Heinichen, Veit Scherbengericht

PIPER

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Dies ist ein Roman, er erhebt keinen Anspruch auf Wahrheit, doch kommt er zu Schlüssen, die der Wirklichkeit entsprechen könnten. Personen und Orte entspringen der Phantasie des Autors. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind unbeabsichtigt, rein zufällig und entbehren jeglichem realen Zusammenhang.

 

ISBN 978-3-492-97761-6

September 2017

© Veit Heinichen und Piper Verlag GmbH, München 2017

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: plainpicture/BlueHouseProject

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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A proposito di politica,

ci sarebbe qualcosa da mangiare?

Totò

Alles, was gegessen wird,

ist Gegenstand der Macht.

Elias Canetti

Das Ende der Verbannung

Athos fand sie erst nach langer Suche. Mit dem Bus war er vom Zentrum zu dem grauen Wohnklotz am Stadtrand hochgefahren und hatte sich kurz nach elf unschlüssig für einen der abweisenden Eingangstürme entschieden. Wilde Sprayer hatten die grauen Stahlbetonwände mit unverständlichen Symbolen dekoriert. Als man ihn damals verhaftete, waren Schmierereien an den Hauswänden in Triest noch selten gewesen. Zaghaft stieg er das zugige Treppenhaus hinauf, bis er schließlich mit dem Fuß die breite Glastür zu einem endlosen Flur mit schwarzem Kunststoffboden und schwacher Beleuchtung aufstieß. Kein Mensch außer ihm war hier unterwegs. Die einsame Leuchtreklame einer Apotheke war der einzige Kontrast in der ansonsten anonymen Umgebung. Wer eintreten, Medikamente kaufen wollte, musste klingeln, stand an der Tür. Nach der ersten Ecke kam er sogar an einem karg eingerichteten Postamt vorbei, das an diesem Morgen geöffnet hatte. Nur die Werke der Sprayer brachten etwas Abwechslung in die Tristesse, wobei sie in diesen Korridoren offiziell angebracht worden sein mussten: Es waren sorgsam gestaltete Bilder mit ironischen Kommentaren, die karikaturengleich die kalte Betonarchitektur und ihre Bewohner illustrierten. Die Flure im Zellentrakt des Gefängnisses, in dem er die letzten siebzehn Jahre eingesessen hatte, waren ebenso karg gewesen, dafür sauberer und besser ausgeleuchtet. Aristèides Albanese erinnerte sich nicht mehr, an welchem der verschlossenen Treppenhäuser zu den oberen Etagen er nach dem Klingelschild suchen musste. Über zweieinhalbtausend Menschen wohnten hier, und erst am siebten Eingang fand er den kaum noch lesbaren Namen: Melissa Fabiani. Er hatte vergebens geläutet, sich schließlich die Appartmentnummer eingeprägt, war am Übergang zum angehängten zweiten, nicht weniger labyrinthischen Gebäudekomplex vorübergegangen. Im nächsten Flur standen schlecht gekleidete Frauen rauchend vor dem Schild einer Bar, wo auch Tabakwaren und Zeitungen verkauft wurden. Neben dem Eingang warb ein Streifenplakat mit der Schlagzeile der lokalen Tageszeitung: Tonino Gasparri freigesprochen. Tatbestand der Korruption verjährt.

Aristèides schob angewidert die Zeitung mit dem Foto des Politikers vom Tresen und bestellte. Die grauen Schlieren auf den kreisrunden Fenstern verschleierten den Blick auf den fernen Hafen, die Öltanker und Containerschiffe unten in der Stadt. Es beruhigte ihn, dass die Gläser und Kaffeetassen aus der Spülmaschine kamen.

Tante Milli saß an einem Tisch und war ins Kartenspiel mit anderen Greisen vertieft, vermutlich die einzige Abwechslung, der sie täglich folgte. Trotz ihrer Sauerstoffmaske und des Apparats, der auf Rollen neben ihrem Stuhl stand, erkannte er sie sofort. Sie schenkte dem bärtigen und langhaarigen Riesen, der sie vom Tresen aus fixierte, keine Beachtung. Athos war von ihrem Anblick erschüttert. In ihren Briefen, die ihn Woche für Woche in der Haftanstalt erreichten, hatte sie sich nie über ihre Gesundheit beklagt. Als sie die letzte Karte ausgespielt hatte, bezahlte er seinen Espresso und trat endlich an ihren Tisch.

»Tante Milli«, sagte er.

Die Alte schaute zögernd zu ihm auf, und erst als er seinen Namen nannte, erhellten sich ihre Züge. Melissa nahm die Atemmaske ab. Wie früher, als sie gut im Geschäft gewesen war und die Freier Schlange gestanden hatten, waren ihre Lippen grell geschminkt. Und trotz ihrer Gebrechlichkeit lackierte sie sich noch immer die Nägel. Entschieden drückte sie sich aus ihrem Stuhl und umarmte ihn, so fest sie konnte. Ihre Arme reichten ihm kaum auf den Rücken.

»Kiki? Bist du das wirklich? Vor lauter Haaren sieht man dein Gesicht nicht.« Sie strahlte, ihre Augen blitzten fröhlich, die Lachfalten durchzogen ihr Gesicht, dann verbarg sie es an seiner Brust und hielt sich am Revers seines elfenbeinfarbenen Jacketts fest. »Seit wann bist du draußen? Warum hast du mir nicht geschrieben?«

»Ach, Tante Milli.« Seine kräftigen Hände hielten sie an den Schultern. »Ich hatte gar nicht mehr damit gerechnet, vorzeitig rauszukommen.« Er überging, dass er bereits seit dem Sommer zurück in der Stadt war.

»Hast du dir im Bau angewöhnt, dein eigenes Besteck mit dir herumzutragen? Kochen da auch schon die Chinesen?« Sie zeigte auf die Essstäbchen und den Löffel, die aus der Brusttasche seines Sakkos ragten. »Und rasieren tut man sich im Gefängnis wohl auch nicht. Ohne Bart warst du hübscher, aber das wird schon wieder. Hoffentlich hast du dich wenigstens nicht tätowieren lassen.«

»Spielst du weiter, Melissa, oder müssen wir uns nach Ersatz umsehen?«, fragte eine ungeduldige Stimme vom Tisch.

Die Alte winkte glücklich ab, ihre Hände zogen ihn zu sich herunter, sie küsste ihn herzhaft auf beide Wangen, und ein roter Lippenabdruck blieb auf Höhe seines Jochbeins zurück. »Heute ist ein großer Tag. Du wirst mir alles erzählen, nicht wahr, Kiki?«

»Ich habe eingekauft, Tante Milli.« Wie lange hatte er seinen Kosenamen nicht mehr gehört? Nur sie durfte ihn so nennen. »Ich werde dir ein Mittagessen zubereiten, wie du ewig keines hattest. Darfst du alles essen, was du möchtest?«

»Alles, was mir schmeckt, Kiki.« Die Alte hängte sich bei ihm ein und tippelte hinaus in den langen Flur, das Beatmungsgerät folgte ihr wie ein Kinderspielzeug auf Rädern. Aristèides fürchtete, mit ihm zu kollidieren. Der Barista rief ihr einen Gruß nach, den sie nicht hörte, während ihre Mitspieler aufgeregt tuschelten, wer der bärtige Fünfzigjährige im hellen Anzug sein mochte, dem das zu einem mächtigen Pferdeschwanz gebundene kastanienbraune Haar tief über den Rücken fiel.

