Cover

Transit wird herausgegeben am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien und erscheint im Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main

Herausgeber: Krzysztof Michalski (Wien/Boston)

Mitherausgeber dieses Heftes: Charles Taylor (Montréal/Wien)

Kuratorin des Bildteils: Maren Lübbke (Camera Austria, Graz)

Redaktion: Klaus Nellen (Wien)

Redaktionsassistenz: Miriam Schmitthenner und Maximilian Wollner

Redaktionskomitee: Cornelia Klinger (Wien), Janos Matyas Kovacs (Budapest/Wien), Ivan Krastev (Sofia/Wien), Timothy Snyder (Yale/Wien).

Beirat: Peter Demetz (New Haven), Timothy Garton Ash (Oxford), Elemer Hankiss (Budapest), Claus Leggewie (Essen), Petr Pithart (Prag), Jacques Rupnik (Paris), Aleksander Smolar (Warschau/Paris), Fritz Stern (New York).

Redaktionsanschrift: Transit, Institut für die Wissenschaften vom Menschen, Spittelauer Lände 3, A-1090 Wien, Telefon (+431) 31358-0, Fax (+431) 31358-30 , E-mail: transit@iwm.at

Website Transit und Tr@nsit online: www.iwm.at/transit

Verlagsanschrift: Verlag Neue Kritik, Kettenhofweg 53, D-60325 Frankfurt/ Main, Telefon (069) 72 75 76, Fax (069) 72 65 85, E-mail: verlag@neuekritik.de

 

ISSN 0938-2062 / ISBN 978-3-8015-0543-1 (epub) / ISBN 978-3-8015-0544-8 (mobi)

 

© 2011 für sämtliche Texte und deren Übersetzungen Transit / IWM

 

 

Transit 41 (Sommer 2011)

 

Kunst – Gesellschaft – Politik

 

Cornelia Klinger

Kunst – Gesellschaft – Politik

Zur Einführung

 

Verena Krieger

Ambiguität und Engagement

Zur Problematik politischer Kunst in der Moderne

 

Uwe Hebekus

»Eine dauernd arbeitende Selbstreinigungsapparatur«

Zum ästhetischen Fundament der nationalsozialistischen Bewegung

 

Bojana Pejic

Frauen und Kunst in Osteuropa

Damals und heute

 

Daniel Hornuff

»It’s time…«. Vom engagierten Kitsch im politischen Videoclip

 

Andreas Huyssen

The Garden as Ruin

 

Pipo Nguyen-duy

The Garden. Photographien

 

Peter Demetz

Brünner Kinoerinnerungen

 

Klimapolitik

 

Sebastian Oberthür

Globale Klimapolitik nach Cancún

Optionen für eine Führungsrolle der EU

 

Klaus Dörre

Grüner Kapitalismus – Ein Ausweg aus der Krise?

 

Timothy Snyder

Klimawandel und Gewalt

Wird die globale Erwärmung Völkermorde entfesseln?

 

Dipesh Chakrabarty

Verändert der Klimawandel die Geschichtsschreibung?

 

Thomas Schmid

Hektische Nähe

Journalismus und Politik

 

Paul Starr

Die unerwartete Krise der Vierten Gewalt

 

Zu den Autorinnen und Autoren

Cornelia Klinger

KUNST – GESELLSCHAFT – POLITIK

Zur Einführung

 

 

 

 

In den Jahren 2008 bis 2010 veranstaltete das IWM mit freundlicher Unterstützung des Renner-Instituts eine Reihe von Vorträgen unter dem denkbar einfallslosen Titel Kunst – Gesellschaft – Politik. Drei unvermittelt aneinander gereihte Allerwelts-Hauptwörter, noch dazu im verpönten Singular – wo wir doch längst wissen, dass es die/eine Kunst, die/eine Gesellschaft, ganz zu schweigen von der/einen Politik nicht mehr gibt, nie gegeben hat und überhaupt nicht geben kann, sondern nur die unübersichtliche Fülle, die bunte Vielfalt, die irreduzible Pluralität von Künsten, Gesellschaften, Politiken usw. – oder vielleicht auch gar nichts von alle dem. In einer Zeit, in der für alles und nichts geworben werden muss, in der das Ringen um Aufmerksamkeit zum Imperativ für jede Art von öffentlicher Veranstaltung wird, scheint ein so nichtssagender Titel jedenfalls eine fatale Marketingstrategie.

Die Wahl der Worte weist nicht unabsichtlich zurück auf die »Sattelzeit« der westlichen Moderne. In den Jahrzehnten vom späten 18. Jahrhundert bis ins erste Viertel des 19. Jahrhunderts haben sich die Grundbegriffe der politisch-sozialen Sprache der Moderne entwickelt; sei es, indem klassische Topoi einen tiefgreifenden Bedeutungswandel erfuhren, sei es, dass neue Begriffe gebildet wurden.1 Während sich im Verlauf der Neuzeit die überkommene Einheit der scientiae et artes allmählich auflöste und sich die Wege von Wissenschaften und Künsten trennten, verbanden sich die bis dahin disparaten Künste der Malerei und Bildhauerei, der Musik und Literatur sowie Architektur, zu einem einheitlichen System der Kunst. Damit integrierten sich die Künste auf ähnliche Weise zum Singular wie die Geschichte und die Gesellschaft, während die Politik unter dem Vorzeichen von Demokratisierung ganz neue Bedeutung annahm. Mit anderen Worten, die Prozesse der Ausdifferenzierung eigengesetzlicher Wertsphären bzw. Subsysteme der modernen Gesellschaft und der Agglomeration neuer »Kollektivsingulare« verlaufen parallel zu einander.

