Cover

Transit wird herausgegeben am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien und erscheint im Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main.

Herausgeber: Krzysztof Michalski (Wien/Boston)

Redaktion: Klaus Nellen (Wien)

Redaktionsassistenz: Doris Urbanek.

Redaktionskomitee: Jan Blonski (Krakau), Peter Demetz (New Haven), Timothy Garton Ash (Oxford), Jacqueline Hénard (Paris), Tony Judt (New York), Cornelia Klinger (Wien), Janos Matyas Kovacs (Budapest/Wien), Claus Leggewie (Gießen), Jacques Rupnik (Paris), Aleksander Smolar (Warschau/Paris), Josef Wais (Wien, Photographie)

Beirat: Lord Dahrendorf (London), Bronislaw Geremek (Warschau), Elemer Hankiss (Budapest), Petr Pithart (Prag), Fritz Stern (New York)

Redaktionsanschrift: Transit, Institut für die Wissenschaften vom Menschen, Spittelauer Lände 3, A-1090 Wien, Telefon (+431) 31358-0, Fax (+431) 31358-30, E-mail: transit@iwm.at

Website Transit und Tr@nsit online: www.iwm.at/transit

Verlagsanschrift: Verlag Neue Kritik, Kettenhofweg 53, D-60325 Frankfurt/Main, Telefon (069) 72 75 76, Fax (069) 72 65 85, E-mail: verlag@neuekritik.de

 

Das vorliegende Heft erscheint mit freundlicher Unterstützung durch das Bundeskanzleramt, Republik Österreich. Wir danken auch der Kunstsektion des Bundeskanzleramts, die den photographischen Beitrag in diesem Heft gefördert hat.

 

ISSN 0938-2062 / ISBN 978-3-8015-0630-8 (mobi) / 978-3-8015-0629-2 (epub)

 

Die Beiträge zur Charta 77 von Dupré la Tour, Rupnik und Sokol gehen auf das Colloquium »L’héritage de la ›Charte 77‹ et la naissance d’un espace public européen« zurück, das am 25. Januar 2007 am CERI (Centre d’Études et des Recherches Internationales), Paris, veranstaltet wurde; wir danken Jacques Rupnik für die Zusammenarbeit. Der Beitrag von Ivan Krastev erscheint bulgarisch in Critique & Humanism, Bd. 24, Nr. 1/2007; wir danken für die Abdruckerlaubnis.

 

© 2007 für sämtliche Texte und deren Übersetzungen Transit / IWM

 

 

Transit 33 (Sommer 2007)

 

Tod in der modernen Gesellschaft

 

Cornelia Klinger

Die Bedeutung des Todes in der heutigen Gesellschaft

Zur Einführung

 

Alois Hahn und Matthias Hoffmann

Der Tod und das Sterben als soziales Ereignis

 

Hans-Ludwig Schreiber

Tod und Recht

Hirntod und Verfügungsrecht über das Leben

 

Hanfried Helmchen und Hans Lauter

Krankheitsbedingtes Leiden, Sterben und Tod aus ärztlicher Sicht

 

Vera Koubova

»Ich bleibe. Ihr geht.« Photographien

 

Ulrike Brunotte

Martyrium, Vaterland und der Kult der toten Krieger

Männlichkeit und Soteriologie im Krieg

 

Oliver Krüger

Die Vervollkommnung des Menschen

Tod und Unsterblichkeit im Posthumanismus und Transhumanismus

 

Philosophie und Dissidenz - Jan Patocka zum 100. Geburtstag

 

Jan Patocka

Was die Charta 77 ist und was sie nicht ist

 

Vaclav Havel

Was bleibt von der Charta 77?

 

Jan Sokol

Jan Patocka und die Charta 77

 

Jacques Rupnik

Das Erbe der Charta 77 und die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit

 

Nathanaël Dupré la Tour

»Rückkehr nach Europa«

 

Rudolf Stamm

Sanfter Widerstand in Prag

Zwei Dissidentenporträts

 

Populismus

 

Jacques Rupnik

Populismus in Ostmitteleuropa

 

Jacek Kochanowicz

Rechtsruck

Politische Landschaft Polens am Anfang des 21. Jahrhunderts

 

Ivan Krastev

Die Stunde des Populismus

 

Jan-Werner Müller

Europäische Erinnerungspolitik Revisited

 

Krzysztof Michalski

Nihilismus: Ein Ort für Gott

 

Zu den Autorinnen und Autoren

Cornelia Klinger

DIE BEDEUTUNG DES TODES IN DER HEUTIGEN GESELLSCHAFT

 

Zur Einführung

Unter den Bedingungen des Planeten Erde wird zu allen Zeiten und an allen Orten gestorben. Dennoch hängt die Frage, was es heißt zu sterben, in hohem Maße davon ab, an welchem Ort und zu welcher Zeit dies geschieht. Das invariante physiologische Faktum ist offen für fast unendlich viele Varianten von Deutungen, Verhaltens- und Handlungsweisen. Die Frage nach dem Tod ist eine Grundfrage, insofern als sie zugleich die Frage nach dem Leben enthält. In den Antworten spiegelt sich jeweils ein Konzept, ein Begriff, eine Vision der conditio humana wider. Wir werden sehr viel über den Menschen und seine Welt erfahren, wenn wir den Menschen vom Tode her denken.

Die Frage nach dem Tod kann auf sehr verschiedene Weisen aufgefasst werden, zunächst einmal je nachdem, ob die Frage als solche grundsätzlich akzeptiert und bejaht oder geleugnet, verdrängt und verschoben wird. Darüber hinaus variieren die Bedeutungen, die dem Lebensende gegeben werden können. Der Tod kann als Befreiung oder als Strafe, als ›Sold der Sünde‹, oder als Durchgang in ein anderes Leben, in eine ganze Kette anderer Leben (Reinkarnation) oder als Eintritt in ein ›ewiges‹ Leben oder auch als Absturz in Nichts verstanden werden. Zur Frage des Todes gehört selbstverständlich auch die des Tötens, denn der Tod ist nicht nur ein über das Leben und alle Lebewesen verhängtes Schicksal, ein Phänomen, das kollektiv und individuell passiv erlitten wird, sondern die Lebewesen haben aktiven Anteil daran. Dabei öffnet sich auch hier ein ganzes Spektrum unterschiedlicher Aspekte, von der Frage nach dem kollektiven Töten im Krieg bis zur Frage individueller Selbsttötung. In den Umkreis der Frage nach Leben und Tod gehören ferner die Fragen nach dem Sterben als Vorgang: Was geschieht beim Sterben? Wann beginnt das Sterben? Wie, wodurch und durch wen wird der Vorgang begleitet? Die Frage nach dem Ende des Lebens ist schließlich auch eine Frage nach der Grenze des Wissens und der Diskurse, und das heißt nach ihrer Definition, nach der Verfasstheit des Wissens in der menschlichen Gesellschaft.

Die Beiträge zum Schwerpunkt »Tod« im vorliegenden Heft sind aus einem Forschungsprojekt hervorgegangen, das auf eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Tod im Hinblick auf die für die Gegenwart spezifischen Problemstellungen in ihrer Genese ebenso wie in ihren möglichen künftigen Entwicklungstendenzen zielte.1 Eine erste Auswahl aus den Ergebnissen des hier skizzierten Projekts wird in diesem Heft zur Diskussion gestellt. Die Artikel erscheinen ungekürzt mit weiteren Untersuchungen in dem Band »Perspektiven des Todes in der modernen Gesellschaft«2. Sie sollen einen Beitrag zu einer Theorie des Todesverständnisses und seiner gesellschaftlichen Auswirkungen leisten und damit auch auf gesellschaftspolitischer Ebene Anregungen und Hilfestellungen zur Diskussion, zur Bewusstseins- und Willensbildung und letztlich auch zu Entscheidungsfindungen geben.

 

 

 


1 Das Projekt Die Bedeutung des Todes in der Gesellschaft heute wurde 2004 -2006 vom Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Zusammenarbeit mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Berliner Akademie der Künste durchgeführt. Unterstützt wurde das Vorhaben von der Fritz Thyssen Stiftung.

2 Perspektiven des Todes in der modernen Gesellschaft, hg. von Cornelia Klinger. Wiener Reihe Themen der Philosophie, Oldenbourg Verlag, München / Wien (im Erscheinen).

Alois Hahn und Matthias Hoffmann

DER TOD UND DAS STERBEN ALS SOZIALES EREIGNIS

 

Einleitung

Tod und Sterben als soziale Phänomene wandeln sich. Als biologische Phänomene wandeln sie sich nicht. Dass die Bestimmung dessen, was als das definitive Ende der physischen Existenz angesehen wird, selbst immer wieder umstritten ist und im Zuge medizinischer Neuerungen immer wieder neu bestimmt werden muss, ändert nichts daran, dass der Tod eben dadurch definiert ist, dass er die physische Existenz unwiderruflich beendet.1

Im vorliegenden Aufsatz wird diese Frage nur ganz am Rande gestreift werden, wenn es um die Gründe dafür geht, warum unserer Gesellschaft und im besonderen auch den Medizinern die Kompetenzen für den Umgang mit dem Tod und dem Sterben fehlen. Treffender müsste man eigentlich formulieren: warum der abendländischen Gesellschaft im Laufe der Zeit die Kompetenzen für den Umgang mit Tod und Sterben abhanden gekommen sind.

Der Rahmen für unser Thema ist daher auch die moderne Gegenwart als vorläufig letzte Epoche in der Entwicklung der gesellschaftlichen Einstellungen zu Tod und Sterben. Eine schon geistiges Allgemeingut gewordene These lautet in diesem Zusammenhang, dass diese Entwicklung zu einer Verdrängung des Todes geführt habe, die für die Moderne charakteristisch sei. Dieser These wird hier widersprochen werden.2

Wenn aus unserer Sicht auch nicht von einer Verdrängung des Todes gesprochen werden kann, so muss man gleichwohl feststellen, dass das Erleben des Todes Anderer und der Umgang mit Sterbenden nicht mehr zu den typischen Alltagserfahrungen der Menschen zählen.

Charakteristisch für den Tod in den westlichen Gesellschaften der Gegenwart ist daher in der Tat, dass er ausgelagert ist in dafür vorgesehene Spezialinstitutionen. Etwa seit Beginn der 1980er Jahre stirbt die Mehrzahl der Menschen in Deutschland in Krankenhäusern und Alten- und Pflegeheimen. Gepflegt und betreut werden sie dort von Fachkräften, die am Ideal der affektiv neutralen, funktional spezifischen medizinischen Versorgung orientiert sind.

War der Sterbende vordem in den Kreis seiner Familie und Angehörigen eingebunden, sind es nun prinzipiell Fremde, die ihn in der Rolle des Arztes oder der Pflegekraft betreuen. Der Sterbende wird dann zum Patienten und auf das zugehörige Rollenverhalten festgelegt. Medizinisch-technisch gut versorgt, ist der Sterbende dennoch alleingelassen mit seinen Ängsten und Sorgen auf seinem letzten Weg. Philippe Ariès’ wegen seiner Drastik berühmtes Wort vom »um seinen Tod in Würde betrogenen, mit Röhrchen und Schläuchen gespickten Sterbenden« ist zum traurigen Emblem für den Tod in der Moderne geworden.3

Das Aufkommen der Hospizbewegung ist die gesellschaftliche Reaktion auf die Situation der Sterbenden in den Krankenhäusern und Pflegeheimen. Heute gibt es Sterbekliniken, also stationäre Hospize, und auch in die Krankenhäuser ist die Hospizbewegung mit ehrenamtlichen Mitarbeitern vorgedrungen, um die Einsamkeit der Sterbenden zu lindern und ihnen Beistand auf ihrem letzten Weg zu geben.4 Aber diese Bewegung ist selbst noch kein Definiens einer eigenen, neuen Epoche in der Geschichte des Todes. Sie ist eine Gegenbewegung zu der sich nur langsam ändernden Situation der Sterbenden in den Krankenhäusern und Pflegeheimen. Ob sie die Kraft haben wird, sich in einer Weise auszudifferenzieren, dass sie als Signum eines neuen Abschnittes gelten kann, unterliegt einstweilen der Spekulation. Die Hospizbewegung und die von ihr entwickelten Ansätze einer adäquaten Sterbebegleitung haben die Krankenhäuser und Alten- und Pflegeheime in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren stark unter Druck gesetzt.

Wenn also nach wie vor gilt, dass die meisten Menschen nicht zu Hause sterben, sondern in Krankenhäusern und Pflegeheimen, dann ist es für die Frage nach dem Umgang mit Tod und Sterben in der gegenwärtigen Gesellschaft wichtig zu wissen, ob und in welchem Maße sich die von der Hospizbewegung formulierten Ansätze und Forderungen für den Umgang mit Sterbenden auch in der Arbeit dieser Institutionen niedergeschlagen haben. Genau diese Frage ist von uns in einer Auftragsstudie für den Hospizverein Trier untersucht worden.5

Den Kern des vorliegenden Aufsatzes bilden daher die Ergebnisse der von uns durchgeführten empirischen Untersuchung über die Möglichkeiten und Bedingungen von Sterbebegleitung und hospizlicher Arbeit in Krankenhäusern.

Die Situation der Sterbenden ist für die Gegenwart und die jüngere Vergangenheit im Zuge der sich bildenden Hospizbewegung oft beschrieben worden.6 Unsere Untersuchung hingegen beschreibt die Situation der Sterbenden auf indirektem Wege: Wir haben diejenigen befragt, die mit Sterbenden professionell zu tun haben, hauptsächlich Ärzte und Pflegekräfte.7

In der Studie haben wir versucht zu rekonstruieren, in welchem Maße die Befragten erstens über Ansätze und Inhalte zeitgemäßer Sterbebegleitung respektive Hospizarbeit informiert sind, inwieweit sich zweitens diese Ansätze unter den Bedingungen eines Krankenhausalltags überhaupt umsetzen lassen und inwieweit sie drittens in ihrer jeweiligen Ausbildung bzw. in ihrem Studium auf den Umgang mit Sterbenden vorbereitet wurden. Durch die Beschreibung dieser Rahmenbedingungen ergibt sich ein recht genaues Bild der Situation der Sterbenden, ohne einen einzigen von ihnen direkt befragt zu haben.8

Auf den ersten Blick wirken die Daten ernüchternd und bieten das bekannte Bild der Einsamkeit der Sterbenden. Dennoch zeigen die Daten unserer Interpretation zufolge, dass sich ein Wandel in den bisher eingefahrenen Pfaden institutionalisierten medizinischen Umgangs mit Sterbenden ergeben wird. Denn auf den zweiten Blick meinen wir bei den Befragten ein Bewusstsein für die Unzulänglichkeit der Situation herauslesen zu können. Die Ärzte und Pflegekräfte wissen, dass die Aufgabe, Patienten beim Sterben zu begleiten, sie unter den gegebenen Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen überfordert. Die Ausbildungen in der Medizin und den Pflegeberufen passen sich zwar auf lange Sicht den Erfordernissen des Umgangs mit Tod und Sterben an, aber die strukturellen Gegebenheiten eines Krankenhauses sind nicht in vergleichbarer Weise anzupassen (Schichtdienst, also häufig wechselndes Personal etc.). Die befragten Ärzte und Pflegekräfte formulieren daher auch klare Wünsche an die Hospizbewegung, die sich notwendig aus der Struktur von Institutionen wie Krankenhäusern ergeben.

Unsere These lautet, dass die Hospizbewegung gegenwärtig mit der Situation konfrontiert ist, dass sie zum Adressaten von Erwartungen der klassischen medizinischen Institution Krankenhaus wird. Vor allem die Pflegekräfte, aber eben auch die Ärzte, erkennen, dass eine adäquate Sterbebegleitung nur in der Zusammenarbeit zwischen Medizin und Hospizbewegung funktionieren kann. Die Umsetzung des bekannten Modells der zwei Säulen, Palliativmedizin und Zuwendung, auf denen eine gute Praxis der Sterbebegleitung ruht, wird in den Antworten auf unsere Fragen von Mitarbeitern der Institution Krankenhaus eingefordert.

Verdrängung des Todes?

Ist nun die moderne Gesellschaft, die den Tod weitestgehend in Spezial-institutionen ausgelagert hat, deswegen auch eine Gesellschaft, die den Tod verdrängt? Das angeblich verdrängte Thema Tod zeigt eine erstaunliche Präsenz im öffentlichen Diskurs. Diese Paradoxie, auf die Ariès bereits in den späten 70er Jahren hinweist, hat sich in der Zwischenzeit sicher eher verschärft. Dennoch und trotz aller vorgebrachten Gegenargumente ist die Verdrängungsthese in der soziologischen Diskussion immer wieder vertreten worden.

Das für die jüngere Vergangenheit wohl prominenteste Beispiel wurde von Armin Nassehi und Georg Weber vorgelegt. In ihrem Werk »Tod, Modernität und Gesellschaft« legen sie noch einmal eindrucksvoll einen »Entwurf einer Theorie der Todesverdrängung« vor, wie es im Untertitel heißt.9 Wie wir noch sehen werden, ist dies allerdings zumindest für Nassehi nicht das letzte Wort in dieser Angelegenheit.

Nassehi und Weber ist dabei durchaus bewusst, dass sie mit ihrem »Entwurf« nicht eben Neuland betreten, sondern sagen, was »alltagssprachlich bereits eine Trivialität« ist. Zumindest seit Scheler ist der Ausdruck der Todesverdrängung immer wieder benutzt worden, um die Situation des modernen Menschen angesichts des Todes zu beschreiben. Für die konservative Kulturkritik stellt die Verdrängungsthese geradezu eine Leitmelodie dar. All das macht die These freilich weder falsch, noch auch nur verdächtig, allerdings wird sie dadurch auch nicht per se richtig. Man kann sie immerhin auf ihre Haltbarkeit prüfen. Zumindest in der neueren deutschen Soziologie ist sie immer wieder abgelehnt worden.10 Der Anspruch von Nassehi und Weber ist jedenfalls, dass es sich bei ihnen keineswegs um die bloße Wiederholung der kulturkritischen These älterer Autoren (wie etwa bei Scheler) handelt, die aus der Unfä­higkeit der modernen Gesellschaft, mit dem Tod adäquat umzugehen, ein Argument gegen sie abgeleitet hatten. Die Pointe der Autoren be­steht darin, dass sie die Verdrängung als strukturnotwendige Folge des Ausdifferenzierungsprozesses beschreiben und dass im Zuge dieses Pro­zesses das Individuum seine je eigenen existentiellen Nöte nicht mehr adäquat in gesellschaftliche Kommunikation einbringen oder aus ihr entsprechende sinnstiftende Angebote beziehen könne. Verdrängung erscheint also als sozialstrukturell bedingte Unmöglichkeit, das indivi­duelle Memento mori angemessen zu kommunizieren.

