Erster Teil

(1843–1861)

1. Kindheit

Inhaltsverzeichnis

Was mich einigermaßen berechtigt, meine Erlebnisse mitzuteilen, ist der Umstand, daß ich mit vielen interessanten und hervorragenden Zeitgenossen zusammengetroffen und daß meine Anteilnahme an einer Bewegung, die sich allmählich zu historischer Tragweite herausgewachsen hat, mir manchen Einblick in das politische Getriebe unserer Zeit gewährte und daß ich im ganzen also wirklich Mitteilenswertes zu sagen habe.

Freilich müßte ich, wenn ich nur über diese Epoche meines Lebens berichten wollte, mich auf die Geschichte der letzten fünfzehn bis zwanzig Jahre beschränken und ganz darauf verzichten, Bilder aus meiner Jugend heraufzubeschwören, und müßte es mir versagen, die persönlichen Erinnerungen aufzuzeichnen, welche mein ganzes wechselvolles Leben in mein Gedächtnis geprägt hat.

Das will ich mir aber nicht versagen. Wenn ich schon des erwähnten Umstandes halber mich bewegen ließ, meine Memoiren zu schreiben, so soll daraus ein wirkliches Lebensbuch werden. Noch einmal sollen die Stationen der langen Reise vor meinem inneren Auge der Reihe nach auftauchen und davon auf diesen Blättern photographiert werden, was mir zur Wiedergabe geeignet erscheint.

Also ohne weitere Einleitung zum Anfang:

Der Anfang alles Menschenlebens ist die Geburt. Wo und wann und in welchem Milieu ich zur Welt gekommen bin, besagt am zuverlässigsten mein Taufschein. Hier ist die Kopie des Dokumentes:

»Taufschein.

ad W. E. 200.

Aus der Geburts- und Taufmatrik der Pfarre St. Maria-Schnee, Lib. XIII. pag. 176, wird hiermit pfarrämtlich bestätigt, daß im Jahre eintausendachthundertvierzigdrei (1843) den 9. Juni in S. C. 697/2 geboren und hierauf den 20. ebendesselben Monates nach christkatholischem Ritus vom damaligen Ortspfarrer, wohlehrwürdigen Herrn P. Thomas Bazán getauft worden sei:

Bertha Sophia Felicita Gräfin Kinsky von Chinic und Tettau, eheliche Tochter (posthuma) des hochgeborenen Herrn Franz Joseph Grafen Kinsky von Chinic und Tettau, pensionierten k. k. Feldmarschalleutnants und wirklichen Kämmerers, gebürtig aus Wien – eines ehelichen Sohnes des hochgeborenen Herrn Ferdinand Grafen Kinsky von Chinic und Tettau Exzellenz, k. k. Kämmerers und Landesobersthofmeisters und Besitzers der Herrschaft Chlumec, und dessen Gattin, hochgeborenen Frau Christine, geborenen Fürstin Liechtenstein – und dessen Gattin, hochgeborenen Frau Sophia Wilhelmine Gräfin Kinsky von Chinic und Tettau, geborenen von Körner, gebürtig aus Prag (einer ehelichen Tochter des wohlgeborenen Herrn Joseph von Körner, k. k. Rittmeisters in der Armee, und dessen Gattin Frau Anna, geborenen Hahn).

Pathen bei der Taufe waren Barbara Kraticek, Kammermädchen, und hochgeborener Herr Arthur Graf Kinsky von Chinic und Tettau. Hebamme Frau Sabina Jerábek aus S. C. 124.

Urkund dessen des Gefertigten eigenhändige Unterschrift und das Pfarrsiegel.

Prag, Pfarre St. Maria-Schnee, den 27. November 1866.

Dr. (unleserlich),

Pfarrer b. St. Maria-Schnee.«

Dieser Taufe – obwohl ich dabei so vieles geschworen und abgeschworen – habe ich nicht beigewohnt. Unter »ich« verstehe ich nämlich nicht die lebendige körperliche Form, in der dasselbe enthalten ist, sondern jenes Selbstbewußtsein, das sowohl in der ersten Kindheit, als auch öfters im ganzen Lauf des Lebens abwesend ist: im Schlaf, in der Ohnmacht, in der Narkose und in gar vielen Augenblicken, wo man nur atmet und nicht denkt, nicht schaut, nicht hört, wo man nur so vegetativ weiterexistiert, bis das Ich wieder in Funktion tritt.

Prag war also die Stadt, in der meine Wiege, an der, wie an allen Wiegen, so manches nicht gesungen wurde, gestanden hat. Meine Mutter, die bei meiner Geburt schon Witwe war, ist aber bald nach Brünn übersiedelt, und was mir aus der Kindheit im Gedächtnis geblieben, das spielte sich in der mährischen Hauptstadt ab.

Dort sehe ich mich am Fenster stehen – fünf Jahre alt – und auf den »großen Platz« hinausschauen, wo eine lärmende Menge sich wälzt. Ein neues Wort schlägt an mein Ohr: Revolution. Alle schauen zum Fenster hinaus, alle wiederholen das neue Wort und sind sehr aufgeregt. Was ich empfunden habe, weiß ich nicht mehr, jedenfalls war ich auch erregt, sonst hätten das Bild und das Wort sich dem Geiste nicht eingeprägt. Daneben ist aber nichts. Das Bild weckt kein Verständnis, das Wort hat keinen Sinn. So sieht meine erste Erfahrung eines historischen Ereignisses aus.

Aber mein Gedächtnis reicht weiter zurück und zeigt mir einen Auftritt, den ich im Alter von drei Jahren erlebte und der mich viel heftiger bewegt hat als die politischen Umwälzungen des Jahres 1848.

Ungefähr drei Jahre bin ich alt. Es ist ein schöner Nachmittag und meine Mutter und mein Vormund wollen mich mitnehmen zu einer Landpartie in den »Schreibwald«. Der Begriff »Schreibwald«, ein beliebter Ausflugsort der Brünner, leuchtet aus meinen Kindererinnerungen als der Inbegriff von Naturpracht, Festesfreude, Waldesdunkel, Gebirgsbesteigung, Kaffeegenüssen, mit einem Wort als die Kulmination von dem Freudenkomplex, genannt Landpartie. Damals an dem denkwürdigen Nachmittag waren alle diese Erfahrungen wohl noch nicht vorhanden, vielleicht war es sogar das erstemal, daß ich in den Schreibwald geführt werden sollte, aber der Name blieb mir stets mit der folgenden Begebenheit verbunden.

Ein weißes Kaschmirkleidchen, ausgenäht mit schmalen roten Borten, wurde mir angelegt. Ein Prachtding: dekolletiert – das Muster der Ausnähung sehe ich noch vor mir, ich könnte es nachzeichnen. Wie würde die Umwelt staunen, wenn sie das erblickte! Ich fühlte mich schön, positiv schön darin. Da bemerkte mein Vormund vom Fenster – auch ihn sehe ich in seiner Generalsuniform –, daß das Wetter sich verzieht, daß es wahrscheinlich regnen werde. Ein kurzer Kabinettsrat (der General, meine Mama und die Kammerzofe Babette) folgte, und die Resolution ward verkündet: das schöne neue Kleid könnte Schaden leiden.

»Zieh der Komteß ein altes Kleid an,« lautete der mütterliche Befehl. Aber die Komteß erklärte mit aller Entschiedenheit, daß sie sich dagegen verwahre. Im neuen Kleide bin ich: j'y suis, j'y reste; mit diesem um dreißig Jahre vorgreifenden Plagiat gab sie ihren unerschütterlichen Willen kund. Vielleicht übrigens nicht so sehr mit Worten als mit Heulen und Trampeln.

Das nächste Bild aber in dieser mir unauslöschlichen Bildergalerie zeigt mir also das strahlend gekleidete, schöne und energische Wesen auf einen großen Tisch hingelegt, das Gesicht gegen die Tischplatte, das rotgestickte Röckchen von gefälliger Hand des nebenstehenden hohen Militärs gehoben, und von mütterlicher Hand sauste – klatsch, klatsch – die erste Prügelstrafe verzweiflungserweckend und entehrend auf das Objekt hernieder.

Ja Verzweiflung: daß es so großen Kummer geben könne auf der Welt und daß darüber die Welt nicht einstürzt, das war mir vermutlich unfaßbar. Endlich legte sich das wilde Schluchzen – ich wurde ins »Winkerl«, d.h. in eine Ecke gestellt und mußte um Verzeihung bitten – die so tief Beleidigte auch noch um Verzeihung bitten! Aber ich tat's, ich war zwar unglücklich, tiefunglücklich, aber gebändigt. Heute weiß ich nicht mehr, warum dieser Vorfall sich mir so tief in die Seele prägte; war es die verletzte Eitelkeit wegen des entzückenden Kleides oder das verletzte Ehrgefühl wegen des Disziplinarverfahrens? Wahrscheinlich beides.

Noch ein Bild ist mir eingeprägt. O, ich muß ein sehr eitler, vergnügungssüchtiger Fratz gewesen sein! Meine Mutter kommt ins Kinderzimmer; sie trägt ein schönes Kleid, wie ich es noch nie an ihr gesehen habe, und Schmuck auf dem bloßen Hals: Mama geht auf den Ball, und man erklärt mir, daß dies ein Fest ist, wo alle so schön angezogen sind und in ganz hellen Räumen tanzen. Ich will mitgenommen werden, will auch auf den Ball. »Ja, mein Wursterl geht auch auf den Ball.« Ich juble. – »Nämlich auf den Federnball.« Damit küßt mich die schöne Mama und geht. »So,« sagt Babette, »jetzt wollen wir uns zum Federnball bereitmachen.« Und sie beginnt mich zu entkleiden, was ich mit freudiger Erwartung geschehen lasse. Als ich aber, statt weiter geschmückt zu werden, ins Bett gebracht werde und erfahre, daß dies der Federnball sei, da breche ich in wildes Schluchzen aus, getäuscht, gekränkt, gedemütigt.

Bei dem Bilde meines Vormundes muß ich noch etwas verweilen. Meine ganze Kindheit und erste Jugend hat es freundlich durchleuchtet. Friedrich Landgraf zu Fürstenberg war meines verstorbenen Vaters Kamerad und Freund gewesen, und seine übernommene Aufgabe als Vormund und Beschützer und sorgender Freund des vaterlosen Kindes hat er bis zu seinem Tode treu erfüllt. Ich betete ihn einfach an, betrachtete ihn als ein höheres Wesen, dem ich unbedingten Gehorsam, Verehrung und Liebe schuldete und auch gerne zollte. Er war ein älterer Herr, über fünfzig, als ich zur Welt kam, und wie Kinder in der Alterschätzung schon sind, mir schien er uralt, aber urlieb. So lächelnd, so heiter, so Grandseigneur, so unbeschreiblich gütig. Diese mitgebrachten Zuckerbäckerwaren, diese reichen Weihnachtsgeschenke, diese Sorge um meine Erziehung, meine Gesundheit, meine Zukunft!

Grandseigneur: das war er ja tatsächlich. Mitglied des stolzesten österreichischen Hochadels, Feldzeugmeister, zuletzt Kapitän der Arcièrengarde, eine der ersten Stellungen bei Hofe. Fehlte bei keinem großen Hoffest und brachte mir von jedem Kaiserdiner so schöne Bonbons mit. Seine hohe Stellung flößte mir mehr Stolz als Respekt ein. Für mich war er der »Fritzerl«, dem ich du sagte, dem ich, solange ich klein war, auf die Knie stieg und den Schnurrbart zupfte.

Er starb unverheiratet. Sein Leben war so regelmäßig eingeteilt, es verlief so ohne Sorgen, ohne Leidenschaften, zwischen Dienst und Geselligkeit, daß nie der Wunsch aufkam, es zu verändern. In Wien bewohnte er eine schöne Garçonwohnung in der Inneren Stadt; in Mähren besaß er eine Herrschaft, wo er öfters ein paar Sommerwochen zubrachte, um nachzusehen, was seine Beamten treiben; doch zog er es vor, statt bei sich in dem einsamen Schloß zu wohnen, als Gast bei seiner alten Mutter und bei seinen verschiedenen Schwestern die Sommermonate zuzubringen. Reisen unternahm er niemals. Hinter den österreichischen Grenzpfählen hörte die Welt für ihn auf. Frömmigkeit, Kirchenfrömmigkeit sowohl wie Militärfrömmigkeit gehörten zu seinen, ich will nicht sagen Charaktertugenden, sondern Standestugenden. Er fehlte bei keiner Sonntagsmesse, keiner Kirchenfeier und keiner Parade. Für Feldmarschall Radetzky, den er persönlich gut gekannt, schwärmte er. Der Ruhm der österreichischen Armee war in seinen Augen einer der schönsten Bestandteile der allgemeinen Weltordnung. Die Société (mit diesem Worte bezeichnete er den Kreis, in dem er geboren war und in dem er sich bewegte) war ihm die einzige Menschenklasse, deren Leben und Schicksale ihn interessierten. Er wohnte auch stets allen in den Häusern Schwarzenberg, Pallavicini u.s.w. gegebenen großen Festen bei. Im Adelskasino hatte er mit einigen Ranggenossen seine regelmäßigen Whistpartien. Kartenspiel liebte er überhaupt – nicht Hasard, denn er war im höchsten Grad »solid« –, aber die unschuldigen Spiele, als da sind: Pikett, L'hombre, Tarteln. Dieses letztere pflegte er bei seinem wöchentlich zweimaligen Vormittagsbesuch bei uns mit meiner Mutter zu spielen, und ich durfte dabeisitzen, um mit dem Stiftchen die Points zu markieren. Sehr interessierten ihn die verschiedenen Heiraten in der Société; er hatte eine Schar von Neffen und Nichten, die mehr oder minder gute Partien machten. Er selbst hat, obwohl der Mannesstamm mit ihm erlöschen sollte, nicht ans Heiraten gedacht. Die Ursache war, daß er eine Herzensneigung zu einer Frau hegte, die zwar auch die Witwe eines Aristokraten, aber von Geburt aus nicht hoffähig war, also erschien ihm eine Heirat mit ihr einfach ausgeschlossen. Seiner Familie wollte er ein solches Aergernis nicht geben, und schließlich wäre es ja auch ihm ein Aergernis gewesen, denn alles, was außer dem Geleise, außer der Tradition, außer der »Korrektheit« lag, das ging ihm wider den Strich.

Als ein Typus von Altösterreichertum steht diese Gestalt vor meinem Gedächtnis. Ein Typus, von dem es wohl noch einige Exemplare gibt, der aber – wie aller Typen Los – im Aussterben begriffen ist. Unser Land ist jetzt aus Slawen, Deutschen, Kroaten, Italienern (Madjaren darf man schon gar nicht nennen, die würden sich das höchlich verbitten) und noch ein paar andern Nationalitäten zusammengesetzt, aber der Sammelname »Oesterreicher« könnte erst dann wieder zu einem stolzpatriotischen Begriff werden, wenn all die verschiedenen Völkerschaften mit eigner Autonomie zusammen einen Föderativstaat bildeten, wie die Deutschen, Franzosen und Italiener in der Schweiz. Da erzählte mir neulich ein Freund – ein dem bürgerlichen Stande angehöriger, aber bei Hofe sehr gern gesehener Mann – von einer Unterhaltung, die er unlängst mit dem Kaiser geführt. Im Laufe eines politischen Gespräches habe der Kaiser ihn befragt, welcher Partei er angehöre: »Zu derjenigen, zu der nur ein einziger Anhänger gehört, der ich bin.« – »Und was ist das für eine Partei?« – »Die österreichische, Majestät.« – »Na, und ich – zählen Sie mich nicht?« gab Franz Joseph lächelnd zurück.

Zurück zur Vergangenheit und zu meinem lieben Fritzerl. Es ist gut, daß er die Ereignisse von 1866 nicht erlebte. Die Niederlagen in Böhmen, die Lostrennung Venetiens; das hätte ihn bis ins tiefste Mark gedrückt. Und er hätte es einfach unbegreiflich gefunden, wie eine gegen alle Naturgesetze, namentlich gegen alle göttliche Ordnung verstoßende Kalamität. Zu der Weltauffassung, die den Typus kennzeichnet, den ich meine, gehört der Glaube, daß Oesterreich der Mittelpunkt der Welt sei und jedes ihm widerfahrende Unglück – namentlich Kriegsunglück – eine unnatürliche Pflichtversäumnis seitens der Vorsehung bedeute. Es sei denn, daß solche Niederlagen als Strafe gemeint seien, als verdiente Züchtigung für überhandnehmenden Unglauben, für Lösung der Sitten, für Verbreitung von revolutionären Ideen. Da hilft denn wohl nichts als strenge Zucht einführen, die Armee tüchtig reorganisieren; dann läßt sich vielleicht der Weltschöpfer versöhnen und die Weltgeschichte durch künftige Rückeroberungen wieder korrigieren. Diese Schmerzen und diese Betrachtungen blieben dem Fritzerl erspart.

Wenn ich vorhin sagte, von jenem Typus leben noch einzelne Exemplare, so habe ich mich wahrscheinlich geirrt. Es ist einfach unmöglich, daß heute noch in irgendeinem Kopfe die Welt sich so spiegelt, wie sie sich in den Köpfen derer spiegelte, die noch im achtzehnten Jahrhundert geboren wurden, die die erste Einführung der Eisenbahn erlebten, die das erste Photographieblatt in Händen hielten, die mit einigem Widerwillen die Oelbeleuchtung durch das Petroleum verdrängt sahen. Zu jenem altösterreichischem Typus (mit den altenglischen oder sonstigen altnationalen Typen geht es ebenso) gehört eine gewisse Beschränkung der Erfahrungen und des Wissens, welche heute auch in den konservativsten Kreisen nicht mehr bestehen kann.

Daß sich die Typen von Geschlechtsfolge zu Geschlechtsfolge ändern, daß die Anschauungen, Ansichten, Gefühle wechseln, das kann man am besten an sich selber beurteilen, wenn man in die Vergangenheit zurückblickt. Jeder Mensch, obwohl er zumeist den Wahn hegt, ein gleiches, fortgesetztes Ich mit bestimmten Charaktereigenschaften zu sein, ist ja selber eine Kette der verschiedensten Typen. Jede neue Erfahrung – ganz abgesehen von den körperlichen Veränderungen des Aufblühens und Abwelkens, des Gesund- oder Krankseins – modifiziert das geistige Wesen. Wieviel man sieht, ob als Landschaftsbild mit dem körperlichen Auge oder als Weltanschauung mit dem geistigen, ist nicht Sache des mehr oder minder kräftigen Sehvermögens, sondern besonders Sache des Horizonts.

Wenn ich in meine Kindheit und Jugend zurückblicke, so sehe ich mich nicht als Dieselbe, Geänderte, sondern sehe nebeneinander stehend die verschiedensten Mädchengestalten, jede mit einem anderen Horizont von Ideen und von anderen Hoffnungen, Interessen und Empfindungen erfüllt. Und wenn ich die Gestalten aus meinem reiferen Frauenalter oder gar meinem jetzigen danebenhalte, was habe ich (außer der bloßen Erinnerung, so blaß wie die Erinnerung an längst gesehene Gemälde oder längst gelesene Bücher) mit jenen Schemen gemein und was sie mit mir? Zerfließende Nebel, flatternde Schatten, verwehender Hauch: das ist das Leben ...

Meine erste Liebe war niemand geringerer als Franz Joseph I., Kaiser von Oesterreich. Gesehen hatte ich ihn zwar nie – nur sein Bild –, aber ich schwärmte heftig für ihn. Daß er mich heiraten werde, schien mir gar nicht ausgeschlossen: im Gegenteil, das Schicksal war mir so etwas Aehnliches schuldig. Natürlich mußte ich noch fünf oder sechs Jahre warten; denn daß ein zehnjähriges Kind nicht zur Kaiserin gemacht werden könne, sah ich ein. Ich mußte zur fünfzehn-, sechzehnjährigen Jungfrau – der schönsten Jungfrau im Lande – aufgeblüht sein; der junge Herrscher würde mich einmal erblicken, sich mit mir in ein Gespräch einlassen, von meinem Geist entzückt sein und mir sofort seine Person zu Füßen legen. Das war so die Zeit, wo ich überzeugt war, daß die Welt ein Märchenglück für mich bereithielt. Es zu verdienen und darin recht glänzend am Platze zu sein, bemühte ich mich redlich, indem ich lernte, lernte, übte, übte und meine Fortschritte und Kenntnisse selber anstaunte. Ein wahres Wunderkind war ich – in meinen Augen. Es ist wahr, ich sprach gut Französisch und Englisch (von frühester Kindheit hatte ich Französinnen und Engländerinnen als Bonnen), ich spielte merkwürdig gut Klavier, ich hatte enorm viel gelesen: Le siège de la Rochelle, Histoire de France von Abbé Fleury; Ruy Blas und Marie Tudor von Victor Hugo; den halben Schiller, Physik von Fladung; Jane Eyre, Uncle Tom's Cabin, das waren die Bücher (also nicht Kinderbücher), in denen ich in jenem Alter schwelgte; zudem liebte ich es, im Konservationslexikon zu blättern und von allen Wissenszweigen Blüten zu pflücken. Aus Wißbegierde? Das will ich nicht behaupten; ich glaube, jene schönen Blüten schienen mir nur begehrenswert, um mir einen schmückenden Kranz daraus zu flechten.

Ein böser Zufall hat gewollt, daß Kaiser Franz Joseph schon im Jahre 1854 – ich war also erst elf Jahre alt – seine Cousine Elisabeth erblickte, mit ihr ein Gespräch anknüpfte und ihr seine Person zu Füßen legte. Ich war nicht gerade unglücklich (es gibt ja noch andere Märchenprinzen genug), sondern interessierte mich fortan lebhaft für Elisabeth von Bayern, suchte nach ihren Porträten, fand, daß sie einige Aehnlichkeit mit mir habe und ahmte ihre Frisur nach. Die eigentliche heftige Leidenschaft für meinen jungen Landesvater war ja seit einiger Zeit erloschen. »Chiodo caccia chiodo«, dieses Sprichwort wenden die Italiener an, um zu illustrieren, daß eine Liebe die andere verjagt.

Ich war an meinem elften Geburtstag zum erstenmal ins Theater geführt worden. Man gab die »Weiße Dame«. Nein, dieser George Brown! (»welche Lust, Soldat zu sein!«) Ja, das ist doch der schönste Stand – nächst dem Operntenorstand. Denn etwas Hinreißenderes als diesen Sänger – ich weiß sogar noch seinen Namen, Theodor Formes, der Eindruck muß also tief gewesen sein –, etwas Ritterlicheres hatte ich mir nie träumen lassen. So mußte der mir bestimmte Prinz aussehen. Er mußte nicht einmal Prinz sein, nur womöglich, wenn nicht Tenor – Herrn Formes hätte ich keinen Korb gegeben –, so jedenfalls Soldat. Während ich das erzähle, sehe ich, daß ich zwar ein dummes Mädel war, aber kein rechtes Kind. Das kommt wohl daher, weil ich keine gleichaltrige Gespielin gehabt, sondern nur in der Welt der Bücher lebte, deren Helden auch keine Kinder, sondern Erwachsene waren, deren Lebensschicksale sich zumeist um Liebe und Ehe drehten.

Das Wichtigste im Universum, das war jedenfalls meine kleine Person. Der Lauf der Welt, das war nur die Maschinerie, deren sämtliche Räder zu dem Zwecke ineinander griffen, um mir ein strahlendes Glück zu bereiten. Ob ich allein ein so törichtes, eingebildetes Kind war, oder ob dieses Weltzentrumgefühl überhaupt ein bei Kindern und beschränkten Geschöpfen natürliches Gefühl ist? Ob die Bescheidenheit eine edle Frucht ist, die erst am Baume der Lebenserfahrung und des Wissens reift? – – Daran läßt sich auch so recht der Typus eines Menschen oder einer Klasse ermessen – daran, was als wichtig erscheint. In jenen Kindheitstagen war mir (neben dem alles überragenden »Ich«) noch von bedeutender Wichtigkeit: das Weihnachtsfest; die große Wohnungsreinigung zu Ostern; das Brünner Damenstift; die Auflese von Kastanien in den mit einem Teppich von Herbstlaub belegten Wegen des Augartens, die Besuche Fritzerls, der schöne Liedervortrag meiner Mutter, die selbstverständliche große Liebe dieser Mutter für mich und meine Liebe zu ihr, die so groß war, daß, wenn sie auf zwei oder drei Tage nach Wien fuhr, ich stundenlang schluchzte, als wäre mir das Herz gebrochen.

Mit einem solchen Kreis von Wichtigkeit könnte ich alle verschiedenen Abschnitte meines Lebens umrahmen und mir dadurch am deutlichsten die Phasen vergegenwärtigen – von jener ersten Erinnerung des wichtigen Bortenmusters am weißen Kaschmirkleidchen an bis zu dem Ideal des gesicherten internationalen Rechtszustandes, das mir heute als eine alles andere übertrumpfende Wichtigkeit erscheint.

Hier handelt es sich um etwas, was erst werden soll, und ich glaube, daß die Beschäftigung mit solchen Dingen nur eine seltene ist. Die meisten Menschen – und ich in meinen früheren Lebensepochen mit ihnen – nehmen die Umwelt und die herrschenden Zustände als etwas Gegebenes, Selbstverständliches, schier Unveränderliches an, über dessen Ursprung man nur wenig und an dessen mögliche Wandlung man gar nicht denkt. So wie die Luft dazu ist, geatmet zu werden und man nichts daran zu ändern berufen ist, so ist die gegebene Gesellschaftsordnung – die politische und sittliche – da, um die Atmosphäre, die Lebensluft unserer sozialen Existenz abzugeben. Natürlich denkt man sich das nicht mit diesen Worten, denn jene Auffassung ist eine ganz naive, d.h. also mehr in der Empfindung als im Bewußtsein vorhanden, so wie man ja auch, ohne sich dessen bewußt zu werden, beständig Atem holt und an den Stick- und Sauerstoffgehalt der Luft nicht denkt.

Die Erinnerung an einen Landaufenthalt des Jahres 1854 ist mir lebhaft im Gedächtnis haften geblieben. Heute noch sehe ich verschiedene Bilder aus dem Schlosse, dem Garten und dem Wald der Herrschaft Matzen vor mir, während so viele andere Szenerien, die ich seither gesehen, meinem Gedächtnis entschwunden sind. Man trägt doch eine eigentümliche Kamera im Kopfe, in die sich manche Bilder so tief und deutlich einätzen, während andere keine Spur zurücklassen. Der Apparat muß sich im Gehirn momentan auch so aufklappen und größtenteils aber verschlossen bleiben, so daß die Außenwelt sich nicht hineinphotographiert.

Es war damals nicht zum erstenmal, daß ich in Matzen war, aber von dem früheren Aufenthalt habe ich nur eine ganz blasse Vorstellung. Ich sehe mich nur auf dem Arm der Kindsfrau in den Salon getragen, um dort von der Hausfrau – Tante Betty Kinsky – und ihren beiden erwachsenen Töchtern, Rosa und Tinka, geliebkost zu werden. Im Jahre 1854, da meine Mutter wieder nach Matzen eingeladen war, regierte dort nicht mehr Tante Betty; sie war vor einigen Jahren gestorben und die Töchter waren verheiratet außer Hause – Rosa an einen Baron Hahn in Graz, Tinka an General Grafen Crenneville, Festungskommandant in Mainz. Mainz war ja damals österreichische Garnison. Wie die Dinge sich doch verschieben auf dieser unserer wandelbaren Erdoberfläche, auf der ja alles in fortwährendem Wandel begriffen ist; aber schneller und unerwarteter als Berge und Täler, als die Wälder und Städte der Länder wandeln sich ihre politischen Grenzen und Zugehörigkeiten.

Um nach Matzen zurückzukommen, das ja noch immer auf derselben Stelle steht, welches ich aber seither nicht mehr gesehen habe, so war es damals unter der Herrschaft eines jungvermählten Paares. Am selben Tag, da Kaiser Franz Joseph mit Elisabeth von Bayern Hochzeit hielt, hatte der nunmehrige Herr von Matzen und Angern, Christian Graf Kinsky, seine Braut, Therese Gräfin Wrbna, heimgeführt. Ein schönes, glückliches junges Paar.

Einen lustigeren, witzigeren Menschen als »Christl« Kinsky kann man sich nicht vorstellen. Des ist die ganze Wiener Gesellschaft Zeuge. Noch in sei nem späten Alter, auf dem nichts weniger als lustigen Posten eines Landmarschalls, wußte er Heiterkeit und Gemütlichkeit bis in die parteizerrissene Landstube zu bringen. Das Schloß, alt und getürmt, steht auf einem bewaldeten Berg; vom zweiten Stockwerk führt eine Tür auf ein Plateau, auf dem ein kleiner Ziergarten angelegt ist, und vor dem Gartengitter liegt der Wald. Ein Pavillon ist in dem Gärtchen angebracht, und auf dem Tisch darin lagen gefärbte Gläser, blau, gelb, rot ... Durch diese ließ man mich in die Natur hinausschauen (diese Erinnerung datiert von einem früheren Matzener Besuch, als ich noch ganz klein war), und diesen blauen Wald, diesen gelben Garten, diesen grünen Himmel zu sehen, es war mir eine zauberhafte Ueberraschung – ich schrie vor Glück. Es geht doch nichts darüber: erst vor kurzem geboren worden zu sein und alles – alles was die Welt bietet, als neu zu empfinden – alles ein erstes Mal zu kosten. Drum wäre es ganz schön, immer wieder geboren zu werden und immer wieder alles von vorn zu beginnen, wieder das Zauberreich der Ueberraschungen durchzuwandern, das mit dem ersten gefärbten Glas, mit dem ersten Christbaumkerzchen, etwas später mit dem ersten Kuß uns stets als ein ungeahntes Neuland blendet ...

Dritter Teil

15. Im Hause Suttner

Inhaltsverzeichnis

Sommer 1873. Der kurze Roman war nicht vergessen, aber verschmerzt. Die »auf Flügeln des Gesanges« angeschwebte Liebe war ja nicht allzu tief ins Herz gedrungen – das Ganze war vorbeigehuscht und dann entflattert wie ein Traum. Einige Wochen verbrachte ich in tiefer, aufrichtiger Trauer, dann aber versiegten allmählich die Tränen, und das Leben machte wieder seine Rechte geltend. Und das um so kräftiger, als ich ja vor die Notwendigkeit gestellt war, mir das Leben zu verdienen. Unser Vermögen war endgültig eingebüßt, ich mußte in die Welt hinaus. Meine Mutter konnte von ihrer Apanage leben, aber ich wollte ihr nicht zur Last fallen, obwohl sie mich beschwor, bei ihr zu bleiben und doch wieder zu versuchen, die Künstlerlaufbahn aufzunehmen. Davon wollte ich gar nichts mehr wissen. Dreißig Jahre: das ist kein Alter, eine Künstlerlaufbahn zu beginnen, und die Erinnerungen der durchgemachten Angstqualen, die verschiedenen Probefiaskos hatten mir den bloßen Gedanken an den »Singsang«, wie ich's nannte, verhaßt gemacht. Und untätig, in dürftigen Verhältnissen zu Hause bleiben und da versauern, das wollte ich auch nicht. Welt wollte ich noch sehen, Arbeit wollte ich leisten. Mit meiner vollkommenen Beherrschung des Französischen, Englischen und Italienischen, mit meiner für eine Nichtberufskünstlerin überragenden Musikkünstlerschaft, mit meinen sonstigen umfassenden Kenntnissen konnte ich draußen nutzen und glänzen. Also nahm ich eine Stellung an, die sich mir bot, als Erzieherin und Kameradin von vier erwachsenen Töchtern im freiherrlichen Hause Suttner. Hier erst sollte ich die Krone meines Lebens erringen. Gesegnet sei der Tag, der mich in dieses Haus geführt, er war die Knospe, aus der sich die Zentifolie meines Glückes entfaltet hat. Jener Tag auch öffnete die Pforte, durch die jene Bertha Suttner treten konnte, als die – mit ihren Erfahrungen reinsten Eheglückes und tiefsten Witwengrams, mit ihrem Teilnehmen an den bewegenden Fragen der Zeit – ich mich heute noch fühle, während jene Bertha Kinsky, von der ich bisher erzählte, mir wie eine Bilderbuchgestalt vorschwebt, deren Erlebnisse – in vagen Umrissen – ich wohl kenne, mich aber nicht berühren.

Die Familie Suttner bewohnte ihr eigenes Palais in der Canovagasse in Wien. Die eine Front hatte die Aussicht auf die Karlskirche jenseits des Wienflusses, die andere auf das Musikvereinsgebäude. Den ersten Stock bewohnten wir, d.h. der Baron, die Baronin, die vier Töchter und ich; im Mezzanin wohnten der älteste Sohn Karl, seit einigen Monaten verheiratet mit einer wunderschönen Frau, geborenen Gräfin Firmian, und der dritte, jüngste Sohn, Artur Gundaccar. Der zweite Sohn, ebenfalls verheiratet, gewesener Rittmeister, der im Jahre 1866 in Böhmen mitgefochten, lebte auf der Herrschaft Stockern.

»Papa« Suttner, damals einundfünfzig Jahre alt, ein stattlicher Mann, österreichischer Kavalier von altem Schrot und Korn, konservativ, um nicht zu sagen reaktionär in seiner politischen Gesinnung, sehr gern gesehen bei Hofe. »Mama« ungefähr gleichaltrig, mit Spuren großer Schönheit, etwas steif und kalt in ihrem Gehaben. Die Töchter Lotti, Marianne, Luise und Mathilde, zwanzig, neunzehn, siebzehn und fünfzehn Jahre alt, eine hübscher als die andere. Besonders Mathilde, das Lieblingskind der Mutter, hatte mit ihrem gewellten Blondhaar, ihrem blendenden Teint und regelmäßigen Zügen ein wahrhaft engelhaftes Aussehen. Noch zwei Wesen gehörten zur Familie: Schnapsel, ein gelbhaariger Pintscher, steter Begleiter Papas und Mamas, und Amie, eine weiße kluge Pudelhündin mit lachender Physiognomie, die Vertraute der Mädchen.

Es war ein großer Haushalt; die Dienerschaft bestand aus Kammerdiener, Jäger, Bedienten, Kammerjungfer, Stubenmädchen, Koch, Küchenmädchen, Kutscher und Portier. Equipage und Opernloge. Die Wohnung – ich sehe sie noch vor mir: Vorsaal mit Gobelins an den Wänden, eine Flucht von drei Salons: ein grüner, ein gelber und ein blauer; das Schlafzimmer Mamas in Lila, das Schreibzimmer Papas, das auch als Rauchzimmer diente, mit Ledermöbel und Holzgetäfel an den Wänden. Dann noch zwei Zimmer für die Mädchen – Lotti und Marianne schliefen zusammen, ebenso Luise und Mathilde; daneben mein Zimmer.

Die Mädchen und ich waren bald die besten Freundinnen. Meine Erzieherrolle führte ich nicht gar zu streng aus; zwar gehörten einige Vormittagsstunden regelmäßig dem Sprachen- und Musikunterricht, im übrigen aber eitel Vergnügen, Scherz und Frohsinn. Die Würde meiner dreißig Jahre kehrte ich nicht heraus. Ebensowenig die Autorität meiner Stellung. Gespielinnen waren wir fünf. Unsere Tageseinteilung war ziemlich regelmäßig. Morgens vor dem Frühstück Spaziergang in den nahen Stadtpark. Um neun Uhr in Papas Schreibzimmer gemeinsamer Kaffee. Dabei erkundigte sich Mama um den Fortgang der Studien und gab allerlei Verhaltungsmaßregeln und sonstige gute Lehren. Von zehn bis zwölf Unterricht. Zu Mittag gemeinsames Gabelfrühstück im Speisezimmer. Von ein Uhr an abwechselnd Musik, Lektionen u.s.w. bis zum Toilettemachen für das Diner, das um fünf stattfand. An diesem nahmen auch die Bewohner des Mezzanins, Karl samt Frau und Artur, teil. Dieser, damals dreiundzwanzigjährig, war der Liebling seiner Schwestern. Der Liebling aller übrigens. Ich habe keinen Menschen gekannt, keinen, der nicht von Artur Gundaccar von Suttner entzückt gewesen wäre. Selten wie weiße Raben sind solche Geschöpfe, die einen so unwiderstehlichen »Charme« ausströmen, daß dadurch alle, jung und alt, hoch und gering, gefangen werden; Artur Gundaccar war ein solcher. Ich übersetze das Wort »charme« absichtlich nicht mit Zauber, weil das französische Wort auch das abgeleitete »charmeur« anklingen läßt, ein Ausdruck, der mit Zaubrer sehr untreffend wiedergegeben wäre. Woraus solcher Charme besteht, läßt sich schwer beschreiben; es ist nicht so sehr ein Komplex von Eigenschaften, es ist eine Eigenschaft an sich. Es wirkt mit einer unerklärlichen und unwiderstehlichen, magnetischen und elektrischen Kraft. Man glaubt sich Rechenschaft geben zu müssen, warum gewisse Personen so anziehend und erfreuend wirken, soviel Vertrauen und Zuneigung einflößen, und schreibt dies ihrer Heiterkeit, ihrer Freundlichkeit, ihrer Schönheit, ihren Talenten zu, aber das ist alles nicht richtig; andere haben die gleichen Eigenschaften, vielleicht sogar viel größere, aber die gleiche Wirkung zeigt sich nicht, sie sind eben keine »charmeurs«. Sie sind keine Sonnenscheinmenschen. Artur Gundaccar war einer. Im Zimmer ward es gleich noch einmal so hell und so warm, wenn er eintrat. Das will nicht sagen, daß ich mich auf den ersten Blick in ihn verliebte, ich teilte nur die Freude, welche die vier Schwestern empfanden, wenn der Lieblingsbruder sich in ihre Scherze und Vergnügungen mengte, wenn er plaudernd in unserer Mitte saß, wenn er sich gelegentlich unseren Unterhaltungen und Ausflügen anschloß. Er konnte dies nicht allzuoft tun, denn er mußte eben an einer Staatsprüfung büffeln, was er freilich sowenig als möglich tat, denn er lernte zwar leicht, aber gar nicht gerne. Jusstudiumeifer gehörte nicht zu seinen Eigenschaften. »Ein fauler Strick,« so klagte sein ehemaliger Hofmeister, jetzt Korrepetitor; »ein leichtsinniger Bengel,« so nannte ihn sein Vater – »es ist ein wahres Kreuz mit ihm,« seufzte die Mutter, und beteten ihn alle an dabei. Hübsch und elegant war er über alle Maßen. Fabelhafte musikalische Begabung besaß er; ohne gelernt zu haben, spielte er alles nach dem Gehör und komponierte entzückende Weisen. Und der Grundzug seines Charakters – ist das vielleicht das Geheimnis der Sonnenscheinwirkung? – der Grundzug war – Güte.

Ich bin von der Tageseinteilung abgekommen. Nach dem Speisen pflegte die Mama mit den einen oder den anderen Töchtern in den Prater zu fahren. Am liebsten meldete sich Mathilde, die jüngste, dazu, die anderen fanden kein Vergnügen an diesem im Schritt Aufundabfahren in der »Nobelallee«. Wir anderen fuhren indessen auch in den Prater hinab zur Ausstellung. Das Jahr 1873 war ja das Weltausstellungsjahr, zugleich aber auch das Jahr des »Krachs«. Bei diesem Krach hatte Baron Suttner senior einige empfindliche Verluste erlitten, doch seine Familie nichts davon merken lassen. Das hat man erst später erfahren.

Die Ausflüge und die Ausstellung waren sehr genußreich; an Sonntagen unternahmen wir sie an Vormittagen, und da schlossen sich uns Artur Gundaccar und einige seiner Freunde an. An den Abenden gingen wir zweimal wöchentlich abwechselnd in die Opernloge; zum Tee kamen fast täglich einige Besucher. Da wurde musiziert, gesellige Spiele gespielt und geplaudert bis elf Uhr. In diesem ersten Sommer, weil es der Ausstellungssommer war, blieb die Familie bis Mitte Juli in der Stadt. Erst dann wurde der Landaufenthalt, Schloß Harmannsdorf, bezogen. Für uns alle ein Fest, diese Uebersiedlung, denn die Mädchen waren zehntausendmal lieber draußen als in Wien, ebenso die Söhne. Es gibt nichts Köstlicheres, wenn man aus der heißen, staubigen Stadt kommt, als die Ankunft in einem schönen Schlosse, wo es in jedem Zimmer nach »frisch« duftet, wo man von Park und Wald umgeben ist, wo man einer langen Zeit des Naturgenusses und der Erholung entgegensieht.

Harmannsdorf besitzt ein schönes altes Schloß mit einem Mittelund zwei Ecktürmen; eine große Steinterrasse führt in den Park hinab, dessen vordere Partien in französischem Stil von Lejeune (dem Schöpfer Schönbrunns) angelegt, mit Vasen und Statuen reich geschmückt sind. Daran schließen sich Alleen mit vielhundertjährigen Fichten und englisch angelegte Partien, darunter eine ganz wilde, »das Wäldchen« genannt. Aber lieber noch als das Wäldchen war uns der wirkliche Wald. Da pflegten wir öfters an Nachmittagen hinzugehen; ein mit Eseln bespanntes und mit Eß- und Trinkvorräten beladenes Wägelchen nebenher – es war, obgleich wir auf dem Lande waren, jedesmal ein Gefühl, als ginge es auf eine Landpartie. Und waren glücklich, glücklich. Artur Gundaccar war die Seele dieser Feste. Und mählich und selig war es über uns gekommen: wir hatten einander lieb. Die Schwestern gaben ihren lachenden Segen dazu. Die Eltern wußten nichts – von einer Heirat konnte ja nicht die Rede sein, sie hätten also der Sache nur schleunigst ein Ende gemacht. Warum das harmlose Glück stören, warum aus der »Sommernachtstraum« stimmung sich herausreißen? Und so hüteten wir unser Geheimnis, und die Schwestern hüteten es mit. Es war eine schöne Zeit. Nicht ohne Wehmut, weil wir eben wußten, daß eine Lebensverbindung unmöglich war; aber an die Trennung wollten wir vorläufig nicht denken, sondern uns an dem göttlichen Geschenk freuen, das uns durch das Zusammenschlagen, durch das Ineinanderlodern unserer Herzen beschieden war. Ohne Falsch, ohne Selbstsucht, in rückhaltlosem Zutrauen, in zärtlichster Innigkeit liebten wir uns.

Von Anfang an hatte ich erklärt, daß ich nach drei Jahren Europa verlassen würde und wir dann auseinander gehen müßten. Das war nämlich so. Mit meinen kaukasischen Freunden war ich in lebhaftem brieflichem Verkehr geblieben und hatte ihnen meine veränderten Lebensverhältnisse mitgeteilt. Die alte Fürstin von Mingrelien, die jetzt in ihre Heimat zurückgekehrt war, trug mir an, mich zu sich zu nehmen, aber erst bis sie mit dem Bau und der Einrichtung eines Schlosses fertig war, das sie in ihrer Residenz Zugdidi errichten ließ. Das alte Schloß, das der Fürst in europäischem Stil und mit großem Luxus eingerichtet hatte, war von den türkischen Banden, als die Dedopali flüchten mußte, vernichtet worden, und jetzt wollte sie sich ein neues, noch schöneres aufbauen. Ich hatte die Pläne gesehen und oft die Details der Ausschmückung zu hören bekommen. Da war ein Saal im persischen Stil, ein anderer im Stile Louis XIV; Möbel und Stoffe und Kunstwerke hatte die Fürstin während der Dauer ihres europäischen Aufenthaltes nach und nach angeschafft und nach Zugdidi expedieren lassen. Massenhafte Kisten waren dort schon aufgestapelt und harrten der Auspackung. Ich mußte ihr auch einmal etwas besorgen, nämlich einen großen Musikkasten (er durfte bis zu 15000 Franken kosten), welcher Orchesterstücke spielte. Ich erinnere mich, daß ich mich zu diesem Besorgungsgang von Artur begleiten ließ. Ein Musikwerk wurde aufgezogen und spielte zur Probe einen Walzer:

»Zu diesem Walzer werde ich vielleicht in Zugdidi tanzen,« sagte ich.

»Als ob ich dich fortließe!«

»Es wird wohl sein müssen, ich bin entschlossen.«

»Reden wir nicht davon.«

Auch mit Salomé war ich in Briefwechsel. Sie wohnte in der Umgebung von Paris und hatte nun einem zweiten Söhnchen das Leben geschenkt. Die Kaiserin Eugenie war seine Patin, und es wurde Napoleon getauft. Nikolaus von Mingrelien war Adjutant des Kaisers von Rußland und lebte in Petersburg.

Hier ist ein Brief, den mir die Fürstin von einer Station ihrer Rückreise nach ihrem Heimatland schrieb:

Yalta, den 12. September 1873.

Meine liebe Contessina!

Nun sind es vierzehn Tage, daß ich hier angekommen bin. Ich bewohne eine reizende Villa, welche an dem Golfe liegt und von wo aus man den ganzen Ort sieht, sowie auf dem Berge mir gegenüber das Palais der Kaiserin, Livadia. Vorigen Sonntag nach der Messe war ich bei den Majestäten zum Frühstück geladen, wo ich mit dem Großfürsten und der Großfürstin Michael (Statthalter von Kaukasien), mit der Königin von Griechenland und anderen zusammentraf. Ich habe gefunden, daß die Großfürstin Maria Alexandrowna, die einzige Tochter des Kaisers, sehr viel gewachsen und schöner geworden ist, seit ich sie zuletzt gesehen. Ihr Bräutigam, der Prinz Alfred, wird nächste Woche hier erwartet. Niko und André sind in Mingrelien, wo sie meiner mit Ungeduld harren. Salomé soll am 24. ds. in Yalta ankommen, sie wird einige Zeit bei der Fürstin Orbeliani,1 der Witwe meines Vetters, bleiben, welche in der Nähe eine kleine Besitzung hat, und sich dann uns in Mingrelien anschließen. Ich verlasse Yalta am 3. Oktober und komme in Poti erst vier Tage später an. Adieu, liebste Contessina, ich wünsche Ihnen so viel Glück und Wohlergehen, als Sie verdienen.

Ihre Ihnen sehr zugetane

Ekaterina.

Im Frühjahre 1874 teilte mir die Fürstin hocherfreut mit, daß ihr Sohn sich mit der Tochter des Grafen Adlerberg, einem Jugendfreund des Zaren, verlobt habe.

Ein nächster Brief brachte die Beschreibung der Hochzeit, und in einem späteren wurde die Ankunft des jungen Paares in Gordi, der mingrelischen Sommerresidenz, geschildert. Ich setze diese Schilderung hierher, denn sie gibt ein anschauliches Bild von dem Lande, in dem ich später mit meinem Gatten so lange Jahre verleben sollte:

Die Reise der Neuvermählten ist in vortrefflicher Weise vor sich gegangen. Sie hatten ein eigens für sie bestimmtes Schiff zur direkten Ueberfahrt von Odessa nach Poti und von dort einen Separatzug bis nach Kutais. Auf der ganzen Strecke gab es eine einzige endlose Ovation: die Bewohnerschaft hatte sich längs des Weges aufgestellt, und in allen Stationen empfingen sie die Fürsten, Edelleute und Einwohner der Bezirke mit Gesang, Freudenrufen und Gewehrsalven; sie mußten notgezwungen haltmachen, um sich unter die Blumentempel zu begeben, wo die Erfrischungen bereitstanden, und hierauf begann von neuem Gesang, Tanz und andere Belustigungen.

In Kutais blieben die Reisenden zwei Tage, wo die Festmahle, Bälle und Empfangsabende kein Ende zu nehmen drohten, so daß das Paar sich in aller Stille davonmachte, um endlich in Gordi anzukommen.

Am Eingang des Bergpasses befindet sich eine Brücke, die über einen reißenden Strom führt. Dort verläßt man die Wagen, da man nur zu Pferde oder im Palankin auf die Höhe gelangen kann.

Nachdem somit alles den Equipagen entstiegen war, überschritt man die teppichbelegte Brücke, die prächtig mit Blumen überwölbt und mit einem Triumphbogen geschmückt war, welcher die Grenze Mingreliens bezeichnete.2 Hierauf begab man sich unter einen geschmackvoll dekorierten Pavillon, wo das Paar von einer Abteilung Beamten und Diener meines Sohnes sowie von allen Fürsten und Edelleuten der Umgebung empfangen wurde. Nachdem die Gesundheit der Neuvermählten ausgebracht worden, stiegen alle, die beritten waren, zu Pferde, um den Palankin Marys zu umgeben, und der imposante Zug setzte sich in Bewegung, die Straße entlang, die sich sieben Kilometer hindurch fortwährend bergauf zieht.

Beim ersten Kanonenschuß, der ihre Ankunft verkündigte, begab ich mich mit meinem Gefolge auf den Balkon ihres Wohnhauses, wo ich zuerst den Reitertrupp des Fürsten aus dem Letschgum empfing, die den Ankömmlingen unter Führung des Fürsten Gregor, Nikos Oheim, voranritten; dann erblickte ich das junge Paar, das unter dem Geläute sämtlicher Glocken, den Marschklängen des Militärorchesters und dem Getöse der von den Bergen widerhallenden Kanonenschüsse näherkam und nach der Landessitte vom Intendanten an der Spitze seiner Leute das Brot und Salz entgegennahm. Hierauf eilten sie auf mich zu, knieten vor mir nieder, um meinen Segen mit dem Heiligenbilde auf der Schwelle ihrer neuen Behausung zu empfangen. Dieser Moment war so ergreifend und so feierlich, daß der Lärm der wogenden Menge plötzlich in die tiefste Stille überging; allen standen die Tränen in den Augen; besonders gerührt zeigte sich Mary, so daß ich sie ins Innere des Hauses führen mußte, um ihr Zeit zur Erholung zu geben.

Endlich begaben wir uns von hier in die Kirche, wo das Tedeum gefeiert wurde, und der Archimandrit sowie mein Almosenier ihre auf den Gegenstand bezughabenden Ansprachen hielten. Nach beendigter Kirchenfeierlichkeit führte ich meine Schwiegertochter in den großen Saal, um ihr dort mein Geschenk, einen Diamantschmuck, zu überreichen. Was das Wohnhaus betrifft, das ich ihnen eingerichtet habe, so möchte ich es ein wahres Schmuckkästchen nennen.

Wir ruhten uns kurze Zeit aus, dann nahmen die Festlichkeiten ihren Anfang, die sich bis spät in die Nacht ausdehnten; Orchestervorträge, Nationalgesänge und -tänze, Freudenschüsse, Spiele, Ringkämpfe wechselten miteinander ab. Die Zahl der Gäste betrug dreihundert, von denen ein Teil unter den großen Bäumen im Park speiste. Am nächsten Tag ging es von neuem an, denn wir feierten Marys Geburtstag, und zu dieser Gelegenheit hatte ich für den Abend eine Ueberraschung vorbereitet, nämlich ein Feuerwerk und bengalische Beleuchtung der Berge, was einen zauberhaften Anblick gewährte.

So oft ich einen solchen Brief erhielt, las ich ihn der Familie Suttner vor, und es galt als eine abgemachte Sache, daß, sobald jenes Schloß fertig war, ich nach dem Kaukasus gehen würde. Dieser Bau schob sich endlos hinaus, aber wir waren es zufrieden. Das Leben, abwechselnd in Harmannsdorf und in Wien, war ja so glücklich. Besonders in Harmannsdorf bot es eine Kette von Freuden. Zur Jagdzeit kamen zahlreiche Gäste, und es wurde getanzt und Theater gespielt. Im Park war ein großer Theatersaal mit Bühne und Garderoben. Da führten wir verschiedene Schau- und Lustspiele auf, nicht nur für das Publikum der Harmannsdorfer und der Nachbarschlösser, sondern es kamen aus den umgebenden Dörfern die Bauern herbeigeströmt und füllten den Zuschauerraum. Dann die Ernte- und die Weinlesefeste, die Ausflüge nach dem benachbarten Stockern, wo auch eine fröhliche Jugend hauste, vor allem die beliebten Eselwagenpartien und die gestohlenen Stündchen trauter Tete-a-tetes. Die einzigen Mißklänge, die im Hause aufkamen, hatten ihre Ursache in mißlichen Geschäftsgängen. Auf der Herrschaft Zogelsdorf, die zu Harmannsdorf gehörte, gab es nämlich Steinbrüche, die in sehr lebhaftem, aber nicht rentabeln Betrieb standen. Zwar wurden aus den Zogelsdorfer Steinen die Wiener neuen Museen gebaut und die Herkulesstatuen gemeißelt, die das Burgtor schmücken; aber ein unehrlicher Direktor verschuldete, daß der Betrieb statt Gewinne bedeutende Verluste brachte. Doch diese Sorge lastete mehr auf den Eltern; den Kindern kam davon wenig zu Ohren, und sie führten sich's nicht zu Gemüt. Es wurde ja der Glanz der äußeren Lebensführung nicht eingeschränkt, und das vergnügte, fröhliche Treiben nahm seinen Fortgang. Traurige Stunden zwischen mir und Artur Gundaccar gab es nur dann, wenn es uns nicht gelang, den Gedanken an ein bevorstehendes Auseinandergehen zu bannen ... »Ach, lassen wir das,« rief dann nach solchem Schmerzensausbruch eines von uns beiden, »nichts währt ewig, danken wir dem Schicksal, daß es uns dieses Stückchen Himmel beschert hat ...« Und das dauerte so nahezu drei Jahre. Meiner Mutter, die in Graz bei ihrer Schwester zurückgeblieben, vertraute ich den Herzensroman an. Sie redete natürlich zu, ich sollte entweder auf Heirat dringen oder das Haus verlassen, doch ich beschwichtigte sie. Schließlich bemerkte aber auch seine Mutter etwas. Mit eisiger Kälte, aber mit aller Zartheit gab sie es mir zu verstehen. Daß auf eine Heiratseinwilligung von dieser Seite nicht zu hoffen war, hatte ich ja immer gewußt. Ich hatte auch selber nicht daran gedacht. Die Unvernunft einer solchen Partie sah ich ein. Ganz vermögenslos, sieben Jahre älter ... und er: noch immer ohne Anstellung, auch ohne Vermögen, aber berechtigt und geeignet, eine glänzende Heirat zu machen – alle Mädchen schwärmten für ihn –, sollte ich eine solche Schicksalsverderberin werden? Das war nie mein Plan gewesen – einmal mußte geschieden sein, und jetzt, da das Geheimnis halb verraten war, war der Augenblick gekommen, mich loszureißen. Der Entschluß tat furchtbar weh, aber ich faßte ihn. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und sagte der Baronin:

»Ich werde das Haus verlassen. Nach Mingrelien kann ich noch nicht, das Schloß wird erst in einem Jahre fertig. Könnten Sie mir nicht eine Empfehlung nach London geben, ich möchte indessen dort eine Stelle finden – weit von Wien.«

»Recht so, liebes Kind,« sagte sie warm, »ich verstehe Sie ... Sehen Sie, da habe ich in der heutigen Zeitung eine Annonce gefunden, das würde Ihnen vielleicht passen, wollen Sie hinschreiben?«

Die Annonce lautete: »Ein sehr reicher, hochgebildeter, älterer Herr, der in Paris lebt, sucht eine sprachenkundige Dame, gleichfalls gesetzten Alters, als Sekretärin und zur Oberaufsicht des Haushalts.«

So schrieb ich denn hin und erhielt eine Antwort, gezeichnet mit dem mir damals unbekannten Namen Alfred Nobel.