Jeanne Benameur

DAS GESICHT
DER NEUEN
TAGE

Roman

Aus dem Französischen
von Uli Wittmann

OKTAVEN

Für meine Mutter (1916  2015)

Und für Majid Rahnema (1924  2015)

Möge uns die Nacht wohlgesinnt sein

Möge unsere Rückkehr ins Dunkel prunkvoll sein

Möge der Traum so klar sein wie die Kindheit

François Cheng

À l’Orient de tout,

Poésie/Gallimard, 2005.

Inhalt

Widmung

Zitat

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Dank

Impressum

Newsletter

Es war einmal, es waren tausende und abertausende Male, ein Mensch von anderen Menschen dem Leben entrissen.

Und diesmal war es dieser Mensch.

Er hat Glück. Er ist lebendig. Er kehrt heim.

Drei Worte, die in seinen Adern hämmern, Ich kehre heim. Seit er begriffen hat, dass man ihn tatsächlich freilässt, hat er sich in diese drei Worte zurückgezogen. Hat in ihnen Zuflucht gesucht, um Blut und Knochen zusammenzuhalten.

Warten. Sich nicht gehen lassen. Noch nicht.

Eine verfrühte Euphorie hat verheerende Folgen, das weiß er. Das kann er sich nicht erlauben, auch das weiß er. Daher kämpft er. So wie er gekämpft hat, um sich nicht von panischer Angst überwältigen zu lassen, als ihn vor mehreren Monaten ein paar Männer in einer wild gewordenen Stadt brutal gepackt, buchstäblich dem Bürgersteigrand «entrissen» und ihn blitzschnell mit Gewalt in ein Auto gezerrt haben; als sein ganzes Leben plötzlich zu einem kleinen Kieselstein geworden ist, den man in einer Westentasche fest umklammert hält. Er versucht sich zu erinnern. Vor wie vielen Monaten genau? Er weiß es nicht mehr. Er wusste es, hat die Tage gezählt, aber jetzt weiß er nichts mehr.

Heute Morgen hat man ihn aus dem Raum geholt, in dem er eingesperrt war, und ihm die Fußfesseln abgenommen, wie jeden Morgen und jeden Abend, wenn man ihn mit verbundenen Augen zu dem stinkenden Loch führt, das als Toilette dient. Aber er hat nicht achtzehn Schritte gezählt, wie gewöhnlich, sondern neunzehn, zwanzig, einundzwanzig … dann hat er mit klopfendem Herzen aufgehört zu zählen. Man hat ihn, noch immer mit verbundenen Augen, zu einem Flugzeug geführt.

Worte sind in Englisch ausgesprochen worden, der einzigen Sprache, in der man sich in dieser ganzen Zeit an ihn gewandt hat. Es war nicht die unverwechselbare Stimme jenes Mannes, der manchmal zu ihm kam, um ihm etwas über ihren gerechten Kampf zu sagen. Und plötzlich fiel das Wort «frei» auf Französisch. Zum ersten Mal ein französisches Wort. Das hat ihn fast zu Tränen gerührt. Das Wort und die Sprache, beides zusammen, da zersprang etwas in seiner Brust.

Der Akzent war so stark, dass er befürchtete, nicht richtig verstanden zu haben, er wiederholte Frei? Man erwiderte ihm Yes, frei, und das Wort «Frankreich».

Da begann er unentwegt Frankreich zu wiederholen. Und darauf folgten die drei Worte: Ich kehre heim. Daran klammerte er sich.

Seither befindet er sich zwischen zwei Welten. Nicht mehr wirklich gefangen, aber auch nicht frei. Damit kommt er nicht zurecht. Innerlich.

Durch die Entführung ist sein ganzes Leben aus dem Gleis geraten. Man hat ihn mit einem Schlag von der Freiheit in Gefangenschaft versetzt, aber die Sache war klar. Das war ein Akt der Gewalt. Doch seither ist die Gewalt heimtückisch geworden. Sie wird nicht mehr ausschließlich von den anderen ausgeübt. Er hat sie verinnerlicht.

Die Gewalt besteht darin, sich auf nichts mehr verlassen zu können. Nicht einmal auf das, was er empfindet.

Er kann sich nicht der Freude des Wortes «frei» hingeben, unmöglich. Zustand der Schwebe.

Solange er noch nicht am Ziel ist, von Händen berührt wird, die er kennt, solange er nicht überall ringsumher Worte in seiner Sprache hört, wie oft hat er nur davon geträumt, bleibt er zwischen zwei Welten. Und hat Angst.

Der Druck, der auf seinen Rippen lastet, ist zu stark, er kann kaum noch atmen. Er hatte einen Luftzug auf der Haut gespürt, bevor er ins Flugzeug stieg, eine äußerst intensive Empfindung. Und nun versucht er, sich innerlich auf ein Musikstück zu konzentrieren. Während seiner ganzen Gefangenschaft, wenn alles in seinem Kopf zu explodieren drohte, war es ihm nur auf diese Weise gelungen durchzuhalten. Er hätte nie gedacht, dass er dieses Musikstück noch so gut in Erinnerung hatte. Schon seit langen Jahren hatte er sich vom Klavier seiner Kindheit und Jugend abgewandt. Seit Jahren lebte er nur noch für seinen Beruf als Kriegsreporter: Bericht erstatten, informieren, möglichst wahrheitsgetreue Fotos machen, die die Welt so wiedergeben, wie sie ist, mit all ihren Schrecken, aber manchmal auch mit einer Vitalität, die allem widersteht. Sein Klavier war in weiter Ferne. Aber an eine Partitur erinnerte er sich noch. Das Trio von Weber. Und er hat sich alle Mühe gemacht, sie wiederzufinden, Ton für Ton. Hat an Enzo gedacht, den langjährigen Freund, und den warmen, kräftigen Klang seines Cellos, an Jofranka, ihre Seelenfreundin, und den ernsten, zarten Klang ihrer Querflöte. Mit dieser Erinnerung flößte er sich Ruhe ein, wenn ihn die Verzweiflung zu übermannen drohte. Dann konzentrierte er sich, um die Töne wiederzufinden, und begleitete Enzo erneut, der schon von jener Kraft erfüllt war, um die er ihn beneidete, und ihre kleine Jofranka, wie damals, als sie noch Kinder waren, in ihrem Dorf. Er versucht, sich auf die Atemübungen zu konzentrieren, die sie vor langer Zeit gelernt hatten, um das Zwerchfell geschmeidiger zu machen und mit dem Bauch zu atmen. Das kann die Angst besänftigen. Zumindest ein wenig.

Unmöglich. Irgendetwas Dumpfes schlägt in seinem Inneren wie eine Kriegstrommel. Alles, was er in all diesen Monaten unter Verschluss zu halten versucht hat, ist da, ganz nah, unter der Haut. Er ist kurz davor, am ganzen Körper zu zittern, so wie er andere Männer hat zittern sehen, mutige Männer, Kämpfer. Und doch wurde ihr Körper plötzlich von entsetzlichen krampfhaften Zuckungen geschüttelt.

Er muss mit den drei Worten Ich kehre heim durchhalten. Zuflucht in ihnen suchen. So wie er als Kind gelernt hatte, sich in einen Farbfleck auf einem Foto oder in die Krümmung eines Baums, den er durchs Fenster sah, hineinzuversetzen. Alles andere vergessen. Ich kehre heim ich kehre heim, nur noch mithilfe dieser drei unscheinbaren Worte atmen, bis … Manchmal überwältigt ihn mit einem Schlag die Freude, doch er verscheucht sie, aus Angst, verrückt zu werden, falls alles im letzten Moment scheitert, das hat man schon oft genug erlebt. Die Freude in Schach halten, sich in diesen drei Worten verkriechen. Es gibt keine andere Zuflucht.

Im Flugzeug versucht er nicht, die Beine auszustrecken. Er winkelt die Knie an, lehnt den Kopf nicht an die Rückenlehne.

Sein ganzer Körper zieht sich zusammen. Irgendeine dunkle Macht ist jetzt am Werk, versucht, den Abstand zwischen Ich und kehre heim zu vergrößern. Und er zwischen den beiden. Ein Abgrund. Diese Worte in seinem Kopf zusammenhalten, nicht zulassen, dass sich ein Zwischenraum zwischen ihnen bildet. Wenn er diese Worte ebenso fest zusammenhält wie seine zusammengepressten Handflächen, kann nichts passieren, nichts. Er wirft keinen Blick auf seine abgemagerten Arme, weigert sich, an seine Beine zu denken, wenn er aufstehen und gehen muss. Nur hierbleiben, zusammengekauert im Ich kehre heim. In der Schwebe. Wie das Flugzeug am Himmel.

Zeit vergeht.

Er öffnet und schließt die Augen, prüft die simple Fähigkeit, nur mit seinen Augenlidern für Licht oder Dunkelheit zu sorgen. Sie haben ihm die Augenbinde abgenommen, als das Flugzeug so hoch flog, dass er nichts mehr vom Erdboden erkennen und später keine Informationen weitergeben konnte. Der Mann, der ihn begleitet, trägt eine Sturmhaube und sagt kein Wort, in der Hand hält er eine Waffe, die auf seinen Schenkeln ruht. Hatte er ihm an diesem Morgen die Nachricht verkündet? Einen Augenblick hatte sich ihm vor panischer Angst der Magen zusammengekrampft. Und wenn sie ihn, sobald sie in der Luft waren, aus dem Flugzeug warfen? Er hatte genügend solcher Bilder gesehen, um sie nie vergessen zu können. Die panische Angst ist da, direkt unter der Haut. Eine Kleinigkeit reicht aus, um sie zu wecken. Die Sturmhaube und die erst in großer Höhe abgenommene Augenbinde haben ihn jedoch beruhigt. Man trifft nicht so viele Vorkehrungen mit jemandem, der sterben soll. Vielleicht lächelt der Mann unter seiner Sturmhaube. Wenn sie ihn freilassen, müssen sie wohl erreicht haben, was sie erreichen wollten. Wo sind die beiden anderen, die gleichzeitig mit ihm entführt worden sind und die er nie wiedergesehen hat? Er schließt wieder die Augen.

Die verbundenen Augen, das wusste er aus den Berichten all derer, die vor ihm das Gleiche erlebt hatten. Das hatte ihn nicht überrascht. Die Augen werden sofort verbunden. Das wusste er, ja; aber mit einer Augenbinde leben zu müssen ist etwas anderes. Die Dunkelheit am helllichten Tag. Und alle Gedanken, die verrücktspielen. Der Eindruck, ausgeliefert zu sein, völlig schutzlos, derart verwundbar. Man kann nichts mehr vorwegnehmen, läuft wie ein Greis, mit unsicherem Schritt. Und es fällt einem ungemein schwer, all das zu erfassen, was die Ohren von der Umwelt wahrnehmen. Als lähmte die Augenbinde anfangs mit einem Schlag alle Sinne, anstatt sie zu schärfen. Die Dunkelheit dauert so lange, dass man jegliches Zeitgefühl verliert.

Er legt die flache Hand auf die Augenlider.

Damit die Zeit erneut zunichtegemacht wird. Damit alles wieder in Dunkelheit versetzt wird, bis er sicher ist, am Ziel zu sein.

So hat er wochenlang, monatelang gelebt. Er konnte sich nicht vorstellen, wie es sein würde, den Wechsel von Licht und Dunkel wiederzufinden.

Er presst die Hand auf die Lider. Er kann damit aufhören, wann er will, er braucht nur den Druck der Finger zu verringern, die Handfläche ein kleines bisschen zu entfernen.

Die Augenlider öffnen.

Das Tageslicht wiederfinden.

Wie alle anderen.

Die Menge, die am Rollfeld wartet, wird von Stunde zu Stunde dichter. Sie besteht aus Journalisten und Sympathisanten, die die Geschichte dieses Pressefotografen Schritt für Schritt verfolgt haben. Bemerkungen werden laut.

Er hat keine Angehörigen, niemanden …

Man weiß nichts Genaues … es ist so gut wie nichts durchgesickert …

Ja, aber du siehst doch, dass außer der offiziellen Delegation niemand da ist … keine Frau, keine Kinder …

Wie alt ist er eigentlich?

