image

Karin Peschka

Autolyse Wien

Erzählungen vom Ende

image

Für Taha. Für mich.

Die Arbeit an diesem Buch wurde unterstützt durch das
Adalbert Stifter Stipendium des Landes Oberösterreich.

www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1253-5
eISBN 978-3-7013-6253-0

© 2017 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Media Design: Rizner.at
Druck und Bindung: CPI Moravia Books s.r.o.,
69123-Pohořelice, Tschechien

Grafische Gestaltung: Taha Alkadhi,
basierend auf Originalen von Oskar Stocker

image

EINER, OHNE

Wien? Ohne Wien. Ein Mann, die zerstörte Straße entlanggehend, dabei die Namen jener Nobelmarken memorierend, deren Flagshipstores sich hier zwei Wochen zuvor noch mit exklusiv leeren Auslagen gebrüstet hatten. Dieser Mann trug nicht einmal einen Namen. Er war nichts. Kein Niemand, kein Jemand, keine Zuschreibung passte.

Er war ins Goldene Quartier gezogen, Ecke Graben und Kohlmarkt, fand Unterschlupf in einem der Luxusläden, die Gläser Splitterkathedrahlen, die messingfarbenen, weitmaschigen Sicherheitsgitter verbogen. Ein Stecken genügte, um sich Zutritt zu verschaffen. Drinnen: Sitzgarnituren aus Leder, im hinteren, nur für das Personal zugänglichen Raum gab es Trinkbares, Mineralwasser aus Frankreich, Champagner und Crémant rosé. Der Mann räumte auf. Ware war aus den Regalen gefallen, den weißen, schlichten Schaufensterpuppen – ohne Gesicht, nur Angedeutetes gab es hier – war der Pelz von den Schultern auf den Boden geglitten, zwei hatten sich im Sturz die Arme gebrochen, eine den Kopf verloren. Der Mann packte die Gefallenen in die linke der beiden mit je einer Chaiselongue ausgestatteten Umkleidekabinen. Die rechte diente ihm als Schlafraum, ein Nerz als Decke, ein Zobel als Polster.

Das Haus mit dem noblen Geschäft im Erdgeschoss, darüber Kanzleien, Privatordinationen und eine alte Frau, die hier ihre Wohnung tatsächlich noch bewohnte, dieses Haus bot ihm Zuflucht in der postkatastrophalen Zeit. Es hatte seinen Stuck abgeworfen und das Dach zum Großteil verloren. In den oberen Stockwerken waren viele Fenster ohne Rahmen und nur mehr grobe Löcher im Mauerwerk, dieses schwarz verrußt.

Der Mann überlegte, ob es klug wäre, hier zu bleiben. Überlegte und saß dabei im Schatten verborgen, so dass er wohl hinaussah, aber kaum jemand ihn von außen entdecken würde. Saß in einen siebenfach dichten Kaschmirschal gewickelt, trug Männerhosen, deren unteres Bein sich schafteng an die Unterschenkel schmiegte. Der Oberschenkelstoff hingegen war ein wenig gerafft, der Zwickel mittig zwanzig Zentimeter über dem Knie.

Saß, umwickelt, die Beine in modischen Hosen, die Füße in bunten Schuhen, die passende Größe hatte der Mann, wie alles andere, im Lager gefunden, dort auch einen Pullover aus hellgrünem Mohair, eine Art Military-Jacke, nur dass es keine war, sondern aus hauchdünnem Ballonstoff gefertigt, mit dauniger Wattierung und stilisiertem Camouflage-Muster. Auf dem Kopf eine Kappe im Burberry-Stil, weich gewebter, karierter Stoff, doppelt gesteppte Nähte, und eine Brille mit Fensterglasscheiben, aber Horn und breite Bügel. Das dunkle Material ließ die Haut keineswegs bleicher wirken, sondern betonte die Form des Gesichts, und darüber hinaus das Einzigartige, das noch nie so Präsente des Mannes, ohne.

Ohne Namen, ohne Arbeit, ohne Wohnung war er gewesen. Keine Freundschaften, Familie, Wünsche oder Verpflichtungen, kein Pass, keine Steuernummer. Ohne aufzufallen, ohne anzuecken hatte er gelebt. Sich beim Caritas-Bus seine Mahlzeiten geholt, meistens am Praterstern, um abseits der anderen zu essen, war nie aufgefallen, nie gefragt worden, ob er nicht doch mitmöchte ins Asyl, hatte sogar in den letzten, wirklich kalten Wintern sich lieber in ein Möbelhaus geschlichen, um dort heimlich zu übernachten und am Morgen spurlos zu verschwinden. Hatte sein Leben selbst gezeichnet jahrelang, in freiwilliger Abwendung von dem, was er „das System der Gesellschaft“ nannte, wenn er sprach, was selten genug gewesen war, kaum vier Sätze pro Woche. So hätte es weitergehen können, mit dem höchsten Ziel, in Ruhe gelassen zu werden und als Preis dafür den Grad der Unauffälligkeit zu perfektionieren.

Nach dem Unglück war der Mann in die Innenstadt gewandert, unbemerkt von den wenigen Überlebenden, die an ihm vorbei in die Außenbezirke drängten. Musste nur zur Seite gehen, sich an einen Pfeiler lehnen, war schon Teil der Umgebung, die durch Einsturz und großflächige Zerstörung nichts Individuelles mehr aufwies, oder besser: deren individuelle Merkmale erst erkannt werden mussten. Es gab zwar keinen Stephansdom mehr zur Orientierung, kein Haas-Haus, keine Michaelerkirche, und die Pestsäule auf dem Graben war ebenfalls verschwunden, weil der Graben sich als solcher im eigentlichen Sinn seines Namens definiert hatte. Aber natürlich bot sich einiges an, hob quasi die Hand, schrie: Hier, nimm mich an Stelle der Kirche, der Säule! Die auf eine besonders absurde Art aus einem Bodenspalt ragende und einer alten Gaslampe nachempfundene Straßenlaterne. Mannshoch nur mehr und ein guter Haltegriff beim Schritt über den Spalt. Das lilafarbene Schild eines Modeschmuck und anderen Kitsch verkaufenden Geschäftes, schräg verbogen und auf den Kopf gestellt. Dort musste der Mann links abbiegen, ein Stück weiter hatte die Erdbewegung ein hochpreisiges Elektrofahrrad aus einer Auslage gedrückt und zusammengequetscht. Traurig sah es aus, aber wies den Weg zum Goldenen Quartier, das zum Notquartier des Mannes geworden war. Dann achtete er auf verfaulende Leichenteile unter den vielen Bruchstücken und Scherben eines ehemals mit Hauben ausgezeichneten Restaurants. Er sah genauer hin, weil ihn der Fortschritt der Verwesung interessierte. Den Weg kannte er auch so.

Der Mann ohne Namen lebte in der Stadt ohne Zukunft, in einem Geschäft ohne Kunden. Manchmal hörte er die dünne Stimme der alten Frau. „Hallo“, rief sie, „ist da jemand?“ Er brauchte nur mit seinem Stecken auf etwas zu klopfen, etwa den metallenen Regenschirmständer, um das Rufen auszulösen. Entweder Friedenszins oder reich, dachte der Mann, der nichts hatte außer sein Nichts, auch keine Eigenarten, keinen bestimmten Charakter. Hinter der Auslage im dunklen Eck sitzend. Sollte er gut sein oder schlecht? Er klopfte, sie rief. Dann war es wieder still von beiden Seiten.

MALIK, ALISIA

Wien? Leergeräumt. Ein Tosen oben, ein Dröhnen unten, dazwischen Stille. Zehn Tage und einen halben waren sie unterwegs. „Siehst du den Himmel?“ Alisias schöne Hände hinaufzeigend in das graue Dach. Noch immer hat sie schöne Hände, dachte Malik, bald ist nur noch ihr Name schön.