Um die These von der Verdrängung diskutieren zu können, muss man wohl zunächst klären, was man annimmt oder ablehnt, wenn man sie akzeptiert oder verwirft. Einigkeit besteht darüber, dass die moderne Gesellschaft – darin anders als andere Gesellschaften – die Erfahrung des Todes einerseits hochspezialisierten Gruppen überantwortet (etwa dem Funktionsbereich der Medizin) und andererseits biographische Konfrontationen mit dem Tod naher Angehöriger seltener und typi­scherweise erst im späteren Lebensalter auftreten lässt. Unstrittig ist auch, dass es kaum verbindliche soziale Vorgaben für die Rolle der Trauernden und Sterbenden gibt, dass also eine Art von Privatisierung des Todes als persönlichem Schicksalsereignis stattfindet. Der technischen Kompetenz im Umgang mit Toten und Sterbenden bei Spezialisten (et­wa Ärzten, Bestattern, Pfarrern) korrespondiert also der weitgehende Wirklichkeitsverlust und der Verlust der praktischen Kompetenz der Bewältigung der mit dem Tod zusammenhängenden Herausforderun­gen bei Laien. Wahr scheint uns auch – und auch hier sehen wir keinen Dissens – dass unsere Gesellschaft nicht über verbindliche Sinngebungen für individuelles Sterben verfügt. Der Ton liegt hier auf »verbindlich«. Sinngebungen gibt es nämlich in großer Fülle. Sie sind auch durchaus kommunikabel, und über sie wird auch gesprochen, sonst wäre der große Erfolg therapeutischer und religiöser Institutionen gar nicht erklär­bar, in denen Trauernde und Geängstigte Rat und Trost suchen. Es fehlt nicht an Sinngebungen und Deutungen des Sterbens, sondern an Verbindlichkeiten. Gerade die Pluralität ist das Problem, aber auch – vielleicht – die Chance. Der Individualität des Lebens entspricht eine not­wendig von verbindlichen kollektiven Vorgaben emanzipierte, jedenfalls wählbare Beziehung zum eigenen Tod und Sterben und eine auf die jeweiligen individuellen Bedürfnisse eingehende Spezialkom­munikation. Es ist nicht zufällig, dass diese sich gerade nicht an die In­stitutionen der »öffentlichen Weltauslegung« anheftet, sondern an den therapeutischen oder privatseelsorgerischen Diskurs. Sterben bedeutet eben für viele je anderes, wenn auch das, was man darüber sagen kann, nie einzigartig ist. Angst und Trauer fallen also bei uns nicht schlechthin ins Unsagbare.

Wenn man all diese Tatbestände und Zusammenhänge – daran kann man ja niemanden hindern – eben doch als Verdrängung bezeichnen will, dann läuft der Dissens auf lediglich unterschiedliche Begriffswahlen zurück. Aber normalerweise impliziert der Terminus doch mehr. Er besagt doch, dass man sich aus Angst einer Wirklichkeit nicht stellen will oder kann, mit der man nicht fertig wird, dass man deshalb Redetabus errichtet und jede Situation meidet, in der man an das Schreckliche erinnert wird. Wer je Dokumente über den Schrecken gelesen hat, den der Tod in vormodernen Gesellschaften auslöst, trotz, ja oft sogar wegen der dort verfügbaren verbindlichen Sinngebungen, dürfte Mühe haben, die Moderne als Steigerung solcher ungebändigter Angst zu beschreiben. Bekanntlich hat bereits Pascal alle Divertissements als feiges Ausweichen vor der Todesgewissheit gedeutet.

Interessanterweise bringt Nassehi in einer nach seinem opus magnum veröffentlichten, kleinen Arbeit ein ganz ähnlich gelagertes Argument vor. In einem Artikel über die Ergebnisse einer qualitativen Untersuchung deutschsprachiger Ratgeberliteratur zu Sterben, Tod und Trauer11 schreibt er:

Die deutschsprachige Ratgeberliteratur zum Thema ist bis heute soziologisch unbeachtet geblieben. Das ist Grund genug, das Material darauf zu sichten, wie es unter Bedingungen eines offenkundigen Verlustes an rituellen Sicherheiten und Selbstverständlichkeiten möglich ist, Tod und Sterben öffentlich zu thematisieren und wie sich solche Thematisierungsformen als Beratung profilieren können. Auffallend ist in jedem Fall, dass der Erfolg jener Literaturform davon zeugt, dass von einer öffentlichen Nichtbeachtung, Kommunikationshemmung oder gar Verdrängung kaum gesprochen werden kann. Im Gegenteil ist derzeit geradezu eine Renaissance des Themas zu beobachten.12

Hier liegt die Betonung auf verlorengegangenen »rituellen Sicherheiten und Selbstverständlichkeiten« und gerade nicht mehr auf »Verdrängung«. Das liegt nun sehr nahe an den von uns 1991 gegen Nassehi angeführten Argumenten. Bei gleicher Ausgangslage, sieht man recht, rückt Nassehi also im späteren Artikel von der Verdrängungsthese ab.

Dezidiert verabschiedet wird die Verdrängungsthese von ihm in einer unmittelbar aktuellen Veröffentlichung:

Freilich wird das Motiv einer Verdrängung des Todes innerhalb der Soziologie kaum noch vertreten (...) – wenn auch die Idee der quasi extrasozietalen Bearbeitung der Individualität nach wie vor eine Art nicht thematisierte communis opinio darstellt. Übrigens: Auch der von Armin Nassehi und Georg Weber (1989) vorgelegte Versuch einer Theorie der Todesverdrängung, der dezidiert nicht modernitäts- und kulturkritisch argumentiert und von der strukturellen, zugleich aber funktional notwendigen Verdrängung des Todes ausgeht, darin sogar eine Chance für individuelle Bewältigungsformen des Todes sieht, atmet noch den Geist jenes bürgerlichen Unbehagens an den Entzweiungen der Moderne, an dem Verlust synchroner Lebensformen und an der normativen Desintegriertheit der Moderne. Es sind deshalb einige erhebliche Korrekturen vorzunehmen, ohne freilich das Grundmotiv ganz fallen lassen zu müssen.13

