Einleitung

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Nur zum kleineren Teil habe ich wissenschaftliche, literarische Absichten, indem ich mich anschicke, einige Betrachtungen über den Lärm und die Geräusche niederzuschreiben. Zunächst aber, vor allem andern, liegt mir daran, mich von quälender Spannung langen Grolls und sachlichem Zorne zu entlasten. Darüber hinaus möcht ich auf möglichst viele Menschen wirken. Möchte sie aufrütteln, Gefahren und Mängel des Lebens aufzeigen und Wege zu ihrer Abhilfe und Aufbesserung! Dabei ist mir gleichgültig, in welche Gebiete der Wissenschaft die folgenden Darlegungen gehören. Gleichgültig, wenn sie in viele Gehege besser Wissender einbrechen; diesen oder jenen verstimmen; von diesem oder jenem missverstanden werden. Es handelt sich um alltäglich-menschliche Dinge. Es wäre zu wünschen, dass recht viele über sie frei ihre Meinung äussern, denn es könnte wohl manch einer wichtige Erfahrungen und Beiträge zu unserem Thema mitzuteilen haben. Man kann dieses Thema mit bestem Recht als »Grenzfrage des Nerven-und Seelenlebens« bezeichnen, (wofern man überhaupt einräumen will, dass es solche »Grenzfragen« gibt; und wofern man den Forscher nicht auf die Wahl beschränkt, Gegenstände wie den Lärm, entweder vom physiologischen oder vom psychologischen Standpunkt aus betrachten zu sollen). Aber auch viele andere Arbeitsgebiete haben an ganz dem selben Gegenstand Interesse und Anteil: Die Tonpsychologie, Musik, Otologie, Physiologie der Sinnesempfindungen, Psychophysik. Sodann auch ganz besonders die Hygiene, die Wirtschafts-und die Sozialpolitik. – Man sollte aber die folgenden Blätter nicht missachten, weil auf ihnen simple Dinge des täglichen Lebens zu Fraglichkeiten und Vorwürfen philosophischer Betrachtung werden. Es gibt für die Philosophie keinerlei Stoff, der an und für sich wichtiger wäre, als ein anderer. Ich wünschte nur, ich könnte dartun, wie von jedem Punkte der Erfahrung aus man in Hinter-und Untergründe des Lebens hinabtauchen kann, wie in jedem Gegenstande subjektiven Erlebens alle generellen Energieen mitwirken, zusammenfliessen und sich durchdringen; das ganze Menschengeschlecht, der ganze Kosmos. Es ist alles gleichmässig nichtig und wichtig; es ist gleichgültig, wo man beginnt. Das aber ist nur eine falsche »Wissenschaftlichkeit«, für die just das Feierliche, Profunde, Ausdrückliche – Anlass zum Nachgrübeln enthält. Sich mit Gott und dem Ende der Menschheit beschäftigen ist nicht an und für sich bedeutender, als die Beschäftigung mit den tausend konkreten Kleinigkeiten der Praxis. Diese bilden schliesslich doch immer die eigentliche Sorge unsrer Lebenstage, wirken am unerbittlichsten und verhängnisvollsten, und werden von jedermann im Grunde seines Herzens für das Notwendigste seines Lebens gehalten. – Ein allgemein menschlicher, tagtäglicher Notstand aber steht hier in Frage. Die treffendste Form unserer Sprache, die konzentrierteste Geisteskraft auf seine Durchleuchtung und Höherwürdigung zu verwenden, wäre mein Wunsch. Gleichwohl können sich unter den fünf Kapiteln meiner Schrift mehrere Abschnitte, (besonders die beiden ersten allgemeineren Kapitel), nur an Wenige, Anspruchsvolle wenden. Jene Leser, denen ausschliesslich das praktische Interesse, das »Meritorische« des Buches am Herzen liegt, mögen getrost diese oder jene Seite überschlagen. Sie sollen dort zu lesen beginnen, wo es sich für sie um aktuelle, greifbare, sinnfällige Erlebtheiten handelt, um Gebiete, die jeder kennt und in denen jeder mithelfen muss. Denn das letzte Ziel, das ich mir setze, ist dieses, einen Feldzug zu predigen. Mein Buch soll Signal werden zu einem allgemeinen Kampf gegen das Übermass von Geräusch im gegenwärtigen Leben. Es möge geschicktere oder volkstümlichere Federn in Bewegung setzen. Möge vielen Veranlassung bieten, seine Anregungen weiter zu tragen. Ja, ich hoffe auf Verwirklichung eines allgemeinen, internationalen Bundes wider den Lärm, der Einfluss auf Strafgesetz, Zivilgesetz, Verwaltungs-und Polizeigesetzgebung erlangt. Auf seinem Banner soll stehen: »non clamor sed amor«.…

Erstes Kapitel.
Psychologie der Betäubung.

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»Kant hat eine Abhandlung über die lebendigen Kräfte geschrieben; ich aber möchte eine Nänie und Threnodie über dieselben schreiben, weil ihr überaus häufiger Gebrauch, im Klopfen, Hämmern und Rammeln mir mein Leben hindurch zur täglichen Pein gemacht hat. Allerdings gibt es Leute, ja recht viele, die hierüber lächeln, weil sie unempfindlich gegen Geräusch sind: es sind jedoch eben die, welche auch unempfindlich gegen Gründe, gegen Gedanken, gegen Dichtungen und Kunstwerke, kurz gegen geistige Eindrücke jeder Art sind: denn es liegt an der zähen Beschaffenheit und handfesten Textur ihrer Gehirnmasse.«

Schopenhauer.