Sie stiegen über Betonbrocken mit rostiger Bewehrung, herausdrohend aus Bruchstellen, über gestürzte Bäume und krautige Sträucher. Sie kletterten über Wälle aus Schrott, erkannten Automarken, riefen sich zu: „Ein Mercedes!“ „Ein Kia!“ „Ein Ford!“ Wie sehr hatte sich Alisia einen Ford Mustang gewünscht. Weil man sich etwas wünschen soll, das gut klingt, erklärte sie Malik, denn oft genug wiederholt, wird ein Wunsch Teil der Person. Diese Verknüpfung reiche über das Sterben hinaus in den Tod, im besten Fall fragte jemand noch nach Jahrzehnten sein Gegenüber, ob es sich an jene Alisia erinnern könne, die so gerne einen Mustang gehabt hätte. Sie sei vor langer Zeit gestorben. Alisia verstummte. Würde es einen „Jemand“ noch geben, oder ein „Gegenüber“? Sie und Malik zweifelten daran. Jeder für sich und vorerst im Stillen. So etwas auszusprechen und sich an die Seele zu heften, war etwas ganz anderes und nicht Nichts.

Auf der Suche nach trittfestem Untergrund stiegen sie in die leeren Trommeln ausrangierter Waschmaschinen. Tasteten sich die Hügel hinunter aus verbogenen Alustühlen und Gastgartentischen, dazwischen ein Grün oder Gelb oder Blau aus einer anderen Welt. „Schneid dich nicht“, sagte Malik bei jedem scharfkantigen Ding, das ihren Weg kreuzte, Kreuzschnitte sah er an ihren Händen vorauseilend einer Wirklichkeit, die stattfinden könnte jeden Moment, Schnitte mit Blut, und tropfen würde es und rinnen oder sprudeln, und nichts würden sie haben, um es stoppen zu können.

In der Nacht hatte Alisia sich gewunden, Regelschmerzen, keine Tampons, keine Binden. Um etwas zu finden, schickte sie Malik fort. „Ich dachte, bei Stress oder Katastrophen bleibt das aus“, sagte er und machte sich auf die Suche, die Zusammengekrümmte zurücklassend im Winkel einer sich neigenden Mauer. Das Versteck war gut, man durfte es nicht verraten. In Ecken, Kurven und Umwegen ging Malik, keine Seele war ihnen bislang begegnet, weder Mensch noch Tier, aber man brauchte nichts zu riskieren, man wisse ja nie. Zurückgekommen war er mit einer Tasche voll rosafarbener, dünner Servietten, Kaffeehaus-Servietten, solche, die man in einem Eissalon zum Eis bekam, unzureichend, ein Witz, aber viele hatte er davon gefunden und vier Packungen zu je drei Eiswaffeln und dreiundzwanzig Stück Kaffeeobers in winzigen Portionen.

Alisia stopfte sich Servietten in die Unterhose, dann saßen sie, ließen die neue Nacht kommen, tropften Obers auf Waffeln und aßen diese sehr langsam, ohne das Mindesthaltbarkeitsdatum zu beachten. Ein Datum machte nur Sinn, wenn es etwas gab, worauf man sich in der Zeit hinbewegen konnte. Wie der achtzehnte Geburtstag oder Weihnachten.

ERICH

Wien? Wo? Gab viele Wände, die man anbrüllen konnte, viele, und alle gehörten Erich, der sich halbnackt in dem herumtrieb, was früher eine Heimat gewesen war, zur Zerstörung freigegeben, wiewohl schon halb, fast oder ganz zerstört. Die Reste, das Widerborstige niederzubrüllen war der Auftrag, weswegen sonst hatte sich die Geschlossene geöffnet. Vor wann, vor wie langer Zeit? Aus einem Spalt war Erich gestiegen im blauen Pyjama, hatte dem Wärter, dem Aufseher, nein, wie hieß das? Dem Pfleger, hatte dem Pfleger den Schädel nicht eindrücken müssen, der lag ohnehin zerquetscht unter Balken und Steinen, und ein anderer schrie hinter dem Netzbett eingeklemmt, hatte sich bös’ verletzt, schrie: „Erich, hilf mir, Erich, komm, hilf!“ Erich hörte es bis in die von seinen Händen verschlossenen Ohren hinein. Wippte. Vor. Zurück. Wippte. Vor. Zurück. Suchte sich etwas zusammen im Hirn und ging dann, stieg dann doch noch einmal hinein durch den Spalt, half dem anderen, bis er nicht mehr schrie.