Zur Verdrängung des Todes haben jedenfalls viele vormoderne Gesellschaften mehr Anlass gehabt als die gegenwärtige, vor allem wohl deshalb, weil das Todeserlebnis nicht strukturell abgekoppelt werden konnte vom Funktionieren der dominanten Funktionssysteme. Mit Luhmann ausgedrückt, könnte man auch sagen, die Exklusion der Individuen aus dem sozietalen Diskurs entlastet von gesellschaftlicher Verdrängung. Gerade die Inklusion von Personen in die gesamtgesellschaftliche Kommunikation, wie sie für Luhmann für vormoderne Gesellschaft charakteristisch ist,14 führt zu Verdrängungsnotwendigkeiten. Insofern könnte man die von Nassehi und Weber mobilisierte Theorie auch zur Kritik ihrer These verwenden. Die These Luhmanns besagt im Übrigen gerade, dass das moderne Individuum als solches im Kontext der ausdifferenzierten Funktionssysteme im empha­tischen Sinne ein »ineffabile« wird. Tod und Sterben würden in diesem Sinne nur an der generellen »Exklusion« der individuellen Totalität aus den spezialisierten Kommunikationskontexten der Moderne teilhaben. Wichtig ist freilich, dass das, was bei Luhmann als »Exklusion« erscheint, gerade nicht mit »Verdrängung« verwechselt wird. Verdrängen kann man nur, was prinzipiell ausdrückbar wäre.

Dem Begriff der Verdrängung haftet aus unserer Sicht eine Fül­le von Bedeutungen aus seinem ursprünglichen wissenschaftlichen Verwendungskontext in der Psychoanalyse an, die seine Übertragung in die Soziologie nur dann sinnvoll erscheinen lassen, wenn man auf die Differenzen ausdrücklich aufmerksam macht. Sonst stellen sich nicht nur Missverständnisse ein, sondern die Analyse wird zusätzlich durch unkontrollierte Konnotationen angereichert.

Wenn man von Verdrängung spricht, müsste man vielleicht deutlicher spezifizieren, wer verdrängt, und woraus verdrängt wird. Wenn das Thema des Todes aus der Kommunikation verdrängt worden wäre, könnte man den Tatbestand nicht mehr mitteilen. Und wenn etwas aus dem Bewusstsein verdrängt wird, merkt man es selbst nicht. Allenfalls ein Beobachter könnte uns dergleichen enthüllen. Aber wie könnte er das, wenn er selbst es auch völlig verdrängt hätte? Die Vorstellung jedenfalls, dass die moderne Gesellschaft den Tod aus der Kommunikation verdrängen müsste, weil sie aufgrund eines Sinngebungsdefizits mehr Angst vor dem Tod als andere Gesellschaften hätte, scheint mir kurzschlüssig. Sinngebung und Angst schließen sich nicht aus. Und außerdem: Wer könnte aus dem kommunikativen Jenseits etwas berichten? Allenfalls könnte es sich zeigen, dass bestimmte Formen der Kommunikation über den Tod nicht mehr überall Anklang finden (oder – wie man akademisch vielleicht sagen müsste – nicht mehr »anschlussfähig« sind).

Vermutlich handelt es sich – wie so oft, wenn über den »Verlust« von Wichtigem geklagt wird – nicht um Verdrängung, sondern um Differenzierung: Tod ist nicht mehr wie noch vor einigen Generationen bewusstseinsaufdringliches Thema allgemeiner Kommunikation, sondern Gegenstand spezieller Subsysteme, die von ihm auf ihre je eigene Weise handeln. Sie teilen ihn sozusagen unter sich auf und erlauben es dadurch, dass das Bewusstsein ihn typischerweise nicht mehr als ganzen zu Gesicht bekommt. Für das Bewusstsein folgt daraus möglicherweise eine Ausblendung dieses Themas an den Rand der Alltagsaufmerksamkeit. Innerhalb der einzelnen Subsysteme der Kommunikation erscheint das Schreckliche insofern zwar nicht als überwunden, wohl aber als spezifiziert: es wird verwandelt. Die Bedrohung präsentiert sich nicht mehr als Gegenstand unbeschreiblicher Angst, sondern als Objekt höchst präzise benennbarer Befürchtungen. Der Tod wird nicht als solcher beseitigt, sondern in einer seiner jeweiligen Erscheinungen bekämpft (s.o.).

Damit erklärt sich vielleicht auch das oben bereits erwähnte (scheinbare?) Paradox, dass die angeblich so todvergessene moderne Gesellschaft Aids15 zum Medienthema machen kann. Wie könnte sie dies, wenn die Erinnerung an den aller »Sinngebung« spottenden Tod ihren eigenen modus procedendi unterbräche? Vieles jedenfalls spricht dafür, dass der reduzierte Todkontakt der meisten jüngeren Mitglieder der modernen Gesellschaft dazu führt, dass man den Tod nicht verdrängen muss, weil er sich zunächst einmal nicht wirklich aufdrängt. Insofern wäre es plausibel anzunehmen, dass es gerade vormoderne Gesellschaften waren, die einen erheblich höheren Bedarf an Verdrängung hatten.

Hospize

Die von uns durchgeführte empirische Untersuchung ist Ariès in die von ihm beschriebenen Krankenzimmer gefolgt. Auch sie hatte das Ziel, eine Phänomenologie des Sterbens der gegenwärtigen Zeit zu geben. Wir befragten Pflegekräfte und Ärzte, aber auch Seelsorger, Psychologen, Sozialarbeiter, Sozialpädagogen und Hospizhelfer danach, wie Sterbebegleitung in der Realität ihres Arbeitsalltags aussieht und wie sie damit umgehen.

Das erschreckende Ergebnis der Untersuchung ist, dass sich im Grundsatz an der Einsamkeit der Sterbenden nichts geändert hat, sofern sie im Krankenhaus oder einer vergleichbaren Einrichtung sterben: in Alten- und Pflegeheimen etwa.

Es wird häufig die Befürchtung geäußert, dass mit der Errichtung eines stationären Hospizes nun alle sterbenden Patienten geradezu zwangsläufig dorthin verlegt würden, auch wenn es die Möglichkeit der Betreuung durch die Angehörigen gäbe. Das ist natürlich keineswegs der Fall. Das stationäre Hospiz ist gerade als Einrichtung gedacht, die denjenigen offen stehen soll, die nicht auf Angehörige zählen können. Sei es, dass es keine Angehörigen mehr gibt, sei es, dass die Angehörigen die Pflege nicht übernehmen können oder wollen.16

Gleichwohl versucht das Hospiz eine Situation zu schaffen, in der der Tod erlebt wird, als gäbe es ein Beisammen mit den Angehörigen und Liebsten. Der Tod soll nicht in der Einsamkeit über einen kommen, sondern man soll eingebettet sein in den Kreis von vertrauten Menschen. Wenn es die Familie nicht gibt, soll das Hospiz ein Äquivalent dafür bieten.