In diesem Kontext ist es die mit moderner Technologie und Industrie assoziierte Wissenschaft, welche die Stellung des leitenden gesellschaftlichen Wissensdiskurses übernimmt und bis heute – da sich die Gesellschaft explizit als »Wissensgesellschaft« bezeichnet – behält. Dagegen rückt die vergleichsweise lange handwerklich organisierte Kunst so weit an den Rand der gesellschaftlichen Funktionszusammenhänge, dass sie von diesen überhaupt befreit zu sein scheint. Positiv gewendet bedeutet das: Im Verhältnis zu den anderen, sich in funktional unterschiedene Subsysteme ausdifferenzierenden Gebieten der modernen Gesellschaft entwickelt die Sphäre der Kunst einen höheren Grad an Autonomie und in weiterer Folge Alterität, das heißt Andersartigkeit, Fremdheit gegenüber der Gesellschaft. In der Alterität des ästhetischen lässt sich die Idee des autonomen modernen Subjekts in höherem Masse realisieren als in allen anderen Bereichen – wenn auch nur in der Ausnahme-Gestalt des Künstlers: Vom Dienst an Thron und Altar, von der Aufgabe der Repräsentation sakraler oder der Verherrlichung weltlicher Macht ebenso entbunden wie von der Verpflichtung auf die Wirklichkeit, sei es als Nachahmung der Natur, sei als Beitrag zur Verschönerung des Lebens oder zur Unterhaltung des Publikums, hat der moderne Künstler keine andere Aufgabe als dem Ausdruck zu verleihen, was er in sich selbst findet. Auf die Frage, was der Künstler in seinem Inneren (das auf diese Weise erst konstituiert wird) findet, gibt es zwei Antworten: Entweder sind es die reinen, objektiven Gesetze der Formen, der Farben, der Töne, der Sprache, kurzum des »ästhetischen Materials«, oder es sind die subjektiven Visionen und Imaginationen seiner Fantasie, seines authentischen Erlebens, die in Worte, Klänge und Bilder zu übersetzen, die eigene und einzige Aufgabe des Künstlers ist. Damit eröffnen sich zwei – auf den selben Grundlagen basierende, aber doch entgegengesetzte – Positionen, die für die weitere Entwicklung der modernen Kunst prägend sind: die Ausbildung einer eigengesetzlichen, zweckfreien und selbstreferentiellen Formenwelt auf der Objekt- bzw. Werkseite und die Positionierung des authentischen, exzentrischen, exaltierten Ich des Künstlers auf der Subjekt- bzw. Akteurseite.

Insofern die Entwicklung der modernen Gesellschaft grundsätzlich in Richtung Ausdifferenzierung relativ autonomer Teilsysteme verläuft, ist die Alterität von Kunst und Künstler gegenüber der Gesellschaft ein Reflex der gesellschaftlichen Entwicklung. Insofern als die relative Autonomie im Fall der Kunst besonders ausgeprägt ist, eröffnet sich die Möglichkeit der Reflexion der gesellschaftlichen Verhältnisse durch Kunst und Künstler. Diese aus der Distanz gegenüber der Gesellschaft resultierende Option zu ihrer Reflexion enthält zugleich ein Potential zur Negation bzw. zur Kritik der Gesellschaft, was – vereinfachend zusammengefasst – in drei Richtungen führen kann: Am leisesten ist die Kritik in der Ausformung einer (wie auch immer ausgestalteten) ästhetischen Anders-Welt, die, ihren eigenen Regeln und Gesetzen gehorchend, einen Rückzugsort von der Gesellschaft bieten soll. Reaktionäre Perspektiven entstehen, wenn im Medium des Ästhetischen gesucht wird, was die moderne Gesellschaft verloren, hinter sich gelassen oder vernichtet hat. Wenn umgekehrt in der Alterität der Kunst ein Weg zur Entfaltung der Erwartungen und Hoffnungen gesehen wird, welche die moderne Gesellschaft geweckt, aber doch nicht, noch nicht eingelöst hat, dann kann die Kunst den Vorschein eines besseren Morgen zeigen, zur Vorhut einer neuen Gesellschaft werden, zu einer Avantgarde auf dem Marsch in eine schönere Zukunft.

nicht im Dienst an den bestehenden Verhältnissen, nicht in der affirmierenden, grundsätzlich affirmativen Repräsentation gesellschaftlicher Macht und politischer Herrschaft, vielmehr in der nostalgischen Sehnsucht nach oder im entschlossenen Engagement für eine radikal andere Gesellschaft entwickelt Kunst in der Moderne politische Züge, die von einem ›realpolitischen‹ Standpunkt aus allemal fragwürdig erscheinen: dilettantisch illusionär, utopisch, lächerlich – und unter Umständen sogar gefährlich. Dass das alteritäre Potential der Kunst gleichwohl durch reale gesellschaftliche Interessen und politische Parteien gebraucht und missbraucht werden kann, hat sich im Verlauf des zwanzigsten Jahrhundert ebenso gezeigt wie die unumstößliche Tatsache, dass Kunst trotz der ihr eigenen Distanz zur modernen Gesellschaft nicht aufhört, deren Züge zu tragen, so dass der Anspruch von Kunst auf das ›richtige‹ Leben immer auch am ›falschen‹ teilhat.

*

 

Der Geschichte und der Transformation des Verhältnisses zwischen Kunst und Gesellschaft im Allgemeinen und namentlich dem Schicksal der engagierten Kunst, der Relation von Kunst und Politik gilt das Interesse des hier vorgestellten Projekts.