Nur Erich durfte wild und laut durch das ziehen, was früher ein Ort gewesen war, den er kannte. Der ihn gekannt hatte. Der sich in Hauseingänge zurückzog, trat Erich auf. Der die Fenster schloss, die Türen absperrte, der den Vierteltelefonanschluss der Eltern anwählte oder dann doch gleich die Polizeistation oder dann doch gleich die Rettung, je größer und stärker er wurde, im Körper, im Kopf, im Denken, in der Kraft. Die sich nur bändigen ließ mit Einheiten von diesem Mittel und Einheiten von jenem, „wehren Sie sich nicht, Herr Erich“, gebändigt von Pflegern, niedergehalten von ledernen Gurten, „zu Ihrem Besten, Herr Erich“, die Spritze in die Armbeuge gesetzt oder grob hineingestoßen, wo immer es ging, war er zu schnell, zu unfassbar gewesen.

Aus dem Dämmerzustand hatte ihn das Unglück geborsten, das Wiegen (vor, zurück, vor, zurück) ließ nach an der freien Luft, den Mund konnte er wieder schließen, den Speichel schlucken, er stand im Regen, der rostig war und lau, aber Regen war es und frei war er auch. So sein Denken, so sein Wesen.

Brüllend zog er durch das, was früher hätte ein Heim sein können. Schlug und trat gegen alles, was sich schlagen und treten ließ. Fand und aß, fand und trank, einmal eine Kiste Rotwein in einem Kellerloch, wäre fast sein Tod gewesen, hatte sich fast ins Koma gesoffen und lag danach vier Tage bewegungslos, bevor er weiterzog, etwas leiser, hungrig, nach wie vor voller Wut.

Einmal nur. Einmal nur. Stand er zögernd geschlagene zwei Stunden still. Wütete es in ihm, das Für, das Wider, das innere Abwägen, ob er das Ding in der Hand hinein schleudern sollte in dieses einzig heil gebliebene Schaufenster, sah gar nicht, was dahinter lag, sah nur das Ganze, die Fläche und den Spiegel, und davor liegend unzählige Gegenstände, die man hätte hineinschleudern können. Die von anderen fallengelassen worden waren, um dieses letzte Heile zu verschonen.

Erich schleuderte nicht. Ließ aber auch das Ding nicht fallen. Hielt es fest in der Hand. Drehte sich weg, um die zu suchen, die vor ihm hier gewesen sein mussten.

OLJA

Wien? Verödet. Olja? Schwanger. Ungewollt, alles ungewollt. Olja, vierundreißig Jahre alt, medizinisch technische Assistentin im Allgemeinen Krankenhaus, spezialisiert auf Magnetresonanz und Computertomographie. Einzige Tochter ihrer Eltern. Diese lebten in Temerin, einem kleinen serbischen Ort nahe Novi Sad, oder waren tot. Vor drei Monaten hatte sich die Welt im Weiterdrehen an etwas gerieben und sich dabei die Haut abgeschürft.

Wie das Wildschwein an einer Eiche, aber die Eiche kümmert es nicht, dachte Olja, und an Bastian dachte sie. Er war der Vater des Kindes in ihrem Bauch, das sie nicht haben wollte und nun haben würde ungeachtet aller Wünsche. Seine Drohung: es ihren Eltern zu erzählen, die er doch kennenlernen sollte eines Tages. Ihnen zu verraten: Eure Tochter hätte euch einen Enkel schenken können, aber sie hat abgetrieben, weil, ja weil. „Das musst du ihnen dann erklären, Olja“, hatte er gesagt und mit der Tür geknallt.

Bastians Wesen war herrisch und besitzergreifend. Olja hatte es in der anfänglichen Verliebtheit nicht bemerkt, ein paar Monate Gnadenfrist, bis sich die Wahrheit ans Licht arbeitete. Kurz vor dem dritten Adventsonntag ein erster Ausbruch aus einem nichtigen Grund. Firmenweihnachtsfeier, sie machte sich hübsch. Für wen? „Wie bitte?“, hatte Olja gefragt, im kleinen Bad ihrer Mietwohnung, sich mit dem Ohrstecker am linken Ohr abmühend, immer hatte sie auf dieser Seite das Problem, aber schön waren die Stecker, mit je einem türkisen Halbedelstein und einer weißen, in Gold gefassten Perle. Von wem sie diesen Schmuck bekommen hätte, von einem Exfreund, und warum sie ihn genau heute trage, wollte Bastian wissen.

