Sophienlust – 165 – Martin beschützt seine Mutter

Sophienlust
– 165–

Martin beschützt seine Mutter

Warum er plötzlich an seinem Vater zweifelte

Bettina Clausen

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-276-4

Weitere Titel im Angebot:

Weitere Titel im Angebot

Alexander von Schoenecker war eben von einem Ausritt zurückgekommen. Es war noch sehr früh an diesem Herbstmorgen im September. Die ersten Sonnenstrahlen erreichten gerade die Kastanienbäume hinter dem Haus und vergoldeten das Laub.

Wie schön das aussieht, dachte der Gutsherr, der am geöffneten Fenster seines Arbeitszimmers stand. Auf dem Schreibtisch lagen drei ungeöffnete Briefe, die der Postbote an diesem Morgen gebracht hatte.

Gewaltsam riss sich Alexander von dem bezaubernden Anblick des bunten Herbstmorgens los. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und griff nach den Briefen.

Die ersten beiden Briefe enthielten Rechnungen. Wie konnte es auch anders sein, dachte Alexander seufzend und legte die Rechnungen auf einen bereits vorhandenen Stoß unbezahlter Rechnungen. Schecks schrieb er grundsätzlich nur freitags aus. Sollen sie bis morgen warten, dachte er. Das ist dann ohnehin noch prompte Bezahlung.

Der dritte Brief machte ihn neugierig. Er kam von einem alten Freund – Steffen Reichlin. Die Reichlins bewirtschafteten ein großes Gut am Bodensee, zu dem auch eine Zuckerfabrik gehörte.

Alexander öffnete den Brief und begann zu lesen. Die ersten einleitenden Sätze ließen ihn noch lächeln.

Dann wurde er plötzlich ernst und sehr nachdenklich. Als er schließlich den Briefbogen sinken ließ, war seine vorher glatte Stirn von Falten zerfurcht.

In diesem Moment betrat Denise von Schoenecker sein Zimmer. »Alexander!« Besorgt kam sie auf ihren Mann zu. Natürlich kannte sie ihn viel zu gut, um nicht zu bemerken, dass ihn etwas bedrückte.

Er reichte ihr wortlos den Brief seines Freundes.

Denise las und erschrak. »Das ist ja entsetzlich. Die arme Elisabeth.« Sie kannte Steffen und Elisabeth Reichlin genauso lange wie Alexander. »Nach einem Reitunfall teilgelähmt.« Betroffen ließ sie den Brief sinken. »Das ist ein harter Schicksalsschlag.«

Alexander nickte. »Dabei ist sie ein so lebensfroher Mensch.«

»Weißt du was?« Denise setzte sich halb auf den Schreibtisch. »Wir fahren am Wochenende nach Konstanz. Was hältst du davon?«

Alexander zögerte mit der Antwort. Eigentlich hatte er am Wochenende seine liegen gebliebene Korrespondenz aufarbeiten wollen. Aber Freunden sollte man in der Not beistehen. Und die Reichlins befanden sich in einer Notlage. Also nickte er. »Wir sollten es wirklich tun. Vielleicht können wir den beiden irgendwie helfen.«

»Und wenn nicht, dann ist es für sie bestimmt ein Trost, Freunde an ihrer Seite zu wissen«, sagte Denise.

Die Herrin von Sophienlust und Schoeneich war an diesem Vormittag nicht so gelassen wie sonst. Elisabeths Schicksal bedrückte sie. Elisabeth Reichlin war noch jung. Kaum achtundzwanzig geworden. Wenn nun ein Leben im Rollstuhl vor ihr lag … Denise mochte diesen Gedanken gar nicht zu Ende denken, sondern versuchte sich auf die Erledigung des Tages zu konzentrieren.

Beim gemeinsamen Mittagessen wurde das Thema noch einmal angeschnitten. »Dürfen wir mitkommen?«, fragte Henrik.

»Ja«, sagte Denise. »Ihr könnt euch mit den Kindern anfreunden.«

Nick horchte auf. »Sie haben auch Kinder? Wie alt sind sie denn?«

Da musste Denise erst überlegen. »Silvia ist vor vier Jahren auf die Welt gekommen.«

»O ja«, rief Henrik. »Mit der spiele ich.« Er mochte kleine Mädchen. Er fand, sie widersprachen ihm wenigstens nicht dauernd.

»Und was gibt es noch außer der kleinen Silvia?«, wollte Nick wissen.

