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Andy Claus

Martin M. Falken

Marc Förster

Christian Kurz

Udo Rauchfleisch

Manuel Sandrino

Kai Steiner

Hans van der Geest

PINK CHRISTMAS 7

Etwas andere Weihnachtsgeschichten

 

 

 

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Andy Claus
 
Weihnachten für Fortgeschrittene

„Und du bist sicher, deine Eltern werden das mit uns einfach so akzeptieren? Nach allem, was ich von dir weiß, scheinen sie nicht gerade tolerant zu sein!“

„Der Lieblingsspruch meines Vaters ist, dass man Tatsachen schaffen muss, um respektiert zu werden. Nichts anderes machen wir! Schließlich ist unsere Hochzeit eine Tatsache.“

„Du kennst meine Meinung dazu. Ich denke, du hättest vielleicht doch erst einmal damit anfangen sollen, ihnen von deinem Schwulsein zu berichten, ehe du mit einem Ehemann ins Haus fällst. Und das auch noch zu Weihnachten.“

„Ich habe es oft genug versucht, das weißt du genau!“

„Ich verstehe trotzdem nicht, warum du die Bombe gerade jetzt platzen lassen willst.“

„Das hab ich dir bereits erklärt, erinnerst du dich nicht? In dieser ach so heiligen Zeit ist das Familiengemäuer von hochrangigen Gästen besiedelt. Sie kommen von überall, um sich gegenseitig in den Arsch zu kriechen und Geschäfte anzuleiern ... natürlich ganz weihnachtlich und im Licht von Barmherzigkeit und Nächstenliebe. Mein Vater sammelt in der Adventszeit sogar Geld für einen guten Zweck, der Scheck wird beim Weihnachtsempfang medienwirksam übergeben. Deshalb lädt er jedes Jahr ausgesuchte Presseleute ein, die ihn in ein strahlendes Licht setzen dürfen. Und weil meinem Vater eine Sache fast noch wichtiger ist als das Schaffen von Tatsachen, nämlich die Wahrung des schönen Scheins nach außen, finde ich den Zeitpunkt geradezu ideal!“

„Na, du musst es ja wissen! Hoffentlich geht das gut. Ich bin nämlich alles andere als heiß drauf, zwischen die Fronten zu geraten!“

Simon lenkte seinen sechzehn Jahre alten Benz in die Kurve zur letzten Straße, die das Paar zu seinem Elternhaus südöstlich von München bringen würde. Sie gehörte nicht ganz, aber doch schon zum großen Teil zum Anwesen seiner Familie auf diesem Hügel am Tegernsee.

„Sei kein Feigling! Lass mich nur machen, schließlich habe ich keine andere Wahl, wenn ich meinen altklugen Ehemann nicht auf ewig geheim halten will! Außerdem werden sie sonst nie aufhören, mich mit irgendwelchen verwöhnten Society-Zicken verkuppeln zu wollen. Ich werde dieses Jahr dreißig, bin also in ihren Augen mehr als überfällig.“

Er grinste Mario spitzbübisch an und erntete ein Schulterzucken.

Nach der nächsten, sanften Biegung kam die in der Wintersonne gleißend weiße Villa in Sicht. Sie hatte so überhaupt nichts mit den teuren Nachbauten der überzüchteten Häuser im bayrischen Landhausstil gemein, die weißblaues Gedankengut vermittelnd auf vielen Grundstücken in der Nachbarschaft standen. Inmitten von sauber zurückgestutzter, auch jetzt im Winter noch grüner Vegetation erhob sich ein großes, modernes Anwesen mit zwei kleinen Türmen und einem runden Balustraden-Balkon, der auf sechs massiven Säulen ruhte. Die Dächer waren schwarz und glänzend, die weißen Fenster und Türen auf dem neuesten Stand der Energietechnik und dennoch zum edlen Ambiente passend. Das Haus war weihnachtlich geschmückt, jedes burgunderrote oder goldene Licht schien eine eigene, verbriefte Daseinsberechtigung an dem Platz zu besitzen, wo es angebracht wurde.

„Wow, für die Tatsache, dass man Brillanten nicht essen kann, scheinen sie ziemlich begehrt zu sein … ich meine, wenn man so reich damit werden kann!“, stieß Mario hervor und achtete darauf, dass seine Kinnlade nicht dauerhaft unten blieb. Es war das erste Mal, dass er Simons Elternhaus zu Gesicht bekam, nicht mal Fotos hatte er bisher davon gesehen.