Also Eifersucht. Großes Drama, heftiger Streit. Olja war zur Weihnachtsfeier gegangen, aber ohne Freude und nicht lange. Immer in Gedanken versunken, ob sie zu heftig reagiert, ob sie nicht umgekehrt selbst ähnliche Fragen stellen würde. Sie hatte sich, während die Kolleginnen und Kollegen fröhlich waren, mit abwesender Miene Szenarien ausgedacht, Bastian vor dem Spiegel im Vorzimmer seiner Wohnung, Eigentum, abbezahlt. Sich für ein Firmenfest rüstend, duftend und rasiert. Je länger sich Olja in diese Vorzimmersituation hineinversetzte, umso besser fand sich Äquivalentes in ihrem möglichen Verhalten, und obwohl sie natürlich wusste, dass sie anders war, dass sie ihm gratulieren würde zu seinem perfekten Aussehen, dass sie sehr wohl zwar Angst hätte vor den herausgeputzten Sekretärinnen und Abteilungsleiterinnen der Immobilienfirma, in der Bastian arbeitete. Obwohl das alles der Fall war, fiel es ihr im Verlauf des Abends und mit zunehmender Alkoholisierung leicht, sich einzureden, sie wäre keinen Deut besser gewesen.

Ein Anruf in der Garderobe, zwischen den Jacken und Wintermänteln der Kollegenschaft, gegenseitiges Vergeben, verfrühtes Aufbrechen gleich nach der Ansprache des ärztlichen Direktors, mit dem Taxi zu Bastian, Geschlechtsverkehr und drei Wochen später die Feststellung, schwanger zu sein.

Mit absoluter Sicherheit schwanger. Frühtest nach der morgendlichen Übelkeit. Weil auch Bastian nicht dumm war und Zeichen deuten konnte, hatte er den Test in der Apotheke besorgt. Olja urinierte auf den Streifen, wartete in der Toilette seiner Wohnung auf das Ergebnis, wissend um die Brisanz der Entscheidung und gleichzeitig mit großer Klarheit: Sie durfte nicht schwanger sein, durfte mit diesem Mann nicht zusammenbleiben, weil er genau das Gegenteil von dem war, was sie haben wollte. Weil er ihr die Freiheit nehmen würde und sie sich ihm unterwerfen in allen, in wirklich allen Dingen, je länger, je enger, je unauflöslicher.

Daher weinte sie beim blauen Plus, was Bastian so gerne als Freudentränen gedeutet hätte, was aber Verzweiflung war ob dieser Erkenntnis, drei Wochen zu spät. Wieder Drama, wieder heftiger Streit, verbunden mit der konkreten Drohung seelischer Erpressung und der angedeuteten körperlichen Züchtigung, würde sie das Kind nicht austragen. Wo hatten sich die Abgründe verborgen in diesem Mann, der außen perfekt war und innen pervers?

Aber Mutter, aber Vater! Die strenggläubigen Eltern. Olja weinte. Die Katastrophe hatte Wien abgerissen, kein einzelnes Abbruchhaus, eine Abbruchstadt war daraus geworden, ein Meer von Halbeingestürztem, von Ruinen. In einer davon hauste Olja, immer noch mit Schwangerschaftsübelkeit kämpfend, aber zumindest in vordergründiger Sicherheit. Das bunkerähnliche Lager gehörte zu jenem Restaurant, in dem sie mit Elena, ihrer engsten Freundin, gefeiert hatte. Was? Den Entschluss, sich von Bastian zu trennen. Sie hatte ihn verlassen, war mit einem Koffer und allen Dokumenten zu Elena gezogen, da Bastian ihre Wohnung belagern würde, womöglich die Tür eintreten. Die Nachbarn waren verständigt. Die Dame wäre nicht hier, sollten sie sagen. Für längere Zeit verreist. Zwei Wochen Urlaub hatte sich Olja genommen, um die Schwangerschaft zu beenden, der Termin in der Ambulanz war für den nächsten Tag vereinbart, danach auf Elenas Couch sich erholen und Pläne fassen. Neu anfangen.

Im Anschluss an das Dessert fegte die Welt über sie hinweg, riss alle Tische, Stühle, alle Gläser und Teller mit sich. Spät war es geworden, kaum andere Gäste, ein Kellner im Schlussdienst, die Küche schon geschlossen. Im Gegensatz zu Kellner, Koch und Küchenhilfe überlebten die zwei Frauen den Sturm. Olja, die mit dem Rücken zur Wand saß, mit tiefen Schrammen quer über die Wange. Elena schwerst verletzt.

Sie starb am nächsten Tag. Fünf Tage später hatte sich Olja weit genug gefasst, um die Freundin notdürftig zu begraben, indem sie Schutt anhäufte, eine Art Rundwall baute, diesen mit Schotter und allem möglichen auffüllte, zuvor Elenas Augen mit Münzen bedeckte und den Leichnam in Tücher hüllte, die leider nicht weiß waren, sondern rot kariert. Als Grabplatte diente ein umgedrehter Tisch, auf den Wall gewuchtet. Nur ein Tischbein ragte unversehrt, mit dem Stück eines anderen und einer Kordel band Olja ein Kreuz zusammen. Anfangs zündete sie auch Kerzen an, bis sie beschloss, diese zu sparen. Kerzen gab es in jedem Restaurant, sie brauchte nur ein wenig im Schutt zu graben, fanden sich welche. Fand sich auch ein Arm des Kellners, wurde wieder zugedeckt. Koch und Küchenhilfe waren nicht zu finden, vielleicht hatten sie kurz vor dem Drama das Gebäude verlassen. Olja wusste von ihrer Existenz nur, was sie – vor dem Dessert – auf dem Weg zur Toilette gesehen hatte. Die Toilette lag im Gang hinter der Tür zur Küche, möglich, dort war auch ein Raum für die Angestellten mit deren Spinden und die beiden darin, aber: Nichts regte sich, wenn Olja still war und lauschte.

Sie musste sich übergeben, sobald sie den leicht süßlichen Verwesungsgeruch wahrnahm, der sich nicht lokalisieren ließ. Er konnte von überall her kommen, auf ihren Erkundungen durch die Umgebung war er stets präsent. Olja krümmte sich daher ständig. Eng waren die Kreise, die sie zog. Immer wieder zurück zum Lager, der Hintereingang begehbar, die Tür absperrbar und gesichert, der Schlüssel war im Schloss gesteckt, ein Glück.

Ein Glück im Unglück. Olja rätselte. Warum sie war, wie sie war, so fatalistisch ruhig, ihrem eigentlichen Charakter entgegengesetzt. Womöglich lag es an der fortschreitenden Schwangerschaft, der Embryo hatte sich in ihr festgekrallt, der Überlebensinstinkt im Minimalsten, geschehe was wolle, ich bleibe bestehen. Mit diesem „Ich“ könnte durchaus die menschliche Rasse gemeint sein, dachte Olja, sie die Urmutter, den Lebensfunken weitertragend, irgendwo da draußen eine andere Olja, mit dem geschlechtlichem Gegenstück im Leib heranwachsend, um eine neue Sippe zu gründen.

„Das sind Hirngespinste, das ist verrückt“, sagte Olja zu Elenas Tischbeinkreuz. Immer, wenn ihr nach Reden war, saß sie dort. Zu diesen Gelegenheiten zündete sie eine Kerze an, so gern hätte sie Weihrauch verbrannt, ihr ganzes Verlangen war auf den Geruch von Weihrauch ausgerichtet, da winkte etwas aus der Kindheit herüber. In der Kirche mit den Eltern, die serbisch-orthodoxen Weihnachtsfeiern, das Slava-Fest. Sie hätte den Familienheiligen erben können, vom Vater, weil kein Sohn vorhanden, aber an Töchter wird er nur weitergegeben, wenn sie daheimbleiben. „Siehst du, Elena“, sagte Olja, „ich bin fortgeschickt worden, nach Wien.“ Zur Tante, der Schwester des Vaters, die kinderlos geblieben war, die dem Vater eingeredet hatte: „Gib mir deine kleine Olja, ich sorge für ihre Ausbildung, und wenn aus ihr etwas geworden ist, kommt sie zurück.“ In Novi Sad hätte sie arbeiten können in jeder Ordination, in jedem medizinischen Institut. Bei oder neben den Eltern leben, deren Haus war für mehrere Generationen gedacht. Sofern es noch stand.