Angestrebt wird also, den Menschen aus der hochspezialisierten Welt der Krankenhäuser oder der einsamen Welt der Alten- und Pflegeheime oder des Alleinseins zu befreien und ihm mit dem stationären Hospiz einen eigenen Raum zu schaffen.

Was sonst nur für Familien und für Liebesbeziehungen gilt, streben auch die Hospize an, nämlich, dass hier die Patienten, wie in Familien die Familienangehörigen und in Liebesbeziehungen die Liebespartner, alles das kommunizieren dürfen, was ihnen relevant scheint. Für ein Hospiz sind alle kommunikativen Beteiligungen relevant, die für seine Patienten relevant sind, insofern sie ihr Memento mori im weitesten Sinne betreffen. Denn das bedeutet, dass alle Aspekte des Sterbens und des Todes, die vom jeweiligen Patienten geäußert werden, im Hospiz einen gemeinsamen Adressaten finden. Physische Schmerzen sowohl als auch Seelennöte; Angst vor dem, was nach dem Tode kommt, wie auch quälende Gedanken an Fehler und Verfehlungen im vergangenen Leben. In diesem Sinne kann sich der Patient im Hospiz mit allen ihm wichtigen Aspekten seiner Person und Biographie einbringen.

Empirische Daten17

Es werden im Folgenden die Umfrageergebnisse vorgestellt, die sich auf die Gruppe der Pflegekräfte beziehen. Bei Bedarf werden kontrastierend die Daten aus den anderen Berufsgruppen präsentiert.

 

1. Umgang mit Sterbenden in der Ausbildung

Die Antworten auf die Frage, inwieweit die Pflegekräfte auf den Umgang mit Sterbenden in ihrer Ausbildung vorbereitet werden, sind trügerisch.

Im Fragebogen für den Hospizverein war die Frage schlicht: »War der Umgang mit Sterbenden ein Thema in Ihrer Ausbildung?« 80% der befragten Pflegekräfte bejahten diese Frage. Aus der Korrelation dieser Frage mit der Dauer der Berufstätigkeit wurde erkennbar, dass sich dieses Thema in den letzten zwanzig Jahren zunehmend in den Ausbildungen durchgesetzt hat.

Bei rund 70% der Pflegekräfte, die bereits seit 11 bis 20 Jahren ihren Beruf ausüben (N=286), war der »Umgang mit Sterbenden« ein Thema in der Ausbildung. Die Raten steigen dann kontinuierlich an, je kürzer die Berufsdauer der Befragten ist, je kürzer also ihre Ausbildung zurückliegt. Bei der Gruppe mit einer Berufsdauer zwischen 6 und 10 Jahren sind es schon rund 86% (N=154) und bei der Gruppe mit einer Berufsdauer von 2 bis 5 Jahren rund 90% (N=92). Bei der Gruppe der Pflegekräfte, die weniger als 2 Jahre ihren Beruf ausüben, geben bereits rund 94% (N=31) an, dass der Umgang mit Sterbenden Teil der Ausbildung war und bei den Befragten, die zum Zeitpunkt der Umfrage noch Pflegeschüler waren, sagen dies gar 99% (N=97). (Cramer’s V.301)

Objektiv und formal wird also nun jede in Ausbildung befindliche Pflegekraft auf den Umgang mit Sterbenden in der Ausbildung vorbereitet. Die Frage ist bloß, wie diese Vorbereitung inhaltlich aussieht und welche Themengebiete zu kurz kamen.

Wir gehen aus guten Gründen von einem Überhang der medizinisch-technischen pflegerischen Kompetenzen aus, denen nur marginal ausgebildete kommunikative Fähigkeiten gegenüberstehen.

Die Pflegekräfte (N=630) beklagen nämlich, dass sie den kommunikativen Herausforderungen nicht gewachsen sind, weil sie dafür nicht hinlänglich ausgebildet wurden: Rund 50% der Befragten nennen die »Gesprächsführung mit Angehörigen« als in der Ausbildung zu kurz gekommen, rund 47% der Befragten sagen dies vom Thema »Psychische Betreuung sterbender Patienten« und rund 45% der Befragten meinen, dass sie in Bezug auf die »Gesprächsführung mit Patienten« nur unzureichend ausgebildet wurden. Dieses Urteil entspringt wohl der Erfahrung der alltäglichen Arbeit, wo man mit den Patienten Gespräche führen muss und damit nicht zurecht kommt. Es ist wohl mit Fug und Recht anzunehmen, dass nicht gemeint ist, nackte Zahlen, Untersuchungswerte oder Entlassungstermine mitzuteilen. Die Gesprächsthemen, die Sorge machen sind vor allem eine infauste Diagnose, die Erkenntnis der Unheilbarkeit der Krankheit, Fragen nach dem Sterben, den Schmerzen und dem nahen Tod und manchmal auch nach dem Jenseitsschicksal.

An technischen Kompetenzen fehlt es offensichtlich weniger: Nur rund 38% der Befragten halten das Thema »Schmerztherapie« für in der Ausbildung zu kurz gekommen und nur rund 31% der Befragten sagen dies von der Thematik »Minimalmedizin«. Eine große und wichtige Ausnahme ist allerdings auch dort zu verzeichnen: Immerhin die Hälfte der Befragten (50,2%; N=630) findet das Thema »Palliativmedizin« in der Ausbildung unterrepräsentiert. Aber auch dies hängt davon ab, wie lange die Ausbildung zurückliegt. Heute ist Palliativmedizin in nahezu Dreiviertel aller Ausbildungen integriert.

Korreliert man auch hier wieder die Dauer der Berufstätigkeit mit der Antworten auf die Frage nach der Palliativmedizin, ergibt sich, dass in der Gruppe derjenigen mit einer Berufserfahrung zwischen 11 und 20 Jahren noch rund 64% (N=285) das Thema »Palliativmedizin« als in der Ausbildung unterrepräsentiert bezeichnen. In der Gruppe mit 6 bis 10 Jahren Berufserfahrung sagen dies nur noch 46% (N=150), in der Gruppe mit 2 bis 5 Jahren nur mehr rund 39% (N=85). Bei denjenigen, die weniger als 2 Jahre im Beruf sind, sagen dies nur noch rund 28% (N=29), ebenso wie in der Gruppe der Pflegeschüler (N=76). Analog zu der Frage nach dem Ausbildungsinhalt »Umgang mit Sterbenden«, ist auch hier eine kontinuierliche Entwicklung der Raten zu verzeichnen. (Cramer’s V.278)

Dass sie auf die technischen Aspekte ihrer Tätigkeit in der Ausbildung adäquat vorbereitet wurden, legen auch die Antworten auf die Frage nach besonders belastenden Situationen nahe. Wir hatten die Pflegekräfte gefragt: »Welche Situationen in der Sterbebegleitung sind für Sie bei Ihrer Arbeit besonders belastend?« 72% der Befragten (N=671) nennen hier das »Sterben von Erwachsenen jüngeren Alters«. Rund 71% der Befragten nennen »starke Schmerzen der Patienten« als besonders belastende Situation. Rund 63% der Pflegekräfte empfinden die »Verzweiflung und Todesangst von Patienten« als besonders belastend und 56% der Befragten sagen dies von der »emotionalen Verbundenheit mit Patienten«.

Das Sterben von Kindern und jungen Menschen ist heute eine immer als schlimm, wenn nicht als skandalös empfundene Situation, und dies unabhängig von kommunikativen Fähigkeiten. Der Tod des jungen Menschen ist ein Skandal, auf den sich unsere Gesellschaft nur schwer einstellen kann.

Allerdings gilt dies keineswegs historisch universal für alle Gesellschaften. Dass der verfrühte Tod für uns nur als Katastrophe gesehen werden kann, die sich jeglicher Sinngebung entzieht, hängt eng mit dem weitgehenden Verlust von Jenseitsvorstellungen zusammen. Erlösung gibt es etwa für die Menschen des Mittelalters ohnehin nur im Jenseits und ist überdies von vielem abhängig, aber eben gerade nicht vom Alter zum Zeitpunkt des Todes. Mit dem Wegfall der Jenseitsvorstellungen geht auch die Möglichkeit verloren, dass den Verstorbenen eine Funktion für die Hinterbliebenen zukommen kann. Von gestorbenen, aber getauften Kindern nahm man an, dass sie etwa die Rolle eines Fürbitters im Jenseits einnehmen könnten. Insofern war der Tod nicht schlechthin das Ende aller Hoffnungen, sondern auch etwas, an das sich Hoffnungen und Erwartungen anschließen konnten.

Für die heutige deutsche Gesellschaft18 kann wohl kaum noch von einem Glauben an »Erlösung« sondern eher vom Streben nach »Erfüllung« gesprochen werden, sieht man einmal von dem immer kleiner werdenden Anteil gläubiger Menschen ab. Die Erfüllung eines Lebens kann sich aber nur im Diesseits einstellen. Die Redewendung »jemand sei zu früh gestorben« spielt darauf an. Damit ist gemeint, dass der Betreffende gestorben ist, bevor er ein erfülltes Leben hatte. Als besonders dramatisch wird dies beim Tod von Kindern und Jugendlichen empfunden, weil es dann aufgrund der kurzen Lebensspanne keine Möglichkeit der Erfüllung gab. Wenn die Verwirklichung im Diesseits erfolgen muss, ist der frühe Tod ein dramatisches Problem (vgl. oben: 72% der befragten Pflegekräfte zählen den Tod von jungen Menschen zu den besonders belastenden Situation in ihrer Arbeit). Aber auch das Sterben von Erwachsenen mittleren Alters wird noch von fast 40% der Befragten als besonders belastend empfunden. Der Tod wird dann als Scheitern gesehen, als ein plötzliches Abreißen der Möglichkeit, das ganze Potential des Lebens auszuschöpfen.

Die Vorstellung von einem »erfüllten Leben« ist in der gegenwärtigen Gesellschaft typischerweise eng verknüpft mit einer langen Dauer des Lebens. In Todesanzeigen wird dieses Attribut nur Menschen zugesprochen, die in hohem Alter verstarben: »Nach einem langen und erfüllten Leben starb unser geliebter...«

Der gute Tod ist in der Gegenwart der Tod, der ein langes Leben beendet. Und wenn der gute Tod eintritt, stellt er keine dramatische Situation dar. (Nur 7,6% der befragten Pflegekräfte zählen das Sterben eines alten Menschen zu den besonders belastenden Situationen in ihrer Arbeit der Sterbebegleitung.)

Auch die 70% der Befragten, die starke Schmerzen der Patienten als besonders belastende Situation empfinden, sind kein Beleg für einen inhaltlichen Mangel in der Ausbildung, sondern eher ein Hinweis darauf, dass sich das Wissen um Möglichkeiten der Schmerztherapie noch nicht ausreichend durchgesetzt hat. Schmerzen müsste bei den hochpotenten Analgetika der modernen Medizin kaum noch ein Mensch haben. Dass es belastend ist, einen Menschen körperliche Qualen ausstehen zu sehen, muss nicht begründet werden.

Ebenso wie früher ergibt sich auch heute in solchen Situationen Redebedarf, aber im Gegensatz zu früheren Gesellschaften verfügen wir weder über sozial verbindliche Formen der Tröstung noch der Sinngebung.

Bei den rund 63% der Befragten, für die Verzweiflung und die Todesangst von Patienten eine belastende Situation darstellen, liegt der Fall etwas anders. Es wäre zu fragen, warum rund 37% der Befragten diese Situation nicht als belastend empfinden. Darauf aber geben die Daten der Umfrage keine Hinweise.

Dass Gespräche bei Verzweiflung und Todesangst eine helfende Wirkung entfalten können, wird von den befragten Pflegekräften zumindest für möglich gehalten. Es taucht hier wie ein Echo das beanstandete Defizit der Ausbildung wieder auf: Die psychische Betreuung Sterbender hätte genau dies als zentralen Inhalt. Sterben ist, jedenfalls phasenweise, immer mit Verzweiflung und Todesangst verbunden. Dies ist auch historisch immer so gewesen. Wenn auch die Angst im Mittelalter eher auf die Furcht vor der Hölle bezogen gewesen sein mag als auf das Ende des irdischen Lebens. Auf die Konfrontation mit solchen Phasen müsste eine Ausbildung vorbereiten.

 

2. Strukturelle Gründe für den Mangel in der Ausbildung

Die befragten Pflegekräfte konstatieren Mängel ihrer Ausbildung, wenn es um den Umgang mit Sterbenden geht. Abhilfe ist hier aber nicht ohne weiteres zu schaffen. Die Defizite sind in vieler Hinsicht nur die Kehrseite erwünschter und beabsichtigter Ausbildungsziele. Wir haben es hier also mit strukturellen Zwängen zu tun.

Auf Tod und Sterben vorbereiten heißt nämlich in der Ausbildung der Pflegekräfte wie auf allen anderen Gebieten auch: technisches Wissen vermitteln. In der Tat gibt es eine Menge Unterrichts-Stoff, der diesem Gebiet zugeordnet ist. (Ohne Anspruch auf Vollständigkeit und ohne systematische Ordnung lässt sich etwa an das Waschen der Leichen, Desinfektion, medizinisch-technische Handgriffe bei der Sterbebegleitung: Flüssigkeitssubstitution, Magensondenernährung u.ä. denken.)

Entscheidend ist, dass alles dies aber technische Fragen sind, die sich dem spezialisierten Ausschnitt der Pflegearbeit verdanken, somit nur Aspekte des Menschen betreffen, insofern er Patient ist, nicht aber das sterbende Individuum als Individuum selbst.

Die Reduzierung oder besser: die Abkoppelung der eigentlichen Arbeit, so wie sie in der Ausbildung vorgesehen ist, von der umfassenderen Realität des Arbeitsalltags stellt sich für die arbeitenden Pflegekräfte oft als undurchführbar heraus. Es ist eben nicht möglich, Patienten zu pflegen und nur die Pflegehandgriffe auszuführen, ohne in ein interpersonales Verhältnis zum Patienten zu treten.

Die strukturellen Gründe für das Fehlen bzw. zu-kurz-Kommen des Themas »Umgang mit Sterbenden« in dem Sinne, wie die Befragten es für ihre Arbeit bräuchten, hängen damit zusammen, dass die funktional ausdifferenzierte Gesellschaft keinen Platz mehr für das Individuum als solches vorsieht. Das Individuum operiert in keinem Funktionssystem als Ganzes, folglich kann sich ein solcher Platz dann auch nicht in den Subsystemen finden, die die Funktionsfähigkeit dieser Systeme garantieren. Das heißt: In den Ausbildungsgängen wird natürlich auf nichts vorbereitet, was es nicht gibt. Warum soll also von Tod und Sterben jenseits von technischem Wissen gehandelt werden, wenn die Profession darauf gerade nicht ausgerichtet ist?19

Schluss

Die Daten der Studie über die Hospizbewegung scheinen sehr speziell zu sein. Sie zeigen aber, wie das Bild guten Sterbens aussieht.20 Gerade dass die professionell mit Sterbenden Befassten ständig unter dem Konflikt leiden, dass sie das nicht leisten können, was sie eigentlich leisten möchten, verweist auf ein grundsätzliches Problem: Die ideale Situation des Sterbens wäre, dass man nach einem erfüllten Leben ohne Schmerzen – mit sich und der Welt zufrieden – im Kreise seiner Lieben den Geist aufgibt. Die reale Situation des Sterbens gestaltet sich aber oft völlig anders. Entweder kann man nicht in der Familie sterben, weil es keine Angehörigen mehr gibt oder weil die völlig überfordert wären. Sie sind selbst häufig bereits sehr alt oder durch berufliche Pflichten zeitlich und räumlich anderweitig gebunden. In jedem Falle wären sie technisch inkompetent, mit den Aufgaben fertig zu werden, die professionelle Schulung voraussetzen. Denn es geht nicht nur um menschliche Wärme, Trost und Nähe, sondern auch um die sehr praktische Versorgung des Patienten, die vor allem immer häufiger hochspezialisierte Technik voraussetzt, wie sie eigentlich nur palliativ-medizinische Abteilungen von Krankenhäusern bieten können. Dort aber werden Patienten – auch in der Rolle als Sterbende – selbst bei weitest gehender Berücksichtigung ihrer ganz persönlichen Bedürfnisse erst einmal eben doch als Patienten behandelt. Das lässt sich auch nicht wirklich ändern. Bei allem Engagement, das hier in der Regel aufgewandt wird: Jemand der täglich drei oder mehr Sterbende betreut, im Verlauf von kurzen Zeitspannen vieler Menschen Sterben erlebt, muss sich subjektive Distanzierungsstrategien zueigen machen. Sonst wäre er seiner Aufgabe auf die Dauer nicht mehr gewachsen.21

In unserer Studie wird aber von den Befragten nicht diese Schwierigkeit thematisiert. Vielmehr weisen die Krankenschwestern – es handelt sich beim Pflegepersonal zur überwiegenden Mehrheit um Frauen – auf Zeitknappheit22 und Ausbildungsdefizite hin. Die sind in der Tat nur allzu realistisch gegeben. Was weniger deutlich wird, ist Folgendes: Selbst wenn mehr Zeit und Kompetenz zur Verfügung stünden, wäre der Konflikt nicht zu überwinden, der sich aus der Professionalität der Betreuung als solcher ergibt. Die Hospizbewegung versucht insofern eine Art von Quadratur des Zirkels: Höchst professionelle Formen des Umgangs mit Patienten, die aber auf die Patienten wirken, als würden sie von Familienangehörigen umgeben; zu Hause wie im Hospiz und im Hospiz wie zu Hause. Gerade in diesem Kontext ist die Suche nach Laienhelfern höchst bedeutsam: Sie könnten die Rolle von »Familienmitgliedern« übernehmen, wenn sie im Übrigen von professionellen Kräften in den Bereichen unterstützt würden, in denen nur Spezialisten arbeiten können. Das Dilemma liegt gleichwohl auf der Hand: Diejenigen, die dem Sterbenden menschlich nahestehen, sind, selbst wenn sie das Sterben begleiten könnten, technisch nicht kompetent und umgekehrt. In einer Gesellschaft, in der die Zahl der Kinderlosen und die Zahl der dementen Hochbetagten zunimmt, gibt es außerdem immer häufiger keine Familie, auf die zurückgegriffen werden könnte. Die große Aufgabe, die sich stellt, ist also, eine Art »Sterbefamilie« zu bilden, die aus Freunden und Schicksalsgenossen bestehen könnte und die von »Sterbespezialisten« in all den Fragen unterstützt wird, wo Laien mit ihrem Latein am Ende sind.