Sie kamen näher, rechter Hand des Wohnsitzes bog Simon in einen hinter dichten Bäumen und Sträuchern verborgenen Parkplatz ein. Er lenkte seinen betagten Wagen über den glatten Natursteinboden an unanständig teuren Karossen und schnittigen Flitzern vorbei und fand schließlich eine Lücke. Der Benz wirkte dort wie ein Socken strickender Eunuch zwischen rammelnden Pornodarstellern.

Sie stiegen aus und gingen erst einmal mit nur einer Tasche Richtung Haus, obwohl weiteres Gepäck im Kofferraum lag. Sie mussten nicht klingeln, die Tür wurde aufgezogen, sobald sie davor ankamen. Eine junge Frau in klassischer Dienstmädchenkleidung bat sie herein.

Mario konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.

„Wie konservativ geht’s denn noch? Oder ist das eine Fetisch-Weihnachtsparty?“, flüsterte er Simon zu. Sein eigenes, gutbürgerliches Elternhaus kannte eine solch übertriebene Darstellung von Reichtum nur aus Film und Fernsehen.

„Verstehst du jetzt, wieso wir noch nie hier waren?“

Das Mädchen bat sie zu warten, durchschritt die große, mit schwarzem, spiegelndem Marmor geflieste Eingangshalle und verschwand hinter einer Doppeltür. Kurz hörte man Stimmen, Gelächter und leise, klassische Musik.

„Ich fühle mich nicht sonderlich wohl … ein bisschen fehl am Platze!“

Mario lächelte unsicher.

„Das kenne ich nur zu gut. Und es wird nicht besser, das kannst du mir glauben!“

„Sollen wir uns lieber still und heimlich wieder verpissen? Ich habe echt kein gutes Gefühl.“

„Du weißt, dass das nicht geht. Während des Studiums brauchen wir die finanzielle Unterstützung noch. Danach können sie mich gern enterben und sich mit ihrer Kohle ein besonderes Plätzchen im Himmel ersteigern!“

„Wenn du wirklich glaubst, dass dein Vater weiterzahlt, wenn er erkennt, warum du eigentlich hergekommen bist ... ich melde da Zweifel an! Ich finde zumindest den Zeitpunkt immer noch unlogisch.“

Simon und Mario hatten sich während ihres Jurastudiums kennengelernt. Sie wussten bald, dass sie zueinander gehörten und an der Uni wurde ihre Liaison auch nicht zum Problem. Sie zogen zusammen und es war Simon, mit dessen Geld sie ihren Lebensunterhalt bestritten. Er wollte nicht, dass Mario wie bis dahin kellnern ging, sein Freund sollte sich wie er selbst völlig auf das Studium konzentrieren können. Und so lebten sie vom Unterhalt, der monatlich von Simons Vater aufs Konto kam.

Simon wusste schon nach den ersten vorsichtigen Andeutungen als Jugendlicher, dass die Eltern sein Schwulsein nicht tolerieren, geschweige denn akzeptieren würden. Er hatte mit der ganzen Härte seines Vaters zu rechnen und diese lag in erster Linie in finanziellen Konsequenzen. Bisher hatte er sich zähneknirschend mit der Geheimhaltung seiner kompletten Persönlichkeit abgefunden, die Eltern kannten nur die Hülle ihres Sohnes und schienen damit zufrieden zu sein.

Nun war aber völlig überraschend die Zeit gekommen, wo er seine Neigungen und das Leben mit Mario nicht mehr verleugnen wollte. Es mochte gerade jetzt während des Studiums unvernünftig sein, weil er auf seinen Vater angewiesen war, aber man konnte sich nicht immer aussuchen, wann eine Sache reif geworden war. Und so kam die alljährliche, offizielle Einladung zum Fest gerade recht. Es war neben dem Geburtstag des Vaters der einzige Termin, an dem Simon seiner Familie begegnen musste und bisher war es kein Problem, sich zweimal im Jahr zu verstellen. Aber genau das hatte sich geändert, plötzlich drängte alles in Simon auf Teufel komm raus nach Offenbarung und er hatte ein Konzept, wie das in seinem Sinne ablaufen konnte. Sogar einen Plan B hielt er bereit, hoffte jedoch, dass dieser nicht zum Einsatz kommen musste.

„Sind eigentlich über Weihnachten auch Frauen da, die dich kennenlernen sollen?“, riss Mario ihn aus seinen Überlegungen.

„Wenn ich raten soll … ja, bestimmt.“

„Dann muss ich auf dich aufpassen!“

„Na klar doch!“

Die Tür öffnete sich wieder, ein Mann um die Siebzig trat in die Eingangshalle. Er hielt sich auffallend gerade und an seinem hölzern abgewinkelten Arm stolzierte ein makelloses Frauenpüppchen, dem man das Alter erst im Näherkommen ansah. Sie trug ein unauffälliges Designer-Kostüm und zierlichen Schmuck, pures Understatement für die Frau eines weltweit agierenden Juweliers.

