Buchcover

Marie Louise Fischer

Eugen setzt sich durch

SAGA Egmont

Eine düstere Prophezeiung

„Es ist ein Skandal“, sagte Fräulein Luise und rümpfte ihre spitze Nase, „wenn Sie mich fragen… es ist ein Skandal!“

Allerdings gab es niemanden, der sie nach ihrer Meinung gefragt hatte. Eugen saß still neben ihr am Frühstückstisch und knabberte lustlos an einem halben Brötchen, und Herr Schäfer, der Chauffeur, stand an der Tür und grinste. Er trug eine elegante graue Livree mit Silberknöpfen, die Schirmmütze hielt er unter dem Arm. Er war gekommen, um Eugen zur Schule abzuholen, und daß Eugen zur Schule sollte, das war es, worüber Fräulein Luise sich aufregte.

„Sagen Sie doch selber, Herr Schäfer“, fuhr sie aufgebracht fort, „ist es nicht ein Skandal, einen so zarten kleinen Jungen in eine öffentliche Schule zu schicken?! Noch dazu in eine Volksschule?“

„In die Schule zu gehen, hat noch niemandem geschadet“, meinte Herr Schäfer.

„Sie wissen es besser“, sagte Fräulein Luise, „das hätte ich mir denken können! Bedenken Sie doch nur, über ein Jahr lang ist Eugen krank gewesen, immer hat er einen Hauslehrer gehabt, und jetzt soll er in die Volksschule! Das wird seiner Gesundheit schaden, Sie werden schon sehen!“

„Ich bin doch ganz gesund, Fräulein Luise“, sagte Eugen.

„Nein, du bist nicht gesund! Gesunde Jungen haben Hunger und knabbern nicht eine Viertelstunde an einem einzigen Brötchen herum!“

„Nun, der Doktor hält es doch auch für richtig, soviel ich weiß“, sagte Herr Schäfer.

„Sind Sie schon einmal an dieser Schule vorbeigekommen, Herr Schäfer?“ fragte Fräulein Luise. „Haben Sie gehört, was für ein Krack da ist?“

„Doch nur in der Pause“, sagte Herr Schäfer.

„In der Pause, das ist es ja eben! Rowdies sind diese Jungen, Lümmel und Tunichtgute! Sie werden Eugen verprügeln, sie werden ihm die Sachen zerreißen, und mich sollte es nicht wundern, wenn er nächstens mit Läusen nach Hause kommt!“

„Ganz so schlimm wird’s schon nicht werden“, sagte Herr Schäfer und lachte. „Aber ich glaube, Sie möchten Eugen wohl am liebsten in Mädchenkleider stecken, nicht wahr?“

Eugen wurde rot. Alles konnte er vertragen, nur nicht, wenn er wie ein kleines Mädchen behandelt wurde, und das hatten sie oft genug getan, die Krankenschwestern und Tanten.

Es hatte ihm gar nichts genutzt, wenn er aus seinen großen grünen Augen wütende Blicke geschossen hatte, er war und blieb ein „süßes Kind“.

„Männer verstehen nichts von Kindererziehung“, sagte Fräulein Luise. „Halt dich grade, Eugen, sitz nicht da wie ein Leichenbitter!“

„Ich bin fertig, Fräulein Luise“, sagte Eugen, „darf ich jetzt gehen?“

„Du hast es ja sehr eilig, was? Du kannst wohl gar nicht abwarten, in diese schreckliche Schule zu kommen? Siehst du denn nicht, daß ich mein Frühstück noch nicht beendet habe?“

„Ich glaube, für Eugen wird es Zeit“, sagte Herr Schäfer.

„Unterstützen Sie ihn nur noch, Herr Schäfer, das hat grade noch gefehlt!“ sagte Fräulein Luise, und böse schob sie ihren Stuhl zurück.