Ungeheuerliche Unruhe, grauenhafte Lautheit lastet auf allem Erdenleben. Um sie in ihrer letzten Tiefe zu verstehen, ist es notwendig, zunächst zu zwei fundamentalen Seelenmächten hinabzusteigen, die an allen Gebilden der Menschenkultur weben und in allen Erscheinungen menschlicher Wirtschaft lebendig sind. – Einmal schlummert in unserem Geschlechte die Neigung, das Leben zu immer höherer Geistigkeit emporzutreiben! Der Mensch strebt zum »Bewusstsein«. Über das dunkle Chaos seiner rastlosen Begierden und primitiven Leidenschaften wirft er das formende Netz vernünftiger Disziplin. Er gestaltet das Leben »rationell«. Er militarisiert und uniformiert es. Er bändigt und bindet es in »Vernunft«. – Dem aber widerstrebt eine zweite, ganz anders gerichtete und doch ebenso unausrottbare Seelenneigung: Das Bedürfnis nach Bewusstlosigkeit und Vergessen, unser Hang zu alle Dem, was das bewusste Wissen betäubt oder verdunkelt. Dieser Zug zum »Subjektiven« oder »Irrationalen« spricht sich gleichfalls in tausenderlei Gestaltungen der Wirtschaft aus. – So wie kein animalisches Lebewesen sich dauernd auf der Höhe bewusster Wachsamkeit, in schlafloser Gewecktheit zu erhalten vermag, keines den Wechsel von Nacht und Tag und den Wechsel zwischen Selbstbewusstheit und vegetativer Erneuerung im Schlafe entbehren kann, so kann auch das Menschengeschlecht als Ganzes eine dauernde Gewusstheit des Lebens nicht ertragen. Dieses Leben würde aufgebraucht, würde in all seinen Energieen von der geistigen Aktivität erschöpft werden, wenn die Entwickelung zu Vernunft und Denken hin nicht durch jene ganz andersartigen »irrationalen« Seelenmächte hemmend reguliert würde.… Wie nach der Vorstellung der heutigen Physik alle kosmischen Energien sich in eine einzige Energieform umsetzen, nämlich in die Form der Wärme, um in dieser schliesslich zum Aufbrauch, ja zum erstarrten Stillstand der Lebensbewegung, zur sogenannten »Entropie« des Kosmos zu führen, – so scheinen auch alle Regungen der Seele zuletzt in eine einzige Energie zu münden, nämlich in die intellektuelle Energie, d. h. in die Form der »Bewusstheit«, um in ihr zur Ruhe zu kommen. Somit aber wird der »Geist« zum nagenden und zerstörenden Parasiten des »Lebens«. Die bewusste Regelung der Lebensfunktionen unterbindet und verbraucht die Energie zahlloser instinktiver, reflektorischer Fähigkeiten, durch die das Tier oder der »Naturmensch« dem »höheren« Menschen überlegen ist. Die unermessliche Mehrung und Verfeinerung jener wunderlichen Gebilde der grauen Hirnrinde, an die die Fähigkeit des wissenden Denkens geknüpft zu sein scheint, – sie erfolgt nur auf Kosten des Grosshirns und Rückenmarks. So bedroht der Fortschritt menschlicher Weltbewusstheit die Lebenskraft, die diesen Fortschritt tragen muss. So scheint unser Aufstieg zur Geisteskultur zugleich Abstieg des »Lebens« zu werden. So umdüstert die Ideale der gepriesenen »Entwickelung« der wachsende Schatten der Dekadence, der Depopulation, oder mindestens doch einer vitalen Schwächung und physischen Minderung des Menschengeschlechts.

Hier aber greifen jene anders gearteten Lebensmächte steuernd und konservierend in das Getriebe aller vorwärts peitschender Gewalten ein. Das, was Nacht und Schlaf unsrer körperlichen Erhaltung leisten, das leisten diese Mächte für die hohe Geistigkeit psychopatisch gefährdeter, komplizierter, später Individuen. Sie sind geistesfeindlich, antilogisch. – Es ist daher berechtigt, dass man sie unter dem Gesichtswinkel »fortschrittlicher Ethik« als »reaktionär« und »konservativ« zu kennzeichnen versucht. Aber von einer anderen Seite aus gesehen, verwalten gerade sie die »Heilkraft der Natur« und erscheinen unentbehrlich und tief notwendig. Auch erweisen sie sich als in der letzten Tiefe der Seele verwurzelt. Und das am meisten bei jenen zahllosen Menschen, die bei einem Übermass rationeller Momente der Lebensführung in ihrem Weltgefühl oder in ihren Idealen gleichsam vor sich selber davonlaufen.

Welches sind denn nun diese antirationalen, das Bewusstsein »retardierenden Lebensgewalten«? Es dürfte ohne weiteres klar sein, dass sie nur im konservativsten Element der Seele, im »Gefühle« gründen können. Sie müssen die Lichtkraft des Verstandes, die Helligkeit des Wissens ebenso fliehen, wie sie sich an der dunklen Schwüle des »Gemütes« zu entzünden pflegen. Dieses gerade kennzeichnet sie als Antagonisten jener intellektuellen Energieen, die alle Wärme des Lebens gefrieren, ja vergletschern machen und zuletzt nichts übrig lassen als nur die eine weisse, kalte Flamme des »Bewusstseins«.… Alle die Gewalten »reinen Gefühls« werden somit vor allem in religiösen Erlebnissen zentriert sein. Denn »Religion« ist die Macht, welche Gefühle, Stimmungen, Impulse des Menschen am radikalsten von ihren natürlichen Verwebungen mit aktuellen Interessen und faktischen, empirischen Elementen des Alltags ablöst. In ihr stellt die Seele ihr persönlichstes Hoffen, Streben, Lieben und Verlangen nackt und unvertrübt gleichsam in ein objektiveres Wertbereich hinüber. In ihr spiegelt sich das Ich befreit von Tatsächlichkeit und Empirie. In ihr werden alle realen Inhalte vom tragenden Weltgefühl, von der kosmischen Lebensstimmung abgestreift. Nur dieses Weltgefühl, nur diese Lebensstimung selber ergreift sich in mytischen Bildern oder beziehungreichen, Vieles erregenden Symbolen. Alle grossen Leitmotive, die im aktuellen Leben eingebettet liegen, werden damit aus ihren zahllosen praktischen Vertrübungen hervorgeholt. Sie werden in einem überempirischen, »transzendenten« Bereiche gesammelt, um von ihm aus, rückstrahlend, allem faktischen Leben Heiligung und Weihe zu verleihn. Alle Hoffnung ist hier nichts als Hoffnung. Alle Liebe ist hier nichts als Liebe. Alle Angst, alle Sehnsucht, alles in der Wirklichkeit stets unerfüllte, verkümmernde, unerfüllbare Streben blüht sich hier aus und findet ein Ziel, jenseits jedes bestimmten Zieles.… Diese Emanzipation der »rückwärts bindenden« Mächte des Gemütes von allen den rationalen, korrigierenden, beständig umformenden Störungen seitens der Wirklichkeit gibt der Religion ihre eigentümliche Sonderstellung unter allen Gewalten des Lebens. – Nur eine einzige Lebensmacht kommt ihr gleich, ja übertrifft die religiöse an Absolutheit und Selbstherrlichkeit der Gefühlsbefriedigung, nämlich die Kunst; als die kontemplativ einfühlende, zwecklos-betrachtende, ästhetische Stellungnahme zu den bunten empirischen Dingen dieser »Welt«. Und innerhalb dieses ästhetisch–betrachtenden Erlebens der »Welt« ist es wiederum die Musik, die am innigsten der religiösen Erlebensform verwandt, am rücksichtslosesten von allen faktischen und zweckvollen Bestimmtheiten der Wirklichkeit gelöst ist. Denn auch Musik ist, wie Religion, eine alogische, irrationale, gefühlsmässig-unmittelbare Lebensmacht. Sie hat, genau wie die Religion, das bunte Narrenkleid des wirklichen Lebens von sich gestreift. Sie bietet nie etwas Bestimmtes, Einzelnes, Glatt-Umschreibbares. Sondern in ihr reduplizieren sich alle die tragenden Grunderlebnisse der Seele; all ihr Fluten und Ebben, Gehemmtsein oder Emporsteigen, Gesteigert-oder Bedrücktsein, alles Spannen, Entspannen, Zögern, Straucheln, Eilen, Stürmen; alles Stauen, Angleichen, Ausgleichen, Verwickelt-oder Befreitwerden, in dessen Formen unsre Willens-und Gefühlserregungen sich abspielen. Was wir aber diesen zahllosen Formen von Erregung etwa an deutenden Gedanken und symbolischen Erfahrungen unterlegen; auf welche empirischen Inhalte wir sie beziehen, oder welche rationalen Gegenstände und konkreten Bilder des Lebens für einen jeden von uns aus dem Strome der Musik auftauchen und über ihrem Lebensbrause schweben, wie die Seelen der einst Lebendigen über den rastlosen Gewässern der Styx, das ist für das Wesen der Musik vollkommen gleichgültig! Denn dieses Wesen steht vollkommen jenseits (oder diesseits) aller konkreten Gegenständlichkeit! Nur so etwa, wie man das Leben eines jeden Tages auch mit in den Schlaf hinübernimmt, so dass es im Wandeln und Weben dunkler Gefühle, aus den »Träumen«, wie aus einer neuen und doch eigenartig bekannten Dimension sich wiederspiegelt, so etwa nehmen wir das vertraute Denken und Sein des Alltags mit in die Musik hinüber. Dies aber geht die Musik selber nichts an. Für die Musik selber ist es so unwesentlich, wie etwa für »reine Zahlenlehre«, dass man sie auch als Rechenkunst, für »reine Logik«, dass man sie auch als Denktechnik betreiben kann. An und für sich bietet Musik nichts als abstrakte Form von Lebensregung. Tempo, Dynamik Agogik, Rhythmik, Modulation von Erlebnisverläufen; ähnlich wie Mathematik (ohne alle Rücksicht auf faktische Anwendbarkeit und konkrete Belege) abstrakte Notwendigkeiten der Vernunft überhaupt festlegt. Musik geht also dem Strombett des Lebens nach, wie Mathematik das des Geistes nachzeichnet.

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Nun ist es eine alte, tiefe Erfahrung, dass sich tragenden Mächten des Lebens alsbald ein »Gegenpart« zugesellt, als ihr komisches oder tragikomisches Widerspiel, das, aus ganz den gleichen Herzensanrechten entsprungen, sie dennoch nur wie in einen Hohlspiegel, wie in karikierende und vertrübende Sphäre hineinstellt. Dies ist die grosse Wahrheit von den »Affen des Ideals«. So wie der Teufel, den Luther als »Afterbild Gottes« bezeichnet, genau die gleichen Wesens-und Machtqualitäten aufweist, die Gott selber besitzt, nur eine jede ins Negative gewendet, – so gibt es nichts Hehres, Edles und Lebenerhebendes, das nicht alsbald von seinem Gegenspiele aufgegriffen und eben dem aufgepfropft würde, was es seinem reinen Sinne nach überwand und negierte. Wo ist je ein berechtigter Gedanke ausgesprochen, eine nützliche Partei oder Gesellschaft begründet, eine wertvolle Massregel vertreten worden, ohne dass sich alsbald der Mob darüber hergemacht, das Gemeine damit liiert und irgend eine vulgäre Politik der »Interessen« sich darangehängt, sie vertrübt, verbogen oder gar verlächerlicht hätte? Die allgemeine Form, in der dies zu geschehen pflegt, ist immer diese, dass die ideale Macht der abstrakten Sphäre enthoben und neuerdings mit groben faktischen Zwecken und konkreten Bedürfnissen verknüpft wird, deren Abstreifen und Dahintenlassen gerade das Wesentliche der tragenden Sehnsucht gewesen war. Auch jetzt noch wird zwar ein ideelles Bedürfnis befriedigt; aber es geschieht sozusagen in handfester, plump primitiver Form. In diesem Verhältnis steht z. B. aller Aberglaube (vom Animismus und Schamanismus unentwickelter Völker bis hinan zu okkulter Mystik und roh konkreter Metaphysik), – zu dem elfenzarten, schmetterlingsleichten Himmelskinde Religion. In diesem Verhältnis »psychischer Verschiebung« oder »Konkretierung« stehen mannigfache Formen von Zwangneurose zur »Religiosität«. Der höchste Aufschwung, mächtigste Überschwang, dessen der Mensch fähig ist, wird wieder herabgezerrt in die dumpf gewohnte Bahn kausaler, naturalistischer Weltorientierung. Dem nun analog besitzt die Musik ihr karikierendes »Afterbild«: den Lärm.…

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Alle dies entsetzliche Randalieren, dies unaufhörliche Brüllen, Dröhnen, Pfeifen, Zischen, Fauchen, Hämmern, Rammeln, Klopfen, Schrillen, Schreien und Toben, womit der Mensch seine Aktionen zu begleiten pflegt, steigt, so gut wie Sprache und Musik, aus vitaler Notwendigkeit empor. Daher würde aller Kampf wider die Lärmseite des Lebens nicht um einen Schritt voran bringen, wenn wir nicht zuvor die seelischen Untergründe sondieren, in denen all das geräuschvolle Tosen des Lebens notwendig verankert liegt. Denn die schönste Musik wie der schrecklichste Lärm, die reinste Religiosität wie die krauseste Mystik, die poetisch verklärte Liebe, wie gemeine sexuelle Obszönität, – sie wurzeln an ganz der selben Stelle, in der selben untersten Tiefe der menschheitlichen Seele. Nur die bergenden, nährenden Bodenschichten, durch die diese seelischen Wurzelkräfte aus dem selben Keime hervorbrechen, färben und wandeln, vertrüben oder läutern ihre Wesensnatur so entscheidend, dass schliesslich an der einen Stelle des Lebens eine weltferne, zarte Himmelsblume, an der andern ein ekles beschämendes Zwittergewächs emportaucht.… Mit der oft gehörten Behauptung freilich, dass hinter allem Lärme ein »Kampf ums Dasein« und gegenseitiges Erschrecken, Besiegen oder Sichbehauptenwollen stehe, ist im Grunde gar nichts gesagt. Und auch damit nicht, dass man betont, hinter allem Menschengelärme wohne die notwendige Kraftentspannung und das Bedürfnis nach aktiver Machtbetätigung und Selbstbewährung. – Solche Aktivitätssteigerung und Selbsterweiterung muss schliesslich in jeder »Ausdrucksbewegung« aufzufinden sein. Sie kann daher nicht die spezifische Psychologie des Schreiens und Lärmens erläutern. Wichtig dagegen ist dies, dass wir im Lärm nicht ein zufälliges Akzidenz des »gesteigerten Verkehrslebens«, nicht ein bloss zeitgeschichtliches Symptom der Unrast und Heimatlosigkeit moderner Seele zu betrachten glauben, sondern den Ausdruck unausrottbaren, allmenschlichen Triebes. Diesen »Trieb« zum Lärme kann man nicht mit polizeilichen Vorschriften und staatlichen Massregeln ausmerzen. Denn gesetzt, es würden künftig immer neue Mittel gefunden, um das Leben in seinen äusseren Ausdrucksformen relativ geräuschlos zu machen; gesetzt man würde Patente erteilen auf Vorrichtungen, die ermöglichen, Polstermöbel und Teppiche geräuschlos zu klopfen; gesetzt das Gros der Kulturmenschen wäre nachgerade so musikalisch geworden, dass es ihm genügte, Partituren zu lesen; gesetzt endlich man würde gar den Vorschlag jenes Biologen befolgen, der anempfahl die künstliche Stummheit der Haustiere heranzubilden, »indem man immer wieder den Rekurrensnerven durchschneidet, um durch Auslese lautlose Lebewesen hervorzubringen«; gesetzt auch dies, dass man die sorglichsten Vorschriften zur Vermeidung des Strassenlärms besässe und alle des täglichen Gerassels der elektrischen Bahnen, Dampfbahnen, Motorwagen, Automobile, – es würde dennoch eine grosse Anzahl lärmfreudiger Leute sich über all diese Sicherungen gefährdeter Nerven mit Lust hinwegsetzen! Sie würden ihre Teppiche lieber geräuschvoll klopfen! Würden lieber mit der Peitsche knallen; würden viel zu entbehren glauben, wenn sie nicht ihren Geschäften mit Singen, Pfeifen und beständigem Geschrei nachgehen könnten. Sie würden Stöcke und Schirme geflissentlich gegen Stakete und Gitter rasseln lassen oder mit Säbel und Sporen stolz über den Marktplatz klappern, auch wenn alle das wohl entbehrlich und gar leicht vermeidbar wäre. Ein merkwürdiger, unbezähmbarer Impuls steht also dahinter, ein »Urtrieb«, in dem der lustvolle, positive Charakter des Lärmens fundiert liegt. Er reiht sich jenen zahllosen allmenschlichen Neigungen ein, die die »Bewusstseinsnarkose«, d. h. die beständige Übertäubung des stummen, bewusst denkenden Geistes und somit den fortwährenden Traum-und Rauschzustand des Gesellschaftslebens unterhalten. …