„Hallo, Sohn!“

„Hallo, Vater!“

Sie reichten sich steif die Hand und die Szene wirkte in ihrer unterkühlten Art nahezu grotesk.

Kurz standen sie schweigend voreinander, dann ergriff Simons Vater das Wort.

„Ich sehe, du bist nicht allein gekommen?“

Simon zog seinen Lebenspartner am Ärmel etwas weiter in den Vordergrund.

„Das ist Mario, er ist ein Freund von der Uni und hat zu den Feiertagen nichts vor. Ich dachte mir, auf einen weiteren Gast kommt es nicht an. Ein Irrtum?“

Mario spürte Simons Anspannung überdeutlich, sie übertrug sich auf ihn selbst. Er war froh, dass die folgende Begrüßung für ihn selbst genauso kalt ausfiel und keine weiteren Fragen gestellt wurden.

„Ich nehme an, nach der Fahrt seid ihr müde. Marita wird euch eure Zimmer zeigen, bei Bedarf bringt sie euch auch etwas zu essen. Ihr entschuldigt uns, wir haben Verpflichtungen. Wir sehen uns morgen um acht beim Frühstück!“

Er versah die wie ein kleines Kind neben ihnen wartende Hausangestellte mit einigen Anweisungen, dann drehte er sich um und ging mit seiner Frau, deren Hand an seinem Arm festgewachsen schien, zurück zu seinen Gästen.

Aus verschiedenen Gründen schweigend folgten Simon und Mario dem Hausmädchen die große Treppe hinauf in den ersten Stock, wo ihnen zwei Zimmer zugewiesen wurden. Während Simon beim Betreten des Raumes schlagartig wieder die Enge und Verpflichtung seiner Jugendjahre spürte, schaute Mario sich um und staunte ein weiteres Mal aufgrund dieser edlen Einrichtung. Dass Simon nie über das alles hier gesprochen hatte, konnte er nicht nachvollziehen. Er wusste zwar, dass dessen Eltern das Kleingeld nicht zählen mussten, aber was er hier sah, schlug dem Fass nun wirklich den Boden aus.

Er musste in sich hinein grinsen, weil sie getrennte Räume zugewiesen bekamen und war gespannt, wie Simon die Situation klären wollte. Nach wenigen Minuten fragte er sich dann, was er überhaupt allein in diesem Zimmer sollte und verließ es, um gleich darauf bei Simon zu klopfen.

„Komm rein!“

Mario fand Simon mitten im Raum stehend.

„Was machst du?“

„Nichts!“

Sie umarmten sich stumm und Mario fühlte erneut Simons Anspannung. Das Gesicht seines Partners spiegelte eine dumpfe Qual wider, in seinen Augen standen Auflehnung, Wut und eine unbestimmte Angst. Er wusste sofort, es war nicht der richtige Moment, um ihn auf das alles hier anzusprechen.

„Hey, übermorgen fahren wir wieder zurück nach Köln und es wird alles wie immer sein. Das hier ist so etwas wie ein Film, wenn wir aus dem Kino kommen, haben wir unser Leben wieder!“, sagte er genau das Richtige. Sie küssten sich und landeten schnell auf dem Bett, bezogen mit gestärkter, schneeweißer Leinenwäsche. Allerdings dauerte das Intermezzo nicht lange, Simon sprang nach kurzer Zeit der Zärtlichkeit fluchend auf.

„Ich hasse dieses Haus, Mensch, was für eine Scheiße!“

Er ging zum Barschrank und goss sich ein großes Glas mit Whisky voll, das er in zwei Zügen leerte.

Mario beobachtete ihn schweigend und fragte erst, als Simon sich wieder neben ihn aufs Bett setzte:

„Was ist hier passiert? Wie bist du aufgewachsen? Du hast nie darüber gesprochen!“

„Warum sollte ich? Ich will unsere Beziehung nicht damit belasten. Du bist mein neues Leben, mein emotionales Zuhause! Das alles hier ist Vergangenheit, ich hole mir noch, was mir zusteht … was ich mir in den Jahren meiner Kindheit verdient habe und dann werde ich mit dir frei sein!“

Diese eher sentimentale Erklärung passte so gar nicht zu Simon, aber Mario ging darauf ein.

