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Bele Freudenberg

Im Feuer der Freiheit

Roman

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

Alle Akteure dieses Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind von der Autorin nicht beabsichtigt.

Copyright © 2017 by Edition Carat, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH

1. Auflage 2017

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Covergestaltung: Nele Schütz, München

Lektorat: Sarah-Janina Hannemann

Korrektorat: Thilo Fahrtmann

E-Book: Mirjam Hecht

Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Made in Germany

ISBN 978-3-95669-091-4

www.bookspot.de

Prolog

Preußisch Eylau, 8. Februar 1807

Er sah den Einschlag nicht kommen. Spürte nur im ganzen Körper die Wucht, die fast seinen Verstand zerriss. Sein Pferd bäumte sich auf und er klammerte sich fest. Dann war es nachtdunkel, Schnee peitschte ihm aus öligen Pulverschwaden ins Gesicht.

Der Geruch von verbranntem Fleisch drang in seine Nase, noch bevor er die Körper sah. Vielleicht drei oder vier lagen im braunen Schnee, übereinandergeworfene Leiber, Arme, Beine.

Er fasste an seinen Arm, alles warm und nass, aber er empfand keinen Schmerz. Nur seine Herzschläge, die wie Artilleriesalven gegen seine Rippen prallten. Der Boden bebte erneut, diesmal sanft und bedrohlich. Hinter ihm sprengten französische Kürassiere heran wie eine gepanzerte Gewitterwolke. Er musste seine Schwadron den Hügel hinab hinter die Linien bringen, sonst waren sie verloren.

Sie standen am Abhang, er brauchte den Befehl nur zu geben. Aber er fand den Freund nicht. Sein Brauner beruhigte sich. Er wischte sich Ruß und Eis aus dem Gesicht. Fieberhaft suchte er die Gestalt, die er unter Hunderten Reitern hätte erkennen können.

Der Korporal schrie zu ihm herüber, dass sie hinab müssten. Dann entdeckte er ihn: Friedrichs Zug war abgeschnitten. Französische Dragoner drängten ihn weiter und weiter zurück. In die falsche Richtung, hin zu den vereisten Seen, die wie Todeskrater die Ebene säumten.

Im Gedränge legte ein feindlicher Reiter über den linken Arm an. Der Atem brannte in seiner Lunge. Nicht auf Offiziere. Sie zielen nicht auf Offiziere.

Sein Mann schrie zum zweiten Mal: »Herr Rittmeister, wir können nicht warten!«

Inmitten des Schlachtlärms hörte er den Schuss nicht, sah nur, wie der Schütze den Arm senkte. Friedrich sackte in sich zusammen, die Zügel schlaff in der Hand. Das Pferd jagte weiter. Einen Herzschlag später rutschte der Freund vom Sattel und stürzte auf die Eisfläche.

Das Tier spürte die Gefahr und galoppierte, seine Hufe durchstießen das Eis wie Dolche. Es strauchelte und brach ein. Die panischen Glieder verloren den Kampf gegen das Wasser in wenigen Augenblicken, die Mähne des Rappen versank.

Er konnte nicht schlucken, so stark hämmerte sein Herz in seiner Kehle.

In diesem Moment gab die verschneite Fläche unter dem Freund nach; nur noch dessen Oberkörper hing über der Bruchkante, die Hände gruben und griffen in Todesnot in den Schnee.

Sein Unteroffizier drängte zu ihm heran. »Herr Rittmeister, um der Liebe Gottes willen! Wenn wir jetzt nicht reiten –«

Er wendete sein Pferd und brüllte gegen den Wind und den Schnee zurück: »Reiten Sie, Korporal. Ihr Kommando! Reiten Sie, wir sehen uns unten am linken Flügel. Gott schütze Sie.«

Dann ritt er um Friedrichs und sein Leben, kreuzte die Linie der Kürassiere und erreichte die Einbruchstelle Augenblicke später. Die französischen Reiter verfolgten ihn nicht. Der weiße See war tödlicher als jeder Kavallerie-Säbel.

Kapitel 1

Hamburg, Januar 1813

Der Lexikon-Eintrag für »Beischlaf« war so kurz wie inhaltsleer und hätte Fanny fast das Leben gekostet.

Ein Geräusch fuhr ihr bis ins Mark; es klang, als wäre jemand draußen vor der Tür. Wie ein Stück heiße Kohle schubste sie den Band von Adelungs grammatisch-kritischem Wörterbuch ins Regal zurück. Sie hastete die Sprossen hinunter, die Leiter wackelte und beinahe hätte sie das Gleichgewicht verloren. Unten griff sie sich ein Alibi-Buch und lehnte sich mit klopfendem Herzen ans Bücherregal.

Niemand kam. Ihr Puls beruhigte sich. Wie albern! Vielleicht hatte sie eine Maus gehört oder Gesche, die unten im Kontor Stühle rückte. Und wenn wirklich jemand gekommen wäre, hätte er sich kaum über einen Lexikonband gewundert. Wer, außer ihr selbst und vielleicht noch Caroline, dachte beim Buchstaben ›B‹ an Beischlaf und nicht ebenso gut an Baroness oder Baldrian?

Das Wörterbuch war die ganze Aufregung sowieso nicht wert. Es sagte zum Thema Beischlaf nicht mehr als »die fleischliche Vermischung zweier Personen«. Was das hieß, schienen alle zu wissen, die es etwas anging. Sie nicht eingeschlossen.

Sie wischte sich ein paar Locken aus der Stirn und drehte das Buch um, das sie in der Schnelle gegriffen hatte. Es war eine Reisebeschreibung aus dem Kaukasus von einem Chevalier d’Avincourt. Wo lag der Kaukasus?

Sie ließ den Band auf den Regalvorsprung fallen. Winzige Staubflocken stiegen auf, die wie kleine Diamanten in den Sonnenstrahlen glitzerten. Gesche könnte hier auch mal wieder wischen, war ihr erster Gedanke. Dann entspannte sie sich bei dem Blick auf die flimmernde Luft vor ihren Augen. Unsinnig. Es war unsinnig und demütigend. Zwei erwachsene Frauen, die sich den Kopf über das Mysterium der Reproduktion zerbrachen. Aber spannender als Handarbeit war es allemal und sie lebten schließlich in einer aufgeklärten Zeit. Es war ungerecht, dass ein großer Teil der guten Gesellschaft über so elementare Dinge nicht unterrichtet war.

Dieser Gedanke brachte sie zu dem Büchlein zurück, das sie beim Hereinkommen auf dem Tisch abgelegt hatte. Der Lederrücken war schon etwas abgegriffen, aber sie konnte den Titel noch gut lesen. A Vindication of the rights of woman, die »Verteidigung der Rechte der Frau«. Es war das letzte Geschenk ihrer Mutter gewesen und sie las darin, wann immer sie Zeit hatte. Leider stand auch dort nicht, wie Kinder gezeugt wurden.

Sie strich sich die Haare ordentlich hinter die Ohren, glättete ihr Kleid und ging von der Bibliothek durch den Salon ins Tee- und Frühstückszimmer. Sie stellte sich an das Fenster und wartete. Wann kam Caroline nur? Wenn sie etwas herausgefunden hatte, blieb ihnen nicht mehr viel Zeit.

Sie trommelte mit den Fingern gegen den Fensterrahmen und zählte die wenigen Passanten. Am Jungfernstieg gab es meist Kundschaft. Heute jedoch, bei Kälte und Schneeregen, wartete der Besitzer des Alsterpavillons vergeblich auf Gäste. Alle paar Minuten streckte er sein rotwangiges Gesicht in die Nässe, schüttelte den Kopf und verschwand wieder in sein leeres Kaffeehaus.

Die Linden auf der gegenüberliegenden Straßenseite starrten sie an wie Gerippe, die Äste ein Gewirr aus Bildern und Formen. Die Alster dahinter lag bleifarben und unbeweglich. Kein Boot, nicht eine Ente war zu sehen. Es war der trübste Winter in Hamburg, an den sie sich je erinnern konnte.

Als Gesche den Besuch meldete, zog Fanny die Freundin ins Zimmer. »Caro, ich warte schon eine halbe Stunde auf dich! Tibbs ist beim Onkel und liest ihm vor, aber wer weiß wie lange. Ihren Stickrahmen hat sie hier gelassen. Sie kommt also sicher wieder, wenn er eingeschlafen ist.«

»Mein Gott, du klingst, als sei Tibby eine Armenhausaufseherin. Sei nicht so undankbar, ich bitte dich.« Caroline lachte, legte ihr Handarbeitszeug auf die Chaiselongue und prüfte ihre akkurate Frisur im Spiegel über dem Kamin.

»Caro, du weißt, wie ich es meine. Spiel mir hier nicht die Tochter aus gutem Hause. Also, was hast du herausgefunden? Ich bin hilflos!« Fanny machte sich mit Appetit über die Besucher-Kekse her. »Unser Lexikon sagt gar nichts und einen Brockhaus will der Onkel nicht anschaffen. Gesche hat keine Ahnung. Ich fürchte, sie ist absichtlich falsch informiert worden. Meta hat sie neulich beim Abwasch beiseite genommen und ihr geraten, sie solle sich von allen Burschen fernhalten. Die wollten sie nur auf den Mund küssen und davon kämen junge Mädchen sofort in gute Hoffnung.«

»Was für ein Unfug!«

»Sie ist ja kaum fünfzehn und glaubt das Märchen. Sie meinte sogar, ich müsse mir Handküsse in Gesellschaft verbitten. Man könne ja nie wissen«, sagte Fanny.

Caroline lachte. »Ich habe mir Margarete beim Sortieren der Wäsche vorgenommen. Sie ist schließlich älter und ich bin mir sicher, sie weiß etwas. Du hättest ihren Blick sehen sollen«.

»Na, wunderbar! Erzähl, gleich kommt Tibbs wieder.«

»Du glaubst nicht, was es mich für eine Überwindung gekostet hat. Als sie endlich wusste, was ich wollte, war ich rot wie ein Schornstein. Sie hat sich geweigert, darüber zu reden. Mutter entließe sie auf der Stelle und mit Recht.«

»Typisch Margarete«, sagte Fanny.

»Es geht noch weiter. Nach einer langen Pause meinte sie, dass sie mich aus christlicher Nächstenliebe nicht ganz ahnungslos hineinlaufen lassen wolle. Pass auf: Der Schoß von Männern und Frauen sei unterschiedlich beschaffen, das sei mir sicher aufgefallen. Madame und Monsieur passten in dieser Region also aufeinander. Was auch immer das heißen soll. Mehr hat sie nicht erklärt. Wann soll mir das denn aufgefallen sein? Mit vier Schwestern?« Caroline zog beide Augenbrauen nach oben und zuckte mit den Schultern.

»Na, herrlich. Da hätte sie lieber geschwiegen. Glaub nichts davon, Caro, die wollte sich wichtigmachen. Und aufeinander passen‹ ist das Blödeste, was ich je gehört habe.«

Caro nahm einen Keks in die schmalen Finger, aß ihn jedoch nicht.

»Ach, Fanny, wenn ich Miller nur heiraten könnte. Wenn er nur Offizier wäre! Vater will nur Bommel …«

»Mein Gott, Bommel! Das mit Miller wird schon.«

»Fanny, ich sterbe, wenn ich als alte Jungfer am Elterntisch sitzen muss. Das Gespött der ganzen Nachbarschaft.«

»Oh, Caro! Das wirst du nicht. Weil ich es nicht erlaube. Willst du Miller immer sonntags in schneidiger Uniform mit einem anderen Mädchen am Arm sehen? Und Bommel drängt dich nach Hause, weil er seine Abhandlung über die Trinitätslehre noch nicht fertig hat?«

Caroline schüttelte den Kopf. »Ganz sicher nicht. Und du sollst auch niemals bei einem alten Pfeffersack enden.«

»Das ist die richtige Haltung!« Fanny nahm Caroline in die Arme und drückte sie. »Und weißt du was? Sollte das alles nichts sein mit Miller – und du weißt, dass ich mir das nicht wünsche –, aber sollte es nicht sein, dann könntest du immer noch hier bei mir wohnen. Wir würden ein Junggesellinnen-Haus gründen und jeden Abend Salon halten und die interessantesten Denker um uns versammeln!«

»Liest du wieder von dieser Frau?«

»Diese Frau heißt Mary Wollstonecraft und du weißt, dass ich sie immer lesen werde. Und danach leben, soweit meine Verhältnisse das zulassen.«

Carolines Haltung wurde augenblicklich weicher. »Aber, Liebes, wir haben doch darüber gesprochen. Ich bin für diese ganze männliche Bildung und all sowas gar nicht gemacht. Schau, ich kann mir ja kaum merken, wie meine Geschwister alle heißen.«

Fanny musste schmunzeln. Sie nahm sich eine Teetasse und schenkte für Caroline ein. »Das ist nichts, worauf eine Frau noch stolz sein sollte, Caro.«

»Nein, richtig. Du hast sicher recht.« Caroline strich ihr Kleid glatt und sah nicht in Fannys Richtung. »Miss Tibbs und der Onkel hoffen so sehr, dass du einen Mann findest und …«

Unsanft stellte Fanny die Tasse auf den Tisch. »Ich muss warten, bis ich volljährig bin, aber dann gründe ich einen eigenen Hausstand und tue, was ich will. Glaub mir, Caro, ich komme wunderbar alleine zurecht. Und jetzt lass uns über etwas anderes reden.«

Als Fanny sich mit finaler Geste noch einen Keks angelte, ging die Tür zum Teezimmer auf. Miss Tibbs, ihre Gouvernante, hatte den Griff zum Gebäck jedoch nicht bemerken können. Sie war damit beschäftigt, ihr Kleid aus der Türangel zu befreien und schimpfte dabei leise auf Englisch.

»Miss Tibbs!« Caroline stand auf und faltete artig die Hände vor dem Schoß. Fanny blieb sitzen, richtete aber auch für Miss Tibbs eine Teetasse her.

»Darf ich fragen, wie es dem Herrn Onkel geht? Fühlt er sich besser?«, fragte Caroline.

»Ja, my dear girls, es geht ihm etwas besser. Aber leider kein Grund zur echten Freude. Die Fieberanfälle kommen häufiger und er wird immer schwächlicher davon.«

»Schwächer«, sagte Fanny, obwohl sie sich das Korrigieren von Tibbys Deutsch abgewöhnen wollte.

»Schwächer, my love, das ist es, schwächer. Ich frage mich, warum er meine furchtbare Deutsch beim Vorlesen erträgt! Ich habe mich eine halbe Stunde mit dieser scheußliche Monatsschrift für Commerz abgequält. Nur schockierende Wörters, die nie ein lebendes Mensch gehört hat. Ich glaube, seine Humor ist noch trotz der Leiden so wach, er möchte mich vorführen mit dem Aussprechen.«

»Mit der Aussprache«, sagte Fanny.

»Oh, my doves. Was sollen wir nur tun?« Tibbys Stirn zog sich zusammen und sah aus wie ein gefaltetes Spitzentaschentuch. Sie schaute zu Fanny herüber.

»Sei unbesorgt, Tibby, der Onkel wird sich erholen. Warte ab, wenn diese Franzosen verschwinden, dann geht es gleich dem Geschäft besser und damit ihm.«

»So ist es recht, mein Kind«, sagte ein ruhiger Bass. Alle drehten sich in die Richtung der dunklen Stimme. Miss Tibbs hatte wie immer die Tür nicht richtig geschlossen und der Hausherr stand mit Morgenrock bekleidet in der Flügeltür.

»Onkel!« Fanny stand auf. »Was für ein seltener Besuch hier bei uns im Weiberzimmer.«

Hermann Breedenbek lächelte und seine Augen bekamen einen jungenhaften Glanz.

»Meine verehrte Miss Tibbs, liebe Mädchen, wie ihr seht, bin ich ganz munter. Es ist genau wie Fanny sagt: Einige Wochen noch und ein Aufschwung des Handels. Dann bin ich wieder der Alte. Nur weg mit den Franzosen!«

Miss Tibbs Gesicht hellte sich augenblicklich auf. Fanny fragte sich, warum sie tagaus, tagein redete und beruhigte, während der Onkel ihre Gouvernante mit zwei hingeworfenen Sätzen in einen leuchtenden Christbaum verwandelte.

»Ich gehe ins Kontor. Fanny, sind die Burschen unten?«

»Ich habe sie beim Mittagessen zuletzt gesehen. Conradi hat ihnen für den Nachmittag aufgetragen, Quittungen zu sortieren.« Es amüsierte Fanny, an die langen Gesichter von Wilhelm und Karl zu denken. Die Lehrjungen sahen ihre Bestimmung in der Zeit von Franzosenbelagerung und ruchlosen Schmuggeleigeschäften offensichtlich nicht in der Erstellung einer Quittungskartei. Conradi schon.

»Ich bin unten und bringe Ordnung ins Chaos. Ich werde wohl den ganzen Abend daran sitzen, wundert euch nicht«, sagte Breedenbek.

»Aber das Hauskonzert bei Reinckes!«, rief Fanny zugleich mit Miss Tibbs und Caroline.

Breedenbek fand einen Faden, der aus dem Revers seines Morgenmantels hing, und nestelte daran herum. Er guckte wie ein schwänzender Schuljunge.

»Oh, Onkel! Sagen Sie nicht, Sie hätten schon wieder abgesagt«, sagte Fanny.

»Aber Fanny, ich habe doch zu arbeiten. Es sind liebe Mädchen, aber ich ertrage dieses Geplapper nicht. Ich schicke euch Johann mit der Kutsche mit, dann habt ihr allen Komfort.«

Als er schon halb auf dem Gang war, drehte er sich um. »Ach, Fanny, Liebes, heute Abend wird Georg von Alvesloh bei Reinckes sein. Ich erhielt eben ein Billett von ihm. Er ist wieder in der Stadt und will uns besuchen. Sei recht freundlich und sage ihm eine Verabredung Morgen zum Mittagessen zu. Meta soll für den Tag ein Stück Fleisch besorgen – und dazu auf keinen Fall Steckrüben, ich kann diese Knolle nicht mehr sehen. Adieu, mes dames!«

Als der Onkel fort war, sahen Caroline und Miss Tibbs sie an.

»Alvesloh?«, fragte Caroline. »Der Bruder eurer Lehrjungen?«

Fanny atmete das heißkalte Gefühl weg, das ihr bei dem Namen durch den Bauch fuhr. »Ja. Viel älter allerdings. Früher, bevor er das Gut seines Vaters übernahm, hat er einmal einige Wochen hier verbracht. Aber wir haben ihn hier ewig nicht mehr gesehen. Ein sehr verschlossener und strenger Mann. Langeweile pur, wenn du mich fragst.« Fanny zuckte mit den Schultern und mied die Blicke der anderen.

»Good grief, Fanny! That’s so typical of you. Er ist ein sehr ehrbarer, wenn auch ernster Mensch, Caroline. Zu mir außerordentlich aufmerksam. Und er hat so freundlich und offen mit Fanny gesprochen. Fast ein Wunder, wenn man bedenkt, dass sie damals kaum mehr als ein Kind war.«

Miss Tibbs schüttelte den Kopf in Fannys Richtung. »Ich weiß nicht, was an ihm so plötzlich deine Missfallen erregen konnte. Young girls! Wie sagt ihr? Kapriziös. Er hat viel für deinen Onkel getan und vice versa. Sie sind sehr feste Freunde.«

»Trotzdem mag ich ihn nicht besonders. Warum sollte ich auch? Nur weil er ein alter Freund des Onkels ist?«, sagte Fanny.

Miss Tibbs funkelte mit ihren Gouvernanten-Äugelchen. »Oh, poor me! Ich habe in deine Erziehung alles falsch gemacht. Deine arme Mutter selig, die mir dich kleines Waise anvertraut hat. Was muss ich sehen an Ungestüm! Wie sollen wir nur je einen Mann finden, der deine Launen erträgt?«

Fanny schaute zur Decke und ließ es verzweifelt aussehen. »Tibby, bitte nicht!«

»Du sollst nicht immer diese Sache mit deinen Augen machen, es ist nicht ladylike und hat etwas höchst Unschickliches.«

»Ich mache dir einen Vorschlag», sagte Fanny. »Ich bin heute Abend höflich zu Monsieur von Alvesloh. Du versprichst mir im Gegenzug: keine aufdringlichen Blicke und kein Geflüster, wenn irgendein unverheirateter Stutzer im Raum ist. Sonst fange ich an, für dich zu suchen.«

Miss Tibbs schnappte nach Luft und Caroline sprang auf, bevor Tibby sich auch noch über Fannys Unerzogenheit beschweren konnte.

»Verehrtes Fräulein, liebe Fanny! Ich mache mich jetzt auf den Weg. Wir sehen uns nachher bei dem Konzert. Ich freue mich. Es kann ja nur jedes Jahr besser werden.« Caroline lächelte so gequält, als hätte man ihr kandierte Froschbeine angeboten.

Fanny brachte die Freundin zur Tür. Unten am Treppenabsatz hielt Caroline an. »Fanny, du darfst nicht so zu Miss Tibbs sein. Sie fühlt die ganze Verantwortung deiner Erziehung auf ihren Schultern. Natürlich wäre ihr wohler, wenn sie dich in guten Händen wüsste.«

Fanny seufzte. »Hast du einmal darüber nachgedacht, wo Tibby bliebe, wenn ich mich mit dem erstbesten Kaufmann einließe? Meinst du, der würde eine alte Gouvernante durchfüttern – in diesen Zeiten? Warte kurz.« Sie rief nach Gesche. »Besser ist es, wie es ist und wir bleiben ungestört von Veränderungen.«

»Weißt du, Fanny, manchmal habe ich den Eindruck, du möchtest dich nur auf keinen Fall irgendwem unterordnen müssen und …«

»Mademoiselle hatte nach mir gerufen?« Gesche trocknete sich die Hände an ihrer Schürze ab.

Fanny war froh über die Unterbrechung, denn sie diskutierte dieses Thema nicht gerne. »Gesche, sei so gut und begleite Mademoiselle Petersen nach Hause. Komm danach gleich zu mir hinauf. Du musst mir bei der Abendtoilette helfen, heute ist das Konzert bei Reinckes. Dieses Struppzeug«, sie griff in ihre Locken, »muss irgendwie manierlich werden.«

Das Gesicht der Magd hellte sich auf. »Das mach ich gerne, nur, ich bin gerade beim Abtrocknen mit Meta. Die wird sich nich freuen, wenn ich verschwinde.«

»Das erkläre ich ihr, mach dir keine Sorgen, Mädchen. Und nun, husch, beeilt euch.«

Fanny sagte unten in der Küche Bescheid. Auf ihrem Weg nach oben schaute sie auf halber Treppe durch das Glasfenster in die Kontorräume. Im hinteren Teil des langgestreckten Raumes standen ihr Onkel, sein Partner Conradi und die beiden Jungen an ihren hölzernen Pulten. Breedenbek hieß die Burschen mit einer Handbewegung zu sich kommen. Sie stellten sich an beiden Seiten neben ihm auf und er zeigte auf die Bücher vor ihm. Karl holte ein Blatt von seinem Platz und Wilhelm schien den Onkel etwas zu fragen. Karl legte das Papier vor das Grüppchen auf das Kontorbuch. Der Onkel nahm die Feder, tauchte sie in das Tintenfässchen vor ihnen und kratzte mit einem zufriedenen Lächeln etwas vor Wilhelms Nase nieder. Fanny ließ ihre angespannten Schultern nach unten sacken und atmete tief durch. Der Onkel würde gesund werden, wenn er nur seine Arbeit hatte.

Sie hob ihre Röcke leicht an, stieg die weißgestrichene Holztreppe zu ihrem Zimmer hinauf und plante geistig die Garderobe für den Abend. Schon lange hatte sie keine Soirée mehr in großer Gesellschaft verbracht. Kam Monsieur von Alvesloh wirklich? Ein unangenehmes Gefühl machte sich wieder in ihrem Inneren breit. Sie legte die Hand schützend unter die Brust und schüttelte den Kopf. Es kam gar nicht in Frage, dass er sie durcheinanderbrachte. Sie war erwachsen und wusste, was sie wollte. Weder würde sie sich für den Abend besonders zurechtmachen, noch gab es irgendeinen Grund, nicht erhobenen Hauptes den Freund ihres Onkels zu begrüßen.

Kapitel 2

»Warum bist du gekommen nach so langer Zeit?«

»Zum Teetrinken und Plaudern. Zu was sonst?« Georg von Alvesloh klemmte sich in ein Sesselchen und streckte die Beine aus, damit er ein bisschen mehr Raum hatte.

Madame Francke, die ihm gegenübersaß, rief zur Tür heraus nach ihrer Magd. »Alvesloh, rede, wenn du partout zum Reden gekommen bist. Hättest dich trotzdem anmelden können, dann hätte ich mir Zeit für dich genommen.«

»Kommt noch einträglicher Besuch? Dann räume ich meinen Platz sofort.«

Ein Lack-Fächer à la chinoise klapste auf seinen Arm. Im selben Moment ging die Tür auf und ein mausgesichtiges Mädchen mit zu großer Rüschenhaube steckte den Kopf herein. »Wünschen Madame etwas? Tee und Gebäck?«

»Nein, danke, Josephine, ich habe es mir anders überlegt. Du kannst wieder gehen.«

»Beleidigt, Polly?«, fragte er.

»Alvesloh, heirate ein Kaufmannstöchterchen, an dem du deine Frechheiten auslassen kannst. Sonst wirst du alt und schrullig.«

»Wer sich mit deinem Geschlecht einlässt, dem nützt jedes Jahr an Lebenserfahrung.« Er zog sich die Lederhandschuhe aus und stupste sie in die Schulter. »Guck nicht so, das macht Falten. Ich freue mich, dich zu sehen. Du siehst gut aus.«

Was man von Pollys Wohnstätte nicht sagen konnte: Samtrote Vorhänge verdunkelten das Zimmer mehr als nötig. Es roch abgestanden, nach Liebesfreuden und Lavendelöl. Weit geöffnete Flügeltüren zum Schlafzimmer bündelten die Blicke auf das Bett wie auf einen Altar. Die dunkelgrünen Kassetten der Wandverkleidung waren über und über mit Pfauen und kleinen Singvögeln bemalt, die mit ihren vergilbten Äuglein frivol herüber blinzelten. Alvesloh kannte das alles, aber es stieß ihn ab und er hätte Polly gerne hier herausgeholt.

»Hier hat sich nichts, aber auch gar nichts verändert«, sagte er.

Polly verdrehte die Augen. »Warum nur glaubt alle Welt, ich leide? Ich lebe so unabhängig und angenehm wie du – mit unbedeutenden Einschränkungen …«

»… wie zum Beispiel der Abhängigkeit vom Geld deiner Gönner?«

»… wie zum Beispiel meinem Mangel an Brüsseler Spitze, seit mon cher Philippe zurück nach Belgien beordert wurde.«

»Man spricht mehr über dich als dir recht sein kann. Aber deswegen bin ich nicht hier. Was nicht heißt, dass du nicht in einer ehrbaren Verbindung besser aufgehoben wärst. Und wenn ich dich zwingen könnte, hätte ich es lange getan. Ich kenne meine Grenzen.«

»Mein Leben ist kultiviert und erfreut sowohl mich als auch die Herren, die hier einkehren. Doppelt so viele Menschen als in der durchschnittlichen Ehe glücklich werden, würde ich sagen. Außerdem: Über Schauspielerinnen sprechen die Leute immer, die einen mit Abscheu, die anderen mit Bewunderung. In das Theater gehen sie doch alle.« Polly machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nein, nein, die Frage ist eine andere: Betrifft mich die Meinung eines Salonfräuleins?« Sie wartete keine Antwort ab. »Sie tut es nicht.«

Polly verzog ihre Lippen zu einem unversöhnlichen Strich. Mit den Handflächen glättete sie ihr Chemisenkleid. Alvesloh fragte sich, wo sie einen so feinen Stoff in dieser Zeit herbekommen hatte. Natürlich, dachte er: Die Gönner.

»Sei froh, dass ich nicht gekommen bin, um mit dir zu streiten. Du mit deinem Dickkopf! Aber zu etwas anderem: Mit wie vielen französischen Offizieren«, Alvesloh räusperte sich, »verkehrst du zur Zeit?«

»Und ich dachte, so etwas wie Zuneigung hätte dich hergeführt.« Sie schwieg kurz. »Seit deinem letzten Brief sind zwei Monate vergangen. Ist sie gesund? Macht sie sich? Es sind so grässliche Fieber rumgegangen in letzter Zeit.«

Ihr Blick hatte plötzlich etwas Unsicheres, das gar nicht zu ihr passte, und Alvesloh fühlte sich wie ein Schurke. Er beugte sich vor und strich Polly sanft über die Schulter. »Entschuldige, ich benehme mich wie ein Esel. Jette geht es wunderbar. Sie ist gesund und kräftig, schon fast so groß«, er zeigte mit dem Arm knapp unter seine Brust, »im Stehen natürlich«.

Polly lachte.

»Wilhelmine platzt jedes Mal vor stolz, wenn ich sie nach Jette frage. Daher kann ich dir berichten, dass sie in der Lage ist«, er zählte an den Fingern ab, »selbstständig eine tadellose Fischsülze zuzubereiten, die Ferse am Strumpf zu meistern und ein Bronchientonikum zu kochen, das sogar vor meiner Großmutter Gnade gefunden hat. Letzteres will etwas heißen, wie du weißt.« Er drückte ihren Arm. »Es geht ihr so gut, wie es einem Kind nur gehen kann.«

»Danke, Georg. Es bedeutet mir viel«, sagte Polly leise, dann setzte sie sich geschäftig auf und faltete die Hände im Schoß. »Dann hast du dir wohl auch deine Neuigkeiten verdient. Namen nenne ich dir nicht, aber soviel: Ich weiß besser über die Verhältnisse Bescheid als unser Munizipalrat in seinen besten Stunden. Und die Lage ist schlecht. Mehr Sterben und Elend als auf dem Rückzugsweg von Moskau hat die Welt noch nicht gesehen. Russland ist öd und leer, die Bauern haben das Land niedergebrannt, alles ist ausgestorben. Die Wege waren frei, aber was nützte das den Soldaten, bei zwanzig Grad Kälte, Nervenfieber und Verletzungen?«

Alvesloh schwieg; zu seinem Missvergnügen war er nicht überrascht.

»Die französischen Offiziere haben mehr Angst vor den Hamburgern als den Bürgern bewusst ist. Und dieser frisch eingetroffene General, ich habe seinen Namen vergessen …«

»Lauriston«, sagte Alvesloh.

»… Lauriston soll Befehl haben, den größten Teil der Besatzung nach Magdeburg abzuziehen. Angeblich, um ein größeres Heer zu sammeln.« Sie senkte die Stimme. »Du siehst, es gibt Einiges, vor dem die Franzosen sich ängstigen sollten. D’Aubignoscs Spitzel beäugen den Kreis um Buchhändler Perthes. Ihr seid doch gut bekannt? Sie fürchten einen Aufstand.«

Er schwieg weiter. Was sollte er auch sagen? Der Schlamassel war groß, größer als ihm lieb war.

»So ist die Lage, Alvesloh, bist du zufrieden mit mir?« Sie lächelte. Das machte sie noch schöner, denn es betonte die Grübchen in ihren Wangen. Im Spott zog sie die makellosen Augenbrauen hoch. Polly würde noch lange die Phantasie der Männerwelt anregen und das wusste sie.

»Zufrieden bin ich erst, wenn die Franzosen sich ihr Weißbrot wieder an der Seine backen. Euer Theater konserviert eine Welt, die aufgehört hat zu existieren. Hamburg wird nicht mehr lange schweigen«, sagte Alvesloh.

Polly stand auf und schlenderte zu ihrem Schminktisch. »Warum bist du hier? Man bekommt dich doch sonst nicht zu Gesicht. Braucht das Gut dich nicht?«

Als sie sich zu ihm umdrehte und ihn anschaute, wusste er, warum Polly immer wieder die Informationen bekam, die sie wollte.

»Mit dem neuen Verwalter geht es auch eine Weile ohne mich. Er würde dir übrigens gefallen – er ist auch ein Freund der abrupten Gesprächsführung. Zu deiner ersten Frage: Auf Liebenau ist alles in schönster Ordnung. Aber ich brauche die Bibliotheken der Stadt. Kennst du die Idee der ›Ornamented Farm? Wenn du dich dafür interessierst, könnte ich dir den Gedanken kurz referieren.«

Er duckte sich. Der Fächer flog um Haaresbreite an seinem Kopf vorbei und hinterließ eine Schramme in der hölzernen Verkleidung der Schlafzimmerwand. Einem Papagei fehlte nun der halbe Schnabel. Er musste lachen.

»Nicht? Nun, jedenfalls bin ich bei uns auf dem Land mit meiner und der mageren Bibliothek des Pfarrers heillos verloren.«

Polly drehte ein Rougetöpfchen auf, schraubte es wieder zu und kramte in der Schublade nach etwas. Sie schien mit seinen Antworten ganz und gar nicht zufrieden und das amüsierte ihn.

»Also sind es nur eigennützige Dinge, die dich diesen Winter in Hamburg halten?«, fragte sie.

»Natürlich. Und dir sehe ich an deiner Nase an, dass du mir nicht ein Wort glaubst. Was für ein Raubkatzenblick.«

»Meine Neugier kam dir eben noch gut zupass.« Sie setzte hinzu: »Alvesloh, Geheimhaltung kann ich.«

Er seufzte. »Es geht um Breedenbek. Seine anhaltende Krankheit spricht sich herum. Außer dir ist er vielleicht der Einzige gewesen, der mich in meinem Selbstmitleid ertragen hat. Aber das Gut, die Arbeit. Sei es, wie es sei, jetzt braucht er meine Hilfe. Vor allem mit dem Kontor.«

»Gut, gut, Monsieur, das klingt nach Langeweile. Wenn du ein ganzes Handelshaus retten willst, hast du viel vor dieses Frühjahr.« Sie fand eine kleine Brosche und drehte sie vor ihrem Gesicht hin und her, so dass die silbrige Oberfläche aufleuchtete und wieder dunkel wurde. Plötzlich hielt sie inne und hakte ihren Blick in seinem fest. »Und wenn du Hamburg gleich mit retten willst, dann noch viel mehr. Pack es besser gleich an, ich erwarte Besuch. Und dem ist tatsächlich an Diskretion gelegen.«

Polly steckte sich die Brosche auf ihrem voluminösen Haarschopf fest und stellte sich mit verschränkten Armen neben die Tür.

Alvesloh stand auf, beeilte sich aber nicht. »Glaub nicht, ma chère, es gäbe nicht noch andere schöne Frauen, denen ich heute meine Aufwartung machen müsste.«

Er schlenderte zum Spiegel und richtete sich halbherzig die Halsbinde. Ohne Christ, seinen Leibdiener, erinnerte das Ergebnis nicht mehr sehr an den Wasserfall-Knoten des Morgens.

»Ach«, sagte Polly, »du meinst doch nicht etwa die kleine Breedenbek?«

»Nein, Fanny ist noch ein halbes Kind. Ich rede vom Hauskonzert bei Reinckes. Äußerst elegant, die Töchter. Leider haben sie sich in den Kopf gesetzt, Musik zu machen. Ein Vorgeschmack auf den tiefsten Höllenkreis. Warum das in diesen Tagen überhaupt erlaubt ist, weiß ich nicht.« Er packte seine Sachen und ging zur Tür.

»Es hat mich gefreut, dich wiederzusehen, Polly.« Er küsste ihr erst die Hand und dann die Wange und zog mit einem »Adieu und auf bald!« die Tür hinter sich zu.

Alvesloh ging mit seinem Spazierstock durch die schneefeuchte Luft zur Börsenhalle. Es dämmerte, aber er konnte die Wolken noch erkennen. Er sog die kalte Luft ein, denn ihm graute vor den verrauchten Clubräumen der Börse. Maltzahn, mit dem er sich treffen wollte, fühlte sich hingegen erst ab einer fingerdicken gelben Schicht auf der Tapete so richtig wohl.

Alvesloh griff an seine Kehle. Die Halsbinde saß nicht besser, wenn er weiter an ihr herumfingerte. Er hätte sie am liebsten abgenommen, doch schon der Gedanke glich einer Majestätsbeleidigung. Vor seinem geistigen Auge erschien sein Diener mit zusammengekniffenen Lippen. Häuslicher Friede war in diesen Tagen wertvoller denn je und mit Christ, Alveslohs Diener, war nicht zu spaßen. Vor allem nicht bei Krawatten.

Die Nacht brach herein und einsame Schneeflocken taumelten durch die Luft. An den Straßenecken standen französische Patrouillen und beäugten das Treiben der Bürger. Zuweilen durchsuchten die dick vermummten Soldaten eine Kiepe auf Schmuggelgut, fanden aber nichts. Es schienen weniger Männer zu sein als noch bei seiner Ankunft. Vielleicht hatte Lauriston schon mit dem Truppenabzug begonnen.

Unbemerkt von den Augen der Franzosen bewegten sich ausgemergelte Figuren im Dunkel der Häuserschatten. Sie vermieden es, auch nur in die Nähe eines französischen Gendarmen zu geraten. Aufstand? Wie sollten diese armen Gestalten Bürgerstolz entwickeln, wo sie in ihren feuchten Kellerlöchern um das Überleben ihrer Kinder kämpften? In den Beuteln dieser huschenden Schatten war wohl eher etwas für die Zollbeamten.

Eine dünne Flockenschicht bedeckte den Boden, nur an wenigen Stellen konnte er das Pflaster noch erkennen. Alvesloh atmete in einem Stoß aus. Er hasste Schnee. Weiße, erbarmungslose Kälte. Sobald er nachts seine Augen schloss, verlor sie ihre Jungfräulichkeit. Blutstropfen fraßen sich in das Weiß, warmes Blut färbte alles, bis er aufwachte und schweißnass dalag. Er riss sich zusammen und scheuchte die Schatten fort.

Diese Stadt war kein Schlachtfeld und er war nicht gekommen, um zu kämpfen. Das alles war lange her. Und doch: Napoleons Griff lag um Europa wie eine Daumenschraube. Immer noch. Hamburg war nicht mehr die Stadt, die er kannte. Eher eine Festung unter drohendem Beschuss. Zum Teufel mit dieser Besatzung! Auf seinem Gut in Holstein war es so friedlich gewesen. Er zerrte an der Krawatte, die ihm unangenehm die Luft abschnitt. Christ hin oder her.

Kapitel 3

Nach kurzer Fahrt brachte Johann den Einspänner vor Reinckes Tür zum Stehen. Als Fanny ausstieg, lag ein klebriger Nebel über allen Umrissen. Es war so feuchtkalt, dass sie förmlich spüren konnte, wie ihre Locken sich kräuselten. Sie klammerte sich an ihren Muff und ging auf das hell erleuchtete Haus zu. Mit den strahlenden Fenstern erinnerte es sie an den Adventskalender ihrer englischen Kinderfrau. Jedes Jahr hatten sie ihn mit kleinen Talglichtern hinter den Bildchen zum Leuchten gebracht und einmal hatte Fanny sich vor lauter Neugier die wilden Locken an einem der Lichter versengt.

Als Fanny in die Wohnräume kam, war es noch festlicher als sie erwartet hatte. Die meisten Kerzen reflektierten sich in Spiegeln und der warme Schein tauchte die Tapeten in ein goldenes Licht. Nicht so eine Feier, gottlob, auf der sie ihr abgestelltes Glas nicht wiederfand. Oder schlimmer noch, wo sie nicht wusste, was sie trank, weil es so dunkel war.

Fanny ging zu einem der Spiegel und schaute sich aus dem Augenwinkel so an, dass es niemand bemerkte. Sie hatte sich beileibe nicht so ausstaffiert, wie es für einen solchen Anlass üblich gewesen wäre. Mary Wollstonecraft geißelte in ihrem Buch immer wieder die Putzsucht junger Mädchen und Frauen.

Wer sollte Frauen auch ernstnehmen, wenn sie nur ihre Garderobe im Kopf hatten? Und doch: Ihr eisblaues Seidenkleid hob sich vornehm gegen ihre dunkelbraunen Haare ab. Der tiefe Ausschnitt war so à la mode, dass sie sich auch in Paris nicht hätte schämen müssen, – oder jedenfalls hoffte sie das. Wenn Miss Wollstonecraft sie gesehen hätte, dann wäre ihr Aufzug hoffentlich unter schlichte Eleganz durchgegangen und das stand jeder Frau gut zu Gesicht.

Leider war es ihr nicht gelungen, die Stelle aus Livius’ Ab urbe condita zu Ende zu übersetzen, die sie sich für heute vorgenommen hatte. Miss Wollstonecraft forderte mit Recht auch für Frauen die Lektüre des klassischen männlichen Bildungskanons. Ansonsten hatte sie trotz ihrer inneren Unruhe alles so verrichtet wie immer.

Ein bisschen stolz war sie auf die Borte mit griechischen Mäandern an Brust und Saum, die sie in tagelanger Sklavenarbeit mit Caroline selbst hergestellt hatte. Sie warf einen letzten Blick in den Spiegel und versuchte, einige Locken in Position zu bringen, ließ es aber bald, weil die dummen Dinger immer wieder aus ihrem Knoten sprangen.

Miss Tibbs war bereits bei Caroline und deren Mutter angekommen und drängte die beiden in einen schummrigen Winkel am Ende der Fensterfront. Ihre Gouvernante lebte in ständiger Angst, sie könnte als Engländerin enttarnt werden. Tibby schwieg mit einem Schlag, als ein Franzose sich auf drei Meter ihrer Nische näherte. Fanny trat zu den Dreien und knickste vor Carolines Mutter, Madame Petersen.

»Tibby, wenn du so weitermachst, sehen wir wirklich verdächtig aus. Dort hinten stehen die Reincke-Mädchen. Darf ich Caro entführen und dich hier bei Madame lassen?«

Miss Tibbs wedelte sie mit einer Handbewegung fort und flüsterte zeitgleich Frau Petersen einen Schwall ihrer Sorgen und Nöte zu. Die gutmütige Matrone erkannte ihren Einsatz und nickte mitfühlend.

Fanny ging mit Caroline an den aufgestellten Stuhlreihen vorbei in den hinteren Teil des Salons. Die großen Flügeltüren zum Treppenhaus standen noch offen, doch in den letzten Minuten war niemand mehr hereingekommen. Die Gäste schienen vollzählig.

Sie wischte ihre feuchten Hände an ihrem Kleid ab. Möglicherweise kam der Angekündigte gar nicht und die ganze Aufregung war überflüssig. Als hätte sie es mit ihren Gedanken heraufbeschworen, erschienen in diesem Moment zwei neue Gäste auf dem Treppenabsatz. Einer davon war der Freund ihres Onkels: Georg von Alvesloh. Er verstaute einen Brief in seiner Westentasche und sah nicht auf, so dass Fanny ihn einige Herzschläge lang mustern konnte. Er wirkte härter, kantiger als sie ihn in Erinnerung hatte. Bevor er über die Menge schauen konnte, wandte sie den Kopf ab.

»Flaschengrün hätte es aber nicht sein müssen, oder?«, flüsterte Caroline. »Und dann auch noch beide. Es macht sie entsetzlich fahl.«

Fanny verstand erst nach einem Augenblick, dass Caroline über die Reincke-Schwestern redete und nicht über die Hereintretenden.

»Ja, wobei ich mir nicht sicher bin, ob es am Kleid liegt oder am bevorstehenden Konzert«, sagte Fanny.

»Sieh mal, das muss doch Monsieur von Alvesloh sein. Sehr elegant!«

»Elegant und finster.«

»Du hast gar nicht erzählt, dass er so groß und kräftig ist«, sagte Caroline.

Fanny erwiderte nichts. Sie hatten die beiden Schwestern erreicht.

»Fanny, Caro! Wie schön, euch zu sehen.« Katharina nahm einem vorbeigehenden Diener in Livree zwei Limonadengläser ab und reichte sie ihnen. »Und was für ein schöner Anlass.«

»Habt ihr viel geübt?« Fanny bemühte sich, nicht zu hoffnungsvoll zu klingen.

»Aber ja! Ich bin schrecklich aufgeregt. Es sind so viele Musikkenner gekommen! Nur Sophie kümmern weder die Darbietung noch meine Gefühle. Hartleibig wie immer. Du bist ein unnatürliches Kind, Schwester.«

Sophie grinste nur und wies auf die Gruppe von Herren.

»Sieh mal, Katharina, da sind sie!« Sophie sagte das in einem Ton, als würde sie ihrer Schwester mit Genuss eine pelzige Spinne ins Bett setzen. Sie wies auf Monsieur von Maltzahn und Monsieur von Alvesloh.

Katharinas Augen weiteten sich. Ihr Gesicht war schon vorher blass gewesen, aber jetzt war es aschfahl und das Glas zitterte in ihrer Hand. Offensichtlich war Fanny nicht die Einzige, die mit Anspannung die Ankunft dieser Männer erwartete.

»Was ist denn mit euch los?«, fragte sie.

»Es tut mir leid«, sagte Katharina mit zittriger Stimme. »Du weißt, ich bin niemand, der tratscht, aber …« Katharina brach ab, schaute erst Fanny an, dann Sophie, dann ihre Füße.

»Meine liebste Schwester hat in ihrer unnachahmlichen Weise unsere Eltern belauscht –«

»Es war ein Versehen!«, rief Katharina.

Fanny kribbelte ein ungutes Gefühl bis in die Fingerspitzen.

»Gelauscht hast du trotzdem«, sagte Sophie.

»Ist jemand so nett, uns aufzuklären?«, fragte Fanny.

Sophie beugte sich mit ihrem Glas in der Hand zu ihr vor und sagte betont langsam: »Man sagt, er sei ein – Mörder!«

Fanny war einen Moment lang so verdutzt, dass sie nicht reagierte. Caroline schlug sich die Hand vor den Mund und unterdrückte einen Schrei.

Katharina fasste Fannys Arm und drückte fest zu. »Du musst mir verzeihen, Fanny, es sind sicher nur Gerüchte und ich hatte nicht die Absicht, zu lauschen. Wir wollen nichts unterstellen! Mutter hatte eine Meinungsverschiedenheit mit unserem Vater, als es um die Gästeliste ging. Sie meinte«, Katharina flüsterte jetzt fast, »dass ein Mann, der imstande sei, seinen Freund zu töten, nicht in ihren Räumen Gast sein könne. Aber Vater hat sich durchgesetzt. Er sagte, dass alles um Monsieur von Alvesloh nur Gerüchte seien und er dem Wort eines Ehrenmannes Glauben schenke. Außerdem, so sagte er, habe Alvesloh freiwillig seinen Abschied aus der Armee genommen. Er ist also nicht unehrenhaft entlassen worden. Und das muss ja schließlich heißen, dass an den Gerüchten nichts dran ist. Oder?«

Fanny antwortete nicht. Den besten Freund getötet? Unehrenhaft entlassen? Woher wollte Katharinas Mutter solche Dinge wissen?

Alvesloh hatte sich mit einer Kriegsverletzung bei ihnen erholt, nachdem er – freiwillig – seinen Abschied genommen hatte. Jedenfalls hatte man ihr das erzählt. Danach war er für Jahre auf sein Gut in Holstein verschwunden. Bis heute. Sein bester Freund war bei den Kämpfen damals ums Leben gekommen, das wusste sie. Sonst hatte sie nichts gefragt. Der Herzschlag pochte in Fannys Hals. Im Hintergrund klirrten die Gläser unnatürlich laut, jemand schloss mit einem Ruck die Flügeltür zum Treppenhaus. Drei Augenpaare guckten sie an, keiner sagte ein Wort. Sie riss sich zusammen und sandte einen Blick in Sophies Richtung, der dem Mädchen hoffentlich Alpträume bescherte.

»Die ganze Geschichte ist Unsinn. Mehr Kommentar braucht es da nicht«, sagte Fanny kurz.

Sie schwiegen alle, ein unangenehmes und aufgeladenes Schweigen. Die Stille dehnte sich und endlich stöhnte Fanny auf. »Katharina, bitte! Du musst dir keine Sorgen machen. Der Freund meines Onkels ist so wenig ein Mörder wie du eine begnadete Sopranistin bist.« Fanny biss sich auf die Lippen. »Verzeih bitte, das sollte ein Witz sein.«

Katharina lachte unsicher und wedelte mit der Hand. »Verziehen. Ich bin nur aufgeregt. Und dann noch in einem Raum mit einem Mör- nein, Schluss. Ich habe ganz andere Sorgen, da hast du recht.« Sie schaute mit einem ängstlichen Blick zu der kleinen Bühne neben ihnen. »Ich meine nur, ich würde mich nicht trauen, mit ihm zu reden.«

»Ich fänd’s aufregend«, sagte Sophie. »Wenn er fähig ist, seinen Freund zu töten, dann müssten wir ihm doch etwas Böses anmerken, oder?«

»Sophie, von wem hast du deine Frechheit eigentlich? Deine Schwester ist doch ein ganz ordentlicher Mensch geworden«, sagte Fanny. Es tat ihr gut, Sophie ein bisschen zu beschimpfen. Verdient hatte sie es für ihre Impertinenz sowieso und es lenkte sie von den Ungeheuerlichkeiten ab, die im Raum standen.

Sophie verschränkte die Arme vor dem Körper und schnaubte.

»Lasst uns bitte nicht streiten«, sagte Caroline mit erhobenen Händen und gehetztem Gesichtsausdruck. »Tu mir nur einen Gefallen, Sophie, und das meine ich ernst: Komm nicht auf die Idee, dich vorzustellen. Ich lasse dich hier allein stehen, falls du uns alle in Verlegenheit bringst.« So streng wie jetzt schaute Caroline eigentlich nur, wenn es um Mary Wollstonecraft und Fannys angestrebten Junggesellinnen-Haushalt ging.

Fanny drehte sich vom Raum weg und ihren Freundinnen zu. »Sophie, dir stände Zurückhaltung wirklich gut. Aber wenn mich nicht alles täuscht, werden wir auch ohne dein Zutun in den Genuss männlicher Gesellschaft kommen. Glaubt nicht, vier unverheiratete Mädchen müssten lange auf die Aufmerksamkeit von älteren Herren warten.«

Ihre Freundinnen starrten wie eingefroren an ihr vorbei. Hatte sie zu laut gesprochen?

»Mesdemoiselles, in der Tat!«, sagte eine angenehme Stimme direkt hinter ihr. »Es wäre ganz unverzeihlich, so bezaubernde Damen wie Sie lange ohne Zerstreuung zu lassen. Wenn Sie mit unserer ältlichen Gesellschaft trotz aller Bedenken vorlieb nehmen mögen? Erlauben Sie mir, mich in Erinnerung zu bringen: Johann Leopold von Maltzahn«, er verbeugte sich tief, »und dies ist mein Freund, Georg von Alvesloh.«

»Ihr Diener«, sagte von Alvesloh und neigte kurz und ruckartig den Oberkörper zum Gruß. Sein Blick ruhte auf ihr, während die Mädchen sich vorstellten. Danach entstand eine Pause, die Monsieur von Maltzahn mit seinem Lächeln niederzuringen versuchte.

Fannys Arme kribbelten, ihr Mund war trocken wie Scheuersand.

Katharina sah aus, als würde sie einen Sprung aus dem Fenster in Erwägung ziehen. Carolines Gemütszustand schien nicht besser, sie war in eine Art Schockstarre verfallen. Nur Sophie wirkte verstörend munter; immerhin war sie klug und schwieg.

Endlich stellte Monsieur von Maltzahn fest, dass die Limonadengläser der Damen leer waren und Fanny war unendlich dankbar, dass überhaupt jemand sprach. Mit großer Liebenswürdigkeit bot Maltzahn an, die Gläser aufzufüllen, aber Alvesloh mischte sich ein. »Lass mich das machen, dann fühle ich mich nützlich – trotz meines Alters«, schob er lächelnd hinterher, als er Fanny passierte.

Alvesloh schlenderte an den Grüppchen der Gäste entlang und hielt auf den Tisch mit den Getränken zu. Er hatte sich daran gewöhnt, dass ihn seine Vergangenheit von Zeit zu Zeit einholte. Die panischen Gesichter der jungen Frauen waren allerdings ein erster Tiefpunkt des Abends. Wenn Maltzahn recht hatte, dann würde nur das kommende Konzert diese Erfahrung noch in den Schatten stellen. In diesem Reigen von Unannehmlichkeiten hatte die kleine Breedenbek fast noch Unterhaltungswert.

Fanny Breedenbek! Wie hatte er annehmen können, für sie sei die Zeit stehen geblieben? In ihrem hellblauen Kleid und den unordentlichen Locken erinnerte sie ihn an eine vorlaute Meerjungfrau. Scheu war sie jedenfalls nicht mehr.

Er ging mit den gefüllten Gläsern zurück und reichte sie den Damen. Wie Fanny wohl ihren Fauxpas von vorhin wieder gutmachen würde?

Als er ihr das Glas überreichte, sah sie kurz zu ihm auf. Es war albern, aber er hätte schwören können, dass sie wütend war. Je länger er während des bemühten Geplappers zwischen den Mädchen und dem stets galanten Maltzahn die schweigende Fanny anschaute, umso mehr verwunderte ihn dieses Geschöpf. Er hatte sie ganz anders in Erinnerung: Schüchtern, ernst, auf eine besondere Art sehr erwachsen und sehr kindlich zugleich. Als durch ein paar vorbeidrängende Gäste die Gruppe getrennt wurde, nahm er Fanny sachte am Arm und zog sie beiseite.