Gewiss ist das hier skizzierte idealtypische Konstrukt der ästhetischen Ideologie der Moderne im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts aus den verschiedensten Gründen und in den unterschiedlichsten Hinsichten in Frage gestellt, in Zweifel gezogen, attackiert und unterminiert, ja fast bis zur Unkenntlichkeit zerrieben, zerrissen worden; es hat sich so gut wie restlos verschlissen und scheint beinahe erledigt. Aber doch nicht ganz. Wenn die Vortragsreihe und die an sie anschließende Publikation den Versuch unternehmen, den Weg der durch die Leitbilder von Autonomie, Authentizität und Alterität geprägten Kunst auf ihrer Gratwanderung zwischen andersweltlicher Distanz und politischem Engagement für eine andere Welt durch das zwanzigste Jahrhundert hindurch und bis in die Gegenwart hinein zu verfolgen, dann vor allem deswegen, weil sich die Grundzüge dieser Konzeption unter gänzlich veränderten Bedingungen durchhalten bzw. unerwartet wieder auftauchen. Dies gilt nicht ausschließlich, aber in auffallender Weise für die im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts besonders exponierte und entsprechend besonders desavouierte engagierte bzw. politische Kunst. Vielfach beargwöhnt und oft totgesagt, erregen in der Kunst der Gegenwart Phänomene, Werke, Ereignisse und Kommentare Aufmerksamkeit, die sich dieser Traditionslinie der modernen Kunst zuordnen lassen – oder vielleicht auch nicht?

So wenig wie es die/eine Kunst, Gesellschaft oder Politik gab, gibt oder jemals geben kann, so wenig kann es die/eine Theorie der gesellschaftlich engagierten, politischen Kunst geben, und entsprechend heterogen sind die im projektierten Band versammelten Texte. Unser Ziel ist es, einen möglichst weiten Blick auf das äußerst breite Spektrum von Ansätzen zu werfen, die es heute zu diesem Themenkomplex gibt. Es geht darum, der Unterschiedenheit der Künste Rechnung zu tragen, von den traditionellen ästhetischen Ausdrucksformen bis zu den durch neue Technologien eröffneten Gestaltungsmöglichkeiten. Das Interesse einiger Aufsätze gilt der problematischen Geschichte der politischen Ästhetik in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie versuchen, die Zusammenhänge und Brüche zwischen Avantgarde, Neo-Avantgarde und Post-Avantgarde zu beleuchten, aber auch die dunklen Punkte der ästhetischen Politik der totalitären Regime (namentlich des Nationalsozialismus) vor den Blick zu bringen. Andere Beiträge befassen sich mit der gesellschaftlichen Verfasstheit von Kunst in den ihrer Vermittlung dienenden Institutionen (z.B. Museum). Es stellen sich die ›alten‹ Fragen, die gerade im Kontext gesellschaftlich und politisch engagierter Kunst immer wieder gestellt wurden: nach dem Realismus und der Breitenwirksamkeit, nach dem Verhältnis zwischen Hoch- und Populärkultur, Kunst und Kitsch. Und schließlich treten unter den Stichworten Feminismus und Postkolonialismus neue Themenfelder engagierter Kunst und Kunsttheorie ins Zentrum.

Der aus den Vorträgen der Veranstaltungsreihe und weiteren Beiträgen gestaltete Band wird 2012 im Rahmen der Wiener Reihe – Themen der Philosophie im Akademie Verlag in Berlin erscheinen. Unter dem einfallslosen Titel »Kunst – Gesellschaft – Politik«? Eine Auswahl von Beiträgen erscheint hier im Vorabdruck.


1 Vgl. Reinhart Koselleck, Einleitung zu: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Bd. 1, Stuttgart 1979; Raymond Williams, Culture and Society 1780-1950, New York: Columbia UP 1983.

Verena Krieger

AMBIGUITÄT UND ENGAGEMENT

Zur Problematik politischer Kunst in der Moderne

 

 

 

 

Im Rahmen der Istanbul Biennale 2001 hat die bosnische Künstlerin Maja Bajeviá als dritten Teil einer Serie »Women at work« eine Performance unter dem Titel »Washing up« aufgeführt, bei der sie zusammen mit drei bosnischen Flüchtlingsfrauen »heroische« Parolen des früheren jugoslawischen Staatspräsidenten Tito auf große Tücher stickte und diese dann in einem Hamam über fünf Tage hinweg immer wieder mit schmutzigem Wasser wusch und zum Trocknen aufhängte, sodass die Tücher allmählich immer dunkler und zerschlissener wurden, zugleich die Schrift immer mehr verblasste (Abb. 1). 1 Diese Performance, die in einem Video dokumentiert ist, bringt die großen Themen Krieg, Flucht, das Ende Jugoslawiens und die Arbeit der Frauen in einen dichten Zusammenhang, der aber keinen auf den ersten Blick erschließbaren Sinn und keine klar entschlüsselbare Botschaft ergibt.


Abb. 1 Maja Bajevic, Women at work 3: Washing up, Performance, Istanbul 2001

Wurden Titos Parolen über die strahlende Zukunft Jugoslawiens deshalb so liebevoll aufgestickt, weil sie eine bessere Vergangenheit repräsentieren oder um ihre Künstlichkeit zu unterstreichen? Wurden die Tücher in Schmutzbrühe gewaschen, um ihre Verlogenheit zu entlarven oder um den Zerfall Jugoslawiens visuell nacherlebbar zu machen? Handelt es sich bei dem quasi-rituellen Waschvorgang um den Versuch, einen Heilungsprozess in Gang zu setzen, oder waschen hier nur wieder einmal Frauen den Dreck weg, den andere gemacht haben?