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In primitiver, trüber und noch roher Sphäre haben wir hier ganz die selbe Ressource, die selbe Schutz-und Bremsvorrichtung der Lebensfähigkeit vor Augen, die (wie wir vorhin betonten), auch der Religion oder der Musik die letzte Sanktion und Notwendigkeit für das Leben verleiht. Wir können diesen Zusammenhang klarer durchschauen, wenn wir den Lärm mit dem Alkohol vergleichen, oder mit einem der vielen Stimulantien und Narkoticis, wie Haschich, Opium, Kola, Nikotin, oder endlich mit jenen unentbehrlichen Alkaloiden nutritiver Reizmittel, denen keine Speisehygiene, keine Abstinenzbewegung jemals völlig beikommen wird, weil sie organische Bedürfnisse befriedigen und nur in ihrer jeweiligen Dosierung, in ihrer quantitativen oder distributiven Verwendung im physischen und psychischen Lebenshaushalt einer Generation, nicht aber an und für sich selber entbehrlich und bekämpfbar sind. Alle diese Reiz-oder Rauschmittel nämlich dienen genau wie der Lärm, um die Trieb-und Gefühlssphäre, (also die subjektive Seite des Lebens) frei zu machen, zu erweitern und momentan emporzusteigern. Oder anders ausgedrückt: sie dienen dazu, die intellektuellen, rationalen, bewussten (also »objektiven« Funktionen der Seele) zu dämpfen, zu verengern und zurückzudrängen. Dieses freilich vollzieht sich vollkommen ungetrübt nur in jenen religiösen, musikalischen oder ästhetischen Wertrichtungen der Kultur, denen just nüchterne, trockene, affektiv dürftige Individualitäten als den Kompensativmächten ihrer rationalen, objektiven, die Persönlichkeit abtragenden Lebensbewährung am kritiklosesten zu verfallen pflegen.

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Hinter allen diesen Erfahrungen steht ein folgenschwerer Zusammenhang. Schon die älteste Psychologie (die der Inder) hat in der Lehre vom dukha-satya, d. h. von der »Identiät des Wissens und Leidens« einer grundlegenden Beobachtung primitiven Ausdruck gegeben. Allezeit aber verknüpfte sich mit dieser Erkenntnis die religiöse Bevorzugung und teleologische Höherwertung der ungewussten, selbstvergessenen, instinktiven Seiten des Lebens, gegenüber seinen rationalen Gewinnposten an Wissen und Erkennen, an ethischer, intellektiver und technischer Naturbeherrschung. Es überkommt wohl jeden denkenden Menschen zuweilen die Ahnung, es sei zu allem Fortleben eine ewige Selbsttäuschung notwendig, es könne menschliches Leben nur auf dem Hintergrunde dauernden Nichtwissens und traumhaften Rausches erträglich bleiben. Diesen »Rausch« trägt der junge und gesunde Mensch schon im Blute. Der Starke, Junge, Lebendige lebt an und für sich in einer normalen Trunkenheit. Er entbehrt daher nicht jener Stimulativmächte, die (mit unbewusstem Raffinement) auch im abflauenden, vernüchterten, klug und ohnmächtig, weise und ängstlich gewordenen Leben einen bestimmten Grad täglicher Betäubung unterhalten. –

