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„Unsere Erde ist vielleicht ein Weibchen!“
Georg Christoph Lichtenberg

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2017 Verlag Anton Pustet

Autor: Wolfgang Kauer

ISBN 978-3-7025-0880-7

Auch als eBook erhältlich

Auch als gedrucktes Buch erhältlich

www.pustet.at

Wolfgang Kauer

FELSBILDER

der Ostalpen

DAS ERBE DER MONDFRAU

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Inhalt

Vorwort

Mondbetrachtung in Japan

Mondbewohner aus Eisenstadt – Der Mond in der Oper

Zeitgenössische Mondgeschichten

Der Granatapfel im Mittelmeer – Frauengöttinnen auf Rhodos

Mutter Erde in Kolumbien – Die Erdmutter auch auf anderen Kontinenten?

Die Hirschenhöhle am Kuchlberg

Das H in Hallstatt – Das Ganggrab auf der bretonischen Insel Gavrinis

Der Fagerstein und die Wilhelmskapelle

Der Baalstein von Traunkirchen – Schlüssel zum Verständnis

Blockhalde der Seelen – Die Höll bei Spital am Pyhrn

Der Speckstein von Ruhpolding, Bayern

Ein wichtiger Kontakt nach Linz

Fruchtbarkeit zwischen Werfen und Golling

Die Felsbildergalerie vom Schwarzer Berg bei Golling

Die eindrucksvolle Kienbachklamm bei St. Wolfgang

Knappenwand bei St. Wolfgang

Felsbilder der Kallbrunnalm zwischen Weißbach/Lofer und bayerischer Ramsau

Näpfchen-Rokoko in der Jachenau

Hagengebirge zwischen Werfen und Golling – Die figurenreichste Felsbildstation

Der Marblstein im Karwendelgebirge bei Achenkirch

Wer zaubert in der Lenzenklamm bei Lofer?

Schatzgräber in den Leoganger Steinbergen

Prähistorische Spuren in Unken-Reith

Maria Kirchenthal – Gebetsplatz in Richtung Ochsenhorn

Der Götschstein/Gerhardstein bei Lofer

Das Glücksrad am Schwarzensee bei St. Wolfgang

Mausbendlloch und Notgasse bei Bad Mitterndorf

Saat- und Erntezeiten auf der Reinfalzalm

Seelenstraße Region Gaming – Lunz am See – Göstling

Die Andachtswand von Annaberg

Halleiner Felsbilder am Dürrnberg

Naturtempel Ofenauer Berg bei Golling

Die Schönalm bei Scheffau am Tennengebirge

Der Leiternfelsen von Scheffau am Tennengebirge

Weihnachtsvollmond

Australien im Bluntautal bei Golling

Der Pilgerweg nach St. Wolfgang – Wegstrecke Gnigl–Guggenthal

Geheimnisse der Gemeinden Elsbethen und Allhaming

Der Hohenzoller Wasserfall bei Bad Ischl

Danksagung, Abbildungsquellverzeichnis, Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Vorwort

Als mir Sepp Irnberger vor nunmehr 15 Jahren erstmals Felsgravuren im Tennengebirge zeigte, die er Jahrzehnte zuvor für die Wiener Höhlenforscherin Erika Kittel dokumentieren geholfen hatte, war ich sogleich fasziniert, denn sie wirken so unglaublich modern! Ich war gerade dabei, mein Kunststudium am Salzburger Mozarteum abzuschließen und hatte über die keltische Bronze-Schnabelkanne vom Halleiner Dürrnberg geschrieben, da fiel mir das ähnliche Konzept auf. Hier wie da lassen sich künstlerische Gestaltungsweisen oft nicht auf eine einzelne Deutung festlegen, sondern bleiben absichtlich in der Mehrdeutigkeit schweben. Die magische Wirkung der Bilder ließ mich nicht mehr ruhen. Ich wusste anfangs nicht, was sie bedeuten, aber ich ahnte sofort, dass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis ich sie lesen könnte. Und genau so kam es. Mit jedem Besuch einer Felsbildstation konnte ich mehr und mehr Zeichen deuten und in Zusammenhang bringen. Ich erkannte, dass Felsbild-Autoren sie nicht nur falsch auslegten, sondern auch falsch ordneten. Schon an den Bildausschnitten wurde klar, dass Settings nicht erkannt wurden. Darüber hinaus ließen die Autoren wichtige Linien und Linienverbindungen weg, wenn sich daraus keine klare Gestalt formte, wie es v. a. bei Seelenstraßen oder beim Pseudo-Barockstil der Fall ist. Manche erwähnten wenigstens ein „undeutbares Liniengewirr“. Man beschränkte sich auf das Zusammentragen und Klassifizieren von Einzelnem, das dem zeitgenössischen Auge bekannt und gefällig vorkam, wie Dreiecken, Rädern, Kreuzen, Näpfchen. So kam es zu massiven Fehldeutungen, etwa bei den sog. „Armbrüsten“ oder „Soldaten“. Weil Vergleichsmöglichkeiten fehlten oder Vergleichsobjekte erst gar nicht erkannt wurden, passierten schon früh auch Fehl-Datierungen. Die Arthur-Haberlandt-Schule etwa stützt sich auf die Bemerkung des Wiener Ethnologie-Professors aus den 1950er-Jahren, die Entstehung von Felsbildern wäre bestenfalls ins Mittelalter datierbar und es handelte sich eigentlich um Gaunerzinken. Eine ähnliche Ansicht vertrat man im steirischen Ennstal und in Kärnten.

Der oberösterreichische Univ.-Doz. Dr. Ernst Burgstaller hingegen hatte immer schon ein hohes Alter der Petroglyphen vermutet, es aber nicht beweisen können. In seine Fußstapfen trat Werner Pichler, der Felsbilder im Auftrag der oö. Landesregierung kartierte. Die Webseiten beider sind groteskerweise posthum argen Diskreditierungen ausgesetzt, getarnt als „Buchbesprechungen“ u. Ä. Vermutlich stehen geschäftliche Interessen dahinter, denn die Haberlandt-Schule ist natürlich für jene sehr bequem, die zwar schöne Fotobände veröffentlichen, sich aber nicht mit Motiv-Geschichte befassen wollen.

Felsbildstationen wurden meist von Jägern und Höhlenforschern entdeckt, doch fehlte ihnen zur Deutung das Hintergrundwissen. Der Salzburger Tierarzt Helmut Adler war in Almenregionen unterwegs, ließ sich von Sennerinnen Stellen zeigen und machte die Felsbilder des Saalachtals über Periodika bekannt. Auch er vermutete ein teilweise hohes Alter, was sich durch Einzelfunde nahe der Felsbildstationen bestätigen ließ. Lob ist auch Wilhelm Repis auszusprechen, der mit seiner Fotosammlung und seinen Planzeichnungen eine wesentliche Basis zur Erforschung von Salzburger und bayerischen Felsbildern geschaffen hat. Seine Sammlung bildet heute die Grundlage des Salzburger Felsbildkatasters, der im Burgmuseum Golling archiviert liegt. Dessen Gründung ist Erich Urbanek zu verdanken, der von Beginn an zahlreiche Neuentdeckungen wissenschaftlich dokumentierte. Sepp Irnberger in Scheffau und Andreas Kopf in St. Wolfgang enthalten sich standhaft der Interpretation von Felsbildern, lassen sich also auch nicht vom Altersdiskurs vereinnahmen, helfen aber entscheidend mit, Neues aufzufinden und zu dokumentieren. Anderswo sind Vorkommen in Vergessenheit geraten, weil man verabsäumt hat, sein Wissen rechtzeitig weiterzugeben.

Ich sehe meine Aufgabe darin, Felsbildmaterial szenisch zu deuten, motivgeschichtlich zuzuordnen, aber auch durch Neuentdeckungen zu erweitern. Da ich meine Arbeit zunächst mit Thesen begonnen habe, erwies sich mir die Textsorte Blog-Roman als ideal, weil damit einerseits die Frische des Thesencharakters für die Leser erhalten bleibt und sich andererseits die Felsbildstationen einzeln beschreiben lassen. Meine Romanfigur heißt Will, denn er will etwas vom Leben. Wie er durchforste ich seit Jahren die archäologischen Sammlungen Europas und der Welt, um prähistorische Bildmotive zu studieren. Durch ideologiefreien Abgleich von Felsbildern mit Artefakten und Tongeschirr kann ich das Gesehene verarbeiten und interpretieren. Je mehr Objekte und Gravuren ich kenne, desto treffsicherer werden meine Aussagen, auch in Bezug auf Datierung eines Motivs. Deshalb steige ich ins Gebirge auf und suche die Fundorte, die im Kataster oft arg verschlüsselt sind, will man doch zu Recht ihre Unberührtheit bewahren helfen.

Meinen motivgeschichtlichen Zugang zur Felsbildforschung bestätigt ein grandioses Buch von Marija Gimbutas, einer litauischen Universitätsprofessorin für Prähistorik und Anthropologie in den USA.1 Da es seit vielen Jahren vergriffen ist, machte mich die Matriarchatsforscherin Rosemarie Borodin-Herzog darauf aufmerksam, als sie zufällig von meinen Aufzeichnungen erfuhr und diese hernach lesen durfte. Anfangs dachte sie, ich hätte von Gimbutas abgeschrieben, dann doch wieder nicht. Aber ich hatte das Werk der Litauerin tatsächlich erst durch Frau Borodin-Herzog kennenlernen können, die sich glücklich schätzen darf, ein Exemplar zu besitzen, das sie mir in der Folge zur Lektüre lieh. Ich wiederum war bass erstaunt, dass sich ca. 90 Prozent meiner Forschungsergebnisse mit den Erkenntnissen deckten, die Gimbutas bereits Jahre vor mir durch Vergleiche von Keramikmotiven in aller Welt gewonnen hatte. Während ich bis dato so gut wie nichts darüber gewusst hatte, war an ihr der Bereich Felsbilder spurlos vorübergegangen. Kurz gesagt, ihr gelang der Nachweis, dass Muster und Ornamente auf Tonwaren keine Zufälligkeiten sind, sondern pseudoreligiöse Äußerungen. Gleiches lässt sich auch über alpine Felsbilder sagen.

Ich hatte das Manuskript schon beim Lektor liegen, als mir noch entscheidende Neuentdeckungen im Tennengebirge gelangen, die meine Thesen beweisen. Sie haben gerade noch Aufnahme finden können, in das vorliegende Standardwerk. Meine Leidenschaft, in ausgewählte Felsbildregionen aufzusteigen, dauert an. Folgen auch Sie mir in diesem spannenden Buch dorthin, es zahlt sich aus, in die stille alte Welt einzutauchen!

Wolfgang Kauer

06 . 03

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Mondbetrachtung in Japan

Beim Thema MOND denke ich zuerst an die japanische Tradition des Zen-Buddhismus. Neben Kirsch- und Marillenblüte im Frühling ist es im Spätsommer der Mond, der sich regelmäßiger Betrachtung in Parks, Trockengärten, Teehäusern und auf Wandschirmen erfreut.

Natürlich erscheint die Himmelslaterne dann in größter Prägnanz, wenn sie in einem kreisrunden Rahmen steht. Und solches trifft zu, wenn sie durch ein Rundfenster leuchtet, zum Beispiel jenes, das sich im Teepavillon Shonan-tei im Garten des Saihō-ji-Tempels bei Kyoto befindet. Das Rundfenster dort verleiht dem Mond den Charakter einer Torte mit Zuckerglasur, deren Spiegelbild im Wasserbecken schwimmt. So vereinen sich Mond und Wasser und gebären ein Meer aus Moos, das den Steingarten überzieht.

Das Kanji-Bildzeichen Tsukimi besteht – wie im Deutschen – aus zwei Komponenten, nämlich aus tsuki image, „Mond“, und mi image, „betrachten“. In der Hiragana-Lautschrift setzt sich das Wort hingegen aus den drei Teilen der Einzelsilben zusammen. Interessanterweise sind sogar Japaner der Auffassung, dass nicht – wie anzunehmen wäre – die Bilder-, sondern die Lautschrift die schönere, weil weichere Schreibvariante darstellt.

Auch bei den von Menschen unterschiedlicher Zeitalter beschriebenen Felswänden der Nördlichen Kalkalpen gesellen sich Lautzeichen zu Bildzeichen, mit der gleichen Ästhetik. Und es wird zu prüfen sein, ob solchen Buchstaben überhaupt ein Lautwert beigemessen werden darf.

„Esterházy gestorben“, lese ich beim Surfen, schon wieder ist einer von uns Wahrsagern abgegangen, der Gott der Ungarn sei seiner Autorenseele gnädig! Sein Typ hätte gut in unsere WG gepasst!

Wie nicht anders zu erwarten, können auch Japaner dem Mondschein gegenüber unterschiedliche Gefühlsstimmungen entwickeln, sie haben aber ein innigeres Verhältnis zum Mond. Beim Schwirrholzgeräusch der Grillen erfreut man sich am Vollmond und schlürft den Tee aus henkellosen Schalen, aber ohne die wohlige Butter obenauf.

Das Silberlicht erweckt auch traurige Erinnerungen, denkt man etwa an den letzten Heike-Regenten, der in seiner Gefängniszelle Mondgedichte verfasste, aus Verzweiflung darüber, dass er für den Rest seines Lebens von seiner Frau getrennt leben musste und nur über den Mondspiegel mit ihr verbunden war.

Sein Sohn war bei der Flucht der Familie aufs japanische Meer hinaus ertrunken. Genauer gesagt hatte ihn eine kaiserliche Hofdame ins Meer gestoßen, um mit dem Kindkaiser zu sterben, als sich feindliches Militär näherte. Die Mutter des Kindkaisers sprang nach, mit dem gleichen Ansinnen, doch ein Soldat bekam die Kaiserin an ihrem hüftlangen blauschwarzen Haar zu fassen und zog sie aus dem Wasser, nicht aber ihren Sohn. Ob sie schwarzen Lippenstift getragen hat?