»Einen Sohn«, sagte Alexander von Schoenecker. »Er heißt Martin und ist sieben Jahre alt, wenn ich mich richtig erinnere.«

Ein bisschen zu jung für mich, dachte Nick, entschloss sich aber trotzdem, seine Eltern zu begleiten. Eine Fahrt an den Bodensee war nicht zu verachten. Da konnte man schon einmal ein Wochenende lang auf Sophienlust und die Freunde verzichten.

*

Gut Sonnenried lag außerhalb von Konstanz. Das Grundstück reichte bis ans Seeufer.

»Hier ist es ja fast so schön wie in Sophienlust«, meinte Henrik, als sie durch den weitläufigen Park fuhren.

Das Herrenhaus lag auf einer leichten Anhöhe. Es war nur auf der Vorderseite von großen alten Bäumen umgeben. Von der rückwärtigen Front aus konnte man bis hinunter zum See blicken.

Alexanders Wagen stand noch nicht ganz, da öffnete sich schon die Haustür. Ein etwa achtunddreißigjähriger Mann kam über den kiesbestreuten Vorplatz – Steffen Reichlin.

Er umarmte Alexander mit einer Herzlichkeit, die auf alte Freundschaft schließen ließ. Denise begrüßte er mit einem Handkuss. »Wir freuen uns ja so über euren Besuch«, sagte er, während alle zu dem Haus gingen, das eine schöne alte Fassade besaß, die mit sehr viel Sorgfalt renoviert worden war. Ich bin jedes Mal von dem Anblick erneut überwältigt, dachte Denise.

Dann betraten sie das Haus. In der Halle wartete Elisabeth. Sie saß in einem Rollstuhl. Und obwohl Denise sich auf den Anblick vorbereitet hatte, zuckte sie nun doch zusammen. Aber sie hatte sich gleich wieder in der Gewalt, ging mit ausgebreiteten Armen auf Elisabeth zu und umarmte sie herzlich.

»Endlich lerne ich eure Kinder kennen«, sagte Elisabeth Reichlin. »Erzählt hast du mir schon so viel von ihnen, Denise.« Sie begrüßte zuerst Nick. Die Ähnlichkeit mit der Mutter ist nicht zu übersehen, dachte sie dabei.

Henriks Verbeugung fiel ein bisschen oberflächlich aus, weil er bereits in alle Ecken des Hauses schielte, ob nicht Silvia Reichlin irgendwo auftauche.

Elisabeth deutete seine neugierigen Blicke richtig. »Unsere beiden Kinder spielen im Garten«, sagte sie zu Henrik. »Du wirst sie gleich kennenlernen. Ich schlage nämlich vor, dass wir uns auf die Terrasse setzen. Man muss die wenigen warmen Tage, die jetzt noch kommen, ausnutzen.«

Denise und Alexander pflichteten ihr bei. Dann beobachteten sie gerührt, mit welcher Sorgfalt Steffen den Rollstuhl seiner Frau schob.

»Ist es gut so?«, erkundigte er sich auf der Terrasse. »Oder möchtest du die Sonne lieber im Rücken haben?«

Elisabeth schüttelte den Kopf. »So ist es wunderbar. Danke, Steffen.« Mit einer sanften Geste strich sie ihm über die Hand. Es war nicht zu übersehen, wie sehr Steffen und Elisabeth einander immer noch liebten – trotz neunjährigem Ehealltag.

Alexander war an die steinerne Terrassenbrüstung getreten und blickte hinab zum See. »Es gibt nur eine einzige Situation, in der ich unser Gut Schoeneich nicht für das schönste Fleckchen auf der ganzen Erde halte«, sagte er. »Das ist immer der Moment, in dem ich hier stehe und über die Wiesen zum See hinabschaue.«

Elisabeth und Steffen schmunzelten. »Ich glaube, du hast keinen Grund, neidisch zu sein, Alexander«, sagte Elisabeth. »Ich habe Sophienlust und Schoeneich zwar nur einmal kurz gesehen, aber es hat mich trotzdem sehr beeindruckt.« Sie winkte zur Wiese hinab, auf der ein Bub und ein Mädchen saßen.

Sofort sprangen die beiden Kinder auf und kamen zum Haus gelaufen. Sehr artig begrüßten sie Denise und Alexander. Als Silvia Nick die Hand reichte, wurde sie ein bisschen verlegen. Sie hatte genau wie ihr Bruder ganz hellblondes Haar und große dunkle Augen. Von der Mutter, dachte Denise, denn Elisabeth Reichlin war eine bildschöne Frau, die überall Aufsehen erregte.

