Yasar Destan
Der Kirschbaum
Augenzeugenbericht eines Toten
Band I
Roman
Von Yasar Destan bisher erschienen:
Deniz ISBN 978-3-86361-488-1
Auch als E-book
Himmelstürmer Verlag, part of Production House, Hamburg
www.himmelstuermer.de
E-Mail: info@himmelstuermer.de
Originalausgabe, September 2017
© Production House GmbH
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages.
Zuwiderhandeln wird strafrechtlich verfolgt
Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage
Cover: Peter Spellerberg; https://www.facebook.com/PSP.Fotografie/
Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de
E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH
ISBN print 978-3-86361-641-0
ISBN e-pub 978-3-86361-642-7
ISBN pdf 978-3-86361-643-4
Alle hier beschriebenen Personen und alle Begebenheiten sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist nicht beabsichtigt.
Wer sich der Vergangenheit nicht erinnert,
ist dazu verdammt,
sie noch einmal zu erleben.
George Santayana
Ich bin der Überzeugung, dass es keinen Unsinn gibt, den eine Regierung ihren Untertanen nicht einreden könnte.
Bertrand Russell
Lieber Arbnor,
ich weiß nicht, ob dieser Brief Sie jemals erreichen wird und wenn er Sie erreichen wird, über welchen Weg. Das Papier, auf dem er geschrieben ist, ist höchstwahrscheinlich transponderverseucht.
Noch nie war ich in meinem – ich darf behaupten – recht ereignisreichen Leben so nervös angesichts der weltpolitischen Lage wie es momentan der Fall ist, zumal ich mich und den Führungsapparat des Dritten Reversionsstaates als letzte Bastion gegen Geoffrey Farlanes und Andrew Palmers Knechtschaftsstaaten betrachte. Und um ehrlich zu sein, überrascht es mich ein wenig, dass wir überhaupt noch leben.
Der Berliner Gipfel von 2024 hätte nie stattfinden und das Freihandelsabkommen niemals zugelassen werden dürfen.
2024. Das Jahr, in dem zwei Wirtschaftsunternehmen ganze Staaten erpressten und zu Fall brachten.
Niemand hätte zwei Weltregierungen für möglich gehalten. Niemand glaubte daran, dass es nur noch zwei Armeen oder eine neue Weltwährung geben würde. Die Warnungen einiger Aufklärer hätten niemals als Verschwörungstheorien abgetan werden dürfen. Durchdachte man präventiv ein derartiges Szenario, so kam man zu dem Schluss, man verschwende seine Zeit mit einer hanebüchenen These, einer schwarzmalerischen Zukunftsvision. Die Länder waren zu zerstritten, als das sie sich zusammenrotten hätten können und um die Erdölförderung entbrannten immer wieder erbitterte Ressourcenkämpfe. Ferner spalteten sich die Interessen einiger Nationen hinsichtlich der Atomenergie, die seit dem Vorfall in Frankreich wieder höchst umstritten ist.
Eine Gruppe von Ideologen, die die Weltprobleme nach ihrer Fasson löst, ist sehr gefährlich. Die Geschichte hat uns immer wieder gelehrt, dass eine einzelne Autorität mit großer Entscheidungsbefugnis und Befehlsgewalt ihre Macht missbraucht. Machtaufteilung ist von immenser Bedeutung. Es braucht demokratische Strukturen.
Entschuldigen Sie meine Art, so flapsig mit dem Begriff Machtmissbrauch zu jonglieren. Selbst in meiner eigenen Vorstellung ist Macht ein Ideal, das positiv genutzt werden kann – was völliger Unfug ist. Eine politische Form der Machtausübung ist eine andere als die, mit der beispielsweise Eltern über ihre Sprösslinge verfügen. Macht bedeutet, über die Mittel zu verfügen, den eigenen Willen über den eines anderen zu erheben und diesen anderen Willen zu unterdrücken, um den eigenen zu realisieren. Was ist Andrew Palmers Wille? Und was ist unser eigener? Es müssen Interessensgegensätze vorliegen, denn ohne diese Gegensätze existiert keine Notwendigkeit zur Machtausübung, einerlei, ob durch psychische oder physische Gewaltanwendung. Denn wo Übereinkunft herrscht, muss kein Wille, muss kein Interesse durchgesetzt werden!
All das scheint wider Erwarten nun doch einzutreten.