Eine Meisterleistung muss das gewesen sein, denn der von Natur aus schwere Kimono wird sich mit Wasser vollgesogen haben, aber dies erwähnt die Chronik nicht. Auch Bert Brecht wäre dies aufgefallen, hätte er das Heike Monogatari gekannt, die berühmte wie berührende Erzählung über den Niedergang einer Kaiserdynastie. Für ihn wäre sie allerdings Anlass für Sarkasmus gewesen. Es lässt sich nicht leicht behaupten, Brecht wäre zu den romantischen Autoren zu zählen, die den Mondschein mit einer Palastruine in Verbindung bringen.

Im September oder Oktober eines Jahres, wenn der Mond am größten und schönsten wirkt, backen nicht wenige Japaner kreisrunde Mondkuchen in Handtellergröße. Zu den Kindern sagen sie dann: „Schaut hinauf zum Mond, den gleichen Reiskuchen stampft dort oben der Mondhase mit seinem Mörser!“

Das Mondfest verspricht Fruchtbarkeit und Wohlstand. Verliebte haben dann in ganz Ostasien Hochsaison. In Japan bedeutet das Mondfest Mitte August zugleich das Erntefest. Menschenmassen setzen sich in Bewegung, um im Kreis ihrer Familien feiern zu können. Man schenkt einander Mondkuchen mit dem aufgeprägten Hasen. Sie sind Opfergaben an die Mondgöttin, in der Hoffnung auf Wunscherfüllung.

Der Hase im Mond bereitet in seinem Mörser eigentlich den Unsterblichkeitstrank für die Göttin Chang’e zu. Als Jade-Hase repräsentiert er in China die Vegetationsfarbe Grün. Seit die Menschheit erstmals unterschied, ob etwas schön oder hässlich ist, verwendete China neben Ton auch Jade als Gestaltungsmittel.

Wie der Jade-Hase auf dem Mondkuchen schmeckt, scheint auch jeder junge Japaner zu wissen. Doch nicht alle Kinder haben dabei den gleichen Geschmack im Kopf, hat doch inzwischen McDonald’s den Brauch des Mondkuchenessens für sich vereinnahmt und verkauft in Japan den sog. „Mond-Burger“. Dieser verleiht wohl weniger ewig währende Jugendlichkeit, als man von einem „Luna-keki“ erwarten würde.

Wenn ich an den japanischen Mond denke, stelle ich ihn mir als eine Frau mit hoher Strahlkraft vor. Ihr Spiegelbild wandert über drei Tatamis, Reisstrohmatten, die ein kleines Zimmer ausfüllen, und zwar in einem Ryokan nahe dem Stadtgarten von Kanazawa. Eine Jalousie vor dem großen Fenster zum Innenhof legt das Mondlicht in Streifen und dieses verwandelt mich in ein sanftes Raubtier.

Péter Esterházy wäre vielleicht ein süßeres Motiv eingefallen, um das changierende Helldunkel zu glasieren. Auch mir fehlen die scharfen Zähne, angesichts eines asymmetrischen Blumengestecks im Fenster, dessen Schatten mir das Gesicht gestohlen hat. So streichle ich sanft über den hell schimmernden Hasen neben mir, der wie eine Katze schnurrt, bevor er sich in einen Tiger verwandelt.

Suche ich den Mond in der Stadt Salzburg, so warte ich nicht lange auf die nächste Rundung, sondern wandere auf den Abhang des Heubergs, zum Gruber-Bauern. Der alte Erbhof hat einen Dachboden, der das Mondlicht einfängt. Wie das funktioniert, das Mondlicht einzufangen?

Nicht mit Seilen und Netzen wird das bewerkstelligt, wie im Märchen, sondern eine Stichsäge hat alles vorbereitet. Die Bretterverkleidung des Speicherbodens als Bildträger: Vier Mal sieht man den Mond in der Verschalung und vier Mal hüpft darin ein Häschen, bewegt vom wechselnden Einfallswinkel der Sonne.

Ein tiefer Sonnenstand, wie er am Morgen, Abend oder im Winterhalbjahr gegeben ist, erfüllt den Hasen im Mond mit Leben. Als Zickzackband wandert der Vordachschatten am Häschen entlang, aber das menschliche Gehirn nimmt es umgekehrt wahr und bildet sich ein, es wäre der Hase, der wanderte, mit dem Mond auf dem Rücken, wie Aeneas, der Troja verlässt (oder ist es Aphrodite?), den Vater huckepack, von Stufe zu Stufe die Schattentreppe hinan. Bevor noch das Treppenende erreicht ist, verblassen die Stufen, das Trugbild der Leiter erlischt zur Gänze. Ich steige oft bis zum Hof des Gruber-Bauern hinauf, an der stets aufgeräumten Unterleithen vorbei, um mir diesen Trickfilm anzusehen, inmitten der grünenden Wiesen, Pferde und benachbarten Luxusvillen, die mich an Südfrankreich erinnern, erfüllt von der Vorfreude auf den freundlichen Labrador Luki und den einzigartigen Blick auf den Garten der Fondation Hammerer, die mich am Scheitelpunkt des Rundwegs erwarten.

Der Hase im Mond

Der japanische Mondhase ist kein beruhigend grüner Jade-Hase, sondern ein fahriges weißes Kaninchen und nicht zu beneiden. Sein Schicksal ist das eines Avataren, spätestens seit dem Einzug des Buddhismus in Japan. Er soll die Welt retten, er soll die Welt erlösen, indem er einem alten Mann hilft, Gott zu werden. Als Belohnung für seinen guten Charakter wird der Hase auf den Mond verbannt und bekommt eine Ewigkeit lang Zeit, diese Verbannung ins Schattenreich zu akzeptieren. Der Plot vom guten Hasen könnte von Brecht stammen.

Das Trugbild vom Kaninchen mit dem Mörser wird verursacht durch die Einstrahlung des Sonnenlichts auf das starke Relief der Mondoberfläche. Nicht jede Ethnie sieht im Mond einen Hasen, aber auch nicht unbedingt den „Mann im Mond“, der vielleicht die Ursache dafür ist, dass wir Deutschsprechende dem Mond-Geschlecht Männlichkeit unterstellen.

Die Sprecher romanischer Sprachen erleben den Mond ursprünglicher, als eine Frau am Himmel. La luna hat Weltgeschichte geschrieben. Lange Zeit stand sie in Konkurrenz zu Sonne und Venus, aber sie hat sich durchgesetzt, v. a. in unseren Urlaubsländern.

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Im Giebelbereich des Gruber-Bauern in Koppl verursacht der wechselnde Einstrahlwinkel der Sonne eine Schattentreppe, die vorgaukelt, dass der aus der Verschalung gesägte Hase samt seiner Mondgloriole zeitgedehnt Stufe um Stufe emporhoppelt.