Eugen war schon aufgesprungen, in die Diele gelaufen und in seinen kleinen Kamelhaarmantel geschlüpft. „Vielen Dank, Fräulein Luise, das kann ich alleine“, sagte er höflich, als sie ihm den Mantel zuknöpfen wollte.

Eugen lief aus der Haustür und die breite Treppe hinunter, und Herr Schäfer war ihm mit seinen langen Beinen gefolgt. Herr Schäfer riß ihm den Schlag der schimmernden tomatenroten Limousine auf. Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ Eugen sich in das Lederpolster fallen.

Endlich war es soweit!

Nun grade!

Herr Schäfer hatte ein komisches Gefühl in der Magengrube, als er Eugen nachsah, wie er auf seinen dünnen braunen Beinen durch das große Portal davontrabte. Am liebsten hätte er ihm ein Wort der Ermutigung mit auf den Weg gegeben, aber so etwas stand ihm als Chauffeur nicht zu, und Herr Schäfer wußte genau, was einem Chauffeur zusteht.

Die Schüler der vierten Klasse waren schon vollzählig versammelt, als Eugen eintrat. Sie standen in Gruppen beisammen, schrien und lachten, boxten sich gegenseitig in die Rippen, machten Faxen und alberten herum. Um Eugen kümmerte sich niemand. Er blieb still bei der Türe stehen und wußte nicht, was er tun sollte.

Er war schrecklich enttäuscht. Er hatte sich alles ganz anders vorgestellt, er hatte gedacht, sie würden ihn mit Hallo begrüßen, er hatte sich schon ausgedacht, was er ihnen erzählen wollte, von seinen Reisen und von seiner elektrischen Eisenbahn und von den Pyramiden in Ägypten, wo er über ein Jahr gelebt hatte. Aber sie kümmerten sich gar nicht um ihn. Eugen muße schlukken, er spürte ein verdächtiges Würgen in der Kehle. Warum beachtete ihn niemand? Sie mußten ihn doch bemerkt haben, sie waren doch nicht blind, aber sie taten, als wenn sie der neue Schüler überhaupt nicht interessierte, als wenn er einfach Luft für sie wäre.

Endlich trat Herr Boelke ein. Herr Boelke war der Klassenlehrer. Er hatte einen Kopf wie ein guter runder Vollmond mit einer riesigen glänzenden Glatze darüber. Auf der Nase trug er einen goldgerandeten Zwicker.

Als Herr Boelke eintrat, wurde es sofort ganz still in der Klasse, alle stellten sich neben ihren Plätzen auf. Herr Boelke setzte sich auf das Katheder, putzte seinen Zwicker mit einem großen Taschentuch und setzte ihn wieder auf die Nase.

„Guten Morgen, Jungens!“ sagte er.

„Guten Morgen, Herr Boelke!“ schrie die ganze Klasse.

„Setzt euch!“ sagte Herr Boelke, und alle setzten sich.

Nur Eugen blieb stehen, denn er wußte nicht, wohin er sich setzen sollte.

„Aha!“ sagte Herr Boelke und blickte Eugen über seinen goldgeränderten Zwicker hinweg an. „Da haben wir ja einen neuen Schüler! Willst du dir nicht deinen Mantel ausziehen?“

„Ja, bitte“, sagte Eugen und zog seinen Mantel aus.

„Fritz“, sagte Herr Boelke zu einem großen Jungen, der mindestens dreizehn Jahre alt war, „häng den Mantel von Eugen draußen auf!“

Fritz nahm den Mantel über den Arm und verzog sich nach draußen.

„Du bist also der Eugen Bornemann?“ sagte Herr Boelke.

„Jawohl, Herr Doktor», sagte Eugen.

Er wußte nicht, warum die Klasse vor Lachen brüllte.

