schoßhündchen gegen Schnöcks«, sagte Hotte.

Ich stupste ihn in die Seite und zischte: »Nun reg ihn nicht noch mehr auf!«

Was Lodovico uns erzählte, hörte sich nicht gut an. Er und Erasmus arbeiteten an einem scheinbar harmlosen Fall in Sankt Petersburg. Seitdem die russische Zarenfamilie im Jahr 1918 ermordet worden war, tauchten immer wieder junge Damen auf, die sich als Anastasia ausgaben, die Tochter des Zaren. Jede von ihnen behauptete, der schrecklichen Mordtat entkommen zu sein.

»Und natürlich erscheinen auch Spukgestalten solcher Damen, die für sich in Anspruch nehmen, der einzige und wahre Geist von Anastasia zu sein«, berichtete Lodovico weiter. »Im Palais des Fürsten Porokifkow führte allerdings gerade das zu Problemen, weil zwei Geister gleichzeitig behaupteten die einzige und rechtmäßige Anastasia Nikolajewna Romanowa, Großfürstin von Russland, zu sein. Ich kann euch sagen: Streit unter Geistern – das ist kein Spaß. Wie auch immer, Erasmus und ich hatten mit viel Mühe eine der beiden überredet, nach Moskau umzusiedeln. Dort wäre sie konkurrenzlos gewesen.« Lodovico seufzte.

»Wie transportiert man den Geist einer Zarentochter?«, unterbrach Hotte. Er konnte vor Neugier kaum an sich halten.

»Vor allem die alten Geister reisen sehr gern in antiken Gegenständen, die genauso viele Jahre auf dem Buckel haben wie sie selbst. Nun ja, und es kommt darauf an, welche Art von Erscheinung es ist. Poltergeister kannst du in fast alles stecken, wenn du sie im richtigen Moment überrumpelst.«

Ich erinnerte mich an die Kaffeedose, die Erasmus und Lodovico bei sich gehabt hatten, als Aldwyn in Isolde Rackermanns Kühlhaus herumgegeistert war. Der Poltergeist in der Dose hatte zwar gemuckt und gerappelt, aber viel Ärger hatte er nicht anrichten können.

»Wir haben es bei der jungen Dame in Sankt Petersburg mit einer Wäschetruhe und mit einem Reisekoffer versucht. Aber sie weigerte sich strikt. Sie fürchtete sich ganz schrecklich im Dunkeln. Endlich willigte sie ein, die Reise in einer silbernen Teekanne anzutreten.«

»Einer Teekanne?«

»Ja, durch den Hals der Kanne fiel noch ein winziger Lichtstrahl hinein, sodass sich die angebliche Großfürstin nicht mehr zu ängstigen brauchte. Allerdings verlangte sie, dass einer von uns die Kanne zuerst untersuchte.«

»Untersuchte? Warum?«

»Sie befürchtete, dass es noch eingetrocknete Reste von Tee in der Kanne geben könnte, die ihr Kleid verschmutzen würden.«

Lodovico schwieg. Er schaute zuerst Hotte an, dann mich. Ich brauchte einen Moment, dann fiel es mir ein: »Geister können ihre Kleider nicht beschmutzen. Sie bestehen aus nichts.«

»Darüber wird in der Fachwelt gestritten«, sagte Hotte, der sich ärgerte, dass er nicht selbst darauf gekommen war.

Lodovico nickte. »Sie bestehen vielleicht aus etwas, aber es ist nichts, das schmutzig oder zerrissen, zerbeult oder sonst wie kaputt gemacht werden könnte. Daran dachten wir in diesem Augenblick jedoch nicht. Der Transport sollte bald losgehen, also schlüpfte Erasmus schnell einmal in die Teekanne.« Wieder schwieg Lodovico.

»Und?«, fragte Hotte.

»Machen Sie es nicht so spannend«, sagte ich.

»Nichts«, antwortete Lodovico.

»Nichts?« Hotte und ich riefen das Wort wie aus einem Mund.

»Verschwunden. Weg. Spurlos. Leer. Die Kanne.« Lodovico seufzte. »Er ist wirklich oft eine Nervensäge, aber ohne ihn …« Aus dem Seufzen wurde ein Schluchzen.

»Wann war das?«, fragte ich.