„An unserer Beziehung wird sich nichts ändern, egal was passiert. Du kannst sie weiter geheim halten oder nicht und auch ohne den Unterhalt deiner Familie kämen wir klar. Schließlich haben wir zwei gesunde Hände. Ich bin bereit, sie zu benutzen, wenn es für dich damit einfacher wird. Wir können also immer noch verschwinden – meinetwegen jetzt sofort!“

„Du verstehst es nicht, oder? Natürlich könnte ich auf den Unterhalt verzichten, aber so einfach werde ich es ihm auf keinen Fall machen. Ich habe mit ihm eine Rechnung zu begleichen, die nichts mit Geld zu tun hat!“

„Leider hast du mir nie gesagt, was in deiner Kindheit abgelaufen ist. Okay, ich habe immer gespürt, dass du daran zu knabbern hast, aber jetzt … willst du nicht doch endlich darüber reden?“

Kurz wirkte Simon versonnen, so als wäre er mit seinen Gedanken viel zu weit weg, um auf die Frage von Mario einzugehen. Dann antwortete er jedoch:

„Du musst es nicht wissen und ich will es bald auch endlich vergessen. Ich werde meinen Vater zwingen, mein schwules Leben zu akzeptieren. Und ich benutze ihn, bis ich auf eigenen Füßen stehen kann. Wenn es soweit ist, wird er endlich begreifen müssen, dass er nicht alles kontrollieren kann und für das, was er mir angetan hat, bezahlen muss!“

Auch das irritierte Mario, noch niemals hatte er Simon derart zerbrechlich und wie er jetzt erst wusste, ehrlich erlebt und dabei glaubte er bisher, ihn zu kennen. War das nicht die Voraussetzung für ihr gemeinsames Leben gewesen?

Wenig später schliefen sie eng beieinanderliegend ein und blieben dabei in Simons Zimmer.

 

Früh am nächsten Morgen weckte Simon Mario. Er wirkte aufgeregt und unternehmungslustig, war jetzt fern aller tiefsinnigen Gedanken. Er machte sogar Witze, was Mario ziemlich wunderte.

„Beeil dich, wir dürfen nicht zu spät kommen!“

„Wie du meinst.“

Mario kämpfte während des Duschens immer noch gegen das Gefühl, Simon eigentlich überhaupt nicht zu kennen. Er sprach jedoch nicht darüber, bis sie später gemeinsam hinuntergingen, um die Familie beim Frühstück zu treffen. Sie waren zuerst im großen Esszimmer und tranken bereits Kaffee, als das Ehepaar ankam. Sofort spürte Mario Simons Stimmung umschlagen, es war, als würde er versteinern und nur noch vorschriftsmäßig auf das antworten, was sein Vater ihn fragte.

„Ist dieser alte Benz da draußen deiner? Wo ist der BMW?“

Als Begrüßungsworte eignete diese Frage sich kaum, aber Simon ging sofort darauf ein.

„Ich habe ihn verkauft, der Mercedes läuft noch prima!“

„Aber der Wagen ist uralt … du machst dich und mich gleich mit lächerlich, wenn man dich in diesem Schrottauto sieht.“

„Ich denke nicht. Du bist auch alt und niemand findet dich lächerlich. Oder etwa doch?“

Die Worte waren wie ein Paukenschlag, ein Ruck ging durch Simons Vater und er schaute seinen Sohn ungläubig an. Selbst die Mutter, die bisher nur das Nötigste gesprochen hatte, sackte ein wenig in sich zusammen und ihr leises „Simon!“ klang erschrocken.

Mario konnte nur ahnen, dass sein Partner etwas in dieser Art noch niemals erwidert und soeben den Showdown eröffnet hatte.

„Warum hast du den BMW überhaupt verkauft? Ich denke, meine monatlichen Überweisungen sind mehr als großzügig und müssten dein Auskommen sichern“, überging der Vater diese Antwort nur unter größter Anstrengung, wie seine Miene bewies.

„Ich hatte eine Feier und brauchte eben mehr Geld. Du weißt am besten, was so etwas kostet, auch wenn du deine Gäste von der Steuer absetzen kannst.“

Mario ahnte, was jetzt folgen sollte, sein Herz schlug ihm plötzlich im Hals und er hätte sich am liebsten ein Mauseloch gesucht, um sich zu verkriechen.

„Du weißt, dass meine großen Empfänge niemals ausschließlich privat sind. Ich denke und handle geschäftsmäßig, um das Geld zu verdienen, von dem auch du lebst. Aber was hattest du für einen Grund, für eine Feier so viel auszugeben, dass du den BMW verkaufen musstest?“

„Ich habe geheiratet!“

Das saß!

Die Eltern schauten sich zunächst konsterniert an, dann wanderten ihre Blicke synchron zurück zu Simon. Natürlich war es sein Vater, der antwortete.