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Alle psychischen Störungen, die durch bewusste Klärung noch nicht oder nicht mehr überwindbar sind, können dadurch überwunden werden, dass man sie vergisst und nicht zu genau betrachtet. Der Knoten, an dem das Leben sich jeweils staut, kann nicht rationell aufgelöst und muss immer wieder zeitweilig gelockert werden. Insofern nämlich als Bewusstwerdung, Aufmerken, bewusstes Apperzipieren von Reizen, allemal Verengung und Konzentration der Seelenbewegung an einem individuellen »Punkte« in sich schliesst, ist es schon seiner Natur nach mit Unlust verbunden. Das »Bewusstsein« entbehrt zum mindesten jener eigentümlichen Note lebendiger Kraft, die in allen Erlebnissen der Freude schwingt. Denn Freude schliesst umgekehrt nicht Konzentrierung, sondern Erweiterung des Ichbewusstseins in sich, bis zur vollendeten Auflösung seiner selbst, bis zu jenem Gipfel, wo der Einzelne Alles umfasst und kein Gesondertes mehr bewusst begreift. Man bezeichnet in specie wohl den Wein als Quell des Vergessens oder als »Sorgenbrecher«, aber man könnte schliesslich an jedem Lusterlebnis (vom Genuss einer Zigarre bis zur Freude an einer Symphonie) das Moment der »Auflockerung der Gefühlsseite« studieren, diese Abdämpfung des wachen Wissens, in dessen Fokus die affektive Energie der Seele sich aufstaut und schmerzlich sammelt. Ein Bestreben aber von der wachen Bewusstheit seiner selbst los zu kommen wurzelt zu tiefst in jedem Individuum. Sei es nun, dass die chaotische Unermesslichkeit der Fraglichkeiten und Probleme zu gross wird, um einheitliche Einfügung in ein Bewusstsein noch zu gestatten. Sei es, dass ein bestimmter Bewusstseinsinhalt, mit dem die Persönlichkeit sich nicht abfinden kann und der »wie ein bedrohlicher Block« stauend im Bewusstsein liegt, für eine Weile fortgeschwemmt werden muss. Sei es endlich, dass der vulgäre Mensch das Bewusstsein seiner selbst als das einer leeren, inhaltlosen, kleinlichen oder missratenen Existenz zu fürchten hat. Immer verschreibt er sich den Mächten der Betäubung mit allem, was die Kulturgesellschaft Freude oder Vergnügen nennt. Man betäubt sich in den Genüssen der Stadt und Strasse. Man betäubt sich in Theater und Salon. Betäubt sich im Medisieren und Räsonieren. In dem üblichen Kunstgeschwätz und Philosophatsch der Journale und Zeitungen. Im Sport, oder im Kokettieren mit »sozialer Arbeit«. Übertäubt sich in Etiketten und konventionellen Sitten, in den luxuriösen Restaurants der Grossstadt, in armseligen Kellern und Spelunken; in den rohesten Ausschweifungen, in poetischen Flirts und religiösen Ekstasen. Was aber am wunderbarsten und beweisend für die Notwendigkeit dieser Rauschmächte des Lebens ist, das ist der Umstand, dass auch die rationell-bewusste, ethisch-intellektuelle Lebenshaltung, die den Charakter von Mühe, Askese und Arbeit trägt, sich aus einer künstlichen und zunächst unlustvollen Bindung des Lebens zu einem ganz neuartigen Reizmittel zurück verwandeln kann. Auch die Arbeit unterstellt sich jener allgemeinen Tendenz der Bewusstseinsbetäubung. Auch der »arbeitende« Teil der Menschheit scheint sich mit jeder Art ethisch-intellektueller Betätigung nur das Mittel zu monotonen Narkosen des Ichbewusstseins zu beschaffen. Das Leben gerade der tüchtigsten »Pflichtmenschen« hat keinen anderen Sinn als den, sechs Tage lang das individuelle Bewusstsein mit Arbeit zu betäuben, um dadurch die Möglichkeit zu gewinnen, am siebenten eben das selbe mit Mitteln des »Amüsements«, oder vermittelst Musik oder Religion zu tun. –


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Der Lärm nun ist das primitivste und plumpeste, zugleich aber das allgemeinste und verbreitetste Mittel der Bewusstseinssteuerung. Dies erweist sich an seiner natürlichen Verbindung mit dem Alkohol. Es erweist sich in der bezeichnenden Wendung, dass der Mensch gerne sich dort bewege, wo es »laut und lustig« zugeht…

Nun aber tritt etwas sehr Merkwürdiges ein! Jene »narkotischen Funktionen«, die wir ursprünglich als Schutz-und Trutzmittel wider die »Bewusstheit« zu betrachten haben, können auf einem bestimmten Niveau nervöser Erschlaffung neuerdings zu einem Reizmittel für Bewusstsein werden. Und dies gilt auch für den Lärm. Er ist ursprünglich nur verfeinertes Faustrecht und die Rache, die der mit den Händen arbeitende Teil der Gesellschaft an dem mit dem Kopfe arbeitenden nimmt, dafür dass der ihm Gesetze gibt. Aber gleich wie ein beunruhigender Gedanke oder eine Sorge auf dem Gipfel ihrer einseitigen Lebendigkeit keinen Ausweg mehr gestatten als den, dass »man sich in sie einwühlt«, sich ihnen völlig hingibt und gleichsam im Denken selber berauscht oder zernichtet, so kann auch umgekehrt jedes Bewusstsein übertäubende Mittel schliesslich zum Mittel der Bewusstseinssteigerung werden. Hierfür sprechen so komplizierte und seltene Fälle wie die folgenden, die nur scheinbar meine Psychologie des Lärmtriebes, als des »Triebes zur Bewusstseinsretardierung«, Lügen strafen…

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In der Biographie Mozarts lese ich, dass der grosse Mann in einer engen Stube unter dem fröhlichen Gelärme, seiner spielenden Kinder geschaffen habe. Von diesem Lärme äusserte er gelegentlich, dass er sein Produzieren nur dann störe, wenn ein einzelnes Geräusch fesselnd an die Aufmerksamkeit heranträte, während die unbestimmte Lautheit der Umgebung sogar stimulierend auf seinen Schaffenstrieb wirke. – Hierin äussert sich zunächst eine oft bestätigte Erfahrung. Wer über die russische Steppe gereist ist, der weiss, dass man beim Geheule ganzer Rudel Wölfe ruhig schlafen kann, während der Schrei eines einzelnen hungrigen Wolfes furchtbar beunruhigt und den Schlaf verscheucht. Je farbloser, unbestimmter also das Geräusch ist, um so interesseloser bleibt es und um so weniger Bewusstsein oder »Aufmerksamkeit« vermag es zu binden. Eigentümlich also wäre in dem Falle Mozarts lediglich dieses, dass der Lärm anregend auf das bewusste Schaffen wirken konnte, während wir ihn doch als die Waffe gegen »Bewusstsein«, als Mittel zur Betäubung zu würdigen versuchen. Etwas ganz Ähnliches nun lese ich auch in der Selbstbiographie John Stuart Mills. Dieser ungemein bewusste, fast pathologisch wache Geist pflegte zur Zeit einer dumpf nervöser Apathie in einem neben seinem Arbeitszimmer befindlichen Raum eine Pauke aufzustellen; darauf musste ein Junge kräftig Lärm schlagen. Mill behauptet, dass dieses Dröhnen seine erschlaffende Denkkraft neuerdings anzuregen vermochte. Gleichwohl empfand er jedes spezielle Geräusch als sehr störend. Er meinte, dass grosser Lärm ebenso anspornen könne, wie die Einzelgeräusche ablenken. Auch Hegel, der sein Hauptwerk (angeblich) am Abende der Schlacht von Jena vollendete und unter dem Donner naher Geschütze schrieb, äusserte sich dahin, dass der gleichmässige Lärm seine Gedanken geschärft und beflügelt habe. Dieses also wären Fälle, wo Lärm scheinbar nicht bewusstsein-übertäubend, sondern im Gegenteil bewusstsein-stärkend gewirkt hat. Die Erklärung dafür suche ich im folgenden. – Eine nicht sehr affektive oder in einer Zeit psychischer Erschöpfung geübte Denktätigkeit bedarf eines gewissen Maasses abnormer Anreizung und Anregung um so viel »psychische Energie« aufbringen und frei machen zu können, als nötig ist, um einen Gedanken überhaupt aufzugreifen… Etwas dem Verwandtes sehe ich in der Psychologie des »Einschlafens« und Einschlafenkönnens. Der Schlaf ist seiner Natur nach eine Herabdämpfung und Herabminderung bewussten Vorstellens. Gleichwohl kann er nicht eintreten, wo das Bewusstseins-und Vorstellungsleben schon so erschöpft und herabgemindert ist, dass die Kraft zur Konzentration einer einzelnen Vorstellung nicht mehr ausreicht1. Man findet daher zuweilen, dass medikamentöse Reizmittel, die beim »normalen Individuum« das Einschlafen hindern würden, in Erschöpfungspsychosen umgekehrt dazu dienen, die Fähigkeit des Einschlafens wieder herzustellen. Hier, bei der Psychologie des Lärmens begegnet uns nun etwas dem Analoges. Während der Lärm seiner Natur nach kein bewusstes Denken aufkommen lässt, sondern nur auf Gefühl und Willen einwirkt (und daher auch als Volksgetöse, Schlachtgeschrei, Barditus, Hurra-und Hipp-Hipp-Gebrülle zum Beseitigen der Überlegung und zum Erwecken des Willens benutzt wird), – kann doch in bestimmten abnormen Fällen der Lärm auch dazu dienen, dasjenige Mass affektiver Belebtheit auszulösen, das notwendig ist, um nicht gefühlsbetonte, abstrakte Gedanken aufgreifen und festhalten zu können. Ja, es ist möglich, dass bei Individuen, die an äussere Unruhe gewöhnt sind, der Fortfall akustischer Reize mit dem Willens-auch ihr Bewusstseinsleben vollkommen brachlegt. Hierher gehört jene bekannte »Psychose der Stille«. Jene Mutlosigkeit und Niedergeschlagenheit, die ganz besonders der Grossstädter in den Alpen erleidet! Auch solche Provinzen der Seele, denen der Lärm an und für sich feindlich wäre, verfallen bei vollkommener Abwesenheit aller Geräusche der allgemeinen psychischen Lähmung, weil jene stündliche »Aufkicherung« fehlt, an die der Mensch vom akustisch-motorischen Typus (vom »kinetischen Typus« wie die amerikanischen Psychologen sagen) sich längst gewohnheitsgemäss angepasst hat. Dies aber sind Ausnahmen von der generellen Regel, dass Lärm ein Kampfmittel der im Menschen wirksamen anti-intellektuellen Seelenmächte gegen die intellektuellen ist…

4.

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Unendlich bevorzugt und liebenswürdig sind die seltenen Menschen, die einem sie anregenden Gegenstande gegenübertreten, ohne Bedürfnis, sich höchstselbst, in eigener Person dazu in Rapport zu versetzen. Eine schöne Blume muss gepflückt und berochen, ein anmutiges Kind geküsst und gestreichelt werden. Ein seltenes Tier wird alsbald geneckt und betastet; eine schöne Frau belästigt und haranguiert. – Wenn die gemeine Roture einem überlegenem Geiste, einem Reicheren, Stärkeren, Mächtigeren gegenübersteht, so ist unverkennbar ihr einziges Bemühen, dass sie nur ja »Eindruck mache«, »ernst genommen«, »estimiert« werde, während der wahrhaft gebildete Mensch gerade dem Bessergestellten gegenüber sich schweigend zurückhalten, überall aber lernen und empfangen wird. Er wird lieber sprechen lassen, als sprechen. Es ist ihm gleichgültig, was man von ihm glaubt und hält. Er fühlt auch; dass es das gute Recht anständiger Leute ist, sich unbeschadet ihrer »Autorität« mindestens dreimal an jedem Tage »blamieren« zu dürfen. Nun aber blicke man auf das, was allen wohl gefällt und was sie alle lesen und schreiben. Man blicke auf all dieses »Reden über«. Dieses gegenseitige Sichbespiegeln, Sichsezieren, Sichbeobachten. Alles aus der Perspektive machtwilliger Eitelkeit und der Freude, andere nicht anerkennen zu brauchen oder im »Anerkennen« sich selbst eine Folie zu geben. Der meiste »Publizismus« lebt von diesen rohesten Formen seelischer Konkurrenz. Aber auch die meisten ernsten Bücher, die irgendwelche, Modeerfolge haben, wollen durchaus die »Menschheit erziehen«, fanatisieren und moralischen Einfluss nehmen durch Schreien und Lärmen. Und was wird nicht vollends an Erziehungsanstalten und Universitäten gepredigt, gelärmt und gebessert! Man gewinnt schliesslich den Eindruck, dass es aller Welt nur darauf ankomme, mitzureden, dabei zu sein und lärmende Macht auszuüben. Darauf deutet auch die unsinnige, deutsche Einrichtung der »Diskussion«, – wenn etwa nach dem künstlerisch geschlossenen Vortrage eines Sachkundigen Hinz und Peter aufstehen, um irgendwas Nebensächliches, Konfuses oder Verwirrendes ahnungslos und selbstüberzeugt zu Markte zu bringen, worauf es alsbald »in die Zeitung kommt«. Wie wenige ahnen, dass alles Reden Irrtum einschliesst. Den Irrtum, dass man zu keinem Gegenstand »Distanze« hat, in dem man unmittelbar lebendig ist …

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Auf dem Gipfel trägt Kultur das Ideal allwissenden Schweigens. Jenes Ende, das Fiesole im Bilde des Petrus Martyr gezeigt hat. – Es liegt eigene Wahrheit darin, dass auch die Religion das letzte uns verheissene Paradies und die »ewige Seligkeit« als »Hort des Schweigens«, dagegen die Hölle als Stätte unausgesetzten Lärmes schildert. – Im Hades wird kein lautes Wort mehr gesprochen. Selbst das Ruder des Charon erregt keinen Laut in stummen Wellen. Der letzte Lärm, der den Scheidenden entlässt, ist der Ruf der am Ufer harrenden Seelen, die sehnsüchtig auf den erlösenden Nachen warten. Im »Christenhimmel« freilich geht es nicht ohne Posaune und Engelchöre ab und die grässliche Aussicht auf verklärte, singende und schmausende Philister. Dafür bieten wenigstens die Schilderungen der Hölle, wie sie die Kirchenväter entwerfen, eine um so energischere Verurteilung des irdischen Gelärmes. Ihre Schilderungen schwelgen in dem fürchterlichen Höllengeschrei, das die rachsüchtigen Teufel erheben und in der Vorführung des Jammers, der die sündhaften armen Seelen »tönen macht« …

* * *

Dante schon sang von der Erfindung eines Teufels. Eine ungeheuere, grässlich dröhnende Glocke, die Tag und Nacht geläutet wird. An ihren Schallmantel wird das arme Opfer festgeschnallt. Die Schläge der Glocke treffen unaufhörlich sein Ohr, so dass der ganze Körper mitbeben muss, bis schliesslich der Wahnsinn dem Gemarterten Erlösung bringt. Das ist das wahrhafte Symbol für den Lärm unseres Menschenalters …

4.