Als sie im Aufzug zur zweitletzten Etage des kolossalen Gebäudes fuhren, erklärte sie das Atemproblem. Sie musste das Gerät nicht ständig benutzen, ihre chronische Bronchitis ließ noch genügend Zeit zum Essen, Duschen und anderem. Kiki möge sich keine Sorgen machen, seit zwei Jahren ziehe sie das Ding neben sich her und habe sich so daran gewöhnt, dass sie es kaum mehr wahrnehme. Und wie er gesehen habe, könne sie beim Kartenspiel durchaus noch gewinnen. Nur sei sie schon seit einer halben Ewigkeit nicht mehr aus diesem Wohnkomplex herausgekommen, sie erlebe die wahre Welt höchstens noch vom Balkon ihrer Zweizimmerwohnung aus. Wenigstens habe sie von dort einen unverbaubaren Blick aufs Meer.

»Ich koch dir was Feines zu Mittag, Tante Milli«, sagte er, während sie die Wohnung hinter sich mit einer Sicherheitskette verschloss.

»Den Tisch decke aber ich, sonst habe ich das Gefühl, zu gar nichts mehr zu taugen. Und keine Sorge, mein Besteck ist sauber. Setz dich erst einmal hin und erzähl mir alles.« Melissa Fabiani hob die Atemmaske an, damit er sie besser verstand, wies ihm den Platz auf dem Sofa zu und tippelte in die Küche, wohin ihr Beatmungsgerät ruckweise folgte. Aristèides Albanese strich sich durch den dichten Bart, wie immer wenn er sich zur Ruhe zwang. Als das Geschirr neben dem Esstisch auf dem Boden zersprang, machte er sich Vorwürfe, aber die alte Frau nahm lachend einen Besen aus dem Wandschrank. »Scherben bringen Glück, Kiki. Und wenn heute kein Glückstag ist! Lass schon, das mach ich selbst. Wenn ich keine Teller mehr habe, gebe ich dir Geld, damit du mir neue kaufst. Setz dich wieder.« Wenig später kam sie mit einem Aschenbecher zurück und ließ sich neben ihm auf dem Sofa nieder.

»Aber, Tante Milli, in deinem Zustand solltest du nicht rauchen«, mahnte er, als sie sich setzte, die Maske wieder abnahm, eine extradünne Zigarette ansteckte und zwei Züge tat, die seiner Wahrnehmung nach tiefer waren als jene, die sie aus dem Gerät nahm, das sie am Leben halten sollte.

»Ich hab doch sonst kein Vergnügen mehr. Hast du es dir im Gefängnis abgewöhnt, Kiki?« Sie versuchte, einen Hustenanfall zu unterdrücken.

»Trüffel, Tante Milli. Weißer Trüffel aus Istrien, der hat jetzt Saison. Früher bist du verrückt danach gewesen. Und die Tagliolini habe ich heute Morgen selbst gemacht.«

Athos schraubte einen Glasbehälter auf und hielt ihn der alten Frau unter die Nase, die mit geschlossenen Augen den Duft der frischen Knolle einsog. Gleich darauf nahm sie den letzten Zug von der Zigarette, die fast bis zum Filter aufgeraucht war.

»Ich liebe den Geruch. Eine Freundin hat früher immer gesagt, es erinnere sie an drei Tage ungewaschenen Sack«, lachte sie hustend, wurde aber sogleich ernst. »Du musst auf dein Geld achten. Das Zeug ist wahnsinnig teuer, und im Gefängnis hast du nichts verdient.«

»Ein bisschen schon, mach dir keine Sorgen. Heute ist ein Festtag. Endlich haben wir uns wieder.«

Nachdem er ihr eine halbwegs plausible Geschichte über seine vorzeitige Entlassung erzählt und dabei unterschlagen hatte, dass er schon ein Vierteljahr draußen war, erhob Athos sich von dem durchgelegenen Sofa und ging in die kleine Küche hinüber, wo er eine Flasche Weißwein ins Eisfach des nur spärlich bestückten Kühlschranks legte und die Zutaten ausbreitete. »Mach dir keine Sorgen, Tante Milli. Ich finde mich in jeder Küche zurecht. Setz dich, streng dich bitte nicht an.«

»Ich will dir beim Kochen Gesellschaft leisten. Was hast du eigentlich im Knast zu essen bekommen, Kiki? Ist der Fraß dort wirklich so schlimm, wie sie im Fernsehen immer sagen?«

Selbst hinter Gittern hatte Aristèides Albanese Schlagzeilen gemacht, doch Melissa Fabiani waren die Meldungen entgangen, dass der wegen Totschlags zu zwanzig Jahren verurteilte Gastronom einen Teil der Mensa seines Gefängnisses in ein feines Restaurant verwandelt hatte. So wie er von den Zellengenossen aufgrund seiner kräftigen Statur gerufen wurde, hatten auch die Journalisten ihn nur Athos genannt und sich gar nicht erst die Mühe gemacht, seinen wahren Namen zu recherchieren. Nach den ersten fünf Jahren Haft hatte eine fortschrittliche Gefängnisdirektorin die Leitung der Anstalt übernommen, und dank seiner Kochkünste hatte er sie davon überzeugen können, dass den Inhaftierten mit Unterstützung einer gemeinnützigen Kooperative ein profundes Ausbildungsprogramm geboten werden sollte. Ein Ziel im Leben zu haben, dazu das Handwerkszeug, um es zu erreichen, das gab Hoffnung. Sie würden draußen einfacher in den Alltag zurückfinden können. Bald stimmte die Direktorin auch seinem Vorstoß zu, nicht nur für die Insassen und das Gefängnispersonal zu kochen, sondern einen separaten Teil der Gefängnismensa hinter dem Justizpalast tatsächlich der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Der Aufwand sei so viel höher nicht, hatte Athos erklärt, das Projekt müsse sich selbst tragen, die Gewinne sollten zuerst in den Ausbau der Küche und später in die Resozialisierung der Gefangenen fließen. Sein Rezept war so simpel wie überzeugend gewesen. Mit der Zeit wurden Kriminelle zu Köchen, die unter seiner Führung einfachste Zutaten in gute Gerichte verwandelten und adrett auf den Tellern anrichteten – das Modell wurde bald von anderen Haftanstalten im ganzen Land kopiert. Nur den von ihm vorgeschlagenen Namen lehnte die Frau ab: Porte aperte. Geöffnete Türen sollte es nicht geben, dafür prangte der Schriftzug Nostalgia über dem Eingang. Es war Athos sogar gelungen, seinen Mitarbeitern abzugewöhnen, den Polizisten, Staatsanwälten und Richtern auf den Teller zu rotzen, als diese immer zahlreicher zur Mittagszeit ins Nostalgia kamen.

»Du hast trotz der langen Zeit nichts verlernt, Kiki«, sagte Melissa Fabiani selig kauend, nachdem sie mit einem Stück Weißbrot die letzten Trüffelspuren vom Teller gewischt hatte. »So gut habe ich wirklich seit Langem nicht gegessen. Hast du eigentlich kein Gepäck? Du kannst auf dem Sofa schlafen, bis du etwas gefunden hast.«

»Lass mal, Tante Milli, ich bin vierundfünfzig und kann für mich allein sorgen. Außerdem muss ich einmal die Woche bei den Bullen vorbei und unterschreiben, dass es mich gibt.«

»Gleich neben dem Supermarkt unten ist ein Kommissariat, Kiki. Mach das dort, bequemer geht’s nicht.«

Er schüttelte den Kopf. »Weißt du, für den Anfang bin ich der Comunità von Don Alfredo zugewiesen. Endlich tut ein Pfarrer mal ganz uneigennützig ein gutes Werk. Ich muss mich um die Flüchtlinge kümmern, die er aufnimmt, was so viel heißt, dass ich für die Schwarzen koche, die den Weg übers Meer überlebt haben. Bis ich eine eigene Bleibe gefunden habe, wohne ich dort.«

Wieder sagte Aristèides Albanese nur die halbe Wahrheit. Nur zweimal hatte er dort übernachtet, und erst seit es draußen kalt geworden war und die eisige Bora über Triest pfiff, hatte er Unterschlupf in der kleinen Wohnung des zwanzig Jahre jüngeren Pakistaners Aahrash Ahmad Zardari gefunden, der vor neun Jahren als Flüchtling ins Land gekommen war und längst die nötigen Papiere hatte. Aahrash war ebenfalls als Sündenbock für andere eingefahren und nach dem Gefängnis Don Alfredo zugewiesen worden, dem Priester eines einfachen Randbezirks, der trotz des Aufstands der Nachbarn jene Menschen aufnahm, die der Hölle entkommen waren. Aristèides hatte Aahrash auch dort zu seinem Küchenjungen gemacht.

Als er nach Triest zurückkehrte, war es noch warm gewesen, und nach siebzehn Jahren Gefängnis verabscheute er geschlossene Räume. Wochenlang hatte er in den Stadtparks abseits der üblichen Penner genächtigt, oder er war ans Meeresufer unter der Steilküste gezogen, wo nachts sonst niemand auftauchte. Auch die Nähe der Flüchtlingscamps mied er, sie wurden ständig kontrolliert. Windige Rechtsanwälte verteilten dort in der Hoffnung ihre Visitenkarten, ihr Einkommen mit den Einsprüchen gegen die Ablehnung des politischen Asyls aufzubessern. Sie konnten kein großes Interesse daran haben, die Prozesse in der ersten Instanz zu gewinnen, ihr Honorar, das vom Staat getragen wurde, verdoppelte sich schließlich in der zweiten. Aristèides mied alles, was ihn hätte in einen Konflikt verwickeln können.

In seinem hellen Anzug erregte er wenig Misstrauen, obwohl er sein Hab und Gut in zwei prallen Plastiktaschen mit sich herumtrug. Er wusch sich in den frühen Morgenstunden in der Bahnhofstoilette oder in einem der Kleingärten außerhalb des Zentrums. Polizei und Carabinieri hatten sich mit der Zeit daran gewöhnt, ihn nachts vor dem Grandhotel auf einer Treppenstufe sitzen zu sehen. Irgendwann hatten sie darauf verzichtet, ihn zu überprüfen, als wäre er inzwischen zu einem Teil des beweglichen Inventars der Stadt geworden.

Athos erfüllte seine Auflagen pünktlich, stand morgens bei Don Alfredo in der Küche, und einmal die Woche ging er in die Questura, um den Meldenachweis zu unterzeichnen. Am Nachmittag schien er seine Kreise dann so ziellos durchs Stadtgebiet zu ziehen, dass auch seine Opfer nach ein paar Tagen keinen Verdacht mehr schöpften, wenn sie aus dem Haus traten und gegenüber der Mann mit seinen beiden Taschen kurz innezuhalten schien, bevor er seine Last weiterschleppte. Und falls er später noch immer reglos dastand, hatten sie sich spätestens ab dem dritten Tag an seine Präsenz gewöhnt. Sprach ihn jemand an, murmelte er ein paar Worte über das Wetter und wandte sich gelassen ab. Und unterhielten sie sich unbeschwert auf der Straße oder in einer Bar, dann nahmen sie den aufmerksamen Zuhörer kaum noch wahr. In kurzer Zeit lernte er ihre Gewohnheiten kennen. Athos verspürte weder Wut noch Jähzorn beim Anblick der zwölf Verräter trotz der vielen Jahre, die er im Gefängnis gesessen hatte. Es waren dumme Schafe, Opportunisten. Nur wenn er den Poeten beobachtete, wie Elio Mazza von den anderen früher genannt worden war, wenn er sah, wie er viermal täglich in seinen abgerissenen Klamotten aus dem Haus trat, dann schlug Athos’ Puls schneller, und das Herz raste.

»Ich komme auf dein Angebot zurück und tauche bei dir ab, falls ich Probleme bekomme, weil ich zufällig einem von früher begegne. Du weißt selbst, Tante Milli, dass sie mich hassen.«

»Tonino Gasparri plustert sich noch immer im Stadtparlament auf, Kiki. Vor Kurzem ist er wieder in einer seiner dreckigen Angelegenheiten freigesprochen worden. Er gehört zu den Unantastbaren, dabei ist er wirklich nicht besonders helle. In der Zeitung stand neulich, dass er jetzt sogar fremde Zutaten und Rezepte in den Küchen der Kindertagesstätten verbieten will.«

»Dann soll er doch Tomatensoße und Kartoffelpüree streichen«, lachte Athos. »Auch Kakao und Schokolade. Das Faschistenschwein soll bis zum Lebensende dicke Bohnen fressen, viel mehr hat Europa selbst ja nicht hervorgebracht.«

»Und er müsste auch die Finger von Fedora lassen, die hat eine ungarische Mutter«, pflichtete ihm die Alte bei.