„Du hast geheiratet? Ohne uns zu informieren? Wen? Und warum hast du deine Frau nicht mitgebracht, damit wir sie zumindest nachträglich kennenlernen? Ist deine Wahl so schlimm?“

„Es ist keine Frau und ich habe ihn mitgebracht!“

Simon legte seine Hand auf die von Mario und lächelte ihn dabei kurz an. Dann wandte er sich wieder seinem Vater zu und seine Miene wurde härter.

„Das ist Mario, mein Mann. Und ich will die Chance des weihnachtlichen Treffens nutzen, um ihn in die Familie und die Gesellschaft einzuführen!“

In der sich anschließenden Stille hätte man einen Floh husten hören können. Mario sah vor seinem geistigen Auge, wie er sich selbst immer kleiner zusammenfaltete und als unauffälliges Kissen auf dem Stuhl liegen blieb. Der alte Mann hingegen wirkte nur kurz verletzt und erschüttert, ganz so, als habe sein Sohn ihm unter dem Tisch in die Weichteile getreten. Dann riss er sich zusammen und seine Stimme war laut und schneidend, als er antwortete:

„Du willst mich auf den Arm nehmen, nicht wahr? Du hast es nicht wirklich gewagt, uns so etwas anzutun!“

„Wir sind verheiratet und du kannst nichts daran ändern, Vater! Daran nicht und auch an meinem Schwulsein nicht.“

Der Ältere reagierte wie ein Uhrwerk, er benötigte keinerlei Bedenkzeit und hatte die möglichen Lösungswege für dieses unerwartete Problem sofort parat.

„Das machst du rückgängig!“

„Warum sollte ich?“

„Weil ich es dir sage.“

„Wie mir scheint, hältst du dich für wichtiger, als du für mich bist. Wir sind verheiratet, Marco ist und bleibt mein Mann. Ich liebe ihn! Weißt du, was das ist? Liebe?“

„Unterlasse die Erwähnung der Institution Ehe in dem Zusammenhang, das ist einfach lächerlich! Wenn überhaupt, habt ihr eine eingetragene Partnerschaft und die kannst du ohne Probleme auflösen.“

„Du kennst dich also aus? Hast du etwa mit so etwas gerechnet? War es dir also doch nicht möglich, die Augen komplett vor meinen Belangen zu verschließen? Wer hätte das gedacht. Nochmal … ich werde gar nichts auflösen, nimm das endlich zur Kenntnis!“

Simon drehte sich seitlich, zog Marco demonstrativ am Kinn zu sich heran und küsste ihn.

„Unterlasse solche Sauereien hier in meinem Haus!“, brüllte sein Vater übergangslos und sprang gleichzeitig erstaunlich gelenkig vom Stuhl auf. Sein Gesicht färbte sich langsam bläulich-rot, was zur Folge hatte, dass seine Frau ihm beschwichtigend die Hand auf den Unterarm legte. Er schüttelte sie ab wie eine lästige Fliege.

Simon seinerseits wiederholte den Kuss und Marco fühlte sich plötzlich missbraucht. Die ganze Zeit über musste er hilflos zuhören, wusste, das alles drehte sich um ihn, ohne dass es im Grunde um ihn ging. Der zweite, demonstrative Kuss war der Auslöser dafür, dass er nicht mehr Simons Verstärkung sein wollte.

„Ich denke, ihr kommt ohne mich aus. Ich gehe hoch und erwarte, wie das hier ausgeht!“

Er stand auf und rannte beinahe zur Tür. Simons fast flehentliches „Mario, bleib doch bitte …“, hörte er schon nicht mehr.

„Da siehst du, wie gut du dich auf ihn verlassen kannst. Ein paar Schwierigkeiten und weg ist er!“, kommentierte Simons Vater ungerührt.

„Wag es nicht, so über ihn zu reden. Du kennst ihn nicht!“

„Du bist verblendet in dieser Perversion, die er dir zu bieten hat. Ich schäme mich für dich, mein Sohn.“

Simon wich alle Farbe aus dem Gesicht. Verhältnismäßig leise antwortete er:

„Ach, tatsächlich? Du schämst dich für mich? Du bist der größte Heuchler, dem ich je begegnet bin.“

„Wenn du auf dieser Sache bestehst, werde ich dir die monatliche Unterstützung streichen. Das dürfte dir wohl klar sein. Außerdem wirst du mein Haus nie wieder betreten, ich habe dann keinen Sohn mehr!“

„Na endlich, darauf habe ich gewartet. Aber so einfach mache ich es dir nicht. Ich weiß, dass du denkst, die ganzen Therapien hätten bei mir eine Art Gehirnwäsche bewirkt und ich habe gewisse Dinge aus meiner Kindheit vergessen. Aber ich muss dich enttäuschen, ich erinnere mich an alles. Ich habe nur nie mehr darüber gesprochen, weil ich mich nämlich für dich geschämt habe!“

Nun geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Simons Mutter sprang auf und strebte aufschluchzend zur Tür, war schon im nächsten Augenblick verschwunden. Sein Vater wirkte zum ersten Mal verunsichert, versuchte aber mit allen Mitteln, das zu verstecken. Dennoch wirkten die folgenden Worte ungewollt beinahe versöhnlich.