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Über die individuelle Empfänglichkeit verschiedener Menschen für Ton-, Klang-und Geräuschempfindungen hat man nun in der Tat mit den Methoden der experimentellen Psychologie mannigfache Untersuchungen angestellt. In einigen Kliniken sah ich folgende einfache Vorrichtung, mit deren Hilfe man die Empfänglichkeit für Geräuschwahrnehmungen während des Schlafens und somit die individuelle Schlaftiefe festzustellen wähnte. – In dem von der Versuchsperson bewohnten Schlafraum wird ein Kasten angebracht, aus dem alle paar Stunden Kugeln von bestimmtem Gewicht, aus bestimmter Höhe auf eine Metallplatte herabfallen. Sobald das Kugelgewicht die Platte berührt, wird ein Stromkreis geschlossen, durch dessen Einwirkung eine mit ihm verbundene Uhr, die Tausendstelsekunden anzeigt, zum Stillstehen kommt. Der Versuchsperson wird lediglich gesagt, dass, sobald von ihr während der Nacht ein Fallgeräusch gehört wird, sie auf eine an der Wand neben ihrem Bette befindlichen Knopf drücken solle. Dadurch wird dann die Tausendstelsekundenuhr wieder in Gang gesetzt. Mit Hilfe eines zweiten Zeigers der Uhr, der dauernd in Gang bleibt, kann der Experimentator konstatieren, wieviel Sekundentausendstel zwischen dem Fall der Kugel und der Wahrnehmung des Geräusches von seiten des Schlafenden verstrichen waren; oder ob der Schlafende das Geräusch etwa gar nicht bemerkt hat. Auf diese Weise konstatiert man, welche Geräuschstärken und Geräuscharten geeignet sind, um eine bestimmte Person, zu bestimmtem Termin, und unter vorbestimmten Versuchsbedingungen aus dem Schlafe zu erwecken. Vorzüglich wurden diese Versuche benutzt, um die einschläfernde Wirkung neuer Schlafmittel zu erproben. Oder man erprobte den Einfluss der Beschäftigung während des verflossenen Tages; – etwa den Einfluss körperlicher Ermüdung; oder untersuchte die Wirkung einer bestimmten Dosis Alkohol auf die Schlaftiefe. Indessen kommt bei jedem derartigen Versuche, (so weit man die Versuchsreihen auch ausdehnen mag), eine solche Fülle ungleichartiger und zum Teil unkontrollierbarer Faktoren im Resultate zum Ausdruck, dass man schliesslich nichts anderes ersehen kann, als eben die pragmatische Tatsache, wie tief ein bestimmter Mensch zu bestimmter Stunde geschlafen hat, ohne dass man die körperlichen und seelischen Einzelursachen irgendwie zu isolieren vermöchte. – Ebenso wenig überzeugend erscheinen mir die Resultate von »Gehörproben«, die man mit exakten Untersuchungen des Zeitsinnes oder der Reaktionsgeschwindigkeit im wachen Zustand zu kombinieren versucht. Das schematische Verfahren bei diesen sehr variablen Experimenten ist etwa folgendes. Aus einer bestimmten, variierbaren Höhe fallen Gewichte auf eine Metallplatte, auf der durch diesen Fall qualitativ wie quantitativ verschiedene Geräusche oder Einzeltöne entstehen. Durch die Berührung der Platte aber wird ein Chronoskop in Bewegung gesetzt. Eine auf das Geräusch oder den Ton aufmerkende, im Nebenraum befindliche Versuchsperson (der die Schallquelle verborgen bleiben muss), hat im Moment der Apperzeption des Schalles eine Bewegung auszuführen, durch die das Chronoskop wieder zum Stillstehen gebracht wird. Somit kann an der Uhr abgelesen werden, wie viel Sekundentausendstel verstrichen sind zwischen dem Entstehen des Schalls und seiner Wahrnehmung…

Was aber hat man denn nun eigentlich mit diesen Experimenten erprobt? Es scheint sich zunächst um die »Reaktionsgeschwindigkeit« des Individuums zu handeln. Aber in diese geht als ihr immanentes Wesensmoment sehr Vielerlei ein. Einerseits die augenblickliche »Bereitschaft«, andererseits die perzeptive »Empfänglichkeit«; endlich auch die apperzeptive Übung der Versuchsperson… Niemals aber fällt eine faktische Reaktionsschwelle mit der Schwelle der »Reagibilität« einer Versuchsperson zusammen. Selbst auf dem Gebiet scheinbar reflektorisch-spontaner Sinnesreaktionen liegt ein Irrtum der Experimentalpsychologie darin, dass sie das spezifische Moment der Aktivität der Versuchspersonen ausschaltet und mit ihren Apparaten verfährt, als ob das Bewusstsein der Versuchsperson »automatisch« sei und als ob aus der quantitativen Natur von Reizen und Reizäusserungen nun auch auf die qualitative Impressionabilität geschlossen werden dürfe. Die spezifische Fähigkeit zu einer Reaktion hat nichts zu schaffen mit der Geneigtheit zu ihr. Und die »Geneigtheit« wiederum ist ein anderes als die »Bereitschaft«. Die »Bereitschaft« zu einer Reaktion ein anderes, als die Möglichkeit zu reagieren. Und diese »Möglichkeit« zu reagieren, könnte endlich auch noch von dem kontinuierlichen Reaktionsvermögen unterschieden werden. Was also untersucht man bei den geschilderten Reaktionsversuchen? – Ist es die spezifische Beeindruckbarkeit? Ist es der Ausdrucksdrang? Das Ausdrucksvermögen? Die Ausdrucksmöglichkeit?… Man gewinnt bei diesen verführerischen Experimenten der Psychophysik freilich sehr billig gesicherte Resultate, wenn man sich gegen die »philosophischen Analysen« des »Schreibtischpsychologen« die Ohren zustopft und die grosse Kompliziertheit gegenständlicher Auffassungsakte beiseite schiebt, nur um recht grob und deutlich das Auffassen einer Empfindung mit dem Empfinden selber und die Empfänglichkeit für Reize mit dem Bemerken von Reizen vermischen zu können7

7.

Inhaltsverzeichnis


»Wer nennt mir wohl das hochgelobte Land
Zeigt mir den Weg zur benedeiten Gasse,
Wo das Klavier noch keinen Eingang fand.
Dies Marterwerkzeug, das ich grimmig hasse.
Schriebst heut Du die Vernunftkritik, o Kant,
Ansammelnd mächtige Gedankenmasse,
Du müsstest taub sein, philosoph’scher Heiland,
Wo nicht, Dich flüchten auf ein wüstes Eiland.«