„Ruhe!“ sagte Herr Boelke laut. Dann wandte er sich wieder zu Eugen. „Ich bin kein Doktor, Eugen, ich bin einfach Herr Boelke, dein Klassenlehrer!“

„Jawohl, Herr Boelke!“

„Na, du wirst dich schon bei uns eingewöhnen. Setz dich mal erst in die letzte Bank, da ist noch Platz genug für dich. Und ihr seid gefälligst nett zu Eugen und helft ihm, sich zu akklimatisieren!“

„Was ist das?“ fragte der große Fritz und grinste vom einen Ohr bis zum anderen. „Ak… akmatisieren?“

„Erstens sollst du dich melden, wenn du etwas fragen willst, und zweitens… wer kann ihm das Wort akklimatisieren erklären?“ Herr Boelke sah sich fragend in der Klasse um, aber niemand hob einen Finger.

„Niemand?“ sagte Herr Boelke. „Dann will ich mal selber…! Du weißt es, Eugen? Dann mal los!“

Eugen hatte allen Mut zusammengenommen und seinen Finger gehoben, nur so ein ganz klein bißchen, aber Herr Boelke hatte es doch gesehen.

„Akklimatisieren kommt von Klima, das ist ein lateinisches Wort“, sagte er, „es heißt soviel wie Wetter, Wetterlage. Akklimatisieren heißt, sich an ein bestimmtes Klima gewöhnen!“

„Sehr gut, Eugen“, sagte Herr Boelke, „wirklich ausgezeichnet!“

Eugen setzte sich mit heißem Kopf, er hatte das Gefühl, eine Schlacht gewonnen zu haben. Aber da hörte er, wie der Junge vor ihm seinen Nachbarn anstieß und flüsterte: „Ein Streber, dieser Eugen, was?!“

Und Eugens ganze Freude war mit einem Schlag verflogen.

Er meldete sich überhaupt nicht mehr, obwohl er alles wußte, was gefragt wurde, ja, er wußte noch viel mehr. Er war immer ein einsames Kind gewesen, durch seine Krankheit und durch seine zarte Gesundheit von den anderen Kindern getrennt. Er hatte viel Zeit gehabt zu lesen, und er las leidenschaftlich gerne. Die Stunden, in denen er unterrichtet wurde, waren für ihn immer die schönsten gewesen, denn Lernen und Lesen waren für ihn der einzige Zugang zu der bunten Welt gewesen, die ihm selber verschlossen war.

Als in der nächsten Stunde Rechnen an die Reihe kam, nahm ihn Herr Boelke dran, obwohl er sich nicht gemeldet hatte. Aber grade diese Aufgaben, die das vierte Schuljahr jetzt durchnahm, hatte Eugen noch nicht gehabt, und so wußte er keine Antwort. Er stand da und wußte nichts zu sagen, und die Klasse lachte schadenfroh los.

Eugen wurde wütend. Es war oft genug passiert, daß der eine oder andere Junge keine Antwort gewußt hatte, aber niemand hatte ihn deswegen ausgelacht. Nur bei ihm lachten sie!

„Herr Boelke“, sagte er, „es tut mir leid, aber diese Aufgaben habe ich noch nie gerechnet, ich werde mich aber bemühen, diese Lücke so rasch wie möglich auszufüllen!“

Wieder lachte die ganze Klasse, und Herr Boelke mußte „Ruhe!“ brüllen, damit sie wieder still wurde.

„Ist schon gut, Eugen“, sagte er, „du wirst es sicher schnell lernen!“

„Soll ich dich noch ein bißchen spazierenfahren?“ fragte er, als er den Motor anließ.

„Bitte, Herr Schäfer“, sagte Eugen.

Er lehnte sich zurück und schloß die Augen. Er war bestimmt der unglücklichste Junge auf der ganzen Welt, niemand wollte etwas von ihm wissen.

Dann blickte er zum Fenster hinaus. Scharen von Jungen und Mädchen strömten nach Schulschluß nach Hause, in kleinen und großen Gruppen, keiner ging allein.

Eugen legte seine kleine Hand auf Herrn Schäfers breite Schulter. „Bitte“, sagte er, „nach Hause!“