„Was deinen sogenannten Ehemann angeht, es ist mir schon klar, dass es Dinge gibt, die man im stillen Kämmerlein tut. Immer kann man seine Wünsche schließlich nicht kontrollieren und manchmal ist man so verstrickt, dass man sogar an große Gefühle glaubt. Aber so etwas geht vorbei und gehört nicht in die Öffentlichkeit. Das ist es unter keinen Umständen wert, seinen guten Ruf zu verlieren.“

„Aha, Verständnis nach Art des Hauses. Das kannst du dir sparen! Und damit lenkst du mich auch nicht von allem anderen ab. Es wird dir nichts nützen, so zu tun, als wüsstest du nicht, wovon ich rede.“

„Ich erinnere mich, dass du mich schon als Kind gewisser Dinge beschuldigt hast. Unglaubliche Dinge, mit denen du mich bloßstellen wolltest. Die Ärzte sagten, es sei die Rebellion gegen einen zu starken Vater. Aber du hast recht, ich nahm an, die Therapien hätten geholfen und habe es dir verziehen.“

„Wir beide wissen, dass nicht du etwas zu verzeihen hast und ich es niemals werde. Ich würde dir jedenfalls raten, weiterzuzahlen. Nach dem Studium bist du mich dann sowieso los. Aber was ich eigentlich will, ist, dass du Mario heute Abend als deinen Schwiegersohn vorstellst!“

„Mach dich nicht lächerlich!“

„Überleg es dir. Ich bin nicht mehr der hilflose, kleine Junge von damals, den du mundtot machen kannst!“

„Versuchst du gerade, mir zu drohen?“

Plötzlich saß Simon der kühle, unnahbare Geschäftsmann wieder gegenüber.

„Ich drohe dir nicht, ich verspreche dir Konsequenzen!“

Der Vater schien nachzudenken, dann sagte er:

„Ich werde mit deiner Mutter sprechen und dann entscheiden. Geh hinauf und warte, ich teile dir meinen Entschluss rechtzeitig vor der Feier mit!“

Simons Vater stand auf, ohne seinen Sohn noch eines Blickes zu würdigen und so verließ er auch den Raum.

 

„Es kann also sein, dass er nachgibt?“, fragte Mario gerade.

Sie saßen in Simons Zimmer auf dem Bett.

„Mein Vater? Niemals!“

„Und warum will er dann Bedenkzeit? Warte doch erst einmal ab!“

„Du kennst ihn nicht, er will es mir lediglich nicht persönlich sagen. Er hat schon immer möglichst viel Abstand zwischen sich und die Drecksarbeit gebracht.“

Mario wollte es nicht, aber ihm platzte genau in diesem Moment der Kragen.

„Natürlich kenne ich ihn nicht, ich weiß gar nichts. Sag mir endlich, was dir als Kind passiert ist, ich komme mir langsam wie ein Pausenclown vor.“

„Ich will dich nicht damit belasten!“

„Das sagtest du bereits das eine oder andere Mal, aber es ist Scheiße, verstehst du? Wir wollten uns immer alles sagen, darauf ist unsere Beziehung aufgebaut. Aber das scheinst du vergessen zu haben. Und gerade bei so etwas … wie soll ich dich verstehen, wenn ich nichts von dir weiß?“

„Findest du das nicht leicht übertrieben? Du weißt alles von mir, alles Wichtige jedenfalls. Niemand kennt mich so gut wie du. Mach die Sache jetzt bitte nicht zu einem Problem zwischen uns.“

„Das ist es aber schon, seit wir hier angekommen sind. Ach Mensch, Simon! Meinst du wirklich, ich kann mir nicht denken, was passiert ist? Er hat dich missbraucht, oder?“

„Nein, das hat er nicht!“

Simon wirkte abrupt beleidigt.

„Hey, wirst du jetzt etwa trotzig? Dieses Haus holt wirklich den kleinen Jungen in dir hoch. Was soll es denn sonst sein?“

„Leistungsdruck. Lieblosigkeit. Kälte.“

Mario sprang von der Bettkante auf.