»Dürfen wir an den See hinabgehen?«, fragte Martin.

Elisabeth gestattete es. Dann klingelte sie nach dem Hausmädchen und bat, den Kaffee zu servieren. »Wenn Ihr noch etwas von dem guten Pflaumenkuchen abbekommen wollt, dann müsst ihr rechtzeitig wieder zurück sein«, rief sie den Kindern nach. Wenn sie sprach, lag immer ein leichtes Lächeln auf ihrem Gesicht.

Sie ist eine Lebenskünstlerin, dachte Denise. Kein Wunder, dass ihr Mann und ihre Kinder sie lieben und dass die ganze Atmosphäre im Haus so harmonisch ist.

Man merkte Elisabeth nicht an, wie verzweifelt sie über ihren Zustand war. Sie hatte sich großartig in der Gewalt. Nur die immer wiederkehrenden besorgten Blicke ihres Mannes verrieten, dass er unter inneren Spannungen litt.

Steffen liebte seine Frau über alles. Als Elisabeth mit dem Rollstuhl in die Küche fuhr, um nach dem Rechten zu sehen, berichtete er, wie es zu dem Unfall gekommen war. Erst jetzt erkannten Denise und Alexander das volle Ausmaß seiner Verzweiflung.

»Elisabeth ist tapfer«, sagte er. »Sie versucht zu verbergen, wie unglücklich sie ist. Aber ich spüre es natürlich trotzdem.«

»Kann man ihr denn nicht helfen?«, fragte Alexander. »Durch eine Operation?«

»Sie wird sich auf jeden Fall operieren lassen«, sagte Steffen. »Aber die Ärzte können einen erfolgreichen Ausgang nicht garantieren. Die Chancen stehen fünfzig zu fünfzig.«

»Wie furchtbar«, sagte Denise leise. »Wann soll die Operation stattfinden?«

»Die Ärzte haben geraten, noch etwas zu warten. Im Moment ist Elisabeth zu schwach dazu.« Er brach die Unterhaltung ab, als seine Frau zurückkam. Sofort sprang er auf und half ihr, den Rollstuhl in die richtige Position zu stellen. »Gut so?«

Elisabeth nickte und wandte sich an Denise und Alexander. »So ganz sicher bin ich noch nicht im Umgang mit diesem Gefährt. Die Routine kommt wohl erst mit der Zeit«, sagte sie lächelnd.

Dann brachte die Haushälterin einen Servierwagen mit Geschirr und deckte den Tisch. Elisabeth stellte Meta Strötz ihren Gästen vor.

»Ist sie nicht noch ein bisschen jung für eine Haushälterin?«, erkundigte sich Denise, als Meta wieder gegangen war.

»Sie ist doch immerhin schon sechsunddreißig.« Elisabeths Gesicht überschattete sich. »Im Großen und Ganzen bin ich nicht unzufrieden mit ihr. Ich wünschte nur, sie hätte etwas mehr Geduld mit den Kindern.« Sie seufzte. »Gerade jetzt, wo Steffen verreisen will, wäre das so wichtig.«

»Eine geschäftliche Reise?«, erkundigte sich Alexander vorsichtig.

Steffen nickte. Er war froh, mit jemand darüber sprechen zu können. »Ich muss für zwei Wochen nach New York fliegen. Das lässt sich leider nicht verschieben. Aber gerade jetzt lasse ich Elisabeth mit den Kindern nicht gern allein. Noch dazu mit einer Haushälterin wie Meta, die mit Kindern überhaupt nicht zurechtkommt. Warum, das weiß ich auch nicht.«

»Hör mal«, sagte Denise und fing dabei Alexanders bestätigenden Blick auf. Er wusste natürlich, was seine Frau den Freunden vorschlagen wollte, und war voll und ganz damit einverstanden.

»Gebt uns doch Silvia und Martin mit. Sie könnten vorübergehend in Sophienlust bleiben. Dort gefällt es ihnen bestimmt.«

Elisabeth und Steffen schauten sich an. »Das wäre eine Lösung«, sagte er. »Was meinst du?«

Elisabeth nickte. Man sah ihr an, wie erleichtert sie war. »Das ist sogar die Lösung. Aber wie ist es mit der Schule? Martin geht ja schon in die zweite Klasse.«

»Das kann er in Wildmoos genauso«, erklärte Alexander.