Um die vierzig, oder?

Jemand sagt Nein nein er ist älter, eher um die fünfzig …

Na, auf den Fotos wirkt er aber jünger …

Eine Frau, die ein Mikrofon mit dem Logo eines bekannten Radiosenders in der Hand hält, sagt Er sieht verdammt gut aus, ich kann mich gern opfern …

Lachen.

Umgeben von der offiziellen Delegation, fast von ihr verdeckt, eine kleine schmächtige Gestalt. Sie haben es aufgegeben, die alte Frau in ein Gespräch zu verwickeln, sie hat zunächst einsilbig geantwortet und dann nur noch mit einer Kopfbewegung. Mit der Hand die eigensinnige Stirn abschirmend, das spitze Kinn dem Himmel entgegengereckt, wendet sie den Blick nicht von den Wolken ab. Sie will das Flugzeug auftauchen sehen, das ist alles. Sie hat die ganze Reise allein zurückgelegt, trotz ihres gebrechlichen Körpers, nur aus diesem Grund. Sie muss da sein, wenn das Flugzeug auftaucht, und darf es nicht mehr aus den Augen lassen, bis sie ihren Jungen aussteigen sieht, bis er den Fuß auf den Boden setzt.

Seit dem frühen Morgen spürt sie seine Kinderhand wie eingraviert in ihre Handfläche. Genau wie damals, wenn sie nach dem Sperber Ausschau hielten, der ganz am Ende ihres Dorfes über den Feldern jagte. Wer als Erster von beiden den Raubvogel am Himmel entdeckte, musste die Hand des anderen drücken, ohne ein Wort zu sagen. Sie hatte ihm das Signal beigebracht. Meistens sah er ihn als Erster. Die kleinen Finger pressten plötzlich mit aller Kraft die ihren. Die ganze Konzentration des Wartens drückte sich darin aus, in diesem Händedruck, intensiver als der unterdrückte Schrei. Heute wartet sie und bemüht sich regungslos, die Schärfe ihres Blicks wiederzufinden. Sie hatte ihn gelehrt, sich nicht zu rühren, leicht zu atmen und vor allem seine Anwesenheit nicht zu verraten.

Wenn du willst, dass die Tiere sich dir nähern, sorg dafür, dass sie dich vergessen.

Das nannten sie «den Indianer spielen».

Er hatte es gelernt.

Das hatte ihn zu dem Fotografen gemacht, der er heute war. Er besaß eine Gabe, um die ihn die anderen beneideten und die darin bestand, seine Anwesenheit vergessen zu lassen, sich ganz nah heranzupirschen.

Heute waren es nicht mehr Raubvögel, sondern Menschen, die er beobachtete.

Bei Raubvögeln hatte er nie an das Wort Barbaren gedacht.

Und seine alte Mutter war in weiter Ferne.

Sie weiß nicht, wie oft er angesichts des Grauenhaften dem Sperber seiner Kindheit nachgetrauert hat. Bei jedem Auftrag, den er angenommen hat, sagte er sich, er wolle sich nach seiner Heimkehr Zeit nehmen, um in sein Dorf zurückzukehren, sich auszuruhen und mit ihr zum Sperberfeld zu gehen, solange sie noch da war. Doch dann verging die Zeit, er musste wieder los und begnügte sich mit einem Anruf.

Schon seit Stunden hat sich die alte Frau darauf vorbereitet. Seit Stunden lebt sie in Aufregung, und es fällt ihr immer schwerer, sie in Schranken zu halten. Sie ist voller Unruhe und zutiefst erschöpft. Reden, das wäre zu viel.

Sie klammert sich an die Überzeugung, von der sie sich in all diesen Monaten nicht hat abbringen lassen: Sie wird es noch erleben, ihn lebendig wiederzusehen. So ist das nun mal. Und mit dieser Überzeugung hat sie die ganzen Monate durchgehalten, ohne Kameras und Interviews. Niemandem ist es gelungen, sich Zutritt bei ihr zu verschaffen oder sie zum Reden zu bringen.

Seit heute Morgen spürt sie, dass tief in ihrem Inneren etwas zerspringen könnte. Ihr altes Herz fängt hin und wieder an zu rasen, pocht mit dumpfen Schlägen. Sie wünschte sich, sie wäre in ihrem Dorf, in ihrer Küche, sähe ihren Étienne unverhofft heimkommen, wie er es nur zu selten getan hat, und in ihrer Brust würde sich etwas Großes, Weites öffnen, während sie ihn an sich drückt. Ihren Jungen.

Sie hat dieses Kind ganz allein aufgezogen. Sein Vater ist mit einem Segelboot aufgebrochen, um ans andere Ende der Welt zu fahren, und nie wiedergekommen. Das Boot ist nie gefunden worden. Nicht die geringste Spur. Ein Leben ausradiert von einem Sturm. Und das ihre mit einem Schlag in eine Zeit ohne jegliches Warten eingezwängt. Das hatte sie in eine paradoxe Situation gebracht: Die Zeit, der keine Rückkehr Grenzen setzte, sperrte sie ein. Allein mit Etienne. Er war damals knapp drei.

Im Jahr zuvor hatte er gelernt, Papa zu sagen. Er begann erst spät zu sprechen. Sie hatte ihn in der Küche das Wort wiederholen lassen. Später warf sie sich vor, ihm ein nutzloses Wort beigebracht zu haben.

Sie hatte das gerahmte Foto ihres Mannes auf dem Büffet umgedreht, ein Foto, auf dem er am Tag seiner Abreise lächelnd auf seinem neuen Segelboot posierte, das leichter war als alle vorhergehenden. Damit hatte sie das Zeichen gesetzt, dass man ihn nie wiedersehen werde. Etwas, was sie als stilles kleines Kind ihre Großmutter für deren Mann hatte tun sehen und was sich ihr tief ins Gedächtnis eingeprägt hatte. Das Foto war lange der Rückwand des Büffets zugewandt dort stehen geblieben.

Viel später hatte ihr Junge eines Tages das Foto in sein Schlafzimmer mitgenommen. Sie hatte ihn gewähren lassen. Er war soeben in die Schule gekommen und die anderen Kinder hatten ihn gefragt, wo sein Vater sei. Zu jener Zeit war sie die Lehrerin der einklassigen Dorfschule gewesen. Und keiner ihrer Schüler hätte diese Frage an sie zu richten gewagt. Sie hatte gehört, wie er in der Pause mehrmals sagte, sein Vater sei «auf See verschollen». Das war also der Ausdruck, den er gehört, sich gemerkt und noch nie zuvor benutzt hatte. Das hatte ihr einen Stich ins Herz versetzt, diese Worte im Munde ihres Jungen. Was hatte er sich wohl darunter vorgestellt, als er sie gehört hatte? Das würde sie nie erfahren. Sie sah ihn in dem Bewusstsein an, dass er für sie ein Rätsel war und bleiben würde. Sie war schon immer überzeugt gewesen, dass das so war, die Menschen blieben sich gegenseitig ein Rätsel. Und ihr täglicher Umgang mit Kindern hatte das nur bestätigt.

Dass ihr Junge diese Worte auf dem Schulhof ausgesprochen hatte, musste wohl etwas in ihm wachgerufen haben. Den Wunsch, das Gesicht seines Vaters in Ruhe und ohne Beisein anderer zu betrachten. Später hat sie das Foto weder an den Wänden seines Schlafzimmers, auf seinem Schreibtisch, noch auf seinem Nachttisch gesehen und daraus geschlossen, dass er es in seinem Geheimfach verwahrte, einer Schublade, für die nur er den Schlüssel besaß und die sie ohnehin nie geöffnet hätte. Irène hatte gelernt, dass es besser war, die Geheimnisse anderer zu respektieren. Vor allem die ihres Mannes. Die Lektion war hart für sie gewesen, damals war sie gerade dreißig geworden, kurz nach Étiennes Geburt. Sie hatte das nie vergessen.

Étiennes Geheimfach hätte sie um nichts in der Welt zu öffnen versucht.

Sie stellte ihn sich vor, wie er manchmal das Foto hervorholte und das stets junge, stets lächelnde Gesicht seines Vaters betrachtete. Doch es entzog sich ihrer Vorstellung, dass er das Foto vor dem großen Spiegel in seinem Zimmer direkt neben sein Gesicht hielt.

Und manchmal redete er bei geschlossenen Augen mit seinem Vater.

Sie haben ihm seine Leica nicht zurückgegeben. Warum? Deren Konturen abtasten zu können, wie er es manchmal durch das abgewetzte Leder seiner alten Umhängetasche hindurch mechanisch tat, wo auch immer er war, das bedeutete für ihn, «frei» zu sein. Die Tasche ist immer noch dieselbe, er kennt sie in- und auswendig, an manchen Stellen abgenutzt durch Reibung und auf einer Seite etwas rau. Er erinnert sich, dass er sie in der Hand hielt, als sie ihn entführten. Er stand damals am Rand des Bürgersteigs und fragte sich, ob er seinen Apparat hervorholen oder fortrennen und sich in Sicherheit bringen sollte, wie die anderen. Wenn er erneut den Apparat an sich drücken könnte, wenn seine Hände die Schrammen auf dem Leder spüren, sie wiedererkennen könnten, wäre er sich der Realität ein wenig sicherer.

Sich wessen sicherer? Am Leben zu sein?

Er fährt sich mit der Zunge über die Lippen, merkt, dass er Durst hat. Wahnsinnigen Durst. Eine Flasche Mineralwasser steht neben ihm, ist dort hingestellt worden, bevor er ins Flugzeug stieg. Er bemüht sich, das Zittern seiner Hand zu bezwingen, trinkt langsam. Das Wasser, das ihm durch die Kehle rinnt, ist ein wahrer Segen. Alles andere verscheucht er. Während seiner gesamten Gefangenschaft war das Wasser knapp bemessen. Man hat ihn nicht verdursten lassen. Sie waren darauf bedacht, ihr Tauschobjekt am Leben zu erhalten. Aber die Wasserration vom Vormittag musste bis zum folgenden Tag reichen. Er sparte sich immer ein wenig für die Nacht auf. Sein einziger Reichtum.

Das Wasser im Flugzeug ist kühl, und das ist etwas, was er seit Monaten nicht mehr erlebt hat. Er konzentriert sich nur auf die Kühle des Wassers, und plötzlich überschwemmen ihn Bilder, mit denen er nicht gerechnet hatte. «Der Sturzbach», nur wenige Kilometer vom Dorf entfernt. Ein Flussarm, der mit starkem Gefälle von den Felsen stürzt und schnell weiterfließt. Wohin? … Eine Dusche in diesem kalten Wasser zu nehmen, das auf ihren Körper herabprasselte, wie sehr hatten sie das geliebt, als sie acht, zehn oder fünfzehn Jahre alt waren, er und seine Freunde aus dem Dorf! Die Mütter hatten immer Angst gehabt, sie könnten zu tollkühn sein und sich in den Felsen den Hals brechen, aber sie liebten auch die Ängste der Mütter. Das machte einen Teil ihres Vergnügens aus. Die Erinnerung steckt noch in seinem ganzen Körper. Er legt leicht die Hand auf die andere Flasche, die neben ihm bereitsteht. Eiskalt. Zwei Flaschen. Wie lange soll der Flug nur dauern? Welche Route haben sie vorgesehen? Wollen sie ihn erst in einem Land absetzen, das als Vermittler dienen soll? Alles ist so plötzlich geschehen. Seine Augen sind nicht mehr verbunden, aber man verheimlicht ihm alles. Er unterdrückt eine aufkeimende Zornreaktion. Mit welchem Recht machen sie noch ein Geheimnis aus allem, was ihn erwartet, Herrgott noch mal! Nichts zu machen, er hat nicht die Geduld all derer, die in Ländern leben, die seit Jahrzehnten geknebelt werden, derer, die mit der Muttermilch das Wissen aufgesogen haben, dass ihr Leben schon morgen zu Ende gehen kann. Nein, diese Geduld hat er nicht gelernt. Er fragt sich, ob das eine Stärke oder eine Schwäche ist. Heute ist er zu müde, weiß es nicht mehr. Er trinkt langsam einen weiteren Schluck Wasser, versucht nur «den Sturzbach» wiederzufinden, der ihm die Adern erfrischt, den Brunnen, die Bäume und den Himmel über dem Dorf, die die Vision des Bachs begleiten. Aber alles hat sich entfernt. Er hat die Augen geschlossen.

Da taucht das Gesicht der Frau auf, jener Frau, die alle anderen vertrieben hat. Der Frau, deretwegen er mitten auf dem Bürgersteig stehen geblieben ist, anstatt schnell fortzurennen, um sich in Sicherheit zu bringen, wie die anderen. Die letzte Frau, die er gesehen hat, ehe er in einer wild gewordenen Stadt vom Rand des Bürgersteigs entführt wurde. Während seiner ganzen Gefangenschaft hat er sich bemüht, sich vor dieser Vision zu schützen. Dieses Bild zu verscheuchen, all das zu verscheuchen, was es in ihm ausgelöst hat. Wenn man überleben muss, Tag für Tag, und nicht einmal weiß, ob es draußen hell oder dunkel ist, kann man sich das nicht leisten … Doch er weiß, dass er sie noch Monate oder Jahre später wiedererkennen würde. Die Frau legte ihren Kindern Wasserflaschen auf die angewinkelten Unterarme, lud sie auf deren zarten Arme, noch eine und immer noch eine, und schob dann die beiden Kinder auf die Rückbank einer großen schwarzen Limousine. Die hintere Tür stand offen. Auf der anderen Seite der Rückbank, an die getönte Scheibe gelehnt, eine in sich zusammengesunkene Gestalt. Ein Mann. Regungslos. Krank? Verletzt? Jeder versuchte zu fliehen. Man wusste, dass die Panzer jede Sekunde eintreffen konnten und was für Horrorszenen sie hinterließen. Die Handbewegungen der Frau waren knapp und präzise. Sie sagte kein Wort. Vielleicht hatte ihn das innehalten lassen, diese Stille. Der Wagen war schwer beladen.

Welch schweres Gewicht auf allem lastete, hatte er gespürt, als er sie sah, wie sie versuchte, der trägen dunklen Masse zu entfliehen, die die Stadt in ihrer Gewalt hatte.

Dieses Gewicht hatte er am eigenen Leib verspürt, als wöge er plötzlich mehrere Tonnen. Er hatte nur mit Mühe den Fotoapparat hervorholen können. War wie erstarrt gewesen. Vielleicht lag das an all den Dingen, die er gesehen, all den Szenen, die er miterlebt hatte, ohne etwas anderes zu tun, als sie zu fotografieren, vielleicht hatte sich alles, was sich seit Jahren hinter seinen Augenlidern angestaut hatte und was er nicht in sich dulden wollte, beim Anblick dieser Frau in eine tonnenschwere Last verwandelt.

Sie versuchte, das Leben zu retten.

Und er, gegenüber, auf dem anderen Bürgersteig, stand wie versteinert da, alles in ihm war geronnen wie unreines Blut, von dem nicht einmal die Erde etwas wissen will. Im Krieg darf man nie zu lange innehalten. Sonst kann man zu einer Salzsäule erstarren wie Lots Frau. All das wusste er seit Langem, so wie er es auch verstand, den Draufgängern aus dem Weg zu gehen, jenen Soldaten, die in den Kampf ziehen, als gingen sie zur Messe, und scheinbar unter einem guten Stern geboren sind. Ein alter Kamerad, der nicht mehr lebte, hatte ihm eines Tages gesagt Bleib nie in deren Nähe, eines Tages ist ihr Stern verblasst und dann erwischt es dich, wenn du in ihrer Nähe bist. Er hatte auf ihn gehört. Diese Typen fotografierte er nur aus der Ferne und folgte seinem Instinkt, wenn er sich die Frontsoldaten aussuchte, die er nur mit seinem Fotoapparat bewaffnet begleitete. Er tat alles, um sein Leben zu schützen. Und er legte weiterhin Zeugnis ab. Immer wieder. Und aus immer größerer Nähe.

Beim Anblick dieser Frau, die ihren Wagen belud und ganz allein alle Entscheidungen zum Überleben treffen musste, war er stehen geblieben. Das hätte er nicht tun sollen, das wusste er. Aber er hatte nicht anders gekonnt. Wie angewurzelt an den Bürgersteig stand er da, und der einzige Gedanke, der ihm durch den Kopf schoss, war Wie weit kann sie es schaffen?

Das Leben retten, was heißt das? Ist das seine gerettet? Solchen Gedanken darf er sich auf keinen Fall überlassen. Zu leben heißt zu atmen, das ist alles. Er ist lebendig. Hat überlebt. Kehrt heim. Das ist geradezu ein Wunder. Es dabei bewenden lassen. Die Männer, die ihn entführt haben, hätten keine Sekunde gezögert, ihre Drohungen wahrzumachen, das hatte er sofort begriffen. Männer, die nichts mehr zu verlieren hatten, und das Schlimmste daran war, dass er sie nur zu gut verstand. Er wusste, dass ihnen keine andere Möglichkeit mehr blieb, um sich Gehör zu verschaffen. Das hätte ihn vorsichtiger werden lassen müssen.

Hat der Mann mit der Sturmhaube Frau und Kinder, die auf ihn warten? Hätte er auch die Frau in dem schwarzen Wagen töten können?

Étienne denkt an die Leica. In der Umhängetasche. Niemand wird je die Gesichtszüge dieser Frau auf einem Foto betrachten können. Er auf seinem Bürgersteig, wie vom Schlag getroffen durch all das, was er gesehen und was ihn, wenn auch unbewusst, derart beeindruckt hat, und sie, gegenüber, mit ihren präzisen Handbewegungen. Irgendetwas in ihrer Geschäftigkeit, in diesem tatkräftigen Versuch, Schutzmaßnahmen zu treffen, die womöglich nur ein paar Stunden wirksam sind. Sie verhielt sich so, als könne sie tatsächlich ihr Leben, das ihrer Kinder und das des Mannes retten, der zusammengesunken hinten im Wagen saß. Dabei musste sie durchaus wissen, wie dieses Unternehmen vermutlich enden würde. Aber sie war mit präzisen Bewegungen und großem Ernst bei der Sache. Das hatte ihn fasziniert. Unbeirrbar, als sei ihr Leben nicht in Gefahr, verfolgte sie ihr Ziel, wie die Ameisen, die er, als er noch klein war, aus Spaß in Schrecken versetzt hatte und die immer wieder hartnäckig ihre Arbeit aufnahmen, ohne sich um jene zu kümmern, die er zerquetscht hatte.

Er wünschte sich, dass ein Wunder geschehen war. Für sie. Wie für ihn heute.

Vor seinem inneren Auge sind die Fotos der Frau präsent. Lebendige Bilder. Die schwere Strähne aus schwarzem Haar, die einen Teil ihres Gesichts verdeckt, und ihre derart bepackten Arme, dass sie sich nicht einmal mit einer Handbewegung das Haar aus dem Gesicht streichen kann.

Er denkt an die Hand seiner Mutter zurück, die ihm geduldig die widerspenstige Strähne aus der Stirn strich, als er noch ein Kind war. Diese Frau dort hätte auch eine zärtliche Hand nötig gehabt.

Hätte er die Straße überquert?

Man hatte ihn gepackt, in ein Auto gezerrt, und sie hatte den Kopf gehoben. Ihre Blicke waren sich begegnet. Und dann nichts mehr. Die Augenbinde, die gefesselten Hände. Sein Leben hüllte sich in Stille.

Étienne hat ungewollt die Wasserflasche zu fest zusammengedrückt. Die Plastikflasche gibt ein lautes, knackendes Geräusch von sich. Die Hand des Mannes mit der Sturmhaube hat die Waffe gepackt und nach einer Sekunde wieder sinken lassen. Der kurze Moment hat jedoch genügt, um Étienne zu zeigen, wie schnell der Mann reagiert. Einer, der Übung im Umgang mit Waffen besitzt.