Bajeviás Arbeit ist exemplarisch: In der zeitgenössischen Kunst spielen gesellschaftspolitische Themen wie Globalisierung, Armut, Ökologie oder Rassismus eine bemer­kenswert prominente Rolle, man könnte von einem regelrechten Boom »engagierter« Kunst sprechen – dabei ist jedoch auffällig, dass systematisch Strategien zur Vermeidung von Eindeutigkeit eingesetzt werden. Zwar handelt es sich um »engagierte Kunst« in dem Sinne, dass die KünstlerInnen damit durchaus ein soziales oder politisches Engagement verbinden, weder eine gleichgültig-deskriptive noch eine rein ästhetische Haltung zu den verhan­delten Gegenständen ein­nehmen, doch hat diese engagierte Kunst einen vollkommen anderen Charakter als wir es von früheren Beispielen engagierter Kunst kennen: An die Stelle mühelos erschließ­barer politischer Bot­schaften sind komplexe, ambivalente, übercodierte oder vollends unbestimmte Zeichen­konglome­rate getreten, die den Rezipienten ein Höchstmaß an Auseinanderset­zungsbereit­schaft und -fähigkeit abverlangen und vielfach auch nach längerer Deutungsaktivität nicht auf eine bestimmte Aussage hin entschlüsselbar sind. Politisches Engagement und ästhetisches Verfahren treten so in eine Spannung, die charakteristisch ist für die zeitgenössische Kunst.

Konfliktuelle Koexistenz

Historisch betrachtet, sind beide Phänomene – der politisch enga­gier­te Künstler und die Ambiguität der Kunst – Hervorbringungen der Moderne: Beide hängen unmittelbar zusammen mit der Autonomisierung der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft. Durch sie ist der Künstler frei geworden für eigenes gesellschafts­politi­sches Engagement jenseits der Interessen von Auftraggebern. Ab den 1840er Jahren, als frühsozialistisches Gedankengut in die entstehende Künstler­bohème einsickerte, entstand die moderne Konzeption des engagierten Künstlers als Außenseiter, Kritiker und Revolutionär, den die Avantgarden des 20. Jahrhunderts radikalisierten, indem sie künstlerische Innovationen mit Gesellschaftskritik verbanden. Der »kritische Künstler«, die »kritische« Funktion von Kunst ist seither zu einem Paradigma der Moderne geworden. Auch wenn Parteilichkeit und universeller Anspruch in der Kunst der letzten Jahrzehnte an Bedeutung verloren haben,2 gibt es heute bemerkenswert viele KünstlerInnen, die sich in einer sozialen und politischen Verantwortung sehen.

Parallel zum engagierten Künstler entstand die moderne Konzeption der Ambiguität der Kunst.3 Seit dem aus­ge­henden 18. Jahrhundert gelten Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit als Grundcharakteristikum des Ästhetischen, mehr noch: ist die Kunst zur »Institution von Ambi­gui­tät« (Berndt/Kammer) geworden.4 In der modernen Kunst­theorie von Kant bis Adorno, von Novalis bis Eco, von Nietzsche bis Rancière gelten denn auch Offenheit, Rätselhaftigkeit und Uneindeutigkeit als essentiell für die Kunst. Im aktuellen Kunstdiskurs ist die Ambiguität der Kunst längst zum Stereotyp abgesunken – mit der einfachen Feststellung, ein Werk sei »ambiva­lent« oder »vielschichtig«, ist es bereits geadelt. Ambiguität ist also eine ästhetische Norm, die zwar kaum je als Norm explizit ausgesprochen wird, doch gerade daraus ihre Wirksamkeit bezieht. Als Paradigma, das dem gesamten Konnex von künstlerischer Praxis, Kunsttheorie, Kunst­kritik und kunstwissen­schaft­licher For­schung zugrunde liegt, erzeugt sie einen tautologi­schen Kreis­lauf wechsel­seitiger Bestätigung.5

Eine Konsequenz dieses Aufstiegs der Ambiguität zum Signum des Ästhetischen besteht darin, dass politisches Engagement in der Kunst problematisch geworden ist. Politische Kunst scheint etwas Anrüchiges zu haben. Ein Kunstwerk mit eindeutiger politischer Aussage setzt sich dem Verdacht aus, Propaganda zu sein und geht damit potentiell seines Kunstcharakters verlustig. Da Ambi­guität als das Qualitätsmerkmal von Kunst und als Garantin künst­lerischer Auto­nomie gilt, stehen politisches Engagement und Kunst in einem strukturellen Widerspruch – das ist der Grund, weshalb ich von einer »Problematik« politischer Kunst in der Moderne spreche.

In der gesamten Kunstgeschichte der Moderne haben beide widerstreitenden Paradigmen eine konfliktuelle Koexistenz geführt. Die Antinomie von Ambiguität und Engagement ist daher auch ein zentrales Problem der Kunsttheorie. Einen Höhepunkt der diesbezüglichen Bewältigungsstrategien aus moderner Perspektive stellt die Ästhetik von Adorno dar.6 Demgegenüber hat die Postmodernedebatte der 1980er Jahre eine wichtige Verschiebung der Parameter gebracht. Durch sie erfuhr die Ambiguität nicht nur eine massive Aufwertung, sondern ich möchte behaupten, dass sie heute die Leerstelle füllt, die die von der Klassischen Moderne verabschiedete Schönheit hinterlassen hat. Anders als in der Klassischen Moderne, als der herrschende Kunstbegriff der Schönheit von den Avantgarden höhnisch attackiert wurde, wird der herrschende Kunstbegriff der Ambiguität heute von den Neo- und Postavantgarden geteilt, gilt Ambiguität auch enga­gierten KünstlerInnen als anzustrebende Qualität. Gleichzeitig und damit zusammenhängend wurde in den letzten Jahren auch das Ästhetische enorm aufgewertet – freilich nicht im klassischen Sinne von Schönheit, sondern als Sinnlichkeit. Vor diesem Hintergrund stellt die Kunstphilosophie von Jacques Rancière, die der Kunst eine in ihrer »sinnlichen Differenz« fundierte Potentialität, »widerständig« zu sein, konzediert, einen neuen Ansatz dar, das Ambigue des Ästhetischen mit politischem Engagement theoretisch zusammen zu denken.7