L. Fulda.

Wir sind ein Ohrenvolk, aller Anschaulichkeit und Sichtbarkeit bar. Aber wenn der Anblick unseres Lebens übertrieben, formlos, hässlich oder gar komisch sich ausnimmt, so besitzen wir doch auf einem Schaffensgebiete einen tröstenden Vorzug: im Reich der Töne sind wir tief innerliche Empfinder und Träumer. Die Musik ist die bestimmende Macht unserer Volksseele, der unbestreitbare Stolz deutscher Kultur. Das ist ein Vorzug, ist auch ein Nachteil. Denn wir sind dem entzückenden Teufel so vollkommen ausgeliefert, dass deutsche Kultur an musikalischer Elephantiasis schliesslich zugrunde geht… Kann man sich denn in Deutschland irgendwo unter Menschen getrauen, ohne auf Stunden dem Gesang oder Instrumentalspiel eines Dilettanten ausgeliefert zu werden? Gibt es irgendwo Wälder und Parke, wo man sicher ist vor dem Potpourri, vor dem Promenadekonzert und der Militärkapelle? – Ich rede hier nicht von grosser Kunst. Rede nicht von den wenigen, die Musik als ernstes Studium und Arbeit treiben. Diese werden mich schon verstehen, denn ihre ernste Freude hat nichts zu schaffen mit den Vergnügungen aller der Hunderttausende für die Musik ein gelegentlicher Zeitvertreib, eine Abladestelle billiger, flacher Gefühle, eine Salpeterplantage müssiger, spielerischer, exzitierender Erregungen ist. Ich wünsche nichts zu ungunsten allgemeineren Verständnisses der Musik zu sagen. Wer imstande ist, Partituren und Klavierauszüge der grössten Orchesterwerke, die Werke Bachs und die Lieder mancher neueren Meister im stillen Zimmer zu studieren, besitzt einen Reichtum, der ihn über alle Welt und alle Not der Welt hinaushebt. Aber was hat dies zu schaffen mit dem Zeitvertreib all der Müssiggeher, die sentimentale Melodien auf der Geige kratzen, Salonstücke und Tänze vortragen oder gar stolz darauf sind, dass sie Zither schlagen, auf der Guitarre die Zeit vertrödeln und allerlei Niedlichkeiten und Allerweltslieder vorführen können? Gewiss, wo tiefes, ernstes Leben entgegentritt, da besinn ich mich gern auf einen Spruch, mit dem Theodor Storm uns über Störungen durch unzeitige, unberufene Musik getröstet hat:

»In lindem Schlaf schon lag ich hingestreckt,
Da hat mich jäh Dein Geigenspiel erweckt,
Doch, wo das Menschenherz mir so begegnet
Nacht oder Tag, die Stunde sei gesegnet.«…

Soll nun aber jeder müssig herumlungernde, das Leben vertuende und vertändelnde Mensch, jeder Backfisch, jeder Student, dem die Musik nichts als gute Unterhaltung und angenehme Gefühlswallung zu bieten vermag, zu jeder Stunde des Tages und der Nacht das Recht haben, in ernste, strenge Arbeit einzubrechen? Sollen sie mit ihren Fingerübungen und Etuden uns martern dürfen oder gar mit stundenlangen Solfeggien und platten lauten Gefühlsergüssen unser ganzes Tagewerk zerstören? Man klagt über die Unnatur unserer Lebensführung, bespöttelt und kritisiert den zunehmenden Hang der Gehirnkulis zu nächtlichem Schaffen. Aber dann gebt doch den Armen Lebensbedingungen, unter denen sie existieren können, unter denen ein nur auf die Kraft seiner Feder und die Gesundheit seines gemarterten Hirns angewiesener, beständig von der Gefahr des Hungerns oder des geistigen Zusammenbruches umlauerter Mensch noch zu schaffen und zu denken vermag… Ich weiss nicht, wie sich feine, zarte, empfindsame Gedanken in diesem Tagesleben erheben und halten sollen, wo man doch beständig von jeder Art Lärm und Geräusch umbrandet wird und wo zu alledem musikalische Aufregungen einwirken, die gerade den für Musik empfänglichen und reizbaren Menschen notwendig in ihr Interesse ziehen und Stimmungen, Dispositionen auf ihn übertragen, die er für seine Arbeit nicht ausnutzen kann, die ihn vielmehr nur zersplittern und ungenützt seine Seelenkräfte absorbieren. – Im Gebiete der Sinneswahrnehmungen gibt es keinen tiefer einschneidenden Unterschied als den zwischen Menschen, die vorwiegend für Licht-und Farben-Intensität und -Verschiedenheit oder aber für Intensität und Verschiedenheit von Schall-und Gehörseindrücken empfindlich sind. Wer also zum »geistigen Typus« gehört, der wird Natur und Welt weniger in Form von visuellen, optischen Vorstellungen, als von motorischen Klang-und Wortvorstellungen verarbeiten. Er muss entsetzlich unter dem Dasein anderer leiden, die in weit höherem Grade auf konkretes direktes Wahrnehmen eingestellt und für alle die feineren, indirekten Vermittelungen durch das Ohr unzugänglich sind. Der Zwang aber, während der Nacht, dem Lichte entgegenarbeiten zu müssen, führt mit Sicherheit in immer tiefere Unnatur und Ungesundheit hinein. Nur zur Nacht, wenn alles still ist, wenn alle die Lärmer und Schreier zur Ruhe gegangen, dann erwachen die Gedanken, erwachen im ruhigen Sternenlicht, unter dem bleichen Monde. Aber sie lassen uns übernächtig, bleich und erschöpft zurück. Wenn die gesunden, natürlichen Menschen erfrischt und freudig aufstehen, in den frühen, reinen, heiligen Morgenstunden, dann sind wir zu aller Arbeit in der Regel am unbrauchbarsten. Diese Stunden sind uns zu laut, zu zersplittert und unruhig. Dazu kommt, dass die Zeit nach der Mahlzeit für jeden geistig Schaffenden durchweg unergiebig, unproduktiv verläuft. Es wird also die Gewohnheit, erst gegen Abend mit der Arbeit zu beginnen, durch alle Lebensbedingungen gefördert, die für den Nervenmenschen natürlich, für den gesunden normalen Muskelmenschen direkt schädlich und unnatürlich sind. Es ist unter den Verhältnissen der modernen Grossstädte unausbleiblich, dass der geistigere, verfeinerte Mensch zu einer unhygienischen Umkehrung der Tag-und Nachtzeit gedrängt, dass er immer mehr zu einem Abendmenschen gemacht wird. Alle seine entscheidenden wichtigen Erlebnisse gehen bei künstlichem Lichte vor sich. Er ist so unnatürlich und ungesund wie das allnächtlich, im Mondlicht gespielte Theater, das die eigentliche Domäne des gegenwärtigen Menschengeschlechtes geworden ist.

Nur eines könnte vor der gänzlichen Umkehrung der Tageszeiten schützen: energische Zwangsmassregeln zur Unterdrückung des Lärmes und der Geräusche des Tages. Für die »Hausmusik« aber, gegen deren Missbrauch bisher noch nicht der mindeste Rechtsschutz geschaffen wurde, scheint mir das zu alleroberst nötig zu sein. Man besteuere endlich das Luxusklavier, besteuere musikalische Lustbarkeiten und Vergnügungen (nicht aber etwa belehrende Vorträge und bildende Veranstaltungen); man besteuere die Geige und die viel gemissbrauchte Guitarre. Man besteuere Spieldosen, Drehorgeln und Musikautomaten und übe diese Steuer rücksichtslos in alle deneiner