»Er ist schuld an allem. Siebzehn Jahre, Tante Milli, das ist fast ein Drittel meines Lebens. Eines Tages erwische ich ihn. Allen werde ich die Suppe versalzen, verlass dich drauf.«

»Tu nichts Unbesonnenes, Kiki. Versprich mir das. Die schützen sich gegenseitig. Wie damals, als sie geschlossen gegen dich ausgesagt haben, um dich loszuwerden. Und dieser Scheißbulle Laurenti hat dich auch auflaufen lassen und sich vor dem Staatsanwalt weggeduckt. Dabei warst du vor dem Prozess davon überzeugt, er würde klarstellen, dass es sich um eine Verschwörung handelt. Du hast gesagt, dass er auf deiner Seite wäre.«

»Du weißt doch, wie die Dinge laufen, Tante Milli. Laurenti stand damals knapp vor seiner Beförderung zum Commissario und wollte nicht aus Triest weg. Die Beförderung war durch, und wenn der Staatsanwalt protestiert hätte, dann hätte er sich in einem Kaff am Arsch der Welt wiedergefunden, und seine Familie wäre hiergeblieben. Also hat er klein beigegeben. Ich trage ihm das nicht einmal nach. Aber der Staatsanwalt hat sich kaufen lassen.«

»Mach keine Dummheiten, Kiki. Ich will dich nicht noch einmal verlieren. Du dürftest nicht einmal zu meiner Beerdigung kommen, wenn es soweit ist, schließlich sind wir nicht verwandt.«

Die Alte drückte die Atemmaske auf Nase und Mund und zog röchelnd die Luft ein. Athos drückte ihre Hand und wartete, bis es ihr wieder besser ging.

»Bevor du weiterfragst: Dino, dein Sohn, arbeitet als Saisonarbeiter im Gastgewerbe in der Schweiz oder in Österreich. Das hat mir vor Jahren jemand erzählt, ich komm ja nur selten hier raus. Er müsste jetzt vierundzwanzig sein, oder?«

Athos nickte. Er hatte den monatlichen Scheck ausgestellt und seiner Mutter ausgehändigt, mehr hatte er nie mit dem Kleinen zu tun gehabt. Und selbst vom Lohn in der Haftanstalt hatte man ihm noch elf Jahre lang einen Anteil für die Alimente abgezogen, weshalb ihm kaum etwas übrig geblieben war.

»Mit ihrem Überbiss sieht sie aus wie ein Pferd, aber anstatt endlich zum Zahnarzt zu gehen, taucht Fedora manchmal in der Zeitung auf, weil es in ihrem Lokal …«

»Du meinst, in meinem …« Athos richtete sich entschlossen auf.

»… immer wieder zu Zwischenfällen kommt. Sie hat eine gewöhnliche Bar draus gemacht, ständig wird ein Dealer aufgegriffen, oder es gibt eine Prügelei. Gasparri gehört wohl immer noch zu den Stammgästen. Das stand zumindest in der Zeitung. Pure Zeitverschwendung, denk nicht an sie.«

»Als Kellnerin war sie beliebt. Sie war aufmerksam, und verkaufen konnte sie auch.«

»Vor allem sich selbst, würde ich mal sagen.«

Noch während die dralle Fedora Bertone mit ihrem extremen Gebiss bei ihm als Kellnerin gearbeitet hatte, war sie zahlungskräftigen Gästen nach Feierabend auch anders entgegengekommen.

»Sie kann nichts dafür, sie wurde ausgenutzt. Sie hat nur ein bisschen Zuneigung gesucht«, sagte Aristèides besänftigend.

»Die? Sie hat viel Geld mit dieser Sache verdient, Kiki. Wann begreifst du das endlich? Sie hat dir mehr als ein Ei gelegt.«

Nach seiner Verurteilung hatte die Mutter seines Sohnes die Trattoria übernommen. Auch dafür hatte ihr irgendjemand Geld gegeben, während Aristèides Albanese, alias Athos, alias Kiki, auf den Schulden sitzen geblieben war. Und Fedora nannte ihn, um ihn zu ärgern, manchmal auch Kiki, nachdem sie den Kosenamen einmal aus Tante Millis Mund gehört hatte.

»Sie ist und bleibt eine billige blonde Nutte«, sagte Melissa Fabiani. »Und du hast das Pech gehabt, sie zu schwängern.«

»Du warst früher auch blond, Tante Milli«, spottete Athos.

»Gefärbt, Kiki, dafür verdammt gut im Geschäft. Glaub mir, sie hat dich reingelegt. Ihr Männer seid alle berechenbar. Mach einen großen Bogen um Fedora. Lass dich nicht noch einmal verarschen.«

»Ich weiß, was ich will, Tante Milli. Und ich habe einen Plan.«

Der vorwinterliche Sonnenuntergang über dem Meer durchbrach die graue Wolkenschicht und tauchte das Zimmer in dottergelbes Licht, als Aristèides Albanese die Alte zum Abschied umarmte und ihr nochmals für das dicke Bündel Banknoten dankte, das sie aus einem der prallvollen Schuhkartons geholt hatte, von denen gleich mehrere ordentlich nebeneinander in einem Regal in dem engen Entree standen. Noch immer zahlte sie die Miete pünktlich zum Monatsanfang bar auf dem Postamt zehn Stockwerke tiefer ein, wo sie dann auch den Scheck über ihre bescheidene Rente einlöste, den sie per Post erhielt. Melissa Fabiani hatte noch nie in ihrem Leben ein Bankkonto besessen und stets als Geringverdienende gegolten, was zwar nicht der Wahrheit entsprach, ihr aber vor vierzig Jahren zu einer Bleibe in der neu errichteten Sozialwohnung verhalf. Dass diese auf einer der besseren Etagen von Alcatraz lag, wie der Zementklotz im Volksmund genannt wurde, im oberen Stockwerk und mit Blick über Stadt und Meer, hatte sie allerdings jahrelang in natura abgegolten. Der für die Vergabe zuständige Abteilungsleiter hatte als braver Familienvater schon vorher zu ihren Stammkunden gehört, und die Tatsache, dass er das Geld für seine wöchentlichen Besuche nun sparen konnte, entschädigte ihn für die bevorzugte Unterbringung.

Schon beim Essen hatte Aristèides der Alten von den Schwierigkeiten berichtet, mit denen er sich wegen seines Strafregisters herumschlagen musste. Er wollte ein eigenes Lokal mit einem völlig neuen Konzept eröffnen, das er sich die letzten Jahre im Knast ausgedacht hatte. Niedrigste Kosten und eine gute Gewinnspanne sollten seine Unabhängigkeit trotz des Schuldenbergs garantieren, den er seit seinem siebenunddreißigsten Lebensjahr vor sich herschob. Nur durfte das Lokal auf keinen Fall auf seinen Namen laufen, man hätte ihm sofort alles wieder abgenommen. Wenn hingegen Tante Milli offiziell als Geschäftsinhaberin und er als gering bezahlter Angestellter erschien, dann sollte es keine Probleme geben. Was er sonst brauchte, würde sich aus dem schwarz kassierten Teil der Einnahmen bestreiten lassen. Am Ende seiner Schilderungen hatte Melissas Blick geleuchtet, er musste sie nicht lange überreden. Zum ersten Mal in ihrem Leben würde sie ein Bankkonto eröffnen, im Alter von achtzig Jahren.