Der Urmensch muss den leuchtenden Mond als Freund erlebt haben, denn sein Licht machte die Gefahren der Savanne sichtbar. Sobald er einen Löwen wahrnahm, konnte der Mensch auf den nächsten Baum klettern, in dessen Wurzelwerk er sich zuvor zur Ruhe gelegt hatte.

Aber nicht nur jede Altersgruppe, auch nicht jede Spezies schläft bei hellstem Mondlicht, denn für die Meerestiere beispielsweise bedeutet Vollmond Aktivität. Der volle Mond bemisst die Anzahl der Dunkelheiten und wird so zum idealen Signal für ein allgemeines Zusammentreffen zum Zweck der Paarung. Den Landtieren bringt der Vollmond Entspannung, weil sie dann in ihrer Umgebung rasch Veränderungen am Helldunkel wahrnehmen können. Bei Neumond ist das Gegenteil der Fall.

Dem frühen Menschen jedoch verkündete der Vollmond den Tod, denn gerade in den Nächten danach erhebt sich die Mondlaterne ungleich später, sodass der Löwe in dieser Übergangszeit die beste Gelegenheit zum Angriff vorfindet. Die Raubkatze kann ihre Opfer ja auch in vollkommener Dunkelheit erkennen. Der völlige Verlust optischer Eindrücke während der drei Neumond-Nächte muss den frühen Menschen stark verunsichert haben.

Im Spiegel die Mondfrau – Asiatische Mondmythen

Dass sich Mondphasen gut mit Menschenleben vergleichen lassen, spiegelt sich nicht zuletzt in der chinesischen Mythologie wider. Sie bildet die Vorgeschichte zur japanischen Version:

Eine der ältesten chinesischen Geschichten berichtet nämlich von einer Mondgöttin Chang’e, die den Jade-Hasen zur Erde schickt, damit er den Menschen erkläre, dass sie ihr Leben wie die Mondphasen begreifen müssten: Nach der Blüte des Lebens, dem Vollmond, kämen das Alter und schließlich der Tod. Der Hase sollte die Menschen aber auch mit der Botschaft über ihren Tod hinwegtrösten, dass sie bereits nach drei Nächten wiedergeboren würden, nach dem gleichen Zeitraum, in dem sich die Mondgöttin erneuere.

Aber wie gelangte Chang’e auf den Mond?

Eines Tages wetteiferten zehn Sonnen um den Mond als Trabanten, doch der göttliche Jäger Huayi schoss neun Sonnen ab und ließ nur eine am Himmel stehen. Dafür bekam er von der Sonne einen Unsterblichkeitstrank. Da er diesen jedoch nur mit seiner Frau zusammen konsumieren wollte, damit beide unsterblich würden, versteckte er den Trank im Haus. Als Huayi einmal auswärts jagte, brach sein neidischer Jägerschüler Feng Meng bei ihm ein und forderte von seiner Frau die Herausgabe des Unsterblichkeitstrankes, den er für sich beanspruchte. Doch Huayis Frau Chang’e versuchte die Situation zu retten, indem sie den Trank rasch leerte und hernach über mehrere Planeten hinweg auf den Mond floh. Als Huayi von der Jagd zurück war, wurde er sehr traurig und opferte seiner Frau im Mond täglich ihre Lieblingsfrüchte, so lange, bis er von seinem Widersacher ermordet wurde.

Eine Menge Versionen dieser Geschichte sind überliefert, in denen sich immer die Namen Chang’e und Huayi wiederholen, und der besondere Bogen, den in einer Version die Mondsichel bildet, und die zehn Sonnen, von denen neun abgeschossen werden sollen, weil sie die Erde gefährden. Hintergründe für diese Fantasien dürften das zyklische Auf- und Absteigen der Mondbahn, die vermeintliche Ablösung des Sternbilds Widder durch die Orion-Galaxie und eine Verweiblichung des Mondes sein. Mein WG-Kollege hingegen, ein modern denkender Festland-Chinese, glaubt an eine Überlieferung, der gemäß im Mond die abgeschobene Konkubine des Himmelskaisers ihr Dasein friste. Als Ergebnis von drei Kulturrevolutionen findet man in der Volksrepublik China die Mondgöttin zur Konkubine degradiert wieder, was die Frau im Mond nicht verdient hat. Diese Meinung teile ich mit Phoebe, einer weiteren Mitbewohnerin in der WG.

Wie eine Antithese gegen die Kulturrevolution liest sich auch das Takedori Monogatari, Japans älteste romantische Novelle, um 900 v. Chr. anonym veröffentlicht und etwa gleich alt wie Japans ältestes Holzgebäude, ein buddhistischer Tempel in Nara:

Selbstbewusst und unnahbar wie eine Walküre zeigt sich darin KAGUYA-HIME, die Mondprinzessin, gegenüber wartenden Freiern. Sie ist einem armen alten Bambussammler-Ehepaar in der Größe eines Daumens – offenbar als Frühgeburt – in die Wiege gelegt worden und entwickelt sich zu einer wahren Schönheit auf Erden. Wie im frühen Christentum Phoebe aus Ephesos, so verweigert sie als Erwachsene mithilfe ihrer Intelligenz das Rollenklischee von der gefügigen Ehefrau oder wartenden Konkubine und widmet sich ausschließlich ihrer Mission. Sie stellt einem jeden ihrer fünf adeligen Freier eine unlösbare Aufgabe und lässt sogar den Kaiser als Freier scheitern. Der Elfenbeinturm der Einsamkeit ist die Folge: Zu einem überirdischen Wesen verklärt, kehrt sie in den Palast des Mondes zurück. Das Positive gegenüber anderen Narrativen, wie dem Nibelungenlied und den Geschichten um Feng Meng: Es bleiben keine Toten zurück.

Wie kam es zu der Vorstellung von einer Mondfrau?

Vor 40 000 Jahren stellte der Mensch erste Mondkalender her, in Form von Näpfchenreihen. Die Mondphasen waren ein probates Mittel, um Zeitabläufe zu messen und Vegetationsperioden in Monate zu unterteilen. Die Sonne konnte darüber hinaus eine wesentlich längere Zeitstrecke markieren, weil sie erst nach einem Jahr wieder ihren Höchststand erreicht. So ließen sich fruchtbare und karge Halbjahre festlegen, wie es für die Felsbildkunst das in der Fachliteratur sog. „Weltbild“ vorzeigt, eine Raute, deren obere Hälfte von Pflanzenwachstum ausgefüllt wird.

Der Nachteil der Unterteilung eines Sonnenumlaufs nach den Mondphasen war allerdings, dass es sich mit der Zählung nie ausging. Einige Tage im Jahr blieben übrig. Diese wurden daher aus dem Zählsystem ausgegliedert und galten als Zeit der Unordnung, als Zeit der Raunächte, bis am 6. Jänner die Zählung wieder einsetzte. Vielleicht ist die fehlende Übereinstimmung zwischen Sonnen- und Mondjahr ein Grund dafür, dass die Zeitleiste des Mondkalenders der Vierung auf dem Amulett von Tărtăria (Rumänien, ca. 5500 v. Chr.) nur fünf Kerben und eine halbe (für das Halbjahr?) aufweist, aber alle vier Mondphasen vorhanden sind?

Da sich sowohl der Zyklus der Frau als auch das gesamte Menschenleben über die vier Mondphasen erklären lassen, war das steinzeitliche Verständnis des Weltgeschehens ein weibliches. Die Welt wurde als Frau gesehen, als Große Erdmutter, die sich im Himmel widerspiegelt. Das Ergebnis: Die Mondfrau war Abbild der Erdmutter. Umgekehrt wurde die Erdmutter auch mit vier Näpfchen beschrieben, die in quadratischer Anordnung den Mondzyklen entsprachen. In Japan bedeutet die Vier jedoch auch heute noch den Tod, der nur einen einzelnen erdmütterlichen Aspekt von mehreren darstellt.

Die Vier ist ebenso in der Form eines Kreuzes angelegt. Bereits IDOLE der mittleren Steinzeit, die die Erdmutter abbilden, strecken die Arme senkrecht vom Körper weg. Auf dem Corcovado in Rio de Janeiro wurde dieses Konzept Mitte des 20. Jahrhunderts sogar auf eine 38 Meter hohe Christusstatue übertragen, deren kreuzförmige Haltung Schutz und Offenheit vermittelt.

Aus der Beobachtung, dass der Mond nach seinem Verblassen periodisch wiederkehrt, folgerte man analog, dass der Mensch nach dem Tod ebenso wiedergeboren würde. Sogar die Zeitstrecke von Christi Tod bis zu seiner Auferstehung bildet eine Neumondphase ab.

Es lag auf der Hand, dass eine Wartezeit auf Wiedergeburt von nur drei Tagen für den Durchschnittsmenschen eine Wunschvorstellung bleiben müsse. (Jesus Christus ist diesbezüglich privilegiert.) Deshalb ist auch an Felsbildern unserer Nordalpen erkennbar, wie man früher mithilfe von Magie nachzuhelfen versuchte, die sehr lange Wartezeit zwischen Tod und Wiedergeburt zu verkürzen.

Idolgeschichte der Mondfrau – historischer Abriss der Frauengöttinnen

Die Ikonografie des Weiblichen ist seit Menschengedenken mit Furchenstrich und Felsgravur verbunden. Vor ca. 75 000 Jahren ritzten die Bewohner der Blombos-Höhle in Südafrika ein winziges Relief aus Sanduhren in einen Splitter aus rotem Ocker. Nicht in der Bedeutung des heute noch beliebten Vanitas-Motivs Sanduhr, sondern als Abbild der Frau. Sie dachten möglicherweise an eine konkrete Ahninnen-Reihe.

Die Farbe Rot blieb auch später mit der Erdmuttergöttin verbunden. So wurden noch im alten Griechenland Tonkrüge als weiblicher Unterleib betrachtet und auf der Innenseite rot bemalt, ebenso manche Hypogäen, Zisternen und Backöfen.

Vor rund 40 000 Jahren schnitzten Bewohner der Hohlenstein-Stadel-Höhle in der Schwäbischen Alb mehrere winzige Varianten des Weiblichen in Elfenbein. Darunter befindet sich ein Frauentorso in der anbiedernden Haltung des Schürzens der Brüste durch seitlich angelegte Hände, als wollte die Idol-Frau – ich bezeichne sie der Einfachheit halber als „Göttin“ – mit Milch aus ihren Drüsen den Boden tränken. Diese Körperhaltung, zu der auch etwas eingeknickte Knie gehörten, als Hinweis auf die Hockstellung bei der Geburt, blieb vom Aurignacien bis zum Gravettien in Mode, wie unter vielen anderen ähnlichen Darstellungen die Venus von Willendorf zeigt. An ihr wird der Trend der Zeit, die Körperteile in (Schlangen-)Eierformen zu gestalten, am schönsten sichtbar: der Kopf ein Ei, die Brüste Eier, der Steiß, die Schenkel etc.

Doch mit den Figuren einer kreuzförmig gestalteten, fliegenden Ente und einer Löwin im Menschenkörper waren bereits in der Hohlenstein-Stadel-Höhle die Grundsteine für die nächsten Schritte in der Entwicklung weiblicher Ikonografie gelegt worden. Die fliegende Ente taucht ca. 4000 v. Chr. wieder auf, als Transmitter zur Anderen Welt, zunächst in Form von Tonkannen für Verstorbene im südlichen Mesopotamien, später als Wandmalerei in einem ägyptischen Palast und schließlich 400 v. Chr. auf der keltischen Dürrnberger Bronze-Schnabelkanne, deren Inhalt meines Erachtens nach eine Priesterin der Erdmuttergöttin auf der Reise ins Jenseits begleiten sollte.

Aber die Kreuzform wurde bereits im Lengyel (4800–4300 v. Chr.) als Zeichen der vier Haupthimmelsrichtungen, der vier Winde, vier Ecken der Erde und der vier Tageszeiten auf die Frauengestalt übertragen und mit den Kreisgrabenanlagen in Verbindung gebracht. Österreichische Beispiele dafür sind die Venus von Ölkam und die Venus von Falkenstein.

Die Löwin der Hohlenstein-Stadel-Höhle, die schon den Todes-Aspekt der Frauengöttin vorwegnimmt, verlor später ihren anthropomorphen Charakter, wurde vom menschlichen Körper getrennt und der Göttin als ein Begleittier zur Seite gestellt. Dieses Umorganisieren weiblicher Aspekte geschah bereits in der von besonderen Versorgungsnöten geplagten Zeit des frühen Ackerbaus.

Wann lassen sich erste Verehrungsstätten des weiblichen Prinzips nachweisen?

Um 10 000 v. Chr. war im anatolischen Göbekli Tepe ein weltweit erstes Heiligtum der Hirten-Nomaden entstanden, der bislang älteste Tempel der Menschheit. Tonnenschwere Steinblöcke waren von weit her auf eine Erhebung transportiert und T-förmig mit rundlichem Grundriss aneinandergereiht worden. Die behauenen Kolosse tragen heute noch animalische Reliefs, auf denen die Angst der Hirten vor potenziellen Löwen sichtbar wird. Raubtiere bedeuteten schließlich die größte Gefahr für ihre Ziegen- und Schafherden.

Der Mensch scheint in dieser Zeit noch wenig abbildungswürdig zu sein. In der Schwäbischen Alb hatte es bereits ein Menschenporträt ohne Mund und mit langem Haar gegeben. Die einzig menschenähnliche Gestalt auf den Säulen des Tempels von Göbekli Tepe ist eine sitzende weibliche Figur, die die Beine breitmacht. Mit dem Anwinkeln der Beine demonstriert diese Frau ihre Macht, denn sie regiert über den Zeugungsvorgang und die (Wieder-)Geburt eines Menschen. In ihrem Unterleib steckt etwas, das ein Kind, aber auch ein in sie eindringender Phallus sein könnte – eine erste Gestaltung mit gewollter Mehrdeutigkeit. Wahrscheinlich hatte die Frauenfigur auch die Schutzfunktion inne und sie wurde daher mehr als Göttin angesprochen denn als Ahnfrau.

Ab 5400 v. Chr. entstanden auf der Insel Gozo (Ġgantija-Tempel) und später auf der Nachbarinsel Malta (Tarxien und Mnajdra) gigantische (Hinkel-)Steintempel mit Laubdach zu Ehren der Frauengöttin, in denen vor allem um Feldfruchtbarkeit gebetet wurde. Der Tempel-Grundriss entsprach einer Frau in Gebärhaltung und der Eingang war immer den Feldern zugewandt, sodass Geist und Segen der Göttin quasi auf die Felder hinausströmen konnten.

Eine thronende Frauenfigur aus Ton wurde um 5000 v. Chr. in Çatalhöyük, Zentral-Anatolien, modelliert und in einem Getreidegefäß deponiert. Demnach sollte sie die Feldfruchtbarkeit fördern. 7000 Ackerbauern dieser Siedlung huldigten der Leben spendenden Kraft der Göttin. Als fettleibige nackte Matrone und geburtsbereit hockt sie zwischen zwei angriffslustigen Löwen auf einem Fürstensitz, mit flacher Mütze und kurz geschorenem Haar. Ließe sich weibliche Macht besser demonstrieren?2

Eine zweite, kopflose Figurine dieser Ausgrabungsstätte zeigt die Frau als ein ambivalentes Wesen: vorne üppig, adipös, hinten als Skelett. Die Rückseite der Statuette entspricht eher dem Aussehen der ersten Ackerbauern, denen es noch an Erfahrung fehlte. Da eine Frau damals noch im Verhältnis 50 zu 50 Leben und Tod gebar, wird der Göttin wieder der Aspekt einer Todbringerin beigemessen. Als solche dürstet sie auch nach Blut, was Tieropfer notwendig macht. Eine später entstandene Statuette im Archäologischen Museum von Rhodos zeigt sie mit einem Zicklein im Arm, das sie als Opfer angenommen hat.

Periodisch wiederkehrende Schlammablagerungen entlang des Euphrat-Tales hatten den Beginn der agrarischen Revolution ermöglicht. Größere Menschengruppen konnten nun vor Ort bleiben. Infolge der Bevölkerungsexplosion konkurrierten jedoch die Städte bald untereinander und zerstörten einander die „Sandburgen“.

Mit dem Bau von Lehmhäusern entstand das Problem für den Einzelnen, wegen der großen Hitze der Luft nachts nicht im Zimmer schlafen zu können, sodass man in diesen Ländern heute noch sein Schnurbett jeden Abend auf den Bürgersteig hinunter oder auf das Flachdach hinauf trägt, wo keine kühlende Brise der Nacht versäumt werden muss. Wenn man auf dem Flachdach am Rücken liegt, blickt man in ein Meer von Sternen. Und darüber dürfte man sich in babylonischer Zeit auch unterhalten haben.

In der Folge wurde das Göttliche durch Himmelsbezüge veranschaulicht. Der Mann als Krieger war wichtiger geworden als die Frau mit ihren friedlichen, harmonischen Funktionen. Im Zwischenstromland wurden nun Sonne und Mond zu Göttern vermännlicht und die Mondgöttin, von jeher Abbild der Erdmuttergöttin am Himmelszelt, zur Seite gedrängt.

Um 3000 v. Chr. gab es einen ersten mesopotamischen Mondgott namens SIN. In Lehmziegelbauweise entstand Ur als die von Sin gebaute Stadt. Hier wäre der Mond geboren, behauptete man, der Erleuchter (Uru-ki). Man nannte den Mondgott auch einen „jugendkräftigen Stier“. Sein Gesicht wurde als eine Kreisscheibe dargestellt, darüber meist das Hörnerpaar des Stiers.

Die Anzahl der Stierhörnerpaare auf dem Kopf drückte den Rang eines Gottes aus, demnach rangierte der Mondgott jedoch am unteren Ende der himmlischen Hierarchie. Sein Priester musste trotzdem sieben Tempelterrassen überwinden, wenn er an die Spitze des Mondtempels stieg, um seinem Gott zu huldigen.

In Ur fand der Mondgott auch seinen Tod, denn ein Sohn dieser Stadt namens Abraham zweifelte an der Allmacht des Mondes und der Planetengötter. Er glaubte dahinter eine noch höhere Macht zu erkennen (wahrscheinlich zusammenhängend mit dem Sinken des Sternbildes Stier am Nachthimmel). Eine einzige, göttliche Kraft müsse es sein, die alles regiere. Abraham verkündete fortan den Eingottglauben, der aber vorerst auf einzelne Regionen im Goldenen Halbmond beschränkt blieb und sich auch dort nur langsam durchsetzen konnte.

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Sumerischer Kultstein mit Planetendarstellung, 12. Jh. v. Chr. (Paris, Louvre): König Kudurru von Meli-Šipak stellt seine Tochter der Göttin Nannaya vor. Zeugen sind der Ištar-Stern, Mondgott Sin und die siebenstrahlige Sonne von Šamaš.

Die als Zentralorgan entmachtete Mondgöttin trat jedoch in Mesopotamien in Gestalt der Planetengöttin Ištar (akkadisch) bzw. Inanna (sumerisch) auf. Ausgehend von den prunkvollen Stadttoren Babylons und Uruks verbreitete sie ihre Macht und ihren Kult auf drei Kontinenten.

Die Vase von Larsa zeigt sie als eine zarte, aber geflügelte Frau mit Schlangenfüßen und einem in der Mitte geschlitzten Dreieckshut (darüber Hörnerpaare). Ihre Arme sind nach oben hin abgewinkelt, sodass sie zusammen gesehen den Buchstaben W formen. Sie gilt sowohl als Göttin des Krieges als auch des sexuellen Begehrens, alles Weiblichen, aber auch des Palastes wie des einfachen Hauses.

Als Tochter von Mondgott Sin und als Schwester des Sonnengottes Šamaš verkörpert Ištar den Planeten Venus und wird in der Dämmerungszeit als Morgen- und Abendstern verehrt. Ištars Stern besitzt acht Zacken, aber auch das Pentagramm wird bereits 3000 v. Chr. als ihr Ideogramm verwendet, genauso wie das gleichseitige Dreieck, dem die Göttin entstiegen sein soll. Nach Ansicht des Forschers Rivkah Harris verinnerlicht Ištar zwei Quellen potenzieller Unordnung: Sex und Krieg.3 Sie kann auch männlich dargestellt sein.

Ein Schilfringbündel ist Ištars Dingsymbol. In numerischer Zuordnung entspricht ihr die Zahl 15, sodass die ihr geweihte Stadt 15 Stadttore erhielt. Der 15. Tag im Mondlauf war Vollmondtag und galt als Ruhetag.

Vier identische quadratische Elfenbeintafeln aus dem 8. Jh. v. Chr. wurden im Palast von Arslan Tash/Hadattu an Syriens Grenze zur Türkei gefunden. Sie zeigen Ištar, deren vollmondrundes Gesicht – wie aus einem Fenster – aus ihrem dreiteiligen Felsportal blickt. Unter ihr reihen sich ihre vier Babys, die auch mit Haar-Extensions verwechselt werden könnten:

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Vase von Larsa: Ištar mit Flügeln, Flossen, Dreieckshut und Schamdreieck (Paris, Louvre, Sumerische Abteilung) Ištar-Bildnis aus Elfenbein, aus den Palastruinen von Arslan Tash, Nordsyrien, 8. Jh. v. Chr. (Paris, Louvre)

Vier Winde kennt Babylon, entsprechend den vier Weltrichtungen, vier Weltecken kennt Babylon, entsprechend den vier Mondphasen. Die Babys sehen starräugig drein, wie Dämonen, und haben je drei Arme zur Verfügung. Die ganze Szene sieht aus, als hätte die Märchenfigur Frau Holle ihr Bettzeug am Fensterbrett ausgebreitet und würde auf die Welt hinabblicken.

Hier also dürften die Wurzeln für das in den Felsbildern der Nordalpen dominante Motiv der „vier-fachen Orientierung“ liegen.4 Die Zahl Vier und die Zahl Drei sind immer wieder Symbole der Erdmuttergöttin. Wo die Tafeln gefunden wurden, ist im 8. Jh. v. Chr. nicht nur ein neuer Ištar-Tempel gebaut worden, sondern es sind auch neue Stadtmauern mit zwei Löwentoren nachgewiesen.

Eine ziemlich ägyptisch anmutende, vermeintlich griechische Plastik namens „Dame von Auxerre“ (Paris, Louvre) datiert aus dem 8. Jh. v. Chr., strahlt eine gewisse Eleganz aus, trotz ihrer überlangen Hände oder gerade deswegen. Ich würde sie für nubisch halten, doch sie stammt aus Kreta, wo afrikanische Einflüsse keine Seltenheit darstellen. Für Felsbildforscher könnte von Interesse sein, dass im Zentrum ihres Kleides vierfach konzentrische Quadrate abgebildet sind, die in geometrischer Gestaltungsweise die Elfenbeintafeln von Arslan Tash wiedergeben. Von beiden ließen sich die geheimnisvollen Mühle-Spiele ableiten, die eine Art „Besitzstempel“ vieler Felsbildwände der Nordalpen darstellen und meiner Ansicht nach letzten Endes einer Gestaltungsform der Erdmuttergöttin selbst entsprechen.

Aus dem 7. Jh. v. Chr. stammt eine interessante Frauenstatue aus Ton, die im Schutt der bedeutenden griechischen Stadt Theben in Böotien aufgefunden wurde. Aufgrund der Form wird sie als „Glocken-Idol“ bezeichnet. Die Glocke ist eine Gestaltvariante der Erdmuttergöttin, denn sie gleicht dem Uterus. Die Figur wird zwar als minoisch klassifiziert, zeigt aber stark archaische Einflüsse und soll laut Bildlegende in Zusammenhang mit Begräbnissen gestanden sein. Die Stiefel sollen der Legende nach an die Jagdgöttin Artemis erinnern, aber darüber hinaus fehlen deren Attribute. Aphrodite wäre genauso möglich, denn in der frühen griechischen Zeit kann Aphrodite noch ganz anders als liebreizend sein!

Das knöchellange Kleid der „Dame“ ist mit Symbolen bemalt, die auch in den Felsbildern der Alpen vorkommen. Darunter befinden sich Rauten für den Unterleib, Zacken als Wassersymbol, der Wirbel als Energiesymbol und eine Doppelaxt, vermutlich eine Komposition aus den zwei unterschiedlich gerichteten Mondhälften, meiner Ansicht nach ein frühes Zeichen für die Einheit im Gegensatz und damit für Weisheit, die es versteht, beides zu verbinden. Weiters je eine Swastika auf ihren Ober- wie auch auf ihren Unterarmen, ein Farn als Symbol des Lebens. Oberhalb liegen konzentrische Kreise als Brüste, Zickzacklinien als Haarlocken und ein amboss- oder kammartiges Amulett, das vielleicht die Funktion der Göttin als Schmiedin einerseits und als Regenbringerin andererseits versinnbildlichen sollte. Als zentrales Motiv schmücken ihren Mantel meiner Ansicht nach die Darstellung eines viereckigen Felsentors im Linearstil und daneben ein Paar Wasservögel, die je einen abgeschnittenen Haarteil im Schnabel halten, der die vom Mutterzopf abgetrennte Seele des Verstorbenen darstellen dürfte. Die gefiederten Schwingen der Vögel sehen interessanterweise gleich aus wie der belebende Farn oder Ölzweig oberhalb, sie könnten aber auch aus Kompositionsgründen gleichförmig angelegt sein.

Warum ein Felsentor an zentraler Position des Kleides?

Bereits seit dem 7./6. Jh. v. Chr. tritt die Erdmutter bei Arslankaya (Phrygien, Westanatolien) unleugbar als KYBELE aus einem Tuffsteinfelsen hervor. Ihr herrisches, furchterregendes Auftreten in Begleitung von zwei Löwen und zwei Sphingen wird von einem rechteckigen Tor umrahmt, das als Tympanon einen dreieckigen Tempelgiebel übergestülpt hat, auf dessen Außenseiten Schriftzeichen zu sehen sind. Zwischenräume – und das ist eine Sensation – sind mit unregelmäßig angeordneten Näpfchen gefüllt, wie sie auch in den Felsbildern der Nordalpen zuhauf vorkommen!

Der mütterliche Aspekt der Erdmuttergöttin ist bei Kybele überraschend zurückgedrängt, zugunsten von Aggression, Macht und Gewalt, somit zugunsten des Kriegsaspekts. Schon in Phrygien müssen für sie Stiere geopfert worden sein, denn König Midas, der ihr zu Ehren die Midasstadt hat erbauen lassen, wählte angesichts einer militärischen Notlage den Freitod durch Trinken von Stierblut.

Der Einfluss Kybeles könnte um 400 v. Chr. den fratzen- und maskenhaften „Orientalstil“ im ostalpinen Keltendekor ausgelöst haben, für den auch die Bronze-Schnabelkanne vom Halleiner Dürrnberg ein exzellentes Beispiel ist. Ein Exponat im Archäologischen Museum von Rhodos zeigt verblüffende Ähnlichkeit zur Kannenrandfigur „Herrin/Hüterin der Tiere“, die Kybele ja personifiziert. Als Große Mutter, magna mater oder auch Bellona, wie sie von den Römern genannt wurde, ist Kybele am Ende wieder sowohl Schöpferin als auch Zerstörerin. Als Ambivalenz in Person kontrolliert sie bald die ganze Welt der Antike.