Steffen zögerte noch, obwohl er eigentlich dafür war. »Die Entscheidung liegt bei dir, Elisabeth.«

»Ich möchte es«, sagte sie. »Hier werden die Kinder immer wieder an das Unglück erinnert. In Sophienlust könnten sie es unter Gleichaltrigen bestimmt schneller überwinden.«

»Dann fragen wir sie«, entschied Steffen.

Meta brachte den Kaffee. Fast gleichzeitig mit ihrem Erscheinen kehrten auch die Kinder zurück, die sich bereits ausgezeichnet verstanden. Henrik und Nick hatten für Sophienlust schon tüchtig die Werbetrommel geschlagen. Daher traf die beiden Reichlin-Kinder Steffens Frage nicht ganz unvorbereitet. Trotzdem zögerten sie noch.

»Wir können doch Mutti nicht allein lassen«, sagte Martin. »Sie braucht uns jetzt.«

»Ich kann sehr gut ohne euch zurechtkommen«, antwortete Elisabeth burschikos.

»Das ist nicht wahr«, widersprach Silvia ihr. »Ich möchte lieber hierbleiben.«

Dabei fing sie Henriks enttäuschten Blick auf. Eigentlich wäre sie schon gern nach Sophienlust gegangen. Nach allem, was Henrik ihr erzählt hatte, musste es dort wirklich schön sein. Doch wenn sie ihre Mutter hilflos im Rollstuhl sitzen sah, hatte sie einfach das Gefühl, bei ihr bleiben zu müssen. Und genauso erging es Martin.

Elisabeth erkannte den inneren Zwiespalt der Kinder. »Und wenn ich euch nun darum bitte?«

»Aber, Mutti«, begann Martin. Er liebte seine Mutter über alles und wollte niemals etwas tun, was ihr nicht gefiel. Geschweige denn, ihr Sorgen bereiten.

Mit dem ihr eigenen Charme und mit sehr viel Geduld überredete Elisabeth die Kinder, für zwei Wochen nach Sophienlust zu gehen.

»Toll!« Henrik klatschte begeistert in die Hände. Jetzt schmeckte ihm der Kakao noch einmal so gut. Er war fast traurig, als Denise nach einer weiteren Stunde zum Aufbruch mahnte.

»Wollt ihr wirklich nicht über Nacht bleiben?«, fragte Elisabeth noch einmal. Sie hatte Denise schon zuvor darum gebeten. Denise bedankte sich, lehnte aber auch diesmal ab. »Auf uns wartet ein arbeitsreicher Sonntag. Leider. Aber das nächste Mal richten wir es so ein, dass wir zwei Tage bleiben können«, versprach sie und meinte es auch so. Elisabeth und Steffen strahlten trotz ihres schweren Schicksalsschlags so viel Ruhe und Harmonie aus, dass sie sich gern in deren Nähe aufhielten.

»Ich nehme dich beim Wort, Denise«, sagte Elisabeth lächelnd. Dann begleitete sie die Gäste im Rollstuhl bis zur Haustür. Dort waren die beiden Frauen einen Moment allein.

»Wenn du irgendwelche Sorgen oder Schwierigkeiten hast, dann zögere bitte nicht, mich anzurufen«, bat Denise.

»Ich werde daran denken. Aber ihr habt mir ja schon meine größte Sorge abgenommen. Ich bin froh, dass die Kinder während Steffens Abwesenheit bei euch sein können. Danke, Denise.« Die beiden Frauen verabschiedeten sich mit einem Wangenkuss voneinander.

Steffen hatte inzwischen mit Alexander vereinbart, dass er die Kinder selbst nach Sophienlust bringen werde, wenn er nach Frankfurt zum Flughafen fahren werde.

Die ganze Familie Reichlin stand auf der Freitreppe und winkte Alexanders Wagen nach. »Das war ein wunderschöner Nachmittag«, sagte Elisabeth mit einem zufriedenen Seufzer.

Steffen legte ihr bejahend die Hand auf die Schultern. Elisabeth tastete danach. Ich darf nicht mit meinem Schicksal hadern, dachte sie dabei. Ich habe einen Mann, der mich versteht und trotz allem liebt. Sie drückte seine Hand. Ihr zärtlicher Blick glitt dabei über die beiden Blondschöpfe ihrer Kinder. Wie verständnisvoll sie für ihr Alter schon waren. »Kommt, Kinder«, sagte sie gut aufgelegt. »Wir verbringen vor dem Abendessen noch eine gemütliche Dämmerstunde auf der Terrasse.«

»Ich darf den Rollstuhl schieben«, sagte Martin schnell und trat hinter seine Mutter.