»Schreib mir deine Telefonnummer auf, Kiki.«

»Ich habe keine, Tante Milli. Ich will kein Mobiltelefon.«

Die Greisin machte große Augen. »Aber irgendwie musst du doch erreichbar sein. So gut wie jeder hat heute so ein Ding.«

»Und schmeißt einen Haufen Geld dafür raus. Ich hatte keines, als ich eingesperrt wurde, weshalb sollte ich jetzt eins brauchen. Mach dir keine Sorgen, ich werde mich regelmäßig bei dir melden.«

»Übrigens steht in der Tiefgarage noch mein Auto, falls es nicht gestohlen wurde«, erzählte sie so aufgeregt, dass sie die Maske überstülpen musste und erst nach langen, geregelten Atemzügen weitersprechen konnte. »Ich habe es nie abgemeldet. Wenn du willst, kannst du es zur Inspektion bringen. Du musst nur die aufgelaufene Steuerschuld begleichen, ich habe es gut zehn Jahre nicht mehr gefahren.«

»Den Fiat Spider, den hast du immer noch?« Athos schüttelte ungläubig den Kopf. Auch ein eigener Wagen, egal wie alt, würde sofort gepfändet werden. Wenn er aber tatsächlich noch auf Tante Milli zugelassen und es nicht zu teuer war, ihn zu überholen, bestand keine Gefahr.

»Seit über dreißig Jahren, Kiki. Schwarz mit roten Lederpolstern. Aber es wird vermutlich nicht reichen, ihn nur zu waschen.«

Treue und Verrat

Ein Nachmittag im November, an dem das Licht nicht durchzudringen vermochte. Der Nieselregen aus der tief über der Stadt hängenden, fast schwarzen Wolkendecke hielt die Bürger in den Büros oder ihren Wohnungen, nur wenige Menschen eilten mit hochgeschlagenen Kragen durch die grauen Straßenzüge. Dem bärtigen Riesen, der bei den Hafenmolen, den Rive, aus dem Autobus stieg, konnte es nur recht sein, trotzdem zurrte auch er sein helles Jackett enger und schlug den Kragen hoch. Langsam ging er die Via Madonna del Mare hinauf, die im unteren Teil so eng von hohen Palazzi gesäumt war, dass selbst im Juni die Sonne nur kurz auf den Asphalt fiel. Eine Altersresidenz, wenige Lokale, Werkstätten und Büros, eine Schule und das James-Joyce-Museum waren hier in den vergangenen siebzehn Jahren angesiedelt worden. An der kreisrunden Piazza della Valle öffnete soeben die Enoteca, in der ein Kunde offenen Wein abfüllen ließ, während die Trattoria nebenan noch bis zum Abend geschlossen bleiben würde. Aristèides Albanese war die letzten Wochen immer wieder vorbeigekommen und hatte die Eingänge der hell herausgeputzten Häuser aus dem frühen 19. Jahrhundert ins Visier genommen, deren halbrunde Fassaden der Architektur des Platzes folgten und die damals, als er in den Knast musste, noch dunkelgrau von Alter und Abgasen gewesen waren. Sie mussten neue Bewohner gefunden haben, die in die Renovierung investiert und eine hübsche Oase inmitten der Stadt geschaffen hatten.

Elio Mazza hatte er nach seiner Rückkehr als Ersten ausfindig gemacht. Sein Anblick überraschte ihn. Der einst so selbstsichere und wohlhabende Poet war schnell gealtert, klapperdünn, sein faltiger Hals ragte aus einem schmutzigen Hemdkragen, er trug einen fleckigen Trenchcoat über einem ehemals grauen Anzug, der dringend eine Reinigung gebraucht hätte. Seine besten Zeiten waren lange vorbei. Die stark geröteten Wangen und die Nase ließen sofort an Leberzirrhose denken, seine Augen funkelten nicht mehr, er wirkte, als ob sein Geist in den alten Erinnerungen stockte wie Sauermilch.

Auf Aristèides Liste stand Elio Mazza ganz oben. Voller Groll hatte er das Bild des Poeten selbst nach Jahren nachts in seiner Gefängniszelle nicht abschütteln können. Im Gerichtssaal hatte der Mann hämisch und mit scharfer Stimme den Verteidiger aufgefordert, auch die Tätigkeit der Mutter des Angeklagten zu nennen, als dieser mildernd dessen schwere Kindheit hervorhob. Und bei jeder belastenden Aussage hatte er lautstark applaudiert, worauf die anderen in seinen Jubel einfielen, bis der Vorsitzende ihn schließlich des Saales verweisen musste.

In der Trattoria Pesce d’amare, die Aristèides Albanese ein Jahr zuvor in einem flachen Lagerschuppen beim Obst- und Gemüsegroßmarkt eröffnet hatte, gehörte die Clique um den Poeten, wie sie ihn alle nannten, zum Stammpublikum, für das Geld keine Rolle zu spielen schien. Der Wirt hatte für diese speziellen Kunden stets im hinteren Teil des Lokals reserviert, wo Elio Mazza grundsätzlich den Ehrenplatz am Kopf des Tisches einnahm und sie den anderen Gästen nicht auf die Nerven gingen. Umso besoffener die Runde wurde, desto lauter zitierte der falsche Poet alberne Schlachtrufe aus dem Repertoire von Gabriele D’Annunzio, die aus der Zeit von dessen Besetzung der istrischen Hafenstadt Fiume um 1919 stammten. Inzwischen gehörte die Stadt zu Kroatien und hieß Rijeka.

»A chi la forza?«, rief er dann plötzlich und erhob sich mit dem Glas in der Hand.

»A noi«, brüllten die anderen voller Überzeugung im Chor.

»A chi la fedeltà?«

»A noi.«

»A chi la vittoria?«

»A noi.« 1

Abstoßend, wie sie den anderen Gästen ihr Gemeinschaftsgefühl aufzwangen.

Es gehörte zur Taktik der Schreihälse, in soeben eröffneten Lokalen sogleich ihre Marke zu setzen. Aristèides verwarf den Gedanken, sie hinauszuwerfen und mit Lokalverbot zu belegen. Für seine Selbstständigkeit hatte er einen hohen Kredit aufgenommen, und Umsatz brachten sie ihm reichlich. Bürger des opportunistischen Mittelstands, Männer in gesicherten Positionen, die zwar auf den Wirt herabschauten, aber seine Küche schätzten und Wein und Grappa kräftig zusprachen. Kaufleute, leitende Angestellte des öffentlichen Dienstes oder einer Bank, ein Rechtsanwalt oder ein Friseur in Begleitung seiner Frau und alle etwa in seinem Alter: Noch keiner hatte die fünfzig überschritten. Und obwohl sie ständig über die Rechnung schimpften und Skonti aushandelten, saß ihnen das Geld locker. Nur einer bezahlte nie und lebte auf Kosten der anderen: Antonio Gasparri, Stadtrat und gleichzeitig Abgeordneter im Landesparlament. Er erwies den anderen dank seiner Verbindungen den einen oder anderen Gefallen, half, Baugesuche durchzudrücken, Arbeitsplätze unter der Hand zu vermitteln, Ausnahmegenehmigungen zu erlangen, in welchen Angelegenheiten auch immer, er sorgte dafür, dass die Amtsleiter im Bedarfsfall ein Auge zudrückten oder vor der Zeit wertvolle Informationen preisgaben. Oft genug kam er auch ohne die abendliche Stammrunde, um mit anderen zahlenden Gästen deren Angelegenheiten zu besprechen. Immer hinten im Saal, selbst wenn das Restaurant nur schwach besucht war. Von Gasparri abgesehen bezahlten alle Gäste selbst, sogar der Aufpeitscher Elio Mazza, der aufgrund seiner Zitierkünste Poet genannt wurde. Es waren die Jahre vor Beginn der großen Krisen, die dem ewigen Wachstum für immer ein Ende setzen sollten.

 

Aristèides hatte Mazza abgepasst, als er an diesem grauen Novembernachmittag wie ein Seemann im Sturm aus einer Bar im Herzen der Altstadt heraustorkelte und ihn anrempelte. Der Mann beschimpfte ihn, erkannte den Riesen allerdings nicht, sondern lallte etwas von dringendem Mittagsschlaf und wankte davon. Aristèides folgte ihm bis zur runden Piazza della Valle, wo Mazza umständlich die Haustür eines der Palazzi aufschloss und sich dann am alten schmiedeeisernen Geländer die Treppe hinaufzog. Bevor die Tür ins Schloss fiel, stellte Aristèides den Fuß auf die Schwelle, schaute sich flüchtig um und folgte dem Poeten, bis dieser hinter der schäbigen Tür zu einem Speicher unterm Dach verschwand, ohne sie ins Schloss zu ziehen.

Elio Mazza war inzwischen fünfundsechzig und seit sechs Jahren ohne Arbeit. Seine Stelle als Sprecher der Hafenbehörde hatte er offiziell wegen seines Alkoholproblems verloren, als ein frischer politischer Wind die ewigen Blockierer beiseitefegte, die bisher jeden Aufschwung verhindert hatten, um den Konkurrenten in die Hand zu spielen. Die Hypothek, die Mazza dann auf die Wohnung seiner Eltern aufnahm, konnte er schon bald nicht mehr abbezahlen, und offensichtlich hatte er auch seine stattliche Pension verpfändet. Antonio Gasparri konnte oder wollte ihn plötzlich nicht mehr retten. Jetzt hauste er in dem unausgebauten, zugigen Abstellraum unterm Dach, wo die Stromleitung illegal angezapft war und sein Abwasser in das Fallrohr der Dachrinne geleitet wurde. Eine rostbesetzte elektrische Kochplatte stand auf einem wackligen Campingtischchen, das er ebenso wie einen dreibeinigen Holzhocker vor der Müllabfuhr bewahrt zu haben schien. Über der mit dreckigen Wolldecken bedeckten Matratze baumelte eine Glühbirne von einem Dachsparren, neben der Schlafstätte standen ein paar angebrochene Flaschen Wein und Grappa, die leeren lagen unter dem Tischchen. Aus einer Papiertüte waren verschrumpelte Kartoffeln auf den Boden gekullert, ein paar Konservenbüchsen und einige Gläser mit anderem Essbaren lagen daneben.

Aristèides drückte die Tür fast lautlos auf, Mazza kehrte ihm den Rücken zu und konnte sich kaum auf den Beinen halten, während er versuchte, in das Behelfsklo zu urinieren. Er hörte den bärtigen Riesen nicht näherkommen, erschrak jedoch kaum, als er sich endlich mit offen stehendem Hosenstall umwandte.

»Privat«, gurgelte er lediglich und sank auf den Hocker.

»A chi è la gloria?« 2, fragte Aristèides zynisch.

»A noi«, murmelte Mazza und versuchte, ihn anzusehen. »Was hast du hier zu suchen?«

»Bist ganz schön runtergekommen. Die besten Jahre sind vorbei, scheint mir.«

»Wer bist du?« Seine Stimme klang willenlos.

»Der große Poet ist abgestürzt«, spottete der Riese lachend. »Glanz und Gloria des Vaterlands. Mit verpissten Hosen.«

»Was willst du?«

»Du musst essen, großer Dichter. Saufen allein macht nicht satt.«

»Es gibt nichts.«

»Klar, die weißen Mäuse, die dir auf der Schulter sitzen, kann keiner fangen.« Aristèides hob drei Kartoffeln auf und betrachtete die Konserven. »Ich bereite dir ein Festmahl zu. Leg dich hin, ich wecke dich, sobald es fertig ist.«

Widerspruchslos glitt der Poet auf die Matratze, schlief aber trotz seines Zustands nicht ein. Manchmal löste sich sein Blick von den bloßen Dachziegeln und glitt dann zu dem Mann hinüber, der den einzigen Topf mit Wasser füllte, ihn auf die angerostete Herdplatte stellte und schließlich eine Büchse mit Makrelen öffnete, obwohl er bei der Kontrolle des Verfallsdatums die Augen verdreht hatte. Auch das Glas Pesto stellte er bereit, setzte sich auf den Hocker und schaute Mazza an.

»Es kommt alles zurück im Leben, Elio«, sagte er. »Auch ich, wie du siehst.«

»Wer zum Teufel bist du?« Noch immer war sein Ton kraftlos.

»Früher war mein Kopf kahl rasiert. Anders als bei dir fallen mir die Haare allerdings nicht aus. Ich hab sie wie meinen Bart siebzehn Jahre wachsen lassen. Außer meinen Haaren habt ihr mir alles genommen.« Er drehte die Hitze zurück, als die Kartoffeln zu kochen begannen, und warf einen Blick auf seine Armbanduhr.

»Gib mir zu trinken, dann komm ich drauf.«

»Der Fusel steht gleich neben dir, Elio. Ich helfe dir nicht.«

Der Poet musste sich halb aufrichten, um eine Flasche zu greifen. Ohne die Miene zu verziehen, nahm er einen großen Schluck und rülpste. Er stank nach billigstem Grappa.

»Wer bist du? Sag’s schon, Arschloch.«

Lächelnd schüttete Aristèides das Wasser ab, schälte die Kartoffeln und schnitt sie in gleich dicke Scheiben, schichtete sie mit je einem Makrelenfilet dazwischen auf wie ein sich nach oben verjüngender Turm und gab das Pesto darüber, das langsam an den Seiten herablief. Dann zog er aus einem Beutelchen in seiner Jackentasche vier große dunkelbraune Bohnen, kratzte die Schalen ab, hackte sie fein und gab sie darüber. Während seiner Beobachtungsgänge hatte er im Ortsteil Prosecco den Zierstrauch im Vorgarten einer Villa entdeckt. Die Leute wussten offensichtlich nicht, was sie dem schönen Schein der Blüten zuliebe anpflanzten. Aristèides drehte den Wasserhahn auf und wusch sich sorgfältig die Hände.

»A chi è la vittoria?«, fragte der Riese spöttisch und blickte herausfordernd auf das Männchen herunter.

»A noi. Aber es heißt Gloria.«

»Also, hier, der Faro della Vittoria für deine Gloria. Unser weißer Leuchtturm mit dem Kupferdach. Ganz allein für dich, D’Annunzio, und für deine Heimatstadt Fiume. Los, iss. Oder muss ich dich füttern?«

Das Männchen rappelte sich auf, stellte die Grappaflasche auf das Tischchen und ließ sich umständlich auf dem dreibeinigen Hocker nieder.

»Jeder Exzess an Gewalt ist legitim, um das Vaterland zu bewahren«, zitierte der Riese den nationalen Großdichter.

Elio Mazza bemühte sich sichtbar, die passenden Sätze in seinem mitgenommenen Gedächtnis zu finden. Er verschluckte sich, hustete, räusperte sich. Dann hob er stolz die Brust und beendete mit salbungsvoller Betonung das Zitat. »Ihr müsst verhindern, dass es einer Handvoll Kuppler und Betrüger gelingt, Italien zu beschmieren und zu verlieren. Alle notwendigen Aktionen werden von Roms Gesetzen gutgeheißen.«

Aristèides applaudierte in Zeitlupe. »Also, iss, bevor es kalt wird.«

»Du hast mir noch immer nicht gesagt, wer du bist.«

»Siebzehn Jahre, großer Poet, sind eine lange Zeit. Was passierte 1999?«

»Scheiß Europa. Vorher hat der Espresso bloß tausend Lire gekostet und der Wein die Hälfte. Wer bist du?«

»Iss.«

Aristèides lehnte sich an den Pfeiler, auf dem der Dachfirst lagerte, und wartete, bis Elio Mazza zuerst misstrauisch die kleinsten Stücke aufspießte und dann gierig den Turm von oben her abtrug. Er schaute nicht vom Teller auf, es war die erste warme Mahlzeit seit Langem. Erst als er sie zu drei Vierteln verschlungen hatte, setzte er die Grappaflasche an den Mund. Wieder rülpste er laut und drehte dem Riesen den Kopf zu.

»Wer bist du?«

»Siebzehn Jahre ist es her, dass ihr Schweine dem Gericht eure Lügen aufgetischt habt, um Tonino Gasparri zu schützen. Klingelt es jetzt bei dir?«

Der Poet versank wieder in sich selbst, dann fuhr er hoch und riss die Augen auf. »Albanese. Aristèides Albanese. Bist du endlich draußen? Ich freue mich, dass du wieder da bist. Wirklich.«

»Du warst der schlimmste Scharfmacher von allen. Aber wie ich sehe, hat Gasparri dich vergessen, sonst würdest du nicht so erbärmlich hausen.«

Mazza setzte die Grappaflasche an und nahm zwei große Schlucke.

»Ich konnte damals nicht anders. Sie haben mich gezwungen«, faselte er mit leerem Blick.

»Niemand hat dich gezwungen. Du hattest Gasparri nur den Job als Sprecher der Hafenbehörde samt deinem hohen Gehalt zu verdanken. Und wie ich sehe, hast du ihn nicht allzu lange behalten.« Der Riese wischte mit dem dreckigen Geschirrtuch sorgfältig seine Spuren vom Geschirr. »Hat’s geschmeckt?«

Mazza wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Und jetzt?«

»Jetzt wird abgerechnet, Elio.«

»Du bist ein Versager, Albanese. Nichts als ein Versager. Du machst mir keine Angst.«

»A chi la forza?«

»A noi.«

»A chi l’ignoto?«

Für wen das Ungewisse sei, hatte D’Annunzio seinem Ruf erst nach der Niederlage seiner Schlacht um Fiume hinzugefügt, mit der er sogar Mussolini Unbehagen bereitete. Mazza war 1951 dort zur Welt gekommen.

»A noi«, lallte er und fegte trotzig den leeren Teller vom Tisch.

»Eben«, sagte Aristèides, kontrollierte noch einmal die Gegenstände, die er berührt hatte, und ging zur Tür. Es war Zeit, die Gegend zu verlassen, bevor die Geschäfte und Büros schlossen und die Straßen sich trotz der Witterung bevölkern würden.

 

Kaum war er wieder allein in seiner Mansarde, taumelte der Poet satt und besoffen zu seiner Schlafstätte und suchte in den Taschen seines fleckigen Jacketts nach dem alten Mobiltelefon mit dem zersplitterten Display, auf dem ihn nie jemand anrief. Der Kredit auf der Prepaidkarte reichte noch für zwei Gespräche. Bruno Guidoni, der Eigentümer der zum Speicher gehörenden Wohnung, antwortete sofort.

»Habe dich lange nicht gehört, Elio. Ist etwas passiert?«

Mazza brauchte einen Moment, bis er ein klares Wort formulieren konnte. »Der Grieche ist in der Stadt zurück.«

»Bist du besoffen? Der hat noch drei Jahre abzusitzen.«

»Aber wenn ich ihn gesehen habe?«

»Dann hast du dich getäuscht und ihn mit jemandem verwechselt.«

»Er war bei mir. Und er hat für mich zu Mittag gekocht.«

»Er war in deiner Bude? Was wollte er?«

»Nichts Besonderes. Er sagte nur, jetzt wird abgerechnet. Ich habe gegessen, und dann ging er wieder. Es hat gut geschmeckt.«

»Weißt du was, Elio? Schlaf deinen Rausch aus und ruf mich morgen wieder an.«

Guidoni legte auf, vermutlich saß er wie jeden Nachmittag beim Kartenspiel in seiner Stammbar. Mazza durchsuchte umständlich die wenigen Nummern, die in seinem alten Telefon gespeichert waren, dann ließ er es lange klingeln, bevor abgenommen wurde.

»Kein gutes Zeichen, von dir zu hören, Poet. Vermutlich brauchst du Geld. Ich hab keins, versuch’s erst gar nicht.« Antonio Gasparris Stimme klang kalt und abweisend. »Zeit hab ich auch keine.«

»Er ist wieder da«, stammelte Mazza.

»Wer denn, Elio?«, fragte der Abgeordnete.

»Der Grieche.«

»Welcher Grieche?«

»Albanese. Er ist raus. Ich dachte, es interessiert dich gewiss.«

»Danke. Ich werd’s überprüfen lassen. Sonst noch was?«

»Hast du ein bisschen Geld für mich? Das, was er mir gekocht hat, war seit Langem das erste warme Gericht, Tonino.«

»Vergiss es, du versäufst es nur.«

»Vergiss du nicht, Tonino, dass ich ein ziemlich brisantes Dokument besitze.«

»Damit kannst du dir den Hintern abwischen.« Gasparri beendete das Gespräch grußlos.

Elio sank auf die Matratze und fiel sofort in einen tiefen Schlaf. Den Mund weit geöffnet schnarchte er, als wollte er die Dachsparren durchsägen. Ein Speichelfaden lief auf seinen Hemdkragen. Er schmatzte zweimal, sein Mund brannte. Es war längst dunkel, als er kurz erwachte. Er tastete mit dem Finger die Zähne ab, dann schob er das Brennen auf den Grappa, den er wie Wasser hinabgeschüttet hatte. Und schlief trotz der Glühbirne über seinem Kopf wieder ein. Erst nach Mitternacht kam er das nächste Mal zu sich. Ein heftiges Rumoren seines Darms zwang ihn auf die Beine, er stützte sich an den Pfeilern ab, um die Toilettenschüssel in der Ecke zu erreichen, und konnte gerade noch die Hose abstreifen, bevor er sich mit einer heftigen Diarrhö entleerte. Vergebens suchte er nach Toilettenpapier, er hatte wieder einmal vergessen, es aus einer Kneipe mitgehen zu lassen. Als er sich trotzdem erheben wollte, riss es ihn schon wieder. Und plötzlich verspürte er auch den Zwang, sich zu erbrechen. Die Nacht verbrachte er zwischen seiner Schlafstätte und dem verdreckten Klo. Am frühen Morgen verschlimmerten sich die Magenkrämpfe und sein Stuhl war blutig. Er schwitzte heftig, obwohl es nasskalt und zugig war.

 

»Patrizia hat einen Darminfekt und die kleine Barbara auch. Ich hoffe, sie steckt uns nicht an. Und meine Mutter macht mir ernste Sorgen«, sagte Laura zu Proteo, als er aus dem Kommissariat nach Hause kam. »Wenn Marco nicht für sie kocht, will sie nur noch Nutella essen. Dabei arbeitet er am Abend doch meist. Mir hört sie natürlich nicht zu. Red du mal ein Wort mit ihr.«

»Als hätte es jemals geholfen, wenn ich deiner Mutter etwas sagte«, winkte Laurenti ab. »Aber versuchen kann ich es ja. Sind Patrizia und die Kleine im Bett?«

»Ich kümmere mich um die beiden, geh du besser nicht zu ihnen. Erstens haben sie noch Fieber, und zweitens läuft Patrizia die ganze Zeit zur Toilette. Die Sache geht angeblich rum, wie immer zu dieser Jahreszeit. In drei Tagen ist es schon vergessen. Hauptsache, wir fangen uns nichts.«

Vor Jahren hatte sich der Haushalt der Familie deutlich vergrößert. Sie waren Großeltern geworden, und schon zuvor hatte Laura ihre Mutter aus der eineinhalb Stunden entfernten Kleinstadt San Daniele im Nordfriaul zu sich geholt. So hatte sie es mit ihren Schwestern vereinbart, die dafür die Produktion des San-Daniele-Schinkens weiterführten, der von der Familie in der vierten Generation hergestellt wurde und ordentliche Renditen abwarf. Nach der Geburt ihrer Urenkelin Barbara war Camilla Tauris, die alte Dame, unersetzlich gewesen, doch seit geraumer Zeit wurde sie vergesslicher und brauchte je nach Tageszeit selbst Hilfe. Es würde den Haushalt verändern, sobald sie sich nicht mehr selbst waschen und ankleiden könnte und auf Hilfe angewiesen wäre. Sie hatten es sich alle anders vorgestellt und diskutierten häufig, wer die Pflege übernehmen sollte, so lange zumindest, wie ihre Mutter überhaupt bei ihnen bleiben konnte. Ihre Enkelin Patrizia verweigerte sich vehement, kündigte an, bald wieder in ihren Beruf als Unterwasserarchäologin zurückkehren zu wollen, falls sie nicht mit Gigi, dem Kapitän, der alle zwei Monate für geraume Zeit hier war, weiteren Nachwuchs zeugen würde. Laura verdrehte allein bei der Vorstellung die Augen, sich nicht mehr ausreichend um die Kunstabteilung des Versteigerungshauses kümmern zu können, an dem sie beteiligt war. Und jetzt verweigerte Camilla anscheinend auch noch das Essen und beharrte auf Nutella, das bei den Einkäufen nie vergessen werden durfte. Immerhin akzeptierte sie, was Marco für sie kochte. Der jüngste Sohn der Laurentis kam diesem Ansinnen auch meistens nach, wenn ihm Zeit dafür blieb. Seit er sich weigerte, wieder eine feste Anstellung in einer Restaurantküche anzunehmen, verdingte er sich als Privatkoch für den gehobenen Mittelstand. Wer seine Gäste im eigenen Heim bewirten und dabei eine gute Figur abgeben wollte, war bei ihm richtig. Es war eine neue Herausforderung, er musste die Räumlichkeiten seiner Gastgeber besichtigen und sich einen Eindruck von deren Küchen verschaffen, musste über ihre Vorlieben sprechen, Allergien und Intoleranzen ausloten, das Budget verhandeln und Menüvorschläge unterbreiten, die seine Kunden bis zuletzt modifizieren würden. Er musste die entsprechenden Weine aus den Vorräten des Hausherrn wählen oder passendere vorschlagen und bestellen. Der Vorschuss für die Einkäufe musste festgesetzt werden, bei mehr als sechzehn Gästen brauchte es eine Küchenhilfe und womöglich einen Kellner. Und dann musste das Salär in bar eingetrieben werden, was beizeiten schwieriger war als die Abendgestaltung selbst. Er war dabei, sich einen guten Namen zu machen, und wurde bereits weiterempfohlen. Und seine Großmutter hatte ihm das Geld für einen alten vierradgetriebenen Fiat Panda gegeben, mit dem er seine Utensilien transportierte.

»Marco sagt zwar, es liefe gut bei ihm. Aber ich weiß, dass zwei seiner Kunden sich um die Endabrechnung drücken und nicht auf seine Anrufe antworten. Immerhin hat er sogar eine Anfrage von Gasparri bekommen.«

»Ich hoffe, du hast deinem Sohn davon abgeraten.«

»Warum sollte ich. In der Gastronomie muss man alle gleich behandeln, sonst geht man unter.«

Laura stellte eine Platte mit rohem Schinken aus der Familienproduktion, durchgereiftem Höhlenkäse, Oliven sowie eine Flasche Weißwein vom Karst auf den Tisch. Ihre Mutter saß abseits in einem Sessel und stierte ausdruckslos auf den Fernseher. Proteo nahm einige der hauchdünnen Scheiben und stellte sich vor die alte Dame.

»Ich finde, euer Schinken schmeckt besser, seit du nicht mehr im Betrieb bist, Camilla«, provozierte er sie. »Er zergeht auf der Zunge. Zu deinen Zeiten war er immer viel zu versalzen, was das Aroma erdrückt hat. Probier mal. Ich bin gespannt, was du sagst. Sechsunddreißig Monate gereift und immer noch so zart. Einfach köstlich.« Er schob ihr eine Scheibe in den Mund, was sie erst zu bemerken schien, als sie den Geschmack spürte.

»Das ist kein Schinken aus San Daniele«, maulte sie sogleich. »Der schmeckt nach Plastik. Warum kauft ihr so schlechtes Zeug, wenn wir selbst den besten machen?«

»Dann versuch mal diesen, und sag mir, wo der herkommt.« Er reichte ihr eine weitere Scheibe.

»Du weißt doch gar nicht, wie guter Schinken schmeckt. Ihr im Süden fresst nur Seeigel.«