In ihrer Praxis agieren politische Künstler/innen jedoch weiterhin in einem antinomischen Feld. Sie entwickeln dabei mehr oder minder erfolgreiche Strategien, mit dem Konflikt zwischen Ambiguität und Engagement produktiv umzugehen und das Verhältnis der widerstreitenden Paradigmen neu auszuhandeln. Wie das Zusammenspiel von ambiguen Elementen und gesellschaftspolitischem Gehalt konkret funktionieren kann, möchte ich im Folgenden an einigen Exempla engagierter Kunst analysieren. Mein Zugang ist dabei weniger historisch als systematisch. Mit vier Kategorien, die sich um weitere ergänzen ließen, möchte ich das Spektrum der Funktionsweisen und Funktionen von Ambiguität in politischen Kontexten einer ersten Sichtung unterziehen.

Evokation des Widerspruchs

Dieses Verfahren lässt sich gut aufzeigen am Klassiker der engagierten Kunst, dem künstlerisch-politischen Plakat, und ein klassisches Beispiel der politischen Plakatkunst ist John Heartfields berühmte Fotomontage »Adolf der Übermensch: Schluckt Gold und redet Blech« (1932) (Abb. 2). Hier wird gespielt mit dem vexierbildhaften Wechsel zweier Perspektiven – Inneres und Äußeres der Person Hitlers – wobei der Blick nach innen auf die aus Münzen gebildete Wirbelsäule und das Hakenkreuz-Herz gewissermaßen sein »wahres Wesen« offenbart. Die Textzeile »Adolf der Übermensch – schluckt Gold und redet Blech« ist ebenso ambivalent strukturiert wie die Bildcollage. Zwar greift sie den vom NS arisch umgedeuteten »Übermensch«-Mythos auf, aber nur, um ihn in der zweiten Satzhälfte zu desavouieren. Als weitere Sinnebene verweisen die Münzen darauf, dass Hitler vom deutschen Großkapital finanziert wurde, stellen ihn ikonographisch in die Rolle des käuflichen Verräters.

 


Abb. 2 John Heartfield, Adolf der Übermensch: Schluckt Gold und redet Blech, Plakat, 1932


Abb. 3 Martha Rosler, Fotomontage aus der Serie »Bringing the War home«, 1967-72

Dem korrespondiert der Text mit dem Verweis auf das geschluckte Gold. Die politische Botschaft ist also recht eindeutig, aber sie bedient sich dabei ambiguer Wahrnehmungsangebote.

Heartfields Vorbild wurde in den 1960er Jahren aufgegriffen, etwa von Martha Rosler, die in einer Collagenserie »Bringing the War home« (1967-72) Kriegsbilder aus Vietnam in die Wohnraumidyllen amerikanischer Kleinbürger hinein montierte (Abb. 3). Sie verarbeitete dabei Bilder aus Massenmedien und publizierte ihre Fotomontagen wiederum in politischen Zeitschriften, also zunächst jedenfalls nicht im Kunstkontext. Vielfach wird, wie hier, die Vorhangperspektive eingesetzt, die den Blick aus einem harmlos-»hübschen« Innenraum in den trostlosen Außenraum lenkt, wobei Panzer und am Wegrand liegende Leichen erst auf den zweiten Blick erkennbar sind. Anders als bei Heartfield werden hier nicht gegensätzliche Perspektiven zusammen montiert, damit diese sich wechselseitig erhellen, sondern die Kombination von Gegensätzen dient der Erzeugung eines Schockmoments. Es ist die einfachste, gleichzeitig auch sehr effektvolle Form bildlicher Ambiguität, die hier offenkundig im Dienste einer klaren politischen Aussage steht. Aber auch in diesem Fall ist eine Entschlüsselung erforderlich, die vom Rezipienten zu leisten ist.

In den 1980er Jahren entstand demgegenüber im Zuge der Postmodernedebatte das Bedürfnis nach Reduktion der Eindeutigkeit und Entschlüsselbarkeit. Charakteristisch für diese Tendenz ist Barbara Kruger, die in ihren Plakatarbeiten Ambiguität regelrecht kultiviert. Bei ihrem Plakat »Your gaze hits the side of my face« (1981, Abb. 4) haben wir es wieder mit einer Text-Bild-Collage zu tun, allerdings ist die Interpretationsleistung, die dem Betrachter zugemutet wird, wesentlich komplexer. Dabei sind Bild und Text und ihre Beziehung zueinander zunächst scheinbar eindeutig: »Your gaze hits the side of my face« ist ein grammatikalisch korrekter, klarer Satz. Die Profilansicht einer Frauenbüste ist ein klar identifizier­bares Motiv. Und durch die Präsentation der seitlichen Ansicht der Büste wird eine direkte Beziehung zwischen Bild und Schrift hergestellt. Der Betrachter versteht, dass das Plakat beschreibt, was er gerade tut: dass er seinen Blick auf das weibliche Antlitz richtet. Mit dieser klaren Feststellung fängt die Unklarheit aber erst an, denn: Weshalb überhaupt wird ihm diese tautologische Mitteilung gemacht? Und: Weshalb wird seinem Blick durch die Aussage, dass er auf das Gesicht schlage, eine gewalttätige Dimension zugeschrieben? Das Plakat thematisiert die strukturelle Gewalt des männlich-voyeuristischen Blicks auf den weiblichen Körper, eines Blicks, der den Beschauer als Subjekt und die Beschaute als Objekt konstituiert. Es thematisiert dies aber nicht direkt, sondern in einer Weise, die den Betrachter anregen soll, seinen eigenen Blick und das, was er bewirkt, selbst zu beobachten. Die Ambiguität dieser Arbeit ist also Produkt einer Strategie der Verkomplizierung, und deren erwünschte Folge ist wiederum eine Steigerung der Betrachteraktivität.

Letztes Beispiel der Kategorie der Evokation des Widerspruchs ist eine bekannte Arbeit vom Beginn des 21. Jahrhunderts: das Plakat »Bosnian girl« (2003) der bosnischen Künstlerin Šejla Kameriá (Abb. 5). Konfrontiert wird ein Graffiti, das ein holländischer Soldat im Winter 1994/95 auf die Wand einer Armeebaracke bei Srebrenica geschrieben hat, mit einem Porträt der Künstlerin selbst. Ausleuchtung und Make-up unterstreichen ihre ätherische Schönheit und mädchenhafte Fragilität, ihre Mimik ist ernst, fragend und vorwurfsvoll. Kleine, aber deutlich lesbare Unterzeilen fügen die Information hinzu, dass es sich beim Autor dieser Zeilen um einen Angehörigen eben jener Armee handelte, die als Teil der UNO-Schutztruppen verantwortlich für die Sicherheit der Umgebung von Srebrenica war.

 


Abb. 4 Barbara Kruger, Your gaze hits the side of my face, Plakat, 1981


Abb. 5 Šejla Kamerić, Bosnian girl, Plakat, 2003

Die Botschaft dieser Arbeit ist mit einem relativ einfachen Entschlüsselungsakt zu entziffern: der herabwürdigende, gleichermaßen rassistisch wie misogyne Soldatenwitz wird einerseits durch die Konfrontation mit dem makellosen Frauenbildnis der Unwahrheit überführt und gleichzeitig als Pflichtvergessenheit im Hinblick auf den Schutzauftrag desavouiert. Anders als beim klassischen Emblem treten Motto und Bild nicht in eine Beziehung wechselseitiger Erklärung und Bestätigung, sondern in einen Widerspruch – wobei die Konfrontation eindeutig darauf abzielt, das »Motto« zu denunzieren.

Solche Über- und Gegeneinanderprojektion von Text und Bild bzw. von Bild und Bild ist allen vier Plakatarbeiten gemeinsam. In diesem ästhetischen Verfahren liegt ein doppelter Effekt: Einerseits bewirkt es eine Aktivierung des poetisch-ästhetischen Eigenwerts gegenüber dem zu vermittelnden Sinn, ermöglicht also eine intensive Wahrnehmungsarbeit – und gleichzeitig zielt es auf eine intensive Deutungsarbeit, also letztlich auf eine Anregung des Rezipien­ten zu Selbst-Aufklärung und kritischer Reflexion. Es findet also eine Ambiguierung statt, aber die Ambiguität steht im Kontext eines emanzipatorischen Programms. Wenn, wie Klaus Weimar schreibt, Ambiguität eigentlich nichts anderes ist als eine »Modifikation der Eindeutigkeit«8, also lediglich ein etwas umständlicherer Weg zum Ausdruck einer letztlich entzifferbaren Botschaft, so trifft dies für die Arbeiten, die auf die Evokation des Widerspruchs abzielen, zu. Einzig Barbara Krugers Plakat vermittelt zwar eine erschließbare Bedeutung, doch enthält diese in ihrer Komplexität einen nicht entzifferbaren, offen bleibenden »Rest«, sodass sie das Modell von Ambiguität als »Modifikation der Eindeutigkeit« ihrer Struktur nach überschreitet.

Subversive Affirmation

Eine vollkommen andere Form der Aktivierung von Ambiguität im Kontext engagierter Kunst ist die in großer terminologischer Vielfalt9 auftretende Idee der künstlerischen Subversion, die sich in künst­lerischen und intellektuellen Kreisen seit den 1980er Jahren unverminderter Beliebtheit erfreut.10 Der Begriff »Subversion« fehlt im Wörterbuch geschichtlicher Grundbegriffe ebenso wie im Wörterbuch ästheti­scher Grundbegriffe, obwohl er in beiden mit Fug und Recht einen Platz beanspruchen könnte. So steht trotz erster Ansätze11 eine begriffsgeschichtliche Aufarbeitung noch aus. 12 Von lateinisch subvertere (umstürzen) stam­mend, bezeichnete der Begriff ursprünglich den Umsturz der Staatsordnung – so wurde er von herrschender Seite verwendet, wenn es um die Kennzeichnung oppositioneller Betätigung ging, und so verwendete ihn auch Karl Marx, als er 1844 in seiner Einleitung zur Kritik der hegelschen Rechts­philosophie vom »kategorischen Imperativ« sprach, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«.13 Subversion ist hier gleichbedeutend mit Revolution. Fast 150 Jahre später rückte Johannes Agnoli in seiner Vorlesung über »Subversive Theorie« (1989/90) den Begriff in einen anderen Bedeutungshorizont, indem er Subversion als Form des Überwinterns in gegenrevolutionären Zeiten definierte: »Die Subversion ist eine Arbeit auf die Revolution hin, sie ist nicht die Revolution selbst – doch ist sie notwendig, um der Revolution behilflich zu sein in der schwierigen Zeit des Überwinterns. (…) eine sehr harte, mühselige Maulwurfsarbeit.«14