Erlauben Sie mir, dass ich die Welt des 21. Jahrhunderts mit meinen persönlichen, zugegeben dramatischen, Worten zu erklären versuche: Ein Planet der automatischen Abläufe, der totalitären Industrialisierung und Überwachung ist aus ihr geworden. Jeder Mensch wird ausnahmslos als potentieller Konsument oder als Krimineller betrachtet. George Orwell würde sich im Grabe umdrehen. Sogar die fünf Kontinente verloren nacheinander ihre Identität. Sie wurden in zwei sogenannte Reversionsstaaten unterteilt, deren Begründer die Großindustriellen Geoffrey Farlane und Andrew Palmer sind und sich wie Erdenretter feiern lassen. Süd- und Nordamerika verschmolzen im Zuge der Globalisierung zum Reversionsstaat Nummer I, während sich Asien, Afrika, Europa und Australien zu einem noch viel exorbitanteren System vereinten, dem Reversionsstaat Nummer II.
Ursprünglich sollten drei Reversionsstaaten konstituiert werden, aber den Dritten, Ex-Australien, warfen Farlane und Palmer mit einem infamen Schwindel aus dem Rennen.
Als alle drei Staaten im Jahre 2028 um die Vorherrschaft kämpften und um die Gunst der Weltbevölkerung buhlten, entschieden sie sich für das umfassendste Votum in der gesamten Menschheitsgeschichte. Milliarden von Wählern (eine genaue Anzahl konnte nicht ermittelt werden) nahmen mittels eines simplen elektronischen Verfahrens daran Teil, außer den wenigen Globalisierungsgegnern, den neutral Gesinnten und den Menschen aus den – verzeihen Sie mir bitte diesen herablassenden und vermessenen Ausdruck – Entwicklungsländern. Die Wahlstimmen konnten ganz einfach per D-Lec Verfahren abgegeben werden (das heißt jeder, der im Besitz eines solchen Gerätes war). Egal an welchem abgelegenen Ort der Erde sich der Wähler auch gerade befand. Ob in einer Millionenmetropole oder auf dem Gipfel des Mount Everest oder während einer Exkursion im südamerikanischen Dschungel. Wahllokale gehörten damit der Vergangenheit an. Zum ersten Mal wurden Stimmen nicht für Parteien abgegeben, sondern für Wirtschaftskonzerne. Politiker existieren zwar noch, aber sie sind Marionetten, die auf den Gehaltslisten von Global Village und Palmer International stehen.
Natürlich belasteten sich die Staaten gegenseitig mit schweren Sabotagevorwürfen. Eine weiße Weste trug allerdings niemand von ihnen. Bei den elektronischen Wahlen wurde gepfuscht und betrogen.
Jedenfalls schienen Farlane und Palmer gleichzeitig den Gedanken zu haben, es sei leichter, erst einmal einen Staat aus dem Weg zu räumen: Und dabei handelte es sich um den damaligen Kontinent Australien, der ökonomisch von mir, Lennon Craft, angeführt wurde. Ich hatte aus Australien binnen kürzester Zeit einen vollkommen autonomen Inselstaat gebildet, der nicht auf Import/Export angewiesen war. Außerdem lag ich bei Meinungsumfragen um wenige Prozent an der Spitze, doch die Ergebnisse wurden vertuscht (ich mag wie ein schlechter Verlierer klingen, aber so verhielt es nun mal).
Ein Dorn im Auge. Der Splitter unter dem Fingernagel.
Also starteten Farlane und Palmer mit ihren eigenen Medien eine perfide Verleumdungskampagne gegen mich. Vor den Wahlen wurde in den Nachrichtensendungen die Lüge verbreitet, der Störfall in dem französischen Atomkraftwerk Merveille sei ein Sabotageakt des australischen Geheimdienstes gewesen, den ich persönlich in Auftrag gegeben hätte. Es wurden plakative Beweise aus dem Ärmel gezaubert und ich frage mich, warum jeder Student Quellenangaben machen muss, aber kein einziger Nachrichtensender, der längst von Palmer International geschluckt wurde und keinen anderen Zweck erfüllt, als die Reversionsbürger vor den Fernsehern mit Falschinformationen zu mästen. Ein weiteres Indiz, dass die Medien in höchstem Maße verfassungswidrig handeln.
In eigenen Kreisen rechtfertigte Farlane sein Tun vor seinen Mitarbeitern wie folgt: „Die beste Art, die Zukunft vorherzusagen, ist, sie zu erschaffen.“ (Die historische Persönlichkeit, die Farlane hier zitierte, hatte diesen Satz allerdings in einem anderen Kontext gebraucht).
Später erklärte Andrew Palmer meine Wahlflaute mit der Behauptung, ich widersetze mich bewusst der globalen Einigkeit und stelle somit ein Risiko dar. Mein Handeln habe etwas Nationalistisches (ich muss, glaube ich, an dieser Stelle nicht betonen, wessen Absichten in Wahrheit nationalistischen Ursprungs sind). Nach dieser Äußerung bangte ich nicht nur um mein Wohlbefinden, sondern auch um das der australischen Bevölkerung. Also schloss ich mich unter großen Selbstzweifeln dem Zweiten Reversionsstaat unter der Leitung von Palmer an. Palmer sah mich stets als zwiespältigen und bedrohlichen Menschen an. Aber glauben Sie mir bitte, mein lieber Arbnor, der zwiespältigste und bedrohlichste Mann auf diesem Planeten heißt (neben Geoffrey Farlane) Andrew Palmer.
Jetzt ging es nur noch darum, sich gegenseitig die Augen auszukratzen. In einer medialen Schlammschlacht bewarfen sich Global Village und Palmer International mit so viel Dreck, dass die Welt für Wochen den Atem anhielt.
Zum Erstaunen der Weltbevölkerung verlief die finale Wahl unentschieden. Bewohner aller Kontinente baten die Großindustriellen mit einem Heer aus Diplomaten als Sprachrohr, die Wahl nicht zu wiederholen. Und ihr Flehen wurde erhört. Seit fünf Jahren führen Farlane und Palmer gemeinsam das Regime über die gesamte Weltwirtschaft.
Wie muss man sich das vorstellen?
Nun, im Grunde genommen waren und sind die beiden nichts weiter als ultrareiche Diktatoren in einer Diktatur, die niemand wahrhaben will. Sie genossen einen einzigartigen, voneinander unabhängigen Werdegang, der bereits in wohlhabenden Familien begann.
Farlanes Vater arbeitete sich aus einer Managerposition bis zum ersten Vorsitzenden des erfolgreichsten Technologiekonzerns der USA, LaneTech, hoch und brachte seinem einzigen Sohn ziemlich schnell das Einmaleins der Wirtschaftsphilosophie bei. Der Konzern kaufte in einem schleichenden Prozess bewusst nahezu alle Unternehmen im In- und Ausland auf, ob Lebensmittel-, Pharma-, Dienstleistungs-, Freizeit- oder Finanzunternehmen. Eine Fusion folgte der nächsten. Alle wurden geschluckt. Zur Veranschaulichung: Man stelle sich einen kleinen Fisch vor, der von einem größeren gefressen wird, der wiederum von einem noch Größeren gefressen wird und der wiederum im Bauch eines noch Dickeren landet. Die Familienbetriebe konnten sich nicht mehr halten, weil die Monsterfische kleinere Lieferaufträge strikt ablehnten und üppigere Warenbestellungen ihre Lagerkapazitäten gesprengt hätten. Es rentierte sich einfach nicht für die Lieferanten.
Gesetzes- oder Verfassungsänderungen seitens der Regierungen blieben aus. Lediglich im umstrittenen Bereich der Vorratsdatenspeicherung gab es eine Änderung des Grundgesetzes – natürlich unter dem Vorwand, Menschen vor Kriminalität und Terrorismus schützen zu wollen. Skeptiker gingen jedoch von einer ganz anderen Ambition aus, warum eine Änderung vorgenommen wurde. Nämlich der, den Menschen auf Schritt und Tritt zu beobachten, seine Persönlichkeit zu durchleuchten und ihn zum Objekt konsumorientierter Schröpfkunst zu machen. Eine Überwachung, die nicht zuletzt auch durch die Basistechnologie RFID Orwell’sche Dimensionen annahm.
Mit derselben Verfahrensweise – Fisch frisst Fisch – gewann Andrew Palmer in Europa und Asien an Macht. Auch er war der stolze Sohn eines Rüstungsunternehmers – sein Vater hatte sich überwiegend in Europa einen Namen mit Future Technology Service gemacht. Nach dem Aufkauf mehrerer Elektronikfirmen und der Expansion über den Atlantik und des Urals blähte sich FTS zu einer mächtigen Institution auf. Als Palmer Junior die Unternehmensgruppe schließlich übernahm, wurde das Logo in Palmer International umgewandelt. In internen Kreisen gilt Palmer als ein Mann mit zwei Gesichtern. Das eine weitsichtig, intelligent und sozial, das andere konservativ, radikal und nicht zuletzt durch eine megalomane Ideologie vergiftet.
Das kapitalistische Weltsystem erfand sich neu und wuchs zu einem fetten, nimmersatten Kind heran, von absoluter Immunität geschützt.
Die Politiker standen dem Prozess der Entwicklung nahezu tatenlos gegenüber, so rasant ging er voran. Darum konnten sie ihren Pflichten, die darin bestanden, den jeweiligen Völkern zu verdeutlichen, dass der Weltwirtschaft keine totalitären Kontrollmechanismen innewohnten, kaum gerecht werden. Denn tatsächlich wohnten der Weltwirtschaft bereits alle Kontrollmechanismen inne. Es wurden keine rechtskräftigen internationalen Regelungen oder Konventionen aufgestellt, nein, bestehende wurden sogar abgebaut!
Mittlerweile kontrolliert Palmer International alle gesellschaftlichen Bereiche und nicht länger nur die wirtschaftlichen Domänen im Zweiten Reversionsstaat. Erziehungswesen, Presse, Medien, Nachrichten- und auch der Datenverkehr mussten sich der Totalität des Konzerns beugen.
Fehlende präventive Maßnahmen und die Unachtsamkeit der Politik sollten sich bald rächen. Im Gegensatz zur industriellen Diktatur entpuppte sich das, was nun folgte als echte Krise. Wir begannen, in den von den Konzernen beherrschten Medien eine gewisse Spannung zu spüren, die auf eine unmittelbare Katastrophe hinweist. Nur wenige unbestechliche Demokraten wagen es, dies unverhohlen zu prononcieren (und wenn sie es tun, werden sie mundtot gemacht). Der Grund: Andrew Palmer tritt mit seiner Radikalität immer ungenierter an die Öffentlichkeit und macht eine bestimmte Randgruppe – wie er sie tituliert – für das plötzliche Auftauchen des tödlichen Tarkus-Virus verantwortlich. Ferner geht er mit seinem größten Widersacher, Geoffrey Farlane, aggressiver und härter ins Gericht als je zuvor.
Ich bin sicher, dass der Anschlag in Frankreich eine fingierte Operation war, die in Wirklichkeit auf das Konto der Repo ging. Denn selbstverständlich verfügt auch die Repo über eine Abteilung mit geheimdienstlichen Funktionen. In der Vergangenheit hat sich immer wieder bestätigt, dass Geheimdienste nicht nur für Spionage, sondern auch für Attentate und die Verunsicherung von Bevölkerungen verantwortlich waren. Episoden verschleierter Komplotte, deren Ziel etwas ganz anderes war als das, was letztendlich in den Medien berichtet wurde. Ich habe Hinweise von einem zuverlässigen Informanten erhalten, dass sich die Explosion im Reaktorgebäude von Merveille mühelos in diese Episoden einreihen lässt. Allerdings befindet sich besagter Informant aufgrund seiner Doppelrolle in schlechter psychischer Verfassung und ich weiß nicht, wie lange er dem Druck noch standhalten wird.
Damals wie heute sind die Vorfälle mehr als beunruhigend.
Der Kampf um die globale Wirtschaftsmacht ist in eine neue Runde gegangen, deren Ausgang niemand vorherzusagen vermag. Und wir sollten uns nun zwei Fragen stellen: Was passiert, wenn das fette, nimmersatte Kind Andrew Palmer beleidigt und wütend ist? Und wie wird Geoffrey Farlane, der eifersüchtige Zwillingsbruder, darauf reagieren?
All dies wissen Sie, lieber Arbnor, und ich, doch den meisten Menschen ist die Zuspitzung dieser Entwicklung nach wie vor fremd. Deshalb ist es mir so furchtbar wichtig, dass die Mission der Weißen Kontinente gelingt. Mir fehlen die Worte für das, was sich ansonsten anbahnen könnte. Aber was es auch sein wird, es wird unaussprechlich grausame Folgen für die Menschheit haben und einen weiteren dunklen Punkt in der Geschichte markieren – falls es dann überhaupt noch irgendeine Person geben wird, die sie auf ein Blatt Papier niederschreiben kann.
Was auch immer kommen mag; wir sollten die Hoffnung noch nicht aufgeben, denn trotz aller Hiobsbotschaften: Wir leben noch!
Viel Glück und die allerbesten Wünsche für Ihre Zukunft,
hochachtungsvoll,
Ihr Lennon Craft
Australien im Februar 2033
I. REVERSION
DIE SCHLAFENDE BESTIE