»Geister rechnen nicht wie wir«, sagte Hotte. »Außerdem hast du doch erlebt, wie sie die Zeit beeinflussen können.«

Ich verdrehte die Augen. »Sie können die Zeit verlangsamen, das ist die sogenannte Zeitzähe. Oder das Gegenteil: die galoppierende Zeit. Dann beschleunigen sie die Sekunden, Minuten, Stunden und so weiter und so fort«, leierte ich herunter, als würde ich im Geschichtsunterricht die römischen Kaiser seit Augustus aufsagen. Innerlich musste ich zugeben, dass Hotte natürlich trotzdem sehr viel mehr über Geister und Gespenster wusste als ich, schließlich beschäftigte er sich schon einige Jahre damit. »Also, ich frage genauer: Wann nach unserem Kalender ist das passiert?«

»Vor vier Tagen«, sagte Lodovico. Wenn ein Geist hätte weinen können, wäre er nun in Tränen ausgebrochen, dessen war ich mir sicher. »Ich hätte es längst in der Zentrale melden müssen, aber ich hatte gehofft, dass es wieder so eine kleine Verrücktheit von ihm ist. Genau wie 1927, da hat er sich in die Direktorin eines Berliner Varieté-Theaters verliebt, aber das hat nur ein paar Stunden gedauert, weil er einfach die Zeit angehalten hat und mit dieser Madame Fatale –«

»Wer spricht da?«, schnarrte eine Stimme hinter den Rosenbüschen.

Lodovico verstummte augenblicklich.

»Schnöcks!«, wisperte Hotte.

LODOVICO REAGIERTE SOFORT. Er verschwand blitzschnell. Immerhin in dieser Richtung funktionierte er ohne Einschränkungen. Er hatte sich keine Sekunde zu spät in Luft aufgelöst, denn Herr Schnöcks stand auch schon inmitten des kleinen Rosengartens.

Das Eckchen wurde von einem kleinen runden Pavillon aus rostigem Eisen freigehalten, in dessen Mitte ein steinerner Springbrunnen mit einer schmalen Bank rund um das Auffangbecken stand. Wasser spuckte er schon lange nicht mehr, davon zeugten die Mengen vertrockneter Zweige und Blätter in dem Becken.

Hubert Schnöcks trug wieder den kleinen Holzkasten bei sich, dieses Mal hielt er ihn jedoch nicht in der Hand. Er hatte den Behälter mit einem Lederriemen über die Schulter gehängt, um beide Hände frei zu haben. In diesen hielt er ein Notizbüchlein und einen Bleistift.

»Verwunschener Rosengarten …«, murmelte er. Während er diese Worte in das Büchlein schrieb, durchquerte er das Rondell mit zwei großen Schritten. »Durchmesser circa zwei Meter …«, schrieb er weiter und dann etwas, das mich ein wenig nervös machte: »Auffälliger Kälteeinfall.«

Ich schluckte und sagte laut: »Hotte, heute ist es aber wieder furchtbar heiß!«

Hotte starrte mich an. Er sah ein bisschen dämlich aus der Wäsche. Es war ein schöner, warmer Spätsommertag, aber heiß? Oder sogar furchtbar heiß? Im Gegenteil. Durch die Anwesenheit von Lodovico war die Temperatur mindestens frisch zu nennen, wenn nicht sogar kalt, ganz wie Schnöcks es gesagt hatte. Geistwesen machten sich sehr oft durch ein Wehen und Sausen und besonders häufig durch eine damit verbundene Kühle bemerkbar.

Aber jetzt fiel der Groschen auch bei Hotte. »Oh ja, sehr furchtbar, furchtbar heiß«, bestätigte er, allerdings war er ein grausig schlechter Schauspieler. In der Theatergruppe an meiner alten Schule hätte er bestimmt nur den stummen Diener des Grafen spielen dürfen. Ohne Text.

Schnöcks kümmerte das gar nicht. Er schlug sein Notizbuch zu und klemmte sich den Bleistift hinters linke Ohr. »Und nun zu euch«, sagte er. »Was macht ihr hier?«

Eigentlich ging ihn das gar nichts an, aber wenn man sich bei etwas ertappt fühlt, reagiert man manchmal nicht cool genug.

»Öh …«, sagte Hotte.

»Äh …«, sagte ich.

»Mit wem habt ihr eben gesprochen?«

»Mit niemandem«, sagte ich. »Wir haben nach Roddie gesucht, das ist Hottes Hund.«