„Das ist jetzt nicht dein Ernst! Simon, Simon, S-i-m-o-n! Sprich mit mir!“

„Na, hab ich doch gerade. Oder findest du das nicht schlimm genug?“

„Natürlich ist es schlimm, wenn man ohne Liebe aufwachsen muss und dabei auch noch immer der Beste sein soll. Aber das ist es nicht, das sitzt nicht so tief.“

„Du hast ja keine Ahnung!“

„Ich weiß!“

Mario zog Simon zu sich hoch und nahm ihn in den Arm. Er spürte den Atem in seiner Halsbeuge und strich sanft über seinen Rücken. Beinahe meldete sich sein schlechtes Gewissen. Müsste er als Lebenspartner nicht Geduld zeigen und nicht noch zusätzlich Druck machen?

„Ist schon okay, sag es mir, wenn du bereit dafür bist. Es tut mir leid, dass ich dich gedrängt habe.“

„Mein Vater hat mich verkauft!“

Simons Stimme war nicht viel mehr als ein Hauch und sofort nach diesem Geständnis begann er zu beben, Mario spürte Tränen auf seiner Haut. Er hielt Simon fest, schwieg und überlegte fieberhaft, was er damit gemeint haben könnte.

Als Simon sich losmachte und etwas zu trinken holte, obwohl erst Vormittag war, gab er seiner Neugier immer noch nicht nach. Er setzte sich auf einen der Sessel und beobachtete seinen Partner, der mit dem Glas in der Hand und gesenktem Blick wie ein gefangenes Tier hin und her lief. Dann endlich hob Simon den Kopf und schaute Mario an.

„Mein Vater hat mich seinen Geschäftsinteressen geopfert, als ich sieben Jahre alt war. Für einen Deal musste ich einem seiner Geschäftsfreunde zur Verfügung stehen … der Kerl hat mich für seine Unterschrift unter dem Vertrag vergewaltigt. Eine Woche lang musste ich bei ihm in seinem Haus bleiben, sieben Tage in der Hölle.“

Mario schluckte, er wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Deshalb stand er auf und ging auf Simon zu. Dieser hob jedoch abwehrend die freie Hand, schüttelte den Kopf und holte sich noch etwas zu trinken.

„Und? Bist du jetzt zufrieden, weil du es weißt?“

Mario schluckte trocken und musste sich räuspern, bevor er sprechen konnte.

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll …das tut mir so leid.“

„Du musst nichts dazu sagen. Ich weiß, es wird nicht funktionieren, dass wir es vergessen. Aber lass uns nicht wieder darüber sprechen, wenn ich mit ihm fertig bin, okay?“

„Alles, was du sagst! Machst du mir jetzt bitte auch einen Drink?“

Schließlich saßen sie wieder auf dem Bett. Mario drehte das Glas zwischen den Fingern und kämpfte mit sich. Jetzt hatte er plötzlich doch Fragen.

„Kannst du mir bitte noch eines beantworten?“

„Mmmmh?“

„Was war mit deiner Mutter? Hat sie denn nichts gemerkt? Hat sie nicht gefragt, wo du eine Woche lang warst?“

„Meine Mutter? Du hast sie gesehen, was glaubst du, kann sie gegen ihn ausrichten? Das war schon immer so. Aber ich glaube, sie hat zuerst tatsächlich nichts gewusst. Er hat ihr etwas von einem Ponyhof erzählt, wo ich unter anderen Kindern Urlaub machen könnte. Ich weiß doch auch nicht, wieso sie ihm das abgenommen hat, er hat sich schließlich sonst nie um meinen Alltag gekümmert.“

„Und danach? Hast du ihr nichts gesagt?“

„Natürlich habe ich das, aber sie hat mir nicht geglaubt.“

„Es gibt doch Leute, die es hätten beweisen können. Du warst verletzt …“

„Als Siebenjähriger konnte ich nicht allein zum Arzt oder zur Polizei gehen, ich wäre nicht mal auf die Idee gekommen. Sie haben mich zu Hause gehalten, bis alles verheilt war. Zu diesem Zeitpunkt muss meine Mutter auf jeden Fall Bescheid gewusst haben. Ich habe dann irgendwann aufgehört, darüber zu sprechen, es war zwecklos. Dafür wurde ich ziemlich wild, habe alles Mögliche angestellt. Dadurch hat mein Vater immer mehr Druck ausgeübt und ich kam von der Privatschule ins Internat. Sie haben mich einfach abgeschoben, ihre Sünden und mich aus ihren Augen geschafft. Erst mit zehn habe ich einen neuen Anlauf genommen, darüber zu reden. Nach vielen Schlägereien, Diebstahl und meiner ersten Alkoholvergiftung musste ich zur Therapie. Da habe ich dann alles erzählt.“

„Und?“

Mario schüttelte wortlos den Kopf, das alles war unfassbar für ihn. Die Eltern waren ihm von Anfang an unsympathisch gewesen, jetzt empfand er Abneigung für sie.

Es klopfte leise und Marita trat ein. Sie trug ein silbernes Tablett mit einem Brief darauf. Einmal mehr stieß Mario dieser enorme Gegensatz zwischen Schein und Sein sauer auf. Als sie raus war, murmelte er:

„Ja!“

„Lies du!“

Simon,

Dir bleibt jedoch, wie bereits erwähnt, immer noch die Möglichkeit, dich an meinen Wunsch zu halten. Dann bist du natürlich heute Abend willkommen. Allein!

 

„Komm mit, jetzt müssen wir das andere Gepäck doch noch aus dem Benz holen!“

Der Weihnachtsabend im großen Saal des Anwesens begann gegen sieben Uhr. Wie am Vorabend hatte sich der Parkplatz mit Luxuswagen gefüllt, nur waren es diesmal mehr. Immer neue, edel gekleidete Gäste strebten unter der weihnachtlich sanften Beleuchtung zum Haus und wurden dort direkt vom Hausherrn nebst Gattin und dem Personal empfangen, das sich höflich lächelnd und stumm im Hintergrund hielt und die Pelzmäntel entgegennahm. Ein Hauch von teurem Parfum wehte durch die Eingangshalle und verlor sich im Saal an den köstlichen Duft des Büfetts.

Flink umher wieselndes Personal sorgte auch hier dafür, dass kein Wunsch unerfüllt blieb. Die Stimmung war noch verhalten, man aß und trank, war dem Gastgeber gegenüber voll des Lobes und unterhielt sich eher leise, was über Smalltalk selten hinausging. Doch schon nach knappen zwei Stunden fanden sich die ersten Grüppchen zusammen, die sich bereits persönlicher kannten. Der Champagner floss und die Stimmen wurden lauter. Immer öfter flackerte Gelächter durch den Raum. Es war an der Zeit, den Stehgeiger in den Feierabend und die fünfköpfige Tanzmusik Band auf die kleine Bühne zu schicken.

Simon hatte seinem Vater ausrichten lassen, dass sie direkt am nächsten Morgen abreisen würden und seither nichts mehr gehört. Er erwartete es nicht anders, sein Plan schien aufzugehen.

„Na? Wie sehe ich aus?“

„Super! Die Farbe steht dir.“

Sie prusteten los und lachten, bis ihnen der Atem wegblieb.

„Ich werde langsam nervös. Wann geht es los?“, fragte Mario.

„Dann geht’s gleich los?“

Wenig später machten sie sich auf den Weg die Treppe hinunter. Sie mischten sich in das rege Treiben des Personals, das keinen Blick für sie hatte. Es war kein Problem, ihr Ziel zu erreichen. Im Saal hatten bereits die ersten zu tanzen begonnen. Die meisten saßen jedoch noch an den Tischen. Simon wusste aus Erfahrung, dass sich das erst später ändern würde. Bis nach der Scheckübergabe gab man sich im Allgemeinen Mühe, weder zu viel zu trinken noch sich daneben zu benehmen.

„Ja, dann mal hopp!“, gab Simon leise den Startschuss.

„Wo kommen Sie denn her?“

„Machen Sie keine Witze! Wie sind Sie hier hereingekommen? Ich habe Sie nicht engagiert und auf der Gästeliste stehen Sie mit Sicherheit auch nicht!“

„Unsinn! Gehen Sie … sofort! Merken Sie nicht, dass Sie hier nicht her passen?“

„Unsinn! Wenn Sie nicht auf der Stelle verschwinden, rufe ich das Sicherheitspersonal!“

„Simon, was …?“

Seine Begrüßung und Vorstellung von sich und seinem Ehemann Mario, den er auch als solchen bezeichnete, waren höflich, aber konsequent. Er sprach mit einigen lustigen Anmerkungen von ihrer Hochzeit und dem gemeinsamen Leben, auch die beruflichen Pläne streifte er kurz.

Die beiden jungen Männer nahmen ihn in die Mitte, legten jeweils einen Arm um ihn und Simon sprach die Abschlussworte:

Beifall erklang, die Gäste erhoben sich dabei von ihren Stühlen. Blitzlichter zuckten, wobei die Presse den Anfang machte und viele Smartphones es ihnen gleichtaten. Simons Vater griff nach dem Mikrofon und schaltete es ab, ohne sein Lächeln zu verlieren. Durch die zusammengebissenen Zähne presste er:

Ebenfalls weiter breit lächelnd antwortete Simon: