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Nr. 2936

 

Das Geheimnis von Thoo

 

Sie suchen das Erbe einer Superintelligenz – und stoßen auf eine unsichtbare Welt

 

Wim Vandemaan

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

Prolog

1. Welt unter roter Sonne

2. Das Wrack

3. Pracht und Herrlichkeit

4. Die Goldwäscher

5. Das Relais

Leseprobe PR Extra 016 – Michael Marcus Thurner – Die Phantome von Epsal

Vorwort

Vorab

1. Epsal-Chronik

2. Odin Goya

3. Perry Rhodan

4. Jagdvorbereitungen

Gespannt darauf, wie es weitergeht?

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Gut dreitausend Jahre in der Zukunft: Perry Rhodans Vision, die Milchstraße in eine Sterneninsel ohne Kriege zu verwandeln, lebt nach wie vor. Der Mann von der Erde, der einst die Menschen zu den Sternen führte, möchte endlich Frieden in der Galaxis haben.

Unterschwellig herrschen immer noch Konflikte zwischen den großen Sternenreichen, aber man arbeitet zusammen. Das gilt nicht nur für die von Menschen bewohnten Planeten und Monde. Tausende von Welten haben sich zur Liga Freier Galaktiker zusammengeschlossen, in der auch Wesen mitwirken, die man in früheren Jahren als »nichtmenschlich« bezeichnet hätte.

Besucher aus anderen Galaxien suchen Kontakt zu den Menschen und ihren Verbündeten; dazu zählen auch die Thoogondu aus der Galaxis Sevcooris. Einst waren sie in der Milchstraße beheimatet und haben nun den Wunsch geäußert, erneut Kontakt aufzunehmen. Gegenwärtig hält sich Rhodan in ihrem Goldenen Reich auf, wo er auch auf ein Splittervolk der Menschheit gestoßen ist: das Neue Solare Imperium.

In der Milchstraße suchen derweil Agenten des TLD und der USO gemeinsam mit Ernst Ellert nach Hinweisen auf ES' tatsächlichen Verbleib und Pläne. Dabei stoßen sie auf DAS GEHEIMNIS VON THOO ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Opiter Quint – Der TLD-Agent erforscht eine verlassene Welt.

Ernst Ellert – Der Mann aus der Vergangenheit sieht in den kosmischen Abgrund der Zeit.

Mahnaz Wynter – Die USO-Agentin beschützt ihren Partner.

Zau – Ein Mann mit ungewöhnlichen Fähigkeiten.

Prolog

Wenn es Abend wird

 

Am Abend ließen die Aufwinde nach. Die meisten Hauttaschensegler der Herde waren bereits auf ihr Hochplateau zurückgekehrt, die Muttertiere mit ihren Jungen und die trächtigen Weibchen zuerst. Nun kreiste nur noch eine Leitkuh in großen Bögen weit über der Hochebene, ein altes, erfahrenes Tier. Ihr Rückruf klang tief und mächtig, als würde der Berg selbst rufen, auf dem sich die Kolonie der Hauttaschensegler befand.

Der Jäger, der tief unten am Fuß des Tafelbergs im Purpurdickicht lag, lauschte den Rufen, die nicht für ihn bestimmt waren. Er war einer der wenigen seiner Artgenossen, die allein jagten; die Mehrheit zog die Hetze im Rudel vor. Er scheuerte mit den Rändern des Hornpanzers über den Grund, der mit Steinbrocken übersät war. Der Schild, der seinen Körper wie eine längliche Wanne umgab, wuchs beständig und musste am unteren Ende abgewetzt werden, andernfalls hätte er irgendwann die drei Beinpaare in ihren Bewegungen eingeschränkt.

Derzeit ruhten die Beine, an ihren doppelten Kniegelenken zusammengefaltet. Ebenso ruhten die Augen des Jägers, eingezogen in ihre Höhlen.

Er konnte ausgezeichnet sehen, am Tag wie in der Nacht. Er sah Umrisse, Formen, Farben und die Wärme lebendiger Leiber. Deswegen vermochte er ebenso gut in der Tageszone zu jagen wie in der Dämmerzone, und selbst in der Nacht war er der gefürchtetste Jäger von allen.

Doch solange die Hauttaschensegler hoch in der Luft waren, blieben sie selbst für ihn unerreichbar.

Der Jäger spannte die Ringmuskeln ein wenig an, die um die Kalkschäfte lagen. Mit einem leichten Sirren richteten sich die Pfeile in den Köcherorganen auf und bebten, als er den Druck wieder lockerte.

Die Schallkuhlen in seinem Panzer vernahmen die Rufe der Leitkuh; sie wurden dringlicher.

Er vernahm auch das schwächer werdende, dumpfe Rauschen der Aufwinde.

Er hörte alles, aber er lauschte auf das lang gezogene Schreien der Jungbullen. Zwei ihrer Pulks trieben weiterhin durch die Luft. Der eine kreiste knapp oberhalb der Leitkuh. Die Erfahrung hatte den Jäger gelehrt, dass es sich bei ihnen um jüngere männliche Mitglieder der Herde handelte. Sie hielten sich in der Nähe der Leitkuh, und die Leitkuh sorgte dafür, dass das Plateau mit der Kolonie in ihrer Reichweite blieb.

Der andere Pulk aber – eine Gruppe aus mehr als fünf Hauttaschenseglern – war in den Luftraum unterhalb des Plateauniveaus geraten. Die Jungbullen pumpten Warmluft in die geblähten Hauttaschen und stiegen wieder an, zumindest einige von ihnen. Ein triumphaler Schrei begleitete jeden Anstieg.

Aber nicht alle stiegen.

Dann war die Sonne versunken. Das Land gehörte der Dämmerzone. Es wurde kühler.

Der Jäger rieb die Kehlzähne aneinander, drückte die bezahnte Zunge an den hornigen Gaumen.

Kurz darauf geschah, worauf der Jäger gelauert hatte: Aus dem Pulk der Hauttaschensegler, die sich jenseits der Kante des Hochplateaus aufhielten, erklangen besorgte Rufe.

Der Jäger unterschied drei Stimmen. Er fuhr seine Augen aus und entdeckte drei Segler, die etliche Meter unterhalb der Hochfläche kreisten. Sie schnappten nach Warmluft, aber die ballonartigen Ausbuchtungen ihrer Flughäute erschlafften in der Kühle der Dämmerzone zusehends. Sie sanken unaufhaltsam.

Die Leitkuh öffnete den Schnabel und stieß einen dröhnenden Warnruf aus.

Die drei jungen Hauttaschensegler antworteten. Es waren keine Hilferufe; wer hätte Hilfe leisten sollen? Die Hauttaschenseglerbullen mochten jung sein, aber sie waren längst zu schwer, als dass eine der Leitkühe sie hätte greifen und in die Höhe hieven können.

Es waren Rufe voller Angst.

Die Jungbullen gerieten ins Trudeln, als ihre Flügel flappten und sie trotzdem nicht an Höhe gewannen.

Der Jäger klappte seine Beine auf und erhob sich über den Boden. Der Atemmund saugte verstärkt Sauerstoff ins Lungennetz. Die Augen pendelten auf ihren Stielen und verfolgten den Sturz der Tiere.

Die Hauttaschensegler versuchten, sich mit ihren Klauen in die steilen Felsen zu krallen; sie hackten mit ihren Schnäbeln nach Halt.

Zwei von ihnen hatten Erfolg, bezahlten dafür aber mit Wunden. Der Jäger stellte seine Augen scharf und betrachtete die Rinnsale von Blut, die feine, dampfende Muster auf dem Gestein bildeten.

Käme ein Wind, würde er das Aroma dieses Blutes riechen, bittersüß und vielversprechend.

Der dritte Jungbulle fand keinen Halt und glitt am Felsen herab, hin und wieder vor Schmerz brüllend.

Die Leitkuh brummte, neigte ihre Flügel, als wollte sie hinab und dem Bullen helfen. Aber ihre Luftsäcke waren beinahe leer und knatterten nutzlos. Sie drehte ab, glitt auf das Hochplateau. Der Jäger verlor sie aus den Augen.

Der letzte der drei Hauttaschensegler musste die Vergeblichkeit seiner Mühen erkannt haben und gab alle Versuche auf, am Felsen zu bleiben. Er stieß sich davon ab, stellte die Flughäute auf und segelte in den Luftraum, auf der Suche nach einem sicheren Unterschlupf am Boden.

Der Jäger stand auf seinen sehnigen Beinen; das Purpurmoos reichte ihm bis zum ersten Knie. Bald würde er loslaufen, den einsamen Hauttaschensegler und seinen Kurs im Blick.

Das Tier sank lautlos; seine Instinkte warnten ihn davor, in so geringer Höhe, dem Boden bereits erschreckend nah, Aufmerksamkeit zu wecken. Die Greifkronen der Stachelbäume drehten und wendeten sich begierig; die Grubentiere öffneten schmatzend ihre ausladenden Mäuler.

Der Jäger setzte sich in Bewegung. In einem leichten Trab folgte er seiner Beute. Er übersprang das Maul eines Grubentiers mit einem raschen Satz, und als das Grubentier eine Wolke von Lahmgift nach ihm spie, geschah dies zu spät. Der Jäger war bereits außer Reichweite.

Der Hauttaschensegler kam näher, niedriger. Die Schallkuhlen des Jägers vernahmen deutlich das Rauschen seiner Flughaut.

Kurz bevor der Hauttaschensegler ihn erreicht hatte, spannte der Jäger die Ringmuskeln um die Kalkschäfte scharf an. Als der Segler über ihn hinglitt, schoss er zwei Pfeile hinauf.

Der erste durchschlug eine Flughaut, der andere blieb im Brustbereich des Hauttaschenseglers stecken. Das Tier heulte auf, verlor jede Herrschaft über seinen Körper und stürzte wie ein Stein. Der Jäger hörte, wie der Hauttaschensegler auf den Boden prallte, sich mehrfach überschlug und dann liegen blieb.

Der verletzte Hauttaschensegler duckte sich, faltete seine Flughäute um sich und wollte sich totstellen. Aber das Pfeilgift zwang dem Tier unkontrollierte Bewegungen auf, ließ es immer wieder zucken und scharren.

Der Jäger beschleunigte seine Schritte und hatte seine Beute bald erreicht. Dort hatten sich bereits zwei Malmmäuler in das abgeschossene Tier verbissen. Der Jäger lud seine Zunge, stülpte den Speisemund aus und gab den beiden Malmmäulern einen Stromschlag, stark genug, um die wuchtigen Fraßfeinde zu vertreiben, aber nicht heftig genug, um sie zu töten.

Die Malmmäuler verzogen sich fauchend ins Purpurdickicht.

Der Jäger umrundete den Hauttaschensegler, der nun beinahe reglos lag. Seine Schallkuhlen lauschten auf den Herzschlag der Beute; die Duftblätter neben dem vorgestreckten Speisemund sogen das Aroma des Blutes ein, bittersüß und schwer und dunkel. Der warme Leib leuchtete unter den Flughäuten, die ihn verbergen sollten.

Der Jäger führte seinen Speisemund unter die Flughaut, stellte die äußeren Zähne auf und biss zu, da und dort und weiter.

Dann grub er den Speisemund tiefer in das tote Tier, entnahm ihm das Herz, dann schieres Muskelfleisch, suchte und fand den großen Brückenknochen, brach ihn, führte die Röhrenzunge ein und saugte das süße, ölige Mark.

Der Angriff kam tatsächlich überraschend. Ein Stein, ein Felsbrocken traf seinen Panzer. Seine Beinpaare knickten unter der Wucht ein. Ein zweites Geschoss verfehlte ihn, ein drittes traf erneut.

Der Jäger blickte nach oben. Zwei junge Hauttaschensegler glitten in einem weiten Bogen erstaunlich nah über ihn hin, weiter oben kreiste die Leitkuh. Der Jäger sah, dass sie einen weiteren Felsbrocken in einer ihrer Klauen trug.

Der Jäger war ein reifes, aber kein altes Tier; erst einmal hatte er erlebt, dass Artgenossen einem abgeschossenen Hauttaschensegler zur Hilfe eilten. Aber damals war es ein Muttertier gewesen, das sein Junges verteidigt hatte.

Der Jäger hielt Ausschau, horchte, witterte, dann spannte er seine Schließmuskeln an und schoss zwei weitere Kalkpfeile ab.

Er hatte nicht so sorgfältig zielen können wie beim ersten Mal, aber auch diesmal traf er, wenn auch nur die Flughäute, die von den Pfeilen durchschlugen wurden.

Das Gift konnte sich nicht wirkungsvoll verbreiten, aber es war offenbar schmerzhaft genug. Die Hauttaschensegler jaulten auf und verschwanden in der Ferne. Der Jäger betrachtete die Leitkuh, die über ihm kreiste, mit einer Art Neugier. Sie ließ den Stein aus ihrer Klaue fallen, und er krachte fernab ins Purpurdickicht.

Erst in diesem Augenblick spürte der Jäger den Schmerz. Der Felsbrocken, der ihn getroffen hatte, musste seinen Panzer verletzt haben. Der Jäger fuhr die Augenstiele aus, so weit es möglich war, drehte sie zum Panzer und betrachtete den Schaden. Er war beträchtlich. Ein Riss klaffte schräg über den Schild und reichte bis zum darunter geborgenen Leib, der in diesem Bereich nun der Sonne und ihren Mächten schutzlos ausgeliefert sein würde. Er würde sich bis zur Heilung in der Dämmerzone aufhalten müssen, vielleicht sogar in der Nachtzone. Mit der Verletzung würde ihm die Jagd schwererfallen; sein Leib würde auskühlen.

 

*

 

Sie stand so plötzlich vor ihm wie ein Blitz. Sie war nicht mehr größer als er; etliche Narben hatten sich in ihren Panzer gegraben. Seine Duftblätter weiteten sich, er sog ihr Aroma ein.

Er hörte, wie sie ihre Kehlzähne aneinanderrieb, wie ihre Zungenzähne am hornigen Gaumen raspelten, vertraute Geräusche, als wollte sie ihm gleich Speisebrei einflößen.

Als sie voranging, folgte er ihr.

Seiner Mutter.

Hin und wieder drehte sie eines ihrer Augen zu ihm, als wollte sie sich vergewissern, dass er noch da war. Es war ein weiter Weg, und er fühlte eine Erschöpfung, als hätte er sich lange, sehr lange in der Nachtzone aufgehalten. Sie kamen an einen Fluss, auf dem Purpurinseln trieben, aber nicht genug, um von Insel zu Insel springen und so an das andere Ufer übersetzen zu können. Der Jäger mied das Wasser, weil seine Art nicht zu schwimmen vermochte. Tiefes Wasser war ein lebensbedrohliches Gebiet.

Sie überquerten den Fluss auf einem Gitter übereinandergestürzter Stachelbäume. Vielleicht hatte der Jäger zu Beginn ihres langen Marsches etwas wie eine Frage verspürt, einen Wunsch zu wissen, wohin sie ihn führen würde, woher sie gekommen war.

Aber wenn es diese Frage gegeben hatte, war sie längst verdunkelt und in die Nachtzone seines geringen Geistes getaucht. Ihm war, als wäre die Mutter immer schon da gewesen, als wäre er ihr immer gefolgt, und die Zeiten, in denen er einsam gejagt hatte, waren nur vorübergehend gewesen, vergessen.

Aber sie war alt geworden, sehr alt.

Wie konnte man so alt werden?

 

*

 

Sie gingen viele Tage. Ein Fluss erschien zu ihrer Linken. Sie wichen aus, tief und immer tiefer in eine Steppe hinein. Am Horizont zeichnete sich eine helle Linie ab, manchmal trug ein Wind Wolken winziger Sandkörner von dort hinüber.

Dies war nicht sein Revier, aber er entdeckte in all den Tagen auch keinen anderen seiner Art. So wenig wie Beute.

Sie hielten an einem Ort, an dem der Jäger noch nie gewesen war. Irgendwo inmitten der Steppe erhob sich eine Oase. Dort wuchs das Purpurdickicht üppiger, Stachelbäume und Pfahlpilze ragten in die Höhe, und es krabbelte und wuselte in den Kolonien verlassener Panzerschalen.

Sie führte ihn durch das Dickicht bis auf eine Lichtung.

Inmitten der Lichtung stand der Stab. Der Stab war ganz weiß, aber aus dieser Weiße leuchtete etwas anderes hervor, weißer als weiß, dem Gefunkel ähnlich, das in den Nachtzonen am Himmel stand.

Es war nur ein Stab, der im Boden steckte, und es glitzerte in diesem Stab. Sonst war nichts Auffälliges zu sehen. Aber der Jäger tat, was er bislang nur einmal in seinem Leben getan hatte, und dies im Angesicht einer ins Rollen gekommenen Schar von Walzentieren: Er wich davor zurück.

Seine Mutter rieb die Kehlzähne wieder aneinander. Der Jäger blieb stehen, auch wenn er sich dazu überwinden musste.

Er sah, wie die Mutter ihren Speisemund ausfuhr, wie sie mit ihrer Zunge über das Geglitzer leckte. Allmählich begriff er, was sie von ihm wollte; er sollte es ihr gleichtun.

Er trat heran und tat es.

Während er leckte, entdeckte er die Augen, die ihn anstarrten, Augen von Artgenossen, die sich im Purpurdickicht verborgen hatten.

Er meinte, das Glitzern auf seiner Zunge zu spüren, zu spüren, wie es ihm zu Kopf stieg.

Da war ihm, als würde ein Schleier gehoben, ein Schleier, der bislang vor der Welt gehangen hatte.

Plötzlich war ihm klar, um wie viel mehr als fünf Stachelbäume er sah, um wie viel mehr als fünf Pfahlpilze. Er begriff ihre Anzahl.

Er begriff, dass seine Mutter sterben würde, sehr bald schon, und dass er ihr nachfolgen sollte.

Nachfolgen worin? Als was?

Langsam, noch voller Misstrauen, schoben sich einige wie er aus dem Purpurdickicht. Er begriff, dass er sie anführen würde.

Und schließlich begriff er, wer er war. Eine lautlose Lautfolge erschien in seinen Gedanken, ein stummes Zeichen, das ihn selbst bezeichnete. Er dachte: Ich bin Trakkod.

1.

Welt unter roter Sonne

8. November 1551 NGZ

 

Ernst Ellert betrat den Raum, der als Zentrale des Dolans diente, und sah in die Runde. Neben Opiter Quint, dem offiziellen Leiter der Expedition, waren die Zeitforscherin Aichatou Zakara und die USO-Agentin Mahnaz Wynter mit ihrem Begleiter Zau anwesend.

Ellert grinste. »Parasitenversammlung?«

»Ich betrachte euch eher als freundliche Symbionten, nicht als Parasiten«, sagte eine Stimme, die von überallher zu kommen schien. Sie klang eindeutig weiblich und war voll von mildem Spott.

Die Stimme gehörte der Terranerin Yemaya Shango, deren Bewusstsein in diesem Retortenraumschiff aufgegangen war. Hin und wieder zeigte sich Shango als Holo in menschlicher Gestalt, dann erschien sie als junge Frau mit schmalem Gesicht, dunkler Haut, noch dunkleren Augen und nachtschwarzem Haar, das zu Dutzenden von kunstvollen Zöpfen geflochten war.

Meist gefiel sie sich jedoch darin, nicht als Menschenfrau, sondern als Exekutorin 1 dieses Raumschiffes zu sprechen, ganz so, als wäre sie dieses Kunstwesen, hergestellt aus genmanipuliertem Gewebe und darin eingepflanzten Maschinen.

Als Haus und Hausherrin zugleich, als Gastgeberin dieses bunt zusammengewürfelten Teams.

Opiter Quint überragte mit seinen knapp über zwei Metern Körpergröße die anderen deutlich; man hätte ihn für einen Athleten halten können, einen Anti-G-Zielsprinter oder Basketballspieler möglicherweise, nur dass er wenig sportlich auftrat, leicht vornübergebeugt ging, linkisch wirkte, ein Mann, der nicht wusste, wohin mit den riesenhaften Händen.

Dass es sich bei Quint um einen Agenten des TLD handelte, des Terranischen Liga-Dienstes, und nicht um irgendeinen Agenten, sondern um den Mann, den Direktor Maurits Vingaden für den besten seiner Generation hielt, hätten die wenigsten vermutet.

Mahnaz Wynter vielleicht, aber Wynter war vom Fach, wenn auch von der Konkurrenz aus der Lagune – so nannten die Leute des TLD manchmal die Spezialisten der USO, weil deren Hauptquartier eine Zeitlang im Lagunennebel stationiert gewesen war. Wo sich Quinto-Center mittlerweile aufhielt, sei, so Wynter, ihr süßes Geheimnis. Aber vielleicht bluffte sie nur, und Quinto-Center war immer noch in der Lagune.

Der Dolan, den die Terraner JASON getauft hatten, war längst auf menschliche Gäste eingerichtet. Ursprünglich hatte das Retortenraumschiff den Vertretern der Schwingungswächter gedient, der sogenannten Zeitpolizei.

Quint war sich sicher, dass es nach der Konfrontation mit dem Atopischen Tribunal nicht wenige Terraner gab, die den Einsatz einer Zeitpolizei begrüßen würden, einer Einheit, die die Macht hatte, Zeitreisen zu unterbinden und Zeitreisende wie Straftäter zu überwachen und zu verfolgen.

Im Krieg der Schwingungswächter gegen das Solare Imperium waren die Menschen solcher Experimente mit der Zeit verdächtigt worden, was die Menschheit nicht abgehalten hatte, später tatsächlich selbst Zeitmaschinen zu bauen und in ihrem Sinn korrigierend in den Zeitstrom einzugreifen.

Der Dolan war nicht einem Zeitpolizisten abgenommen oder abgekauft worden, sondern ein Fundstück, dessen Herkunft weitgehend ungeklärt war. Ein Haluter hatte den Dolan im Halo der Milchstraße entdeckt, eine verbrannte, geschundene Kreatur, verlassen von seinem Piloten, seine Exekutoren tot oder im Sterben liegend. Diese Exekutoren waren Bewusstseinsinhalte anderer Lebewesen, die mit dem Dolan eine Lebensgemeinschaft eingegangen waren – ob freiwillig oder nicht, hatte sich nicht herausfinden lassen. Dass die neue und einzige Exekutorin JASONS, Yemaya Shango, das Team um Quint und Ellert als Symbionten bezeichnete, war also mehr als ein beiläufiger Scherz.

Mag sein, dachte Quint, dass Shango sich tatsächlich einsam fühlt und nach Gesellschaft sehnt, womöglich nach menschlicher Gesellschaft. Und dass sie nun, da Ellert, ich und so weiter an Bord sind, in Hochstimmung ist.

Quint hoffte, dass der Tag, an dem er und seine Begleiter den Dolan würden verlassen müssen, für die Exekutorin nicht zum Debakel würde.

Die Zentrale wies eine Höhe von knapp über drei Metern auf; die Decke war leicht gewölbt. Der Schwingungswächter, der vor ewigen Zeiten in diesem Dolan Dienst getan hatte, sollte wie alle seiner Art über vier Meter groß gewesen sein. Ihm wären die aktuellen Dimensionen der Zentrale daher wohl als beengt erschienen.

Jeder etwaige Eindruck von Enge verflog, als Shango das Rundumholo der Zentrale aktivierte.

Quint meinte, mitten im Weltall zu stehen. Er bemerkte, dass Ellert leicht zusammenzuckte, sich aber sofort wieder im Griff hatte.

Ellert war erst vor Kurzem, genauer: am 24. Juni 1551 NGZ aufgetaucht. Er allerdings war ein Mensch des 20. Jahrhunderts alter Zeitrechnung, ein Fremdling in Quints Gegenwart. Wer und was er eigentlich war, schien noch niemandem klar zu sein, vor allem ihm selbst nicht. Zu seiner Zeit, in den frühen Tagen des Solaren Imperiums, hätte man ihn womöglich isoliert, inhaftiert, zahllosen Tests und Überprüfungen unterzogen.

Oder?

Vielleicht auch nicht. Überprüft und untersucht hatte ihn auch die Liga. Und in Abstimmung mit dem Zellaktivatorträger Homer G. Adams, mit LAOTSE und NATHAN, den großen Positroniken der Liga, hatte Resident Hekéner Sharoun entschieden, Ellert in den Einsatz zu schicken.

Und dies nicht zuletzt, wie Quint vermutete, aus dem durchaus verbreiteten Gefühl, dass es eilte, dass der gesamten Mächtigkeitsballung von ES die Zeit davonlief.

Denn die Scherung, dieses Phänomen, das den Kosmos geteilt haben sollte wie eine Zelle, hatte dieses Universum mindestens der Superintelligenz ES beraubt, die bislang als Schutzherrin und Förderin der Menschheit agiert hatte – wobei die Vorgehensweise von ES der Menschheit nicht immer gefallen hatte.

Weswegen es manche Terraner gab, die sich von ES befreit fühlten.

Quint teilte diese Meinung nicht. Ohne ES, da hatte er keinen Zweifel, hätte die Menschheit ihren Weg zu den Sternen nicht so schnell gefunden. Allerdings glaubte Quint nicht, dass ES seine Hilfestellung aus reiner Freude an der Sache geleistet hatte. ES musste ein Interesse, wahrscheinlich ein vitales Interesse, daran gehabt haben, die Menschheit zu fördern, an seiner Seite zu wissen.

Manchmal dachte Quint, ES könnte etwas wie ein ferner Spiegel sein, in dem sich die Zukunft der Menschheit abbildete und, von der Seite der Superintelligenz aus betrachtet, die Vergangenheit von ES.

Quint empfand die Bande zwischen der Menschheit und ES als stark, wenn auch nicht jederzeit sichtbar. Vielleicht war man etwas wie ein Liebespaar: nicht immer gut aufeinander zu sprechen, durchaus in Kenntnis der Schwächen des anderen, aber einander unverzichtbar, wollte man sich nicht selbst verlieren.

Deswegen war Quint froh um Ernst Ellert, denn was immer jener war oder nicht war, hatte Quint in einer Sache keinen Zweifel: Ellert stand in Beziehung zu ES. In Ellert war ES anwesend.

Ellert blickte in das Holo und sagte: »Ein ziemliches Gewimmel.«

Das war eine charmante Untertreibung.

Das Sonnensystem, das die NEÈFOR ansteuern sollte, war Teil von Canis Major. Und Canis Major lag nun vor ihnen, eine weit geöffnete, unabsehbar tiefe Schatzkammer voller Sterne.

Die terranischen Astrophysiker bezeichneten diesen irregulären Sternhaufen als Zwerggalaxis. Aber das Wort Zwerg hat in astronomischen Größenordnungen eine andere als die alltägliche Bedeutung. Canis Major verfügte über eine Milliarde Sterne und bereicherte die Masse der Milchstraße dadurch um etwa ein Prozent.

Würde die NEÈFOR sämtliche Sonnen von Canis Major anfliegen und für jeden Flug plus die Erforschung des Sterns nur eine Stunde benötigen, wäre sie weit über 100.000 Jahre unterwegs.

Canis Major befand sich 24.950 Lichtjahre vom Solsystem entfernt und etwa 47.500 vom galaktischen Zentrum. Der Sternhaufen hatte einen Durchmesser von 4808 Lichtjahren und lag beinahe genau in der galaktischen Ebene. Die Gezeitenkräfte, denen er ausgesetzt war, überstiegen jede Vorstellung. Die Milchstraße deformierte Canis Major nicht nur, sondern pflückte Sterne aus ihrem Bestand wie gewaltige, brennende Kirschen. Mittlerweile schlang sich das Filament aus entnommenen Sternen dreimal um die Milchstraße.