Zwischenzeitlich, vor allem in den 1960er Jahren im Zuge der Studentenbewegung, hatte der Begriff der Subver­sion nicht nur eine besondere Beliebtheit15, sondern auch einen Bedeutungswandel erfahren. Eine zentrale Rolle in diesem Zusammenhang spielte die Situationistische Internationale um Guy Debord, der in seinen Schriften die kapita­listische Waren­­kultur als entleertes Spektakel bes­chrieb, das in der totalen Ent­fremdung der Individuen münde.16 Obwohl sich die Situationistische Internationale als marxistisch-revolutionäre Bewegung verstand, brach sie mit dem klassischen Partei- und Revolutionsmodell. Sie verschob das Handlungsfeld weg von den klassischen politischen Aktionsbühnen (Parlament, Betrieb) hin zur alltäglichen Lebenspraxis, und an die Stelle des direkten Angriffs setzte sie indirekt funktionierende Handlungsstrategien: das Dérive (Umherschweifen im öffentlichen Raum mit einer kritischen Beobachtungsperspektive) und das Détournement (die Aneig­nung und Verfremdung vorgefundener Sinnzusam­men­hänge); d.h. konkret, mittels kleiner Eingriffe wie z.B. Überklebungen oder Übermalungen von Plakaten dekonstruktive Effekte zu bewirken. Theoretiker wie Umberto Eco, Jean Baudrillard und Roland Barthes begleiteten diesen neuen Typ von Politik mit der Auffassung, wonach politische Opposition einzig als Angriff auf die symbolische Ordnung mittels der Verfremdung bestehender Zeichen zu realisieren sei.17 Im Verständnis der Situationistischen Internationale und der von ihr beeinflussten Milieus ist Subversion nicht mehr ein großer revolutio­närer Akt in der Zukunft, sondern in den vielen kleinen Aktionen der Gegenwart universell präsent.18

Damit hat der Subversionsbegriff gegenüber dem 19. Jahrhundert sowohl eine Bedeutungserweiterung als auch eine Bedeutungsverschiebung erfahren: eine Erweiterung vom politischen auf das ästhetische Feld; und eine Bedeutungsverschiebung, insofern er nicht mehr die große revolutionäre Umwälzung charakterisiert, sondern oppositionelle Umtriebe aus der Defensive und dem Verborgenen heraus. Subversion wurde so zum Gegenmodell zu traditionellen Formen politischer Opposition – sowohl denen des direkten offenen Angriffs wie Protest, Streik, Demonstration, Straßenkampf, als auch denen des partizipatorischen Aushandelns wie parlamentarische Arbeit, Tarifverhand­lungen etc. In Abgrenzung zu letzteren beinhaltet Subversion die grundsätzliche Weigerung, am herrschenden Konsens zu partizipieren, in Abgrenzung zu ersteren beinhaltet sie den Verzicht darauf, dieses prinzipielle Nicht-Einverstanden-Sein offen zu demonstrieren und auszuagieren. Diese Koppelung von radikaler Opposition einerseits und deren Verbergen bzw. nur indirektem Ausagieren andererseits impliziert ein Höchstmaß an Spannung. Explizit wird dieses der Subversion inhärente Spannungsmoment in der für bestimmte künstlerische Strategien geläufig gewordenen terminologischen Verbindung von Subversion und Affirmation. Setzt Subversion eine Tarnung voraus, so realisiert sich diese in der (scheinbaren) Affirmation.

Der Effekt subversiver Affirmation ist seit den 1980er Jahren unterschiedlichsten AkteurInnen der Hoch- und Populär­­kultur, von Andy Warhol bis Hans Haacke19, von Madonna20 bis zur slowenischen Band Laibach21 zugeschrieben worden. Gemeinsam ist diesen, genauer gesagt: den ihnen zugeschriebenen Pro­gram­men bei allen Unterschieden, dass sie auf einer Doppelstruktur von (scheinbarer) Affirmation und (tatsächlicher) Nicht-­Affirmation basieren, wobei die affirmierende Präsentation vordergründig dominant ist, jedoch durch subtile Mechanismen ein deaffirmierender Effekt erzeugt wird. Subversive Affirmation als künstlerische Strategie funktioniert also vermittels des schillernden Spiels mit Affirmation und dem Unterlaufen der Affirmation. Anders als bei der Evokation des Widerspruchs entsteht hier das kritische Moment nicht als Produkt einer zündenden Begegnung zweier gegensätzlicher Elemente, die ein Drittes hervorbringen, sondern durch den Umschlag einer nur vordergründigen Bedeutung in ihr Gegenteil. Subversive Affirmation ist somit, wenn man so will, die radikalste Form von Ambiguität bei politischer Kunst schlechthin.

Allerdings ist es durchaus strittig, inwiefern den kulturellen Praktiken einer Madonna oder eines Andy Warhol tatsächlich ein subversives Moment eigen ist. Teils wurde diese Zuschreibung enttäuscht zurückgenommen,22 teils fallen die Beurteilungen schlicht kontrovers aus. Damit ist die grund­sätzliche Problematik der Subversiven Affirmation angesprochen: die tendenzielle Unentscheid­bar­keit ihres subversiven oder affirmativen Charakters. Sylvia Sasse hat dieses Problem folgendermaßen beschrieben: »Die Gefahr und auch der Reiz subversiver Affirmation besteht darin, dass sie als solche nicht erkannt wird, sondern – ohne jegliche Auflösung – als bloße Nachahmung rezipiert wird.« 23 Ich möchte einen Schritt weiter gehen und behaupten, dass Subversive Affirmation grundsätzlich paradox strukturiert ist: Einerseits muss sie entschlüsselbar sein – denn sie kann ihren subversiven Effekt nur entfalten, wenn RezipientInnen sie als subversiv verstehen –, und anderer­seits darf sie nicht zu leicht entschlüsselbar sein – denn dann wäre sie keine subversive Affirmation mehr, sondern Propaganda.