War nur eine Idee gewesen, eher wohl die Ahnung einer Idee. Als sie ihren Koffer gepackt hatte und die Dokumente sortiert. Daheim noch, in ihrer Mietwohnung, die wenigen Dinge, die Bastian in der kurzen Zeit ihrer Beziehung bei ihr deponieren konnte, in einem Hofer-Sack verstaut und neben die Tür gestellt. Da hatte sie an das große Haus der Eltern gedacht. An die warmen Sommer ihrer Kindheit. Die Ausflüge nach Novi Sad. Auf dem Platz vor der Marienkirche hatten sie und ihre Mutter Eis gegessen, der Vater mochte kein Eis. Manchmal durften die Nachbarskinder mitfahren, das war schön gewesen. Und das Haus war schön gewesen, der obere Stock sollte der ihre sein. Leider hatte die Fruchtbarkeit der Mutter nicht für Geschwister gereicht, natürlich die der Mutter, das war doch ein weibliches Problem und durfte der Männlichkeit nicht angelastet werden. Aber, man arrangierte sich.

„Fast war ich so weit, mir zu überlegen, nach Temerin zurückzugehen“, erklärte Olja dem Kreuz. „Vielleicht hätte ich sogar das Baby bekommen, ich war mir nicht sicher, ich wollte dir das gar nicht sagen.“ Sondern sie hätte sich erst endgültig entscheiden wollen auf dem Weg zur Abtreibungsklinik, direkt vor dem Gebäude, hätte auf ein Zeichen gehofft, das ihr sagt, welcher Weg der richtige wäre. Mit Kind nach Temerin, den Eltern einen Enkel schenken. Mit Kind in Wien bleiben, es ohne Bastian großziehen. Ohne Kind nach Temerin, den Eltern sich selbst zurückgeben, ihnen eine Stütze im Alter sein, sich dort einen Mann suchen und eine Familie gründen. Ohne Kind nach Novi Sad und als Singlefrau glücklich werden. So viele Optionen. Sie wollte das Elena nicht sagen. Wie eindeutig hätte ein solches Zeichen ausfallen müssen? Was, wenn es diese Sprache gesprochen hätte: In Wien bleiben, das Kind austragen und Bastian noch eine Chance geben?

Und dann brach die Welt zusammen. Deutlich genug. Olja überlebte, das Kind überlebte, der Rest war tot oder verschwunden oder trieb sich in der Nacht vor dem Lager herum. Folglich blieb Olja ruhig und bereitete sich vor, so gut es ging, denn sobald die Schwangerschaftsübelkeit vorbei sein würde und das Frühjahr stabil, noch bevor sie zu dick war, um sich zu bewegen, wollte sie sich mit den letzten Vorräten aufmachen, um die Donau entlang nach Novi Sad zu wandern.

„Mach dir keine Sorgen, Elena“, sagte Olja und streichelte das Kreuz. „Schwangere Frauen sind stark.“ Das habe sie gelesen, das wolle sie gern glauben.

ROSE

Wien? Vorher fremd, jetzt noch fremder. Rose verstand kaum ein deutsches Wort, zumindest kein relevantes. Der Redeschwall des Mannes blieb ein Rätsel, vielleicht hätte sie ihn verstehen können, wenn sie sich ihm entgegengestellt hätte, ihn aufgehalten, gebeten, langsamer zu sprechen und auch, ihr zu helfen.

Aber Wut ist, wie Irrsinn, international. Daher blieb Rose, wo sie war, kauerte hinter einem umgestürzten Bus der Wiener Verkehrsbetriebe, Linie 13A, hoffte, der Mann, der laut schrie und offensichtlich fluchte, würde vorüberziehen und nicht hersehen, bitte nicht hersehen. Hellster Tag, junger Frühling, die erste wirklich warme Zeit im Jahr, und die schönste Season in Wien. „Come“, hatte ihre Tante geschrieben, in ihrem eigenen Denglish, das sie witzig fand, „visit me, we will gehen in die Lobau spazieren und essen Langos in the Prater, visit me, please.“ Auntie, dachte Rose. Dear Auntie.