Die phrygische Kybele mit ihren Löwen und Sphingen war ursprünglich nicht die einzige bedrohlich wirkende Göttinnengestalt. Besondere Faszination auf heutige Touristen übt die nicht weniger gefährlich aussehende minoische Schlangengöttin aus. Deren sexuelle Ausstrahlung wird durch den freizügigen Anblick ihres blanken Busens verursacht, dem als Sockel ein dunkles, knöchellanges Kleid dient. Gebrochen wird dieser erste Eindruck sogleich durch die beiden züngelnden Schlangen, die sie in Händen hält. Man könnte sie als eine schillernde Persönlichkeit bezeichnen, wenn man nicht wüsste, dass Schlangen früher eine positive Kraft der Wiedererneuerung verkörpert haben. Sowohl ihr periodisches Häuten als auch das phallusartige Aufrichten des Kopfes waren dafür maßgeblich.

Als Gorgo mit sechs Zöpfen, blutrünstig überstreckter Zunge und einem Schlangenpaar zeigt sich die machtbewusste Frauengöttin schließlich um 500 v. Chr. auf dem Henkel eines riesigen griechischen Weinmischgefäßes aus Bronze, gefunden in einem riesigen Tumulus in Vix, Nordburgund. Von einer Handelsdelegation aus der griechischen Kolonie Marseille wurde dieser Krater jener mächtigen Keltenfürstin als Geschenk überreicht, die den Verbindungsweg zwischen den Rhône- und Seine-Quellen beherrschte. Dies geschah in jener Zeit, als die Phönizier die Straße von Gibraltar blockierten und damit den Handel Griechenlands mit den Zinnminen Britanniens unterbanden, was die griechische Bronze-Waffenproduktion empfindlich gestört haben muss. Ein griechischer Handelsweg über Land war fortan gesichert.

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Marmor-Kopf einer Kybele aus dem 2./3. Jh., gefunden in der Salzburger Kaigasse (Salzburg Museum)

Im 1. Jh. n. Chr. berichtet der römische Chronist Tacitus auch von ihm unverständlichen matriarchalen Strukturen bei den Germanen. Den Rat der Frauen würden sie jederzeit beachten. Besonders respektierte Frauen würden sogar als göttlich verehrt werden, darunter die Ahnfrauen Weleda und Albruna.

Die Erdmuttergöttin heißt bei den Germanen Nerthus. Von ihr berichtet Tacitus, dass sie zu den einzelnen Stämmen führe und am Leben der Menschen teilnähme. Ihr heiliger Hain stände auf einer dänischen Insel, diesen verließe sie nach Belieben in einem Pferdewagen, feiere mit den Stämmen, und wenn sie dessen wieder überdrüssig sei, veranlasse ihr Priester, dass sie samt der sie verhüllenden Decke und den Wagenteilen von todgeweihten Sklaven in einem See gewaschen werde. Außer dem Priester bekäme sie niemand zu Gesicht, sodass man sich selbst ein Bild von ihr machen müsse.5 Gerade dieses Verdikt bewirkte, dass auf ausgewählten Felswänden der Nordalpen eine Unzahl von Göttinnenfiguren entstanden, die jedoch teilweise wesentlich älter sein dürften als die germanische Besiedlung, was bedingt, dass ein solches Verdikt offenbar schon Jahrtausende früher existierte. Als „die Verhüllte“ ist zuletzt Nerthus die Vorläuferin der im Frühmittelalter so genannten Frau Bercht.

Südlich der Alpen entsteht die Großmacht der Antike. Doch der schier unaufhaltsame Aufstieg Roms erfährt einen ziemlichen Dämpfer, als Karthago angreift. Hannibal quält bekanntlich Elefanten über die Alpen, um die Metropole Rom militärisch in die Zange nehmen zu können. In größter Bedrängnis wenden sich die Römer den sibyllinischen Büchern und dem Orakel von Delphi zu, welche den Sieg über Hannibal prophezeien, wenn die Römer es schafften, Phrygiens Kybele-Bildnis zu rauben und nach Rom zu holen.

204 v. Chr. gelingt ihnen das. Als schwarzer Stein betritt Kybele europäischen Boden. Im Hafen von Ostia wird der Meteorit in eine schwarzgesichtige Frauenstatue mit Silberkleidung eingearbeitet. Mit diesem Aussehen wird die kleinasiatische Göttin zur Vorläuferin der Schwarzen Madonna. Diese Figur wird auf das Hügelgelände des heutigen Petersdoms in Rom gebracht und fortan in einer Grotte verehrt. Der grausame Kybele- und Attiskult vermehrt sich in Europa sehr rasch. Zentrum ist der heutige Petersplatz. Hier werden der blutrünstigen Göttin Tausende von Stieren geopfert. Der Opfernde steht unterhalb des Stiers. Beim Eindringen des Schlachtmessers in den Hals des Tiers nimmt er eine sog. Blutdusche, um den Respekt vor der göttlichen Allmacht zu demonstrieren. Stiere gelten zu dieser Zeit als dämonische, gewalttätige Wesen, deshalb kämpft man bei der Schlachtung sozusagen symbolisch gegen das Chaos an. (Möglicherweise werden dabei frühmenschliche Traumata von Begegnungen mit den bulligen Auerochsen verarbeitet.)

Nach dem Sieg der Römer lässt sich der Aufstieg Kybeles im Götterkanon des römischen Imperiums nicht mehr aufhalten. Die Römer sehen jedoch ein Problem darin, dass sich junge Männer für ihre Göttin eigenhändig kastrieren. Dies passt nicht ins Bild des Verhaltens, das man von einem jungen starken Römer erwartet. Deshalb dürfen zunächst nur Nicht-Römer Priester werden, sog. Galli, abgeleitet von den Galatern, die in Kleinasien die Priesterkaste für diesen Kult gebildet hatten.

Auf der Suche nach einer integrativen Figur für unterschiedlichste Völker des alten Europas entscheidet sich Kaiser Augustus im 1. Jh. v. Chr. für Kybele und lässt ihr überall im Großreich huldigen. Der Überlieferung nach soll er Muttermale gehabt haben in Anordnung des Sternbildes der Großen Bärin, die ebenso eine Manifestation der Erdmuttergöttin darstellt und in einem Teil Griechenlands sowie in den Zentral- und Ostalpen verehrt wurde.

Wie geplant, eint der Kybele-Kult die Menschen über Ländergrenzen hinweg. Das zeigt, wie sehr der Glaube an die Erdmuttergöttin in Europa verbreitet ist, bevor sich das Christentum ausbreiten kann.

Zum mächtigsten Gegner Kybeles entwickelt sich schließlich Kaiser Konstantin, der im 4. Jh. n. Chr. die Verbreitung des Christentums zur Chefsache macht und in seinen Konzilen die Erdmuttergöttin durch den hl. Nikolaus und durch die Gottesmutter Maria ersetzt, die dazu erst massiv aufgewertet werden müssen.

drei Madeln