Nach meiner Heimkehr

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Der alte Johannisbrunnen rauscht wieder vor meinem Fenster. Hoch ragt das Bild des Täufers; aus der ehernen Schale, die seine erhobene Hand hält, plätschert das Wasser hinab ins steinerne Becken. In alter Zeit soll ein heidnisches Heer an diesem Brunnen vorübergezogen sein; die Recken haben den rauhen Nacken gebeugt und sind hier getauft worden. Am nächsten Tage fielen alle in der Schlacht. Ihre Leichname blieben liegen unter den dunklen Bäumen der Waldschlucht, da die Krieger heimtückisch erschlagen wurden; aber am Abend, als die Sonne rot am Himmel brannte, kamen weiße Schemen zum Stadttore herein, die hatten Kränze um die Stirnen und lächelten wie Kinder. Als sie am Brunnen vorbeizogen, ließ der heilige Baptista die eherne Taufschale fallen und faltete die Hände; denn diese reinen Seelen brauchten kein Wasser der Gnade mehr. Die Gekränzten zogen langsam zum Stadttore hinaus, den Weihnachtsberg hinauf, und als sie auf der goldglänzenden Höhe standen, winkten sie noch einmal herab ins Tal und zogen dann fort, weit über die rote Sonne hinaus, und der Heilige am Brunnenplatz schaute ihnen nach. Erst als es Nacht war, bückte er sich nach der verlorenen Taufschale, und nun hält er sie wieder in erhobener Hand seit vielen Jahrhunderten.

Das ist eine der vielen Sagen und Legenden von Waltersburg. Die Waltersburger haben ganz eigene Geschichten. Sie borgen nicht von fremden Gauen und Städten; ihr romantisches Tal war immer so reich, daß sie Fremdes nicht nötig hatten.

Der Johannisbrunnen! In seinem Becken ließ ich als Kind meine Schifflein schwimmen. Sie schwammen nach Amerika, nach Jerusalem oder gar bis ins Riesengebirge. Mein Bruder Joachim, der mit auf dem Brunnenrande saß, lächelte oft verächtlich über diese Reiserouten. Er war drei Jahre älter als ich und schon Gymnasiast. Da verachtete er meine Abcschützen-Geographie. Mit Schifflein spielte er nicht mehr; er liebte nur wissenschaftliche Unterhaltung. So warf er Fische aus Blech, die ein eisernes Maul hatten, ins Wasser und angelte mit einem Magneten nach ihnen. Er hatte ein Senkblei, und wenn seine Fische nicht bissen, sagte er: es läge am Wetter oder ich stände mit meinem infam weißen Spitzenkragen zu nahe am Wasser und verscheuchte die Fische.

Unterdes fuhren meine Schiffe nach Jerusalem oder ins Riesengebirge, und oben auf dem grünen Balkon am Brunnenplatz saß unsere Mutter bei ihrer Handarbeit und schaute manchmal zu uns herunter.

Wie kommt es doch, daß Menschen von einem solchen Brunnenrand fortziehen können, daß er ihnen nicht lieber und größer ist als alle Küsten des Ozeans?

Mein Bruder und ich sind fortgezogen, und die gute Frau auf dem grünen Balkon ist allein geblieben. Als Studenten kamen wir noch regelmäßig zu den Ferien. Joachim aber war kaum mit seinen Studien fertig, als er seine Ehe schloß mit jenem unselig schönen Mädchen, dem die Schönheit zum Fluche gegeben war. Nach einem Jahre wurde das Kind geboren, und nach nur wieder einem halben Jahre war ich dabei, als die Frau vor Gericht die Aussage machte, sie habe sich selbst mit einem Revolver in die Brust geschossen, weil ihr Mann sie nach einem furchtbaren Streit verlassen habe.

Nur meine Mutter und ich wußten, daß sie log. Der Flüchtige aber kam nicht heim, auch dann nicht, als es uns endlich gelang, ihm mitzuteilen, daß er außer gerichtlicher Verfolgung sei.

Er floh nicht vor dem Gefängnis; er floh vor dem Grauen, das ihm sein junges Weib bereitet hatte und das auch die Rettung, die ihm ihre Aussage brachte, nicht tilgen konnte.

Der Bruder verscholl in weiter Fremde, und die Mutter lehnte am Balkonfenster und hörte auf das Plätschern des Johannisbrunnens. Sie träumte von fernen Ufern, an denen ihr Herzenssohn weilen würde, von Gestaden, zu denen es keine andere Verbindung gab als die sehnsüchtig hin und her gehenden Gedanken.

Als nun auch ich mein medizinisches Staatsexamen beendet hatte, sagte ich zur Mutter, ich wolle bei ihr in der Heimat bleiben und ihr Trost sein. Sie sah mich still an und schwieg, und es zuckte ein wenig um ihren Mund. Da bat ich sie, zu reden und mir ihren tiefsten Wunsch zu sagen, und sie sprach mit Worten, die sie sich aus dem Herzen riß:

„Geh fort ... in die Welt ... suche Joachim ... bringe ihn wieder!“

So bin ich fortgezogen, um meinen Bruder zu suchen. Und weil ich nicht Geld genug hatte, jahrelang um die Erde zu reisen, wurde ich Schiffsarzt, jetzt bei dieser, dann bei jener Gesellschaft, und kam fast in alle großen Häfen der Welt.

Ich fand ihn erst im fünften Jahre meiner Wanderfahrt und wäre bei flüchtiger Begegnung wohl an dem veränderten harten Mann mit dem fremden Namen vorbeigegangen; aber ich traf ihn an Bord zwischen Rio und Montevideo, da das Schiff tagelang nicht anhält, und wurde meiner Sache gewiß, als der Fremdling sich plötzlich scheu verbarg und weder an Bord noch bei den Mahlzeiten mehr sichtbar wurde. Da suchte ich ihn in seiner Kajüte auf. Er öffnete auf mein Klopfen und bebte zusammen, als er mich sah. Ich drängte ihn ohne weiteres in die Kajüte und schloß die Tür.

„Ich will nur ein wenig mit dir reden, Joachim“, sagte ich und wunderte mich über meine ruhige Stimme; „du wirst es mir nicht abschlagen können, da ich an die fünf Jahre hinter dir her bin. Und daß ich auf dein Leben und deine Entschlüsse keinen Einfluß habe, weiß ich von vornherein. Also versteck dich nicht!“

„Was willst du?“ fragte er mühsam heraus.

„Ich will nicht viel. Ich will dich nur bitten, du möchtest von Zeit zu Zeit, so alle Jahre einmal um Weihnachten, an die Mutter schreiben.“

Da fiel er auf sein Bett und weinte rasend. Ich trat an das kleine runde Kajütenfenster, an das die Wellen klatschten, und schaute hinaus auf die rollende See.

* * *

Vorgestern bin ich nun heimgekommen nach Waltersburg zu meinem und seinem silbernen Mütterchen. Ich muß schon „silbernes Mütterchen“ sagen; denn nicht nur die Haare sind silbern, auch das Gesichtchen, auch die schmalen Hände. Alles ist kostbar, edel und weiß an ihr.

Sie fragte mich nur das eine: „Ist er gesund?“

Ich sagte ihr, was ich wußte, auch daß er ein braver Mensch geblieben sei, woran wir beide niemals gezweifelt hatten. Dann, daß er in einer geachteten Stellung und wohl ein reicher Mann sei oder es doch werde. Darauf hörte sie kaum, sondern schlug die Händchen zusammen und jammerte:

„Warum? Warum?“

Das war die schwere Frage, über deren richtige Beantwortung ich mir auf der Heimreise den Kopf zerbrochen hatte. Ganze Abhandlungen hatte ich in meinem Hirn ausgearbeitet, schlagende psychologische Begründungen für eine Mutter, die fragt: Warum gibt mein Sohn keine Nachricht? Warum kommt er nicht zurück? Warum läßt er mich in dieser furchtbaren Einsamkeit und Qual?

Da sagte ich ihr nur die wichtigsten Sätze, die Joachim gesprochen:

„Ich hab wohl hundertmal geschrieben und tausendmal schreiben wollen. Aber ich hab keinen Brief abgeschickt. Ich hatte eine schreckliche Angst, dann schreibt ihr wieder, und dann halte ich’s nicht aus in der Fremde, dann muß ich zurück in diese verfluchte Heimat.“

Sie war ein wenig betäubt über diese Worte; aber dann glomm eine Hoffnung auf in ihren Augen, und sie sagte:

„Aber jetzt wird er schreiben?“

„Ja, jetzt wird er schreiben; das ist das einzige, was ich nach meinem langen Suchen erreicht habe.“

„Ich danke dir, lieber Fritz“, sagte sie und drückte mir schüchtern die Hand.

* * *

Nun bin ich beinahe eine Woche zu Hause und fange an, mich glücklich zu fühlen und zu freuen. Ich glaube, zu den Freuden, die schwer zu tragen sind, gehört die Heimkehr aus fremden Landen. Und nicht bloß mir in meinem besonderen Falle wird es so gehen, nein, allen, die lange draußen waren und wieder nach Hause kommen. Es ist viel Scheu, viel Bangigkeit in der Seele, die Quellen der Lust und des Schmerzes fließen zusammen wie in einen tiefen Bronnen, aus dem erst langsam, wenn sich der zitternde Spiegel beruhigt hat, das Himmelsgesicht des Glücks auftauchen kann. Es gibt wohl keinen Heimkehrenden, der laut lachte, tanzte oder spränge. Ich habe in fremden Ländern viele robuste Burschen gesehen, die in ihre Heimat zurückkamen, und es war ganz gleich, welcher Farbe oder Rasse sie waren – sie waren schüchtern und verlegen, gingen alle ein wenig mit zusammengezogenen Schultern, sprachen seltsam leise und traten nicht fest auf, als ob sie der Heimaterde nicht weh tun wollten. Sie mußten sich alle in der Heimat erst wieder heimfinden. Es ist auch ganz natürlich: der Star, der aus dem Süden an den heimischen Kasten kommt, pfeift auch nicht am ersten Tage. Er schüttelt in der entwöhnten Luft erst sein Gefieder zurecht.

* * *

Die Mutter steht immer am Fenster und schaut nach dem Briefträger aus. Aber der Brief, auf den sie wartet, kommt nicht. Er könnte längst da sein. Ich telegraphierte schon zweimal heimlich nach Rio. Es kam aber keine Antwort.

Und die Mutter steht und wartet. Ich versuchte es mit der alten Ausrede, ein Brief könne verlorengehen, zumal auf so langem Wege. Aber die Mutter schüttelte den Kopf und sagte:

„Einen solchen Brief würde Gott behüten.“

Vorarbeiten

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Es ist ein halbes Jahr her, seit ich die letzte Eintragung in mein Tagebuch machte. Im Mai war es, als Stefenson erschnoben hatte, daß ich ein Tagebuch führe und darin manches über den Ausbau unseres Ferienheims, aber auch über seine eigene Person niedergeschrieben habe. Seit der Zeit quälte er mich, ihm das Tagebuch einmal zur Lektüre zu überlassen. Er war neugierig wie ein Backfisch, und es nützten mich alle Versuche nichts, ihm klarzumachen, daß es – gelinde gesagt – sehr indiskret sei, Einblick in ein fremdes Tagebuch zu verlangen. Es dauerte so lange, bis er die Aufzeichnungen in Händen hatte. Dieser Mensch ist ein ganz wunderliches Gemisch von Kindlichkeit und halsstarriger Energie.

Nach drei Tagen gab mir Stefenson das Tagebuch zurück und sagte, indem er ein sauersüßes Lächeln zwischen seinen dünnen Lippen zerquetschte: „Sie haben mich sehr schlecht charakterisiert.“

„Dieses Urteil sah ich voraus, Mister Stefenson; die Fortsetzung des Tagebuches werden Sie auch nicht zu sehen bekommen.“

Er machte eine Handbewegung, die bedeuten sollte, daran liege ihm auch nichts, und ging wieder nach seinem „Büro“. Dieses besteht aus einer Holzbude, in der ein langer roher Tisch, einige Brettstühle, ein Kleiderhaken und der Telephonapparat die ganze Ausrüstung bilden. Der Tisch ist mit Papieren aller Art bedeckt. Hier liegen die kostbaren Pläne unserer Ferienhäuser, sind Aktenstöße, stehen Modelle. In einem Nebenraume klappern ein paar Schreibmaschinen. Stefenson sagte mir einmal, Schreibmaschinenklappern und Telephongeschelle sei ihm die schönste Musik.

In dem Büro sind unsere Beratungen. Dorthin müssen Architekten, Maurermeister, Lieferanten aller Art, Verwaltungsbeamte, Stellungsuchende zum Vortrag kommen. Anfangs hatte Stefenson die Absicht, mich von den Hauptkonferenzen mit den Bauleuten auszuschließen oder mir doch eine rein zuhörende Rolle zuzuweisen. Als ich ihm aber energisch sagte, er scheine vorzuhaben, ein schleudriges Klein-Chicago zu errichten, das sich ganz gut für Engros-Schweineschlächterei, aber nicht für mein romantisches Ferienheim eignen möge, wurde er immer stiller und ließ mich nach und nach mit den Architekten selbständig wirken. Nur das Tempo der Arbeit bestimmte er, und das stand immer auf Volldampf. Der Mann arbeitet selbst von morgens fünf Uhr bis nachts um elf, ohne irgendwelche Ermüdung zu zeigen. Stefenson leitet seine Verhandlungen meisterhaft; keine Kleinigkeit entgeht ihm. Sobald ein Thema angeschlagen ist, wird es Schritt für Schritt erledigt. Kein Abweichen vom Wege ist erlaubt. Das Dazwischenwerfen einer aufblitzenden, abseits liegenden Idee ist streng verpönt, kein unfruchtbares Durcheinandergerede gestattet, sondern planmäßige, geordnete Arbeit wird geleistet, Für und Wider werden kurz beleuchtet, Nebensächlichkeiten unter den Tisch fallen gelassen, der Beschluß knapp und fast immer schriftlich gefaßt; dann wird aber auch im Verlauf der weiteren Verhandlungen auf den erledigten Punkt nie wieder zurückgegriffen. So wußte man am Schluß solcher Verhandlungen immer: das stand zur Beratung, das ist beschlossen, so und so, dann und dann muß es ausgeführt werden. Stefensons Gehirn hat eine wohlgeordnete Registratur, und etwas schwärmerisch angelegte Leute wie ich, denen leicht die Gedanken durcheinander purzeln, können viel von solchem Manne lernen. Nur darf Stefenson meine romantische und philanthropische Idee nicht aus dem Auge lassen, und das tut er auch nicht. Stefenson und ich sind in vielen Dingen die reinsten Antipoden; aber ich schätze es als Glück, mit einem so klaren Kopf zusammen zu arbeiten, wenn ich auch manchmal einen wilden Zorn über seine Kaltschnäuzigkeit habe. So ist der Mann. Wir vertragen uns und haben Händel miteinander – je nachdem. Ich glaube, ich werde gut fahren, wenn ich mit Stefenson gleichen Kurs halte. Es gibt kaum ein größeres Unglück auf der Welt, als sich mit dummen oder schwachen Menschen zu verbinden, und kaum einen größeren Vorteil, als einen klugen Freund.

* * *

Als unsere Idee bekannt wurde, war die Physiognomie der Waltersburger ungefähr die eines Kalbes, das zum ersten Male donnern hört. Die Leute wunderten sich rasend. Sie steckten die Köpfe zusammen, redeten viel auf den Bierbänken und kamen doch, da sie immer nur Gerüchtsbrocken sammeln konnten, zu keinem klaren Bilde.

Den Ausschlag soll der Amtsrichter gegeben haben, der sich dahin geäußert hat: es scheine sich um eine Art Verrücktenanstalt im großen zu handeln; den nötigen Spleen scheine ich von der Weltreise mit heimgebracht zu haben, und was etwa fehle, habe Mister Stefenson aus seinem reichen Vorrat an Tollheit ergänzt.

Günstig war uns von Anfang an die Stimmung der Waltersburger gar nicht. Zu dem neidischen und verärgerten Gefühl, das einem unerwarteten Werk vom lieben Publikum immer gespendet wird, gesellte sich ein ganz besonderer Verdruß. Stefenson hatte erklärt, daß er eine ganz neue Gemeinde begründen werde mit einem eigenen Bürgermeister und einer Verwaltung, die alles im Umkreise Bekannte in den tiefsten Schatten stellen werde.

Darüber waren die Waltersburger wütend. Nachdem ihnen schon die Neustädter untreu geworden und der Mutterstadt gewaltig über den Kopf gewachsen waren, sollte sich hier auf ehemaligem Waltersburger Grund und Boden abermals ein neues Gemeinwesen auftun, das den Bestand Waltersburgs verkürzte und die eigene Stadt in immer kümmerlichere Unberühmtheit drängte. Waltersburg war wie eine Mutter von mittelmäßigen Anlagen, die sich ärgert, wenn ihre Töchter in der Gesellschaft Glück haben.

Eitel waren die Waltersburger immer. In der Pfarrkirche ist ein Altarbild, das angeblich von Tintoretto stammt. Ein begüterter Graf, der ehemals hier residierte, soll es von einer Pilgerfahrt mitgebracht haben. Die Echtheit des Bildes ist zweifelhaft, nur nicht für die Waltersburger, die das Gemälde zu den Meisterwerken Tintorettos rechnen. (Tintoretto, „das Färberchen“, hat bekanntlich neben ausgezeichneten Stücken viel Mittelmäßiges, ja Schleudriges geleistet.) Als ein großes neues Reisehandbuch erschien, waren die Waltersburger neugierig, ob ihr Tintoretto zwei Sterne oder nur einen haben werde. Die Enttäuschung war groß; denn ganz Waltersburg mitsamt seinem Tintoretto wurde in dem Handbuche überhaupt nicht erwähnt. Der Schrei der Empörung, den damals der gebildete Teil der Stadt ausstieß, hat noch heute ein Echo in vielen Herzen.

Für uns kam bald ein Umschwung. Stefenson berief eine Versammlung nach dem Saale des größten Waltersburger Hotels, den „Drei Raben“. Er lud zu dieser „freien Zusammenkunft, in der er Aufschlüsse über seine Neugründung geben werde“, nicht nur den Magistrat und alle Honoratioren mit ihren Damen, sondern auch je einen Schuster, Schneider, Bäcker, wie alle anderen Handwerkszweige mit ihren Frauen. „Es muß wie bei der Arche Noahs sein“, sagte er gut gelaunt, „von jeder Art ein Pärchen.“ Der Erfolg war schwach. Einzelne zwar priesen Herrn Stefenson wegen seiner gerechten unparteiischen Art, aber andere rümpften außerordentlich stark die Nasen, und als die Versammlung begann, zeigte es sich, daß fast gar keine Frauen da waren. Die Frau Provisor und die Frau Kanzleirat hatten entrüstet erklärt, man könne sich doch nicht mit Krethi und Plethi zusammensetzen, und fast alle anderen „Damen der Gesellschaft“ hatten sich dieser Auffassung angeschlossen. Die Weiber der Handwerksleute aber hatten sich „geniert“, zu kommen. Aber auch die Männer waren nur in schwacher Anzahl erschienen. Der Magistrat ließ sich durch einen Beisitzer vertreten. Am meisten freute es mich, daß der Lehrer Herder da war. Er wurde auch zum Leiter der Versammlung gewählt. Stefenson hielt eine Rede. Er spricht die deutsche Sprache ohne jeden fremden Akzent. Denn nicht nur seine Mutter ist eine Deutsche gewesen; ich habe unterdes herausgekriegt, daß Stefensons Vater zwar ein Stockamerikaner von reinster Monroedoktrin war, daß aber sein Großvater bis zu seinem dreißigsten Lebensjahre in Hamburg gelebt hat und bis dahin Georg Stefan hieß. Stefenson hat rein deutsches Blut in sich.

Der „Mister“ sprach. Er sagte, über die Idee seiner geplanten Kuranstalt wolle er nicht reden; diese sei ein so unerhörtes, geniales Problem (dabei trat er mich grob auf den Fuß!), daß er es im Rahmen einer so kurzen Aussprache nicht erläutern könne. Waltersburg habe zwar keine hervorragend günstige Lage und werde von vielen anderen Orten auch durch den Reiz der Umgebung wesentlich übertroffen (Gebrumm in der Versammlung), aber sein Freund und ärztlicher Beirat sei ja, wie alle wüßten, ein Waltersburger Kind, und so habe er dem Freund zuliebe dieses Gelände für die Ausführung seiner Idee gewählt. Er gehöre zu den Leuten, die sich eher das eigene Hemd ausziehen, als daß sie zugeben, daß der Freund friere. (Frau Postschaffner Hempel verließ entrüstet das Lokal.) „Kommen Sie gut nach Hause, Frauchen!“ ruft ihr Stefenson nach. (Abermaliges Gebrumm. Postschaffner Hempel erhebt sich, sagt in halblauter Entrüstung: „Das ist ja kolossal!“ und stampft seiner Ehehälfte nach.) „Also“, fährt Stefenson ruhig fort, „was mir eine Hauptsache zu sein scheint: ich beabsichtige nicht, eine neue politische Gemeinde zu gründen; ich werde meine Siedelung unter den amtlichen Schutz des Magistrats von Waltersburg stellen.“ (Freudige Verblüffung. Der Beisitzer horcht auf und trommelt erregt mit den Fingern auf den Tisch.) „Ja“, geht Stefensons Rede weiter, „wir werden unserem Sanatorium, das seinesgleichen in der Welt nicht hat, den Namen ‚Kuranstalt Waltersburg: Ferien vom Ich‘ geben, und der Schnickschnack vom sogenannten modernen Badeort, wie es Neustadt ist, wird in Dunst zerstieben vor der glorreichen Waltersburger Neugründung. (Der Beisitzer springt auf, beurlaubt sich bei dem Vorsitzenden auf wenige Minuten und stürmt aus dem Saal.) Mitbürger von Waltersburg! Damen und Herren! (Von den Damen ist nur noch die phlegmatische Gärtnersfrau Bächel anwesend.) Es macht mich glücklich, daß Sie in solcher Anzahl erschienen sind. Etwas Erfreuliches kann ich Ihnen mitteilen. Ich erwarte, daß binnen zwei Jahren unsere Kuranstalt etwa zwei Dritteile Ihrer gesamten Gemeindesteuern tragen wird, so daß Ihre bisherigen hundertzwanzig Prozent auf vierzig Prozent herabsinken werden. (Erschrecktes Aufatmen, dann lautes Bravo. Bäckermeister Schiebulke und Klempner Geldermann stürzen im Geschwindschritt von Siegesboten auf die Straße.) Ja, aber, meine sehr teuren Mitbürger, auch Opfer werde ich von Ihnen verlangen müssen. (Kunstpause des Redners. Bedrücktes Schweigen der Zuhörer.) Wir haben nicht Zeit, der Verwirklichung unserer Idee sehr viel Zeit zu widmen; wir müssen die Aufgabe im Sturm nehmen. Binnen Jahresfrist muß alles fix und fertig sein. Sie werden begreifen, daß dafür ein Heer von Architekten, Bauleitern, Maurern, Zimmerleuten, Tapezierern, Töpfern, Tischlern, Glasern, Klempnern, Schmieden, Schlossern, Stubenmalern, Gärtnern und Hilfsarbeitern aller Art nötig sein wird, nicht zu rechnen die Legion derer, die diese Schar versorgt mit Nahrungsmitteln, mit Kleidern, Schuhen, Mützen und Wäsche. Ja, liebe Waltersburger Mitbürger, Ihre ganze prächtige Kaufmannschaft, alle Ihre Handwerkerkreise muß ich mobil machen, um meiner Aufgabe gerecht zu werden, alle werden ihren Betrieb verzehnfachen müssen ...“

Der Redner hielt inne; denn die Zuhörerschaft keuchte zu laut. Die Erregung stieg aufs höchste. Da kam die von Stefenson ganz leichthin gesagte, aber bis ins Mark treffende Schlußbemerkung: „Ich möchte mit Waltersburger Bürgern Abkommen treffen. Was das Finanzielle anbelangt, so wird nichts auf Ziel entnommen, sondern alles immer sofort bar bezahlt werden.“

Da war es aus. Alles erhob sich; selbst die dicke Gärtnersfrau wappelte sich empor und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Ein Handwerker stieg auf einen Stuhl.

„Das ist gut!“ rief er; „das ist famos! Herr Stefenson lebe hoch!“

„Hoch!“ schrien die paar Männlein, die noch da waren. Im selben Augenblick stürzte der Beisitzer in den Saal.

„Der Herr Bürgermeister“, keuchte er, „der Herr Bürgermeister, der bis jetzt leider verhindert war, kommt selbst.“

Stefenson nickte ihm lächelnd zu. Da wurde es lebhaft auf der Treppe, Männer und Frauen aller Gesellschaftsschichten füllten den Saal. Eine halbe Stunde lang stand Stefenson steif und still, und als alle da waren, auch der Bürgermeister, sagte er:

„Ich habe dem, was ich vor Ihnen, sehr geehrte Herrschaften, über meine Neugründung heute ausgeführt habe, nun nichts mehr hinzuzufügen.“

Worauf sich der Leiter der Versammlung, Lehrer Herder, erhob und in einer glänzenden Erfassung der Situation sagte:

„Ich schließe die Sitzung!“

Die ersten Kurgäste

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Am 1. Mai ist unsere Heilanstalt eröffnet worden. Die Feier war schlicht. Lehrer Herder hatte es sich nicht nehmen lassen, wieder ein Melodram zu dichten, zu komponieren und zu inszenieren. Das Publikum bestand aus Waltersburgern, unseren Bauern, deren Dienstleuten, unserem Personal und fünfzehn Kurgästen. Von diesen fünfzehn Kurgästen genießen zehn Freikur, und von diesen zehn sind sieben Schauspieler ohne Sommerengagement. Stefenson sandte ein längeres Glückwunschtelegramm aus St. Louis.

Fünfzehn Kurgäste! Das war ein magerer Anfang nach der starken Reklame, die wir gemacht hatten. Ich telegraphierte das klägliche Ergebnis nach Amerika und erhielt von Stefenson die Antwort: „Hatte ich mir gedacht!“

Wir beschlossen, die Leute nicht einzeln über die Höfe zu verstreuen, sondern einen Teil in den Forellenhof, einen anderen in die Waldschölzerei zu geben. Die Schauspieler aber schwärmten nicht für Feld- und Waldarbeit; sie wünschten mehr dekorative Posten. Fünf von den sieben wollten Nachtwächter sein, einer bot sich als Hilfsbriefträger an, wobei seine Tätigkeit gleich Null gewesen wäre, und einer sagte mit mildem Augenaufschlag, er könne sich nur als Krankenpfleger glücklich fühlen. Wir hatten aber keine Kranken.

Da stellte der Bauer Emil Barthel vom Forellenhof neben dem Großknecht, den er bereits hatte, dem „langen Ignaz“, noch einen zweiten Knecht ein und sagte zu mir: „Ich hab es Ihn’n gesagt, Herr Doktor, de Stadtleute sein olle faule Luder. Mit den is nischt anzufangen.“

„Geduld, Barthel, Geduld!“

Der Anfang war wirklich kläglich. Zwar sang Egin Harold, der als Nachtwächter bestellt worden (und der in seinem Privatberuf Opernsänger war), das

„Hört, ihr Herr’n, und laßt euch sagen,
Die Uhr hat eben zehn geschlagen!“

mit tremolierender Empfindsamkeit; aber um Mitternacht sang er noch viel empfindsamer vor dem Hofe des Sonnenbauern, der eine hübsche blonde Magd hatte: „Gute Nacht, du mein herziges Kindl“, um 1 Uhr droben am Hange: „Ihr lichten Sterne habt gebracht so manchem Herzen schon hienieden ...“; um 2 Uhr: „Steh ich in finstrer Mitternacht“, und von 3 Uhr an: „Morgenlicht leuchtend im rosigen Schein ...“

Die benachbarten Hofhunde wurden ob dieser Gesänge so tief ergriffen, daß sie alle mitsangen, und alsbald lag auf dem Rathaus eine Beschwerde über den Nachtwächter wegen nächtlicher Ruhestörung. Als nun Egin Harold von dem unmusikalischen Sonnenhofbauern noch gar angedroht bekam, er werde den Hofhund loslassen, wenn der Wächter sein Gesinge vor dem Kammerfenster der Magd nicht einstelle, quittierte der beleidigte Künstler seinen Posten und übergab die Abzeichen seiner Würde an seinen Berufsgenossen, den Bassisten Hagen Korrundt, wobei er mit einiger Abänderung des Lohengrintextes sang:

„Den Spieß, dies Horn, den Pelz will ich dir geben.
Das Horn soll in Gefahr dir Hilfe schenken,
Der Spieß im wilden Kampf dir Mut verleiht,
Doch in dem Pelze sollst du mein gedenken,
Der jetzt auch dich aus Schmach und Not befreit.“

Die „Schmach und Not“, aus der Hagen Korrundt befreit wurde, bestand darin, daß er, der ein starker Mann war, ein paar Stunden am Tag dem Waldschölzer hatte helfen müssen, Bäume zu fällen. Jetzt war er als Nachtwächter vom Tagesdienst befreit. Abends um zehn Uhr bestieg Hagen einen großen Granitblock, den er den „Fafnerstein“ getauft hatte, stand malerisch dort oben in seinem wilden Zottelpelz mit seinem langen Spieße und seinem funkelnden Horn, sang mit dröhnendem Baß die Stunde, kletterte dann vom Fafnerstein wieder herab und ging schlafen.

Die Kur bekam Herrn Hagen Korrundt sehr gut. Er erzählte mir in der Sprechstunde, daß er früher an einem chronischen Hungergefühl, das wahrscheinlich auf nervöser Grundlage beruhte, gelitten habe. Seit er aber bei uns sei, sei er aller Beschwerden ledig. Als ich daraufhin der Köchin in der Waldschölzerei ein Lob erteilte, sagte das Weiblein nur zwei Worte:

„Er frißt!“ –

Es ist ein Schauspieler da, der mit seinem wirklichen Namen Eduard Käsenapf heißt. Als Künstler nennt er sich Guido Janello, bei uns aber, da er doch nicht erkannt sein darf, Knut Waterstream.

Dieser Knut Waterstream ist dünner als ein Regengerinnsel. Ich schickte ihn zur Arbeit in die Gärtnerei. Einiges erzählte mir der Gärtner, einiges beobachtete ich selbst, wie Knut arbeitete. Er sollte dürres Laub zusammenrechen und flüsterte den braunen Blättern zu:

„So wie ein Blatt vom Wipfel fällt,
So geht ein Leben aus der Welt,
Die Vögel singen weiter!“

Stützte sich auf den Rechenstiel und stand eine Viertelstunde lang in melancholischer Betrachtung über die Verwelkbarkeit des Laubes und anderer irdischer Dinge. Darauf übergab er dem Gärtner den Rechen und sagte:

„Tun Sie dieses Totengräbergeschäft; ich vermag es nicht!“

Ein andermal sollte Knut ein Beet ausjäten. Er ging siebenmal mit düsterem Antlitz um das Beet herum, spreizte dann alle zehn Finger über dies neue verruchte Arbeitsfeld und deklamierte:

„Giftiges Kraut, gesäet mitten unter den Weizen,
O du teuflische Saat, wie bist du vom Feinde gestreut!
Satanas hat sich dein Korn in höllischen Scheuern gestapelt,
Hat mit beklaueten Fingern diese Aussaat verrichtet,
Daß du nun wucherst und wächst; dem güldenen Weizen zum Schaden,
Daß du die Sonne ihm stiehlst, den nächtlichen Tau der Gestirne.
Weiche, du teuflische Brut, verkrieche dich tief in den Boden,
Krieche zur Hölle zurück, zum Satan, von dem du gekommen,
Nie mehr soll dich erblicken mein schwer beleidigtes Auge,
Einzig soll es sich freuen am goldenen Schimmer des Weizens!“

Daraufhin hat der Gärtner Herrn Knut Waterstream belehrt, daß das, was er als Weizen anspreche, in Wirklichkeit junger Kopfsalat sei und daß sich gegen das Unkraut mit Beschwörungen nichts ausrichten lasse. Man müsse das Zeug Stück für Stück mit der Wurzel aus der Erde herausziehen; anders gehe es nicht.

„Lieber Freund“, hat da Knut Waterstream mit melancholischer Stimme erwidert, „wir verstehen uns nicht!“

Dann ist er gesenkten Hauptes nach Hause gegangen.

* * *

Es soll der Sänger mit dem König gehen. Sänger hatten wir von Anfang an genug; am 10. Mai kam der König an. Ein wirklicher König war es zwar nicht, aber immerhin der Bruder eines regierenden Fürsten, eine Hoheit. Um diese Zeit versandte unser Propagandachef, Herr Levisohn, folgende Notiz an dreihundert Zeitungen:

„Der Andrang nach der Kuranstalt ‚Ferien vom Ich‘ zu Waltersburg, der besten und originellsten Heilstätte der Welt, ist enorm. Die ermüdete Intelligenz flüchtet in unseren Frieden; die heimatlosen Kinder der Welt kommen auf ein Weilchen zurück ins grünbelaubte Mutterhaus der Natur. Künstler von Weltruf, Mitglieder europäischer Regentenhäuser sind bei uns eingekehrt. Wie romantisch, wenn ein Heldentenor, der vergötterte Liebling allen Volkes, bei uns als schlichter Nachtwachtmann mit funkelndem Speer und silbernem Horn durch die im Sternenschein liegenden Gassen schreitet, die Stunden singend, wie es in alten Tagen geschah, oder wenn er einer heimlich geliebten schlummernden Dame sein Troubadourlied singt; wie rührend, wenn ein gefeierter Schauspieler voll Lust und mit nie ermüdender Emsigkeit seine Gärtnerarbeit verrichtet; wie ergreifend, wenn der Allerhöchstgeborene Herr, dessen Wink das ganze Land gehorcht, auf dessen Stimmungen die Welt achtet, im demütigen Bauernkleide, von niemand erkannt, seiner ländlichen Tätigkeit nachgeht! Wahrlich, die Kuranstalt ‚Ferien vom Ich‘ ist ein Triumph der Menschheit, ist der Sieg über das Unglück, ist ein Paradies auf Erden!“

Als ich diesen Erguß in den Zeitungen las, wußte ich: auch unser Levisohn war ein Dichter. Einer von blühender Phantasie.

Hoheit kam zu mir und fragte:

„Sagen Sie mal, Doktor, ist denn unter den paar Männchen, die hier bei Ihnen ’rumkrauchen, etwa der König von England oder von Italien drunter?“

„Gewiß nicht, Hoheit.“

„Ja, wer ist denn da mit dem Allerhöchstgeborenen Herrn gemeint, auf dessen Stimmungen die Welt achtet?“

„Ew. Hoheit selbst.“

Hoheit prusteten los und kriegten einen Hustenanfall. Nachher sagten Hoheit:

„Verfluchter Kerl, der Levisohn; er macht was aus einem!“ –

Der Erfolg der Levisohnschen Reklamenotiz war riesenhaft. Es wurden achtzigtausend Prospekte von uns eingefordert, und es meldeten sich über dreitausend Kurgäste an. Ob der nachtwächternde Heldentenor oder der ackerbauende Fürst die größere Anziehung ausübte, war nicht zu entscheiden. Flugs erschien in Hunderten von Zeitungen folgende Notiz:

„Kuranstalt ‚Ferien vom Ich‘, Waltersburg. In einer Woche 83 000 Menschen, die an die Pforten unseres Heims anklopften!!! Auf absehbare Zeit können wir trotz unserer riesigen Anlagen neue Gäste nicht aufnehmen, da jeder unserer Feriengäste ganz individuell behandelt werden muß. Vornotierungen aber zulässig.“

Diese hochmütige Kürze tat noch größere Wunder. Unser Büro konnte die Berge von Zuschriften nicht im geringsten mehr bewältigen. Ich telegraphierte unsere fabelhaften Erfolge nach Amerika. Und wieder traf die Antwort ein: „Hatte ich mir gedacht!“

* * *

Hoheit ist ein recht liebenswürdiger Kurgast. Hoheit ist überhaupt einer, der seiner zu großen Nachsicht gegen sich selbst die Erschlaffung seiner Nerven verdankt. Wir Ärzte drücken das höflich aus: Er hat zu konzentriert gelebt. Es ist schön, daß wir unsere fachmännischen Ausdrucksformen haben; denn es würde sich stilistisch nicht gut ausnehmen, wenn man sagte: Hoheit ist vielleicht eine ganz gute Haut, aber ein bißchen Schweinekerl und Liederjan!

Also, Hoheit haben zu konzentriert gelebt und sind vielleicht nur zu uns gekommen, weil sie hier ein Feld für originelle Extravaganzen wittert. Rares wittert. Alles andere liegt hinter diesem Mann, schwere Familienratsbeschlüsse, unfreiwillige Reise um die Erde, zeitweilige Verwendung in den Kolonien, Aussöhnung mit dem Familienchef, abermaliges Fallen in Ungnade, morganatische Ehe, Scheidung, Schulden, Zeitungsskandale und was so zum Bilde des tollen Prinzen gehört.

Drei Tage hat Hoheit in der Besinnungseinsiedelei zugebracht und mir einen Lebensbericht eingereicht, über dem mir die Haare zu Berge gestanden haben, obwohl ich als Arzt und Weltumsegler ja gerade nicht unerfahren und prüde bin. Am Schluß stand: er habe sich eigentlich erschießen wollen, aber er könne ja noch mal diese „neue Chose“ probieren, ob ihm noch ein bißchen Geschmack am Leben beizubringen sei. Das Leben komme ihm so eklig und wertlos vor wie ein alter schmutziger Kupferdreier, für den man keine Zwiebel mehr zu kaufen kriegt. Er gebe sich ganz in meine Hand, wolle alle Arbeit tun und bitte, mit ihm recht rauh zu verfahren; es sei ihm immer am wohlsten gewesen, wenn ihm gelegentlich mal sein hoher Bruder, Landesherr und Familienoberhaupt, ein paar Ohrfeigen angeboten habe. Dann habe er auf Sekunden das Gefühl gehabt, daß er und sein Leben noch ernst genommen werden können. Heißen wolle er Max Piesecke. –

„Also, lieber Piesecke“, sagte ich in der Sprechstunde zu ihm; „daß Sie ein großer Lumpenkerl sind, wissen Sie und brauche ich Ihnen nicht erst zu sagen. Höchstwahrscheinlich läßt sich mit Ihnen nichts mehr anfangen. Erschießen werden Sie sich nicht, dazu fehlt Ihnen die Courage. Aber miserabel zugrunde gehen werden Sie! Es wird weh tun, Piesecke; Sie werden die Wände auskratzen, ehe Sie hin sind! Aber, Piesecke, sehen Sie – ich glaube, ungefällig sind Sie nicht. Sie haben auch noch Sinn für Humor. Nun, Piesecke, es wäre doch ein kolossaler Witz, wenn aus Ihnen noch mal ein brauchbarer Kerl würde! He? Sie müssen selbst darüber lachen! Und für mich wäre es gut – wegen Ihrer Familie. Also versuchen wir’s halt. Gelingt’s, freue ich mich; gelingt’s nicht, schmeiße ich Sie ’raus!“

„Wahrscheinlich werden Sie mich ’rausschmeißen!“ sagte Piesecke nachdenklich.

„Sie sind ein schlechter Pessimist, Piesecke! Sehen Sie, wenn Sie ein bißchen Philosophie im Leibe hätten, müßten sie wissen: es gibt keinen grimmigeren Spaß, als ein Pessimist zu sein und über den Pessimismus zu lachen!“

„Wie? Bitte, schreiben Sie mir den Satz auf!“

„Gern!“

Ich schrieb den Satz auf einen Zettel, übergab ihn Piesecke und sagte:

„Stecken Sie sich dieses Wertpapier in Ihre Jackentasche und verlieren Sie es nicht! Und nun werde ich Ihnen noch etwas sagen, Piesecke! Sie werden höchstwahrscheinlich nach acht Tagen bei uns ausreißen wollen. Sie sind gar nicht imstande, bei uns zu bleiben und das Gesundungsleben durchzuführen. Dazu fehlt Ihnen die Willenskraft. Und um nicht unnützerweise acht Tage lang meine Zeit mit Ihnen zu vergeuden, werden wir einen notariell aufgenommenen Kontrakt machen. Er wird kurz sein und lauten:

Falls ich nicht ein Jahr lang im Waltersburger Kurheim ‚Ferien vom Ich‘ aushalte oder mich den Anordnungen des dirigierenden Arztes nicht füge, zahle ich eine Million Mark Reugeld.“

„Was?“ schrie Max Piesecke. „Wenn ich so etwas tue und mein Bruder erfährt es, schlägt er mich tot!“

„Schön! Dann habe ich nicht mehr nötig, Sie zu kurieren.“

Piesecke sank in sich zusammen.

„Ich bin immer Erpressern in die Hände gefallen“, jammerte er.

„Morgen nachmittag 4½ Uhr wird der Notar hier sein“, entgegnete ich ruhig; „Sie werden dann entweder das von mir aufgesetzte Abkommen unterzeichnen oder Ihrer Wege gehen.“

„Ferien vom Ich!“ stöhnte Piesecke; „ich habe gar keinen Willen mehr.“

Am nächsten Tage, um 4,35 Uhr, unterschrieb vor dem Notar, meinem Vertrauten, Max Piesecke das von mir gewünschte Abkommen mit seinem hochfürstlichen Namen.

„Nun passen Sie mal auf, Piesecke“, sagte ich, „jetzt wird noch was aus Ihnen!“

* * *

All unsere Höfe sind mit Kurgästen besetzt. Wir haben so viel Anmeldungen, daß wir die Wahl hätten, wen wir aufnehmen wollen, aber wir gehen der Reihenfolge der Anmeldungen nach. Ich habe von früh bis spät Arbeit, obwohl unser Ärztekollegium immer größer wird. Es lastet zuviel Geschäftliches auf mir. Das drückt auf die Seele; denn ich bin kein Kaufmann. Was tut mir doch dieser Stefenson an, daß er gerade jetzt, wo er hier am nötigsten wäre, in Amerika sitzenbleibt? Soviel ich auch schon an ihn schrieb und telegraphierte, er kommt nicht zurück. Immer die gleiche Antwort: „Ich bin hier noch unabkömmlich.“

Unser Direktor – ein früherer Offizier – ist zum Glück ein tüchtiger Mann. Es ist Schwung in seinen Gedanken, er hat Initiative und Spürsinn. Wie ein guter Jagdhund ist er, er hat’s in der Nase, wenn er über das weite Gelände unseres Arbeitsfeldes schnuppert, wo irgendwo in einer geheimen Furche ein verborgener Erfolg aufzustöbern ist. Er ist aus dem Holz, aus dem die guten Feldherren, Diplomaten, Kaufleute geschnitzt sind. Die leitet alle ein unfaßbarer Instinkt, eine Art sechster Sinn, den andere Leute nicht haben.

Der Direktor heißt von Brüsen und wird wegen seines würdevollen Auftretens von den Kurgästen „der Herr Präsident“, von den Angestellten aber „der Direks“ genannt. Oft habe ich bei seinen Maßnahmen das Gefühl: genau so würde Stefenson gehandelt haben. Brüsen ist auch von Stefenson angestellt worden. Mein Geschäftsfreund hat den Offizier a. D. mal irgendwo kennengelernt, sich mit ihm etwa zwei Stunden unterhalten, dabei – wie er schrieb – gefunden, „daß sich dieser Mann zwei verschiedene Dinge auf einmal vorstellen könne, was nur sehr wenig Menschen vermöchten“, daß er ferner „zu klug sei, um die Alltagsklugheit zu haben“, daß er nicht in den Doppelsohlenstiefeln ängstlicher Vorsicht einherstampfe, in denen man von hundert Schnellfüßlern überholt werde, und daß er von guter, zäher Geistesmuskulatur sei. So hat sich Stefenson die Adresse dieses Herrn gemerkt und ihn für uns nun an den Tag gezogen.

Es ist ein Glück, daß dieser Direktor da ist. Was täte ich ohne ihn? Einen Entscheid fällt er fast nie sofort. Er will, wenn es sich um wichtigere Angelegenheiten handelt, immer einen Tag oder doch einige Stunden Bedenkzeit. Dann steht aber auch seine Meinung felsenfest. Und er entscheidet immer so, wie ich annehmen möchte, daß Stefenson entschieden haben würde, auch manchmal in Dingen, die viel Geld kosten, so waghalsig, so wurstig, so ohne Skrupel, wie es eben nur ein reicher Mann kann, der so fest steht, daß er weiß: ich kann nicht fallen, komme, was wolle. Ein paarmal sah ich den Direktor scheu von der Seite an. War er etwa gar ...

Das war krasser Unfug. Dieser kleine Schwarzbart mit dem runden Bäuchlein war bestimmt nicht der große, hagere Stefenson. Auch in dem Journalisten Brown hätte ich nichts anderes vermuten sollen als eben den Mister Brown.

Ich muß mich wahrhaftig erst in die Ausführung meiner eigenen Idee von der Unpersönlichkeit meiner Kurgäste gewöhnen. Es wird mir schwer, in dem Nachtwächter Korrundt nicht den Opernsänger zu sehen, ja, es wird mir sogar schwer, unsere verbummelte Hoheit mit Piesecke anzureden. Dabei ist doch der Mann wirklich mehr Piesecke als Hoheit. Ich bekümmere mich absichtlich nicht um die Personalien der Kurgäste, die ich nicht selbst behandle, sehe keine unserer Geheimlisten ein, soweit ich es nicht als leitender Arzt tun muß. So begegne ich Menschen auf unseren Wegen, sehe Leute in unseren Gärten und auf unseren Feldern arbeiten, von denen ich nicht weiß, wer sie sind, woher sie kommen, wohin sie gehen, von denen mir nur bekannt ist, daß sie aus einer drückenden Enge entflohen sind in das Reich unserer grünen Gesundheit.

Der Sekretär, der unsere Statistik macht, sagte mir, daß neunzig Prozent unserer Kurgäste aus Großstädten kommen. Ich glaube das gern. Die Großstadt ist keine gute Mutter. Dazu sind ihre Arme und Hände zu steinern hart, ist ihre Sprache zu laut und liebeleer, sind ihre Sinne zu flunkerig, sind ihre Wünsche ohne Heimlichkeitssinn zu sehr auf den Engrosramsch der Genüsse gerichtet, ist ihr Aufputz zu sehr abgespart den wahren Bedürfnissen ihrer Kinder. Von den Palasträumen ihrer Verwaltung aus regiert diese Stiefmutter Großstadt ihre Familie, die zum größten Teil in dumpfen Winkeln hockt und in engen Kammern schläft; in ihren glänzenden Parkanlagen dürfen barfüßige Jungen und zerlumpte Mädchen spazierengehen. Wie die niederträchtigste Amme, die ihren unruhigen Zögling mit Schnaps betäubt, errichtet sie in all ihren Vorstädten Destille neben Destille. Und wenn die Kinder gar zuviel darben und zu murren beginnen, schenkt ihnen diese „Mutter“ Großstadt einige Bonbons „öffentlicher Fürsorge“ oder billiger Lustbarkeit, Bonbons, die nicht satt, stark und gesund machen können, sondern nur den Magen ansäuern und die Zähne des Willens und Charakters verderben.

Wann endlich wird die Menschheit des trügerischen Schimmers müde sein, in Scharen ausziehen aus dem ungesunden Hause der Stiefmutter Großstadt und im großen Ferien machen von diesem jammervollen Ich?

* * *

Heut ist ein Unglück passiert. Annelies von Grill und Eva Bunkert wollten als Kurgäste zu uns kommen und beim Forellenbauer wohnen. Der Bauer hatte seinen Spazierwagen nach dem Bahnhof geschickt zur Abholung. Sein Knecht, der lange Ignaz, spielte den Kutscher. Aber auch Piesecke fuhr mit. Hoheit will sich in die Geheimnisse der Kunst einweihen lassen, ein Bauerngefährt auf einem etwas holperigen Feldweg mit Geschick zu leiten. Auf dem Rückwege ist dann das Unheil geschehen. Piesecke hat kutschiert und gerade dort, wo der Weg eine steile Böschung hat, umgeworfen. Die Damen sind den Abhang hinuntergekugelt, die beiden Kutscher desgleichen, und die scheu gewordenen Pferde haben den umgekippten Wagen hinter sich hergeschleift und greulich zugerichtet.

Von den vier abgepurzelten Personen hat sich der Knecht Ignaz zuerst erhoben. Er hat sich erst die Glieder zurechtgeschlenkert, dann die Wahlstatt überschaut und darauf zunächst mal dem unglücklichen Piesecke ein paar ungeheure Ohrfeigen versetzt. Darauf ist Ignaz den Pferden nachgerannt, hat sie zum Stehen gebracht, sich überzeugt, daß mit dem Wagen nicht weiterzufahren sei, und ist dann zu den Damen zurückgekehrt. Annelies ist außer dem Schreck nichts passiert, die schöne Eva hat sich einen Fuß verstaucht. Ignaz hat die holde Blonde auf seinen kräftigen Buckel laden und nach Hause tragen wollen, doch das hat sie abgelehnt. Piesecke hat nichts zu sagen gewußt als: „Pardon, pardon, es ist mir dieses alles sehr fatal.“

Schließlich hat Eva dem Knechte befohlen, ein Pferd auszuspannen, sie hinaufzuheben, und ist so halb lachend, halb weinend bei uns eingeritten.

Am selben Tage noch kam Hoheit zu mir, um wegen der erhaltenen Ohrfeigen Beschwerde zu führen. Er sei – so sagte er – immerhin ein Kurgast, und Ignaz sei ein gemieteter Knecht. Er müsse gegen solche Behandlung Protest einlegen.

Ich aber sagte: „Piesecke, ich habe so viel Wichtiges zu tun, daß ich mich wirklich nicht darum kümmern kann, wenn sich mal zwei unserer Kutscher prügeln.“

Darauf erhellte sich Pieseckes Gesicht, und er sagte: „Jawohl, ich sehe es ein! Wenn ich mich körperlich werde gekräftigt haben, werde ich ihm die Ohrfeigen zurückgeben.“

„Das müssen Sie“, erwiderte ich; „das gebe ich Ihnen auf; das werde ich Ihnen direkt in die Kurverordnung schreiben, lieber Piesecke!“

Von der weiblichen Putzsucht und Herrn Pieseckes Leiden

Inhaltsverzeichnis

Gestern vormittag traf ich die kleine Luise, die sich eben von einem Haufen spielender Kinder trennte.

„Willst du schon aufhören zu spielen, Luise? Die Sonne scheint doch so schön.“

„Ich will zu meiner Mamma.“

„Zu deiner Mamma?“

„Ja, nach Hause!“

„Sagst du zu Magdalena jetzt Mamma?“

„Ja. Alle Kinder haben eine Mamma. Ich will auch eine haben. Meine Mamma soll Magdalena sein.“

„Hast du deine Mamma lieb?“

„Lieber wie dich!“

Das klang nicht frech, nur tief überzeugt.

„So. Hm. Lieber wie mich! Das glaube ich gern. Ihr spielt wohl schön zusammen?“

„Nein, wir schneidern. Wir machen ein Kleid für mich. Aber es paßt immer nicht richtig, weil Mamma das Schneidern nicht gelernt hat, und da will uns jetzt die Selma kein neues Zeug mehr geben.“

Selma ist die Beherrscherin unserer weiblichen Schneiderei, eine etwas schwierige Alte. Das Mädchen ging neben mir her. Mit großer Munterkeit sagte sie:

„Wenn Pappa Stefenson da wäre, würde er die Selma mächtig ausschimpfen, weil sie sagt, es ist zu teuer, wenn man für ein Kinderkleid vierzig Mark verbuttert und nichts zustande kriegt. Ach, es wird doch so schön! Wir nähen alle Tage neue Schleifen dran.“

„Ich werde mit der Selma sprechen.“

„Ja? Wirst du wirklich? Fürchtest du dich nicht? Dann sage ihr, wir müssen ein Meter schottische Seide haben und unten ein bißchen Pelzbesatz. Ich hab mir’s so ausgedacht: oben an dem Kleid will ich einen Matrosenkragen, in der Mitte will ich schottische Seide und unten Pelzbesatz. Das wird sehr fein!“

„Ja, das glaube ich. Will das deine Mamma auch so?“

„Mamma will so, wie ich will.“

Das war das Mädel, das vor einem Jahr in der Berliner Ackerstraße Schnürbänder verkaufte! Die Erinnerung an diese elende Vergangenheit ist in ihr völlig erloschen. Gut so! Und auch ihre Kleiderwünsche verstand ich. Die Kinder hupfen bei uns alle in einer gesunden, einfachen Tracht umher. Aber ein Mädchen hatte geprahlt, es hätte zu Hause ein Matrosenkleid, ein anderes hatte sich mit einem Kleide mit schottischer Seide großgetan, ein drittes sogar von Pelzbesatz gefabelt. So war in Luise der Wunsch entstanden, alle diese Herrlichkeit in einem einzigen Kleid zu vereinigen. Die Weibermode setzt über die höchsten Mauern, die man um ein Ferienheim ziehen kann. Dagegen läßt sich nichts tun. Auch unsere weibliche Ferienkleidung wird mit tausend Spitzfindigkeiten „modernisiert“ und „stilisiert“. Was man allein mit einer heimlich angebrachten Sicherheitsnadel alles „raffen“ kann, wieviel „Schick“ man durch solch einfache Mittel in die vorgeschriebene Gewandung bringen kann, grenzt ans Wunderbare. Wenn in meinem Ferienheim überhaupt mal ein Aufstand entstehen sollte, wird es eine Frauenrevolution sein. Anfangs wollte ich für alle weiblichen Feriengäste ein und dieselbe Tracht. Aber selbst Selma, die, eine Aszetin an Einfachheit und an Grobheit, einem preußischen Kammerunteroffizier, der Helme und Stiefel „anprobiert“, weit überlegen ist, kam mir schließlich mit dem Vorschlag, vier verschiedene „Modelle“ müßten eingeführt werden, eines für die Dicken, eines für die Dünnen, eines für die Langen, eines für die Kleinen. Damit habe ich mich einverstanden erklärt; inzwischen ist bereits noch durchgesetzt worden, daß die Blonden blaue, die Schwarzen rote Blusen bekommen.

Für die kühlen Abende werden farbige Umschlagtücher geliefert. Oh, wie groß sind die Wunder der Schöpfung! Manche unserer Damen drapieren das Tuch vom Gürtel abwärts um den Kleiderrock, die meisten tragen das Tuch rechts oder links über die Schulter malerisch geworfen, andere machen sich eine „ungarische Schürze“ daraus, wieder andere eine Muff; Turbane um den Kopf werden ebenso geschickt aus dem Tuch hergestellt wie schlichte Nonnenschleier; einige tragen das zusammengelegte Tuch nur über dem Arm, und einige wenige greifen auf den ursprünglichen Zweck zurück, die schlagen das Tuch um die Schultern.

Dr. Michael hat die Putzsucht der Frauen für eine unheilbare Krankheit erklärt. Ich bin nicht seiner Meinung. Diese Putzsucht ist keine Krankheit, sondern eine Naturnotwendigkeit; das Weib muß sich putzen, so wie sich das Kätzchen beschlecken muß.

* * *

Neulich kam Piesecke zu mir, außerhalb der Sprechstunde. Er war noch erregter, als er sonst oft ist, und sprach zunächst eine Menge wirres Zeug durcheinander, aus dem hervorgehen sollte, daß er der unglücklichste Mensch der Welt sei. Ich unterbrach ihn.

„Piesecke, ich glaube jedes Wort, was Sie sagen, aber sprechen Sie langsamer! Sprechen Sie recht gelassen! Sagen Sie mir ohne alle Umschweife, was los ist.“

Er rang die Hände ineinander und jammerte:

„Ach Gott, ich liebe sie, ich liebe sie!“

„Wen? Mich?“

„Ach, doch nicht Sie, sondern sie!“

„Also Hanne vom Forellenhof.“

„Woher wissen Sie ...?“

„Ich weiß es. Sie haben sich oft genug auffällig benommen.“

„Und wissen Sie auch, daß sie fortzieht?“

„Ja, morgen nachmittag. Sie hat ein gutes Engagement an ein Stadttheater bekommen.“

„Ich ertrag es nicht; oh, ich ertrag es nicht. Sehen Sie, Herr Doktor, Sie können machen mit mir, was Sie wollen, Sie können der beste Arzt der Welt sein, Sie können hundert Sanatorien für mich bauen, wenn mich dieses Mädchen verläßt, bin ich verloren.“

„Gruselig!“

„Was sagten Sie?“

„Gruselig!“

„Herr Doktor, spotten Sie nicht! Diesen Verlust ertrage ich wirklich nicht; er bedeutet mein Ende.“