Nach diesen theoretischen Überlegungen möchte ich das Problem der Subversiven Affirma­tion an einem charakteristischen Beispiel diskutieren, an Christoph Schlingensiefs berühmt gewordener Aktion »Auslän­der raus/Bitte liebt Österreich«, die er im Jahr 2000 im Rahmen der Wiener Festwochen durchgeführt hat (Abb. 6).24 Zwölf ver­meint­liche Asylwerber lebten eine Woche lang öffentlich in Containern, die von einem großen Schild mit dem Schriftzug »Ausländer raus« gekrönt waren, das Publikum konnte täglich per Abstimmung entscheiden, wer von ihnen abgeschoben wird. Die Container waren mit FPÖ-Plakaten und SS-Zitaten dekoriert, und Schlingensief selbst proklamierte rassistische Sprüche von Jörg Haider. Die Aktion themati­sierte also Fremdenfeindlichkeit, indem sie Fremdenfeind­lichkeit agierte, und dies wiederum unter Anwendung des populären Medienformats der Realityshow. In öffentlichen Erklärungen von Festwochenleiter Luc Bondy und Schlingensief selbst wurde der Sinn dieser Aktion – der österreichischen Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten – bekannt gegeben. Die Idee war, mittels radikaler Kritik in Gestalt radikaler Affirmation einen kathartischen Effekt auszulösen, der letztlich wiederum einen Umschlag von Affirmation in Kritik hervorbringen sollte.


Abb. 6 Christoph Schlingensief, Ausländer raus – bitte liebt Österreich, 2000 (Standbild aus dem Film von Paul Poet)

Trotz dieser ambiguen Grundkonstellation schien die Aktion in ihrem drasti­sch vor­geführten Rassismus absolut eindeutig zu sein – so eindeutig, dass Teile des Publikums begeistert einstiegen und tatsächlich über die Abschiebungen abstimmten (die Dunkel­häutigen traf es zuerst), während andere moralisch empört reagierten und sogar eine Aktion zur Befreiung der Flüchtlinge starteten.

Woran aber konnte der/die kritische Zeitgenoss/in überhaupt erkennen, dass es sich um subversive Affirmation handelte? Eine Antwort auf diese Frage findet man in der antiken Rhetorik. Denn die scheinbare Affirmation ist natürlich keine Erfindung der Moderne, sondern seit der Antike als taktisches Mittel in der politischen Auseinandersetzung geläufig. So hat Quintilian in seiner Redeschule die rhetorische Figur der ironia als eines absichtsvollen uneigent­lichen Sprechens in Tropen oder Figuren, bei denen genau das Gegen­teil des Gesagten ausgedrückt werden soll, eingehend reflektiert.25 Zu ihren Methoden gehören amplificatio (Übersteigerung) und minutio (Verkleinerung), simulatio (vortäuschen) und dissimulatio (sich dumm stellen).26 Für uns interessant ist die ironische simulatio, bei der eine Meinung nur vorge­täuscht wird – in heutige Termi­no­logie übersetzt ist es die Subversive Affirmation. Schon Quintilian sah sie als aggressives rhetorisches Mittel, den politischen Gegner unglaub­würdig oder lächerlich zu machen – nicht zuletzt dann, wenn dieser mächtig ist.27 Dabei ist entscheidend, dass den Zuhörern der ironische Charakter der scheinbaren Affirma­tion ersicht­lich ist. Dass der Redner das Gegenteil von dem meint, was er sagt, schreibt Quintilian, »erkennt man entweder am Ton, in dem gesprochen wird, oder an der betreffen­den Person oder am Wesen der Sache«.28 Wir können daraus lernen, dass es in subversiver Kunst – damit sie sub­ver­­siv wirken kann – immer beides geben muss: ein affirmierendes und ein die Affir­ma­tion störendes Element als zusätzliche Information für die Rezipienten.

Die von Quintilian gewonnenen Kategorien scheinen mir hilfreich zu sein, um die Struktur von Schlingensiefs Aktion genauer zu fassen: Im Prinzip betrieb er simulatio, indem er Elemente gesellschaftlicher Realität nachahmte. Dabei hat er jedoch seine Ironie kenntlich ge­macht, indem er eine Reihe von Brüchen bzw. verfremdenden Zeichen setzte; so betrieb er teilweise eine amplificatio, indem er überzeichnete (z.B. von Hinrichtungen sprach), an anderen Stellen eine minutio, insofern er die Drastik auch abschwächte (z. B. er die Asylwerber ein Puppentheater auffüh­ren ließ). Darüber hinaus wechselte er ständig die Perspektive, aus der er argumentierte, indem er zwischen Affirmation und Kommentar pendelte, außerdem wurde eine Metaebene aufgebaut in Form von kommen­tierenden Stellungnahmen prominenter Intellektueller.

Die informierteren und intelligenteren Rezi­pien­ten hatten also die Möglichkeit, den kritischen Sinn hinter der scheinbaren Affirmation zu erkennen und ihre Schlüsse daraus zu ziehen. Bei großen Teilen des Publikums war dies allerdings nicht der Fall. Diese faktische Segregierung des Publikums nach seinem Ver­mögen zur Dechiffrierung­ ist im Ver­fahren der subversiven Affirmation grundsätzlich mit angelegt, und folglich kommt die soziale Distinktion mittels kultureller Codes, welche nach Bourdieu das Feld der Kunst in der Moderne sozial konstituiert, in diesem Fall ebenso zum Tragen wie bei einer klassischen Museumspräsentation.29

Indifferente Mimesis