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Michael Hoffmann

Stil und Text

Eine Einführung

A. Francke Verlag Tübingen

Inhalt

Vorwort

Texte können ganz unterschiedlich verfasst sein: dienstlich oder privat, wissenschaftlich oder populärwissenschaftlich, witzig, ironisch, satirisch oder von neutralem Ernst getragen, religiös oder politisch, dogmatisch oder liberal, poetisch oder nichtpoetisch usw. Es handelt sich um Gestaltungsalternativen oder – bildlich formuliert – um verschiedene Farben, in die Texte getaucht werden können. Besser gesagt: Farben, in denen Texte erscheinen können. Denn es gibt streng genommen kein Nebeneinander von Text und Stil im Sinne einer Gegenüberstellung. Es gibt vielmehr nur ein Ineinander: Stil ist ein integraler Bestandteil von Texten – ein Textualitätsmerkmal. Wer Texte produziert, stellt immer zugleich auch Stil her. Stil wird Texten nicht hinzugefügt.

Stil ist ein Chamäleon, lautet ein vielzitierter Satz in der stilistischen Fachliteratur. Doch stimmt dieses sprachliche Bild uneingeschränkt? Es stimmt immer dann, wenn man den universellen Charakter von Stil herausstellen will – seine Fähigkeit, sich anzupassen an die verschiedensten kommunikativen Bedürfnisse, Aufgaben und Situationen, an die Verfasser und Rezipienten von Texten, an den Zeitgeist, an mediale Gegebenheiten, an vieles mehr. Diese Anpassungsfähigkeit hat zur Folge, dass es verschiedene Stile gibt und somit auch Gestaltungsalternativen. Sie hat letztlich zur Folge, dass es Stil überhaupt gibt.

Der Vergleich mit einem Chamäleon stimmt allerdings nicht, wenn man die kommunikative Leistungsfähigkeit des Stils eines einzelnen Textes in einem konkreten kommunikativen Umfeld unter die Lupe nehmen will. Dann nämlich kommt es gerade auf eine ganz bestimmte Farbe an – auf eine Farbe, die zum kommunikativen Umfeld dieses Textes passt. Wissenschaftlicher Stil z.B. muss als solcher identifizierbar und von populärwissenschaftlichem Stil sowie allen anderen Stilen unterscheidbar sein. Stil wird in diesem Falle zum Zeichen für den Kommunikationsbereich der Wissenschaft. Ein einzelner Text kann also niemals alle Farben zugleich annehmen. Ebenso wenig ist es möglich, unbedenklich von einer Farbe in die andere zu wechseln. Farbwechsel (Stilwechsel), auch Farbmischungen (Stilmischungen) innerhalb eines Textes sind aber, wenn die kommunikativen Umstände es zulassen, durchaus möglich. Wechsel und Mischung von Stilen können zum Zeichen für gestalterische Kreativität werden.

Anliegen des vorliegenden Buches ist es, ein Spektrum an stilistischen Farben zu beschreiben, indem den spezifischen Farbtönen von Einzeltexten, Textsorten (Genres) und Textgattungen nachgespürt wird. Geschrieben wurde das Buch für alle, die mit Stil und Text im Studium oder im Beruf zu tun haben, in erster Linie jedoch für Studierende und Dozierende der Germanistik. Das Buch wartet mit zahlreichen Beispielen und Beispielanalysen auf. Zum einen, um graues stiltheoretisches Gedankengut mit der farbigen kommunikativen Praxis zu verbinden. Zum anderen, um Anregungen für eigenständiges Produzieren und Analysieren von Texten zu vermitteln. Verzichtet wurde weitgehend auf die Darstellung von Forschungsgeschichtlichem wie auch auf die Diskussion verschiedener Stilauffassungen und Stiltheorien. Dazu gibt es genügend einschlägige Literatur.

Ein Buch zum Verhältnis von Stil und Text kommt nicht ohne Beispieltexte aus. Bei einer ganzen Reihe von Texten bzw. Textauszügen waren Abdruckrechte einzuholen, was sich häufig als langwierig und nicht immer als erfreulich herausstellte. Mein Dank gilt in Sonderheit all den Verlagen und Redaktionen, die den Abdruck von Texten kostenfrei genehmigten. Ich danke den Verlagen Hinstorff (Rostock), Rowohlt (Reinbek bei Hamburg) und Zsolnay/Deuticke (Wien), den Redaktionen der Tageszeitungen „Der Tagesspiegel“ und „Süddeutsche Zeitung“, den Redaktionen der Magazine „Eulenspiegel“, „Das Magazin“ und „Reader’s Digest“, dem Kampagnenbüro „Runter vom Gas“, dem Plakatarchiv der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Lebensberatungsplattform Viversum.

Ich danke dem Gunter Narr Verlag für die Aufnahme des Titels in die Reihe „narr studienbücher“ und seinem Lektorat, insbesondere Frau Dr. Valeska Lembke und Herrn Daniel Tobias Seger, für die zuvorkommende Begleitung des Projekts vom Exposé bis zur Drucklegung.

 

Potsdam, im April 2017     Michael Hoffmann

1 Stilistische Aspekte der Textkommunikation

1.1 Zur Einheit von Text- und StilkompetenzStilkompetenz

Es hat eine gewisse Tradition, Stil als eine Eigenschaft von Texten zu bestimmen. Doch damit ist kaum etwas Genaues gesagt. Es bleibt offen, wie diese Texteigenschaft beschaffen ist, wie sie in den Text hineinkommt, was sie von anderen Texteigenschaften unterscheidet, warum es Stil überhaupt gibt. Es sind Fragen, auf die das Buch eine Antwort geben will. Wichtig erscheint, davon auszugehen, dass der Stil eines Textes eingebunden ist in Prozesse der Textkommunikation. Stil wird textproduzentenseitig hergestellt und textrezipientenseitig wahrgenommen und auch interpretiert. Doch auf welcher Grundlage geschieht dies? Grundlage sind kommunikative Kenntnisse und Fähigkeiten. Oder präziser gesagt: Textproduzenten und -rezipienten sind auf TextkompetenzTextkompetenz angewiesen. Darunter sind vielfältige Kenntnisse im Hinblick auf den Umgang mit Texten verschiedener Art zu verstehen sowie die Fähigkeit, Texte ertragsorientiert zu produzieren und zu rezipieren.

Ertragsorientierte Textproduktion und -rezeption bedeutet Ausrichtung auf einen kommunikativen Gewinn, einen kommunikativen Nutzen. Textkommunikative Erträge können anvisiert und bei geglückter Kommunikation auch erzielt werden. Wir nehmen hierbei Bezug auf das textlinguistische Ertragsmodell, das Kirsten Adamzik (2004: 116f.) an die Stelle eines abstrakten Textfunktionsmodells gesetzt hat. Das Ertragsmodell ist auf die Lebenswelt der Kommunikationsteilnehmer, auf deren Kommunikationsbedarf zugeschnitten. Es zeigt verschiedene Möglichkeiten auf, textkommunikative Erträge zu erzielen. Es zeigt allerdings nicht auf, welche Merkmale Texte aufweisen müssen, damit sich der anvisierte Ertrag auch einstellt bzw. einstellen kann. Gerade das Wissen darüber hat sehr viel mit TextkompetenzTextkompetenz zu tun. Wir sind der Auffassung, dass der Erfolg beim Erzielen textkommunikativer Erträge wesentlich vom Stil eines Textes (von stilistischen Textmerkmalen) abhängen kann, und skizzieren im Folgenden, wie sich Zusammenhänge zwischen Ertragsarten und Arten stilistischer Textmerkmale herstellen lassen.

 

 

Intellektuelle ErträgeErträge: Sie können sich einstellen, wenn man Wissen erfolgreich vermittelt oder erworben hat. Die entsprechenden Texte (z.B. Lehrbücher) müssen – soll Kommunikation glücken – adressatengerecht verfasst sein und weiteren stilistischen Erfordernissen (KlarheitKlarheit, GegliedertheitGegliedertheit, Fasslichkeit) Rechnung tragen. Es handelt sich dabei letztlich um erkenntniserleichternde Textmerkmale als Voraussetzung für kommunikativen Erfolg.

 

Praktische ErtragpraktischerErträge: Der Gewinn, den Texte für Produzenten wie Rezipienten einbringen, ist möglicherweise ein lebenspraktischer. Man will sich schnell über Abfahrts- und Ankunftszeiten eines öffentlichen Verkehrsmittels informieren, ein Möbelstück montieren, einen Gebrauchsgegenstand reparieren oder verkaufen. Bei den entsprechenden Texten (Fahrplänen, Montage- und Reparaturanleitungen, Verkaufsanzeigen) kommt es u.a. auf rezeptionsbeschleunigende Merkmale an: auf Sprachökonomie und ÜbersichtlichkeitÜbersichtlichkeit, bei Anleitungstexten auch auf AnschaulichkeitAnschaulichkeit.

 

Emotional-psychische Ertragemotional-psychischerErträge: Texte können Gefühle zum Ausdruck bringen und Mittler einer emotionalenEmotionalität/Emotionalisieren Kommunikation sein, bei der sich Gefühlsbekundungen (Freude, Trauer, Stolz usw.) des Textproduzenten auf den Rezipienten übertragen. Der Textertrag kann also darin bestehen, dass die Gefühlslagen von Produzent und Rezipient wie gewünscht übereinstimmen. Gratulationstexte, Festreden, Traueranzeigen signalisieren dies über gefühlsbekundende Textmerkmale. Dem Stil kommt die Funktion der „textuellen Emotionsmanifestation“ (Schwarz-Friesel 2007: 211) zu. Anders liegen die Dinge im Falle von Beleidigungen und Diffamierungen. Hier kann nicht von einem Ertrag (im Sinne von Gewinn oder Nutzen) für beide Seiten gesprochen werden.

 

Soziale ErträgeErträge: Mit Texten lassen sich Regeln für das Zusammenleben der Menschen aufstellen. Gesetzestexte sind wohl das beste Beispiel. Der Textproduzent präsentiert die Sachverhalte als juristisch verbindlich, indem er einen juristischen StilStiljuristischer herstellt. Bei Dienstanweisungen, Steuerbescheiden und Verwaltungsvorschriften präsentiert sich der Textproduzent als Amtsperson oder als Institution, ausdrücklich nicht als Privatperson. Er stellt einen amtlichen Stil her, und dazu gehört, amtliche Autorität zu erzeugen. Die Texte müssen demnach rollengestaltende Merkmale aufweisen. Mit Texten lassen sich auch soziale Kontakte knüpfen und pflegen. Zu denken ist an Kontaktanzeigen oder an die Übermittlung von Urlaubsgrüßen und Festtagswünschen. Stilistisch relevant sind dabei u.a. beziehungsgestaltende Textmerkmale. Einen hohen Stellenwert können Anrede-, Gruß- und WunschformelnWunschformel haben. Gestalterisch stellt sich aber auch die Frage, wie der Textproduzent mit textkommunikativen Mustern umgeht. Ob er es sich einfach macht und seinen Text aus kommunikativen Fertigteilen zusammensetzt oder ob er es vorzieht, den Textrezipienten mit OriginalitätOriginalität zu überraschen. Dann kann ein formbezogener ErtragErtragformbezogener hinzukommen.

 

Formbezogene Erträge: Sie können sich mit Bezug auf künstlerisch Gestaltetes einstellen: textproduzentenseitig beim Hervorbringen ästhetischer Gestaltungsweisen im Rahmen poetischerPoetizität/poetisch TextsortenTextsorte (z.B. Ballade, Novelle, Komödie), textrezipientenseitig bei ihrer Wahrnehmung und Interpretation. Kommunikativ wichtig werden betrachtungsstimulierende Textmerkmale. Formbezogene Erträge können für Produzenten von Gebrauchstexten darin bestehen, dass es gelungen ist, die Aufmerksamkeit des Rezipienten gerade auf die Textpassagen zu lenken, die besonders wichtig sind, oder dass es gelungen ist, die AttraktivitätAttraktivität eines Textes zu erhöhen und damit Rezeptionslust zu wecken. Ausschlaggebend für den kommunikativen Erfolg können rezeptionssteuernde bzw. rezeptionsstimulierende Textmerkmale sein.

 

PersuasivePersuasion ErträgeErtragpersuasiver: Im Ertragsmodell nicht verzeichnet, aber zu berücksichtigen sind Texterträge, die in der Beeinflussung des Textrezipienten liegen und mehr oder weniger vordergründig die Interessen des Textproduzenten bedienen können. Sie werden beispielsweise anvisiert mit Werbetexten kommerzieller oder politischer Art. Werbetexte sind typischerweise von entscheidungsstimulierenden Merkmalen geprägt. Deren Funktion ist es, den Erwerb eines bestimmten Produkts, die Nutzung einer bestimmten Dienstleistung, die Wahl einer bestimmten Partei zu begünstigen. Auch die Verfasser von Bewerbungsschreiben produzieren entscheidungsstimulierende Texte. Man will sich schließlich erfolgreich auf eine Stelle bewerben, hat aber keine Erfolgsgarantie. Wichtig wird deshalb v.a. eine geeignete Art der SelbstpräsentationSelbstpräsentation. Für das Erzielen persuasiver Erträge sind strategische Überlegungen erforderlich. Zur TextkompetenzTextkompetenz des Rezipienten gehört die Fähigkeit, persuasive Textstrategien zu durchschauen.

 

Metakommunikative Erträge: Kommunikative Kenntnisse und Fähigkeiten kann man mit der Produktion eigener und der Rezeption fremder Texte erwerben oder erweitern. Das heißt, man kann etwas über Kommunikation durch Kommunikation lernen, durch eigenes kommunikatives Tun, auch dadurch, dass man sich im Gestalten und Analysieren von Texten übt. Zu fragen ist, was Bücher über Stil (Stilistiken) für das Erzielen metakommunikativer Erträge leisten können. Der Gedanke an praktische Stillehren liegt nahe, deren Anliegen es ist, stilistische Textmerkmale stilnormativ zu fixieren. Ein metakommunikativer ErtragErtragmetakommunikativer kann sich dabei aber nur dann einstellen, wenn bei der Beschreibung von Stilnormen kommunikative Gesichtspunkte ausdrücklich berücksichtigt werden. Das ist nicht immer der Fall (siehe 1.2.1). Stilistiken anderen Zuschnitts sind theoretisch fundierte Abhandlungen zum Stil authentischer Texte. Hier geht es darum, stilistische Textmerkmale stilanalytisch herauszuarbeiten, um Einsichten in das Wesen von Gestaltungsweisen zu gewinnen. Insgesamt gesehen kommt es darauf an, Gestaltungsmöglichkeiten aufzuzeigen, ohne die Beschreibung von Gestaltungserfordernissen zu vernachlässigen. Diesem komplexen Anliegen ist das vorliegende Buch verpflichtet.

 

 

Der streiflichtartige Überblick über einige Möglichkeiten, textkommunikative Erträge zu erzielen, und – damit im Zusammenhang – über stilistische Textmerkmale, die für den kommunikativen Erfolg auschlaggebend sein können, lässt die Frage nach dem Verhältnis von Text- und StilkompetenzStilkompetenz aufkommen. Nach unserer Auffassung ist Stilkompetenz alles andere als eine Anhängselkompetenz. Im Unterschied zu einem Modell von TextkompetenzTextkompetenz, das dies nahelegt (vgl. Weidacher 2007: 48f.), betrachten wir Stilkompetenz als einen wesentlichen Aspekt von Textkompetenz. Es kann sich sogar um den entscheidenden Aspekt handeln. Textkompetenz gilt mittlerweile als eine Schlüsselkompetenz (vgl. den Buchtitel von Schmölzer-Eibinger/Weidacher 2007), doch immer noch strittig ist, in welche Teilkompetenzen sich Textkompetenz aufgliedert und welchen Stellenwert die einzelnen Teilkompetenzen haben (vgl. u.a. Adamzik/Heer 2009). Wir sprechen im Hinblick auf Stilkompetenz bewusst von einem Aspekt der Textkompetenz und vermeiden es, Stilkompetenz als eine Teilkompetenz neben andere (z.B. Sachkompetenz, Vertextungskompetenz, TextsortenkompetenzTextsortenkompetenz) zu stellen. Wir sind der Auffassung, dass Stilkompetenz Kenntnisse und Fähigkeiten umfasst, die untrennbar mit textuellen Teilkompetenzen verknüpft sind. Nehmen wir als Beispiel die Verknüpfung von TextsortenTextsorte- und Stilkompetenz: Ertragsorientiert zu kommunizieren schließt in vielen Fällen die Beachtung textsortengebundener Gestaltungserfordernisse ein. In einigen Fällen kann Ertragsorientiertheit in der Ausnutzung textsortengebundener Gestaltungsoptionen bestehen, in vergleichsweise seltenen Fällen in der AbweichungAbweichen von textsortengebundenen Vorgaben.

Es ginge zu weit, wollten wir uns in die Diskussion über textuelle Teilkompetenzen einschalten. Stattdessen werfen wir einen Blick auf einige textstilistische Teilkompetenzen.

1.2 Textstilistische Teilkompetenzen

Nicht nur Text-, auch StilkompetenzStilkompetenz lässt sich in Teilkompetenzen aufgliedern. Wir gehen im Folgenden ein auf die Formulierungs-, die Visualisierungs- sowie die Sprach- und TextspielkompetenzTextspielkompetenz.

1.2.1 FormulierungskompetenzFormulierungskompetenz

Der Begriff FormulierungFormulierung nimmt Bezug auf „das Resultat in der Verwendung von Sprache durch einen Autor beim Herstellen eines Textes“ (Michel 2001: 36). Die FormulierungskompetenzFormulierungskompetenz umfasst u.a. Kenntnisse darüber, wie man Sachverhalten eine angemessene sprachliche Form geben kann. AngemessenheitAngemessenheit ist ein kommunikatives Grundprinzip; es gehört zum Kanon der Schulrhetorik (vgl. Plett 2001: 27ff.). Seine Befolgung erfordert die Wahl einer Ausdrucksweise, die

Formulierungsleistungen sind folglich in mehrfacher Hinsicht textkommunikativ relationiert. Insofern kann es keine allgemeingültigen Grundsätze für einen guten, d.h. angemessenen Stil geben. Gerade dies wird aber häufig von praktischen Stillehren bzw. Stilratgebern postuliert. Da heißt es z.B. in einem umfangreichen populärwissenschaftlichen Zeitungsbeitrag mit dem Titel „Eine Deutsch-Stilkunde in 20 Lektionen“, verfasst von Wolf Schneider (Die Zeit, Nr. 20/2012, Beilage, 831): „Verachten wir den Wissenschaftsjargon“ (S. 18). Als Beispiel für diese verachtenswerte Stilform wird eine Passage aus einem Vortrag zitiert, den eine Professorin der Universität Konstanz gehalten hat:

Die emphatische Standortbezogenheit, die Affirmation von Differenz und der dekonstruktivistische Blick, der explizite Traditionen und implizite Selbstverständlichkeiten als von Interessen gesteuert durchleuchtet, enthalten ein sozialrevolutionäres Potenzial, das auch für identitätspolitische Zwecke nutzbar gemacht werden kann. (Ebd.)

Dieser Stil ist einerseits zweifellos unangemessenUnangemessenheit, denn die Professorin hat die Textverarbeitungskapazität ihres Publikums missachtet. Andererseits ist wissenschaftlicher Stil typischerweise theoretisch-abstrakt, und in dieser Hinsicht (StimmigkeitStimmigkeit zwischen FormulierungFormulierung und Redeinhalt) ist ihr Stil durchaus angemessen. Er signalisiert, dass ein intellektueller ErtragErtragintellektueller erzielt werden soll. Die Formulierungsleistung ist also insgesamt als zwiespältig zu beurteilen (und nicht pauschal zu verurteilen).

Höchst problematisch ist auch das Stilgebot, auf den NominalstilNominalstil als „Krone der Hässlichkeit“ (S. 21) zu verzichten. Als Beispiel wird ein Text aufgeführt, der im Jahre 2012 an Abfallkörben auf Autobahnparkplätzen in Deutschland zu lesen war: „Nur Reiseabfälle. Zuwiderhandlungen werden als unerlaubte Sondernutzung zur Anzeige gebracht.“ (Ebd.) Wolf Schneider nimmt erstens Anstoß am FunktionsverbgefügeFunktionsverbgefüge zur Anzeige bringen, das er durch das einfache Verb anzeigen ersetzt haben möchte, und zweitens am „Bürokratenjargon“ generell. Man könne – so der Stilkritiker – den zweiten Satz des Textes in ein „drastisch besseres Deutsch“ bringen, indem man ihn so formuliert: „Sonst kriegen Sie Ärger!“ Doch sind Schneiders Umformulierungsvorschläge wirklich echte Formulierungsalternativen? Natürlich nicht! Denn würden sie in die Tat umgesetzt, ginge etwas Entscheidendes verloren: der amtliche NachdruckNachdruck, amtlicher, mit dem auf juristische Konsequenzen eines Zuwiderhandelns hingewiesen wird. Würde die Aufschrift an Abfallkörben wie vorgeschlagen umformuliert, trüge sie Merkmale des Alltagsstils: Die Verben anzeigen und kriegen sowie das Substantiv Ärger verweisen auf EinfachheitEinfachheit, das Verb kriegen außerdem auf Umgangssprachlichkeit bei der Wortverwendung. Dies aber wäre unangemessenUnangemessenheit und brächte den anvisierten sozialen ErtragErtragsozialer in Gefahr.

Die PassivformPassivform/-konstruktion, von Wolf Schneider als „hässlichste Form des Verbs“ (S. 17) gegeißelt, ist in grammatischer Hinsicht eine morphologische Alternative zur Aktivform, in stilistischer Hinsicht ein GestaltungsmittelGestaltungsmittel. Eine Form wie werden zur Anzeige gebracht erzeugt nicht nur UnpersönlichkeitUnpersönlichkeit, sie ermöglicht es darüber hinaus, den betreffenden Sachverhalt als allgemeingültig in den Vordergrund zu rücken. Passivformen haben deshalb auch in wissenschaftlichen Texten ihren angestammten Platz. Als formulierungskompetent erweisen sich die Produzenten längerer Texte jedoch nur dann, wenn sie Ersatzformen des Passivs kennen und verwenden, um Monotonie im Stil zu vermeiden.

Wir können uns nicht mit jeder der 20 stilkundlichen Lektionen auseinandersetzen. Ein gewisser Nutzen ist textkommunikativ unspezifizierten Stilregeln nicht abzusprechen. Sie sind dabei behilflich, eigene Formulierungsleistungen auf den Prüfstand zu stellen, sie dahingehend zu prüfen, ob jedes Wort nötig, treffend und am richtigen Platz ist. Fragwürdig werden solche Stilregeln, wenn Formulierungsleistungen ohne Rücksicht auf ein konkretes textkommunikatives Umfeld als Fehlleistung bewertet und mit Auszügen aus poetischenPoetizität/poetisch Texten konfrontiert werden, die als Beispiele für stilistisch vorbildhaftes Formulieren dienen. Dies ist auch insofern ein fragwürdiges Verfahren, als sich genügend Gegenbelege ausfindig machen ließen, d.h. poetische Textpassagen, die als Verstöße gegen Regeln eines guten Stils zu bewerten wären, da sie „garstige Nominalkonstruktionen“ (S. 8), „ausgeleierte Redensarten“ (S. 15) oder „vermaledeite vorangestellte Attribute“ (S. 22) enthalten. Doch es gibt auch Formulierungsberatung der besseren Art – praktische Stillehren, die zielgruppen- und praxisorientiert verfasst sind. Verwiesen sei auf das Buch von Karl-Heinz List (2007), das sich an Führungskräfte in Unternehmen wendet und mit Mustertexten zu unternehmensrelevanten TextsortenTextsorte aufwartet, auch mit Texten zur Firmen-SelbstpräsentationSelbstpräsentation im Internet.

1.2.2 VisualisierungskompetenzVisualisierungskompetenz

Ob mündliche oder schriftliche Texte – Stil muss nicht ausschließlich eine Formulierungsleistung sein. Bei mündlichen Texten können ProsodieProsodie/prosodisch, Mimik und GestikGestik, Geräusche und Musik als sprachbegleitende, -ergänzende oder -ersetzende Zeichen gestaltungsrelevant werden. Bei schriftlichen Texten kommen gegebenenfalls graphische und typographischTypographie/typographische GestaltungsmittelGestaltungsmittel, Farben und Bilder hinzu. Mündliche und schriftliche Texte gibt es auch in Kombination. Beispiele sind Werbespots, Vorträge mit Handouts und/oder (digitaler) Folienpräsentation sowie Nachrichtensendungen im Fernsehen.

Der Begriff VisualisierungVisualisierung erfasst in stilistischer Hinsicht v.a. die VeranschaulichungVeranschaulichen von Informationseinheiten des Textes mit Hilfe von Abbildungen (Fotos), Nachbildungen (Zeichnungen) oder Bildern anderen Typs. ‚VisualisierungskompetenzVisualisierungskompetenz‘ schließt Kenntnisse über Visualisierungsmittel (als Gestaltungsressourcen) ein und die Fähigkeit, verfügbare Visualisierungsmittel in einen Sinn- und Gestaltungszusammenhang mit sprachlichen Zeichen zu bringen.

Visualisierungen sind auf verschiedene Arten textkommunikativer Erträge beziehbar. In der wissenschaftlichen Kommunikation (Erzielen intellektueller ErträgeErtragintellektueller) treten sie erkenntniserleichternd in Erscheinung. VisualisiertVisualisierung werden Kernelemente von Theorien und Experimenten. Als rezeptionsbeschleunigende GestaltungsmittelGestaltungsmittel im Dienste lebenspraktischer ErträgeErtragpraktischer kommen z.B. Piktogramme auf Wetterkarten zum Einsatz: meteorologische Symbole für ‚sonnig‘, ‚regnerisch‘, ‚heiter bis wolkig‘ u.a. Ein Beispiel für die Visualisierung von Gefühlen (Erzielen emotionalEmotionalität/Emotionalisieren-psychischer ErträgeErtragemotional-psychischer) sind Bilder mit religiöser Symbolik in Traueranzeigen: Schwalben stehen sinnbildlich für ‚Auferstehung‘, Rosen für ‚das Blut Christi‘. Die schwarze Umrandung einer Traueranzeige ist ein graphisches Mittel der Trauerbekundung. In der Werbekommunikation (Erzielen persuasiver ErträgeErtragpersuasiver) finden wir Produktabbildungen, aber auch Bilder, die (vermeintliche) Produkteigenschaften veranschaulichen, z.B. die ‚Heimat einer Biersorte‘. Häufig verwendete Bildmotive hierzu sind Dünenlandschaften, bayrische Biergärten oder berühmte Bauwerke wie die Semperoper in Dresden. Werbekommunikative Texte zielen häufig zusätzlich auf formbezogene ErträgeErtragformbezogener. Realisiert werden GestaltungsideenGestaltungsidee, die sich zwischen Sprache und Bild entfalten. Als Beispiel eine Anzeige der „Deutschen Landgestüte“. Die Wiege der Pferdezucht lautet die Werbeschlagzeile, und sie ist mit einem außergewöhnlichen Foto (einer Fotomontage) bebildert. Gezeigt wird ein Fohlen, das in einer buntbemalten, aus Holz gefertigten Wiege liegt. Was ist daran stilistisch-formbezogen bemerkenswert? In der Schlagzeile hat das Substantiv Wiege die lexikalisierte metaphorische BedeutungSemantik ‚Ort, an dem etw. seinen Anfang nimmt‘; das Bild hingegen visualisiert die wörtliche Bedeutung ‚schwingbares Bettchen für einen Säugling‘ und wandelt sie zugleich ab. Die Stelle eines Säuglings nimmt im Bild ein Fohlen ein. Sprache und Bild treten stilistisch-formbezogen in eine phantasieanregende Beziehung zueinander. Gestaltungsideen dieser Art sind auch als textkommunikative Wort-Bild-SpieleWort-Bild-Spiel interpretierbar, und damit ist eine Überleitung zum nächsten Teilabschnitt hergestellt.

1.2.3 Sprach- und TextspielkompetenzTextspielkompetenz

Die Begriffe SprachspielSprachspiel und TextspielTextspiel erfassen kreative Experimente mit sprachlichen bzw. textuellen Einheiten. Die darauf bezogenen KompetenzenSprachspielkompetenz schließen Kenntnisse über Sprachstrukturen und TextmusterTextmuster ebenso ein wie die Fähigkeit, kreativ mit diesen Strukturen und Mustern umzugehen. Textrezipientenseitig ist es die Fähigkeit, sprach- bzw. textspielerisch realisierte GestaltungsideenGestaltungsidee zu erkennen. Im Einzelnen lassen sich – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – folgende „Spiel-Arten“ unterscheiden:

 

 

WortspieleWortspiel: Darunter fallen textkommunikative Spiele

WortbildungsspieleWortbildungsspiel: Es handelt sich erstens um kreative Experimente mit der Konstituentenstruktur von Wortbildungskonstruktionen. Konstituenten werden

Spiele mit der Wortbildung haben zweitens ein spezielles Wortbildungsmuster hervorgebracht: die Kreuzung/Verschmelzung zweier Wörter (KontaminationKontamination). Das Wort Demokratur ist eine Kreuzung aus Demokratie und Diktatur, das Wort zwischendurst (Paulaner: Genuss für zwischendurst!) eine Kreuzung aus Durst und zwischendurch.

 

Wort-Bild-SpieleWort-Bild-Spiel: Kreative Experimente mit Wörtern und Bildern erstrecken sich zum einen auf die geistreiche VisualisierungVisualisierung von Wortbedeutungen (als Beispiel die Visualisierung von Wiege der Pferdezucht im vorhergehenden Teilabschnitt), zum anderen auf die Formung von Bildern aus Wörtern. In einer Edeka-Werbeanzeige sind 41 anpreisende Wörter, darunter Frische, Qualität und Leckerbissen, zu einem Bild geformt, das ein Herz darstellt.

 

TextmusterspieleTextmusterspiel: Gespielt werden kann auch mit den Mustern von TextsortenTextsorte. Auf diese Weise entstehen z.B. in der Werbekommunikation hybride Texte als Mischung von Werbeanzeige und Lexikonartikel (vgl. Sandig 1986: 201), von Werbeanzeige und Märchen (vgl. Fix 1997: 101), von Werbeanzeige und Kontaktanzeige (vgl. Keßler 1998: 279). Auch Einzeltexte wie der Dekalog (die Zehn Gebote) können die Struktur einer Werbeanzeige bestimmen (ebd.: 282).

 

NamenspieleNamenspiel: Sie können sprach- oder textspielerisch in Erscheinung treten. Der sprachspielerische Umgang mit Eigennamen aller Art (Personen-, Mannschafts-, Städtenamen usw.) zeigt sich z.B.

Ein Beispiel für den textspielerischen Umgang mit Personennamen liefert ein Exemplar der journalistischen TextsorteTextsorte Porträt (vgl. Hoffmann 2012a: 242). Der Text ist nach dem poetischPoetizität/poetisch-ästhetischen Muster AkrostichonAkrostichon strukturiert. Das heißt: Jeder Buchstabe des Vor- und Familiennamens der porträtierten Person (im Beispieltext Armin Mueller-Stahl) wird der Reihe nach zum Anfangsbuchstaben eines am Anfang eines Abschnitts stehenden Wortes. Die abschnittseröffnenden Sätze zum Vornamen Armin lesen sich in diesem NamenspielNamenspiel-Porträt so (vgl. Filmspiegel, Nr. 3/1962, 16): Am Anfang war die Begeisterung für das Theater. / Recht oft ging er mit den Kindern ins Theater. / Mueller-Stahl … Dieser Name ist heute in Theaterkreisen recht gut bekannt. / In Karl-Marx-Stadt bereitet seine Schwester Dietlind als Dramaturgin jede Neuinszenierung mit vor. / Neunzehnhundertneunundvierzig hatte Armin Mueller-Stahl sein Staatsexamen bestanden – als Musiklehrer!

 

Mit Sprach- und TextspielenTextspiel verbindet sich eine breite Palette an Funktionen und Wirkungen. Das Erzielen formbezogener Erträge ist lediglich eine Funktion unter vielen anderen (vgl. u.a. Poethe 2002: 2629; Janich 2010: 211ff.).

1.3 Stil in einer Kosten-Nutzen-Relation

Ertragsorientierte Textproduktion und -rezeption – so hatten wir gesagt (siehe 1.1) – bedeutet Ausrichtung auf einen kommunikativen Gewinn, einen kommunikativen Nutzen. Hier lässt sich eine Brücke schlagen zu Rudi Kellers Kosten-Nutzen-Rechnung, die bei der Wahl sprachlicher Mittel aufzumachen sei (1995: 216228). Mit dem Kostenaspekt werden die kommunikativen Anstrengungen geistiger und artikulatorischer Art erfasst, mit dem Nutzenaspekt mögliche Gewinne in dreifacher Hinsicht: Anstreben lässt sich ein informativer Gewinn (z.B. die Überzeugung des Textrezipienten), ein sozialer Gewinn (z.B. die Aufrechterhaltung einer Freundschaft) und ein ästhetischer Gewinn (z.B. der Unterhaltungswert des Gesagten). Wir erkennen in dieser Dreiteilung unschwer persuasiveErtragpersuasiver, sozialeErtragsozialer und formbezogene ErträgeErtragformbezogener wieder. Die Kosten, die ein Sprecher (Textproduzent) veranschlagt, können höher oder niedriger ausfallen. Höher sind sie, wenn er anstelle einer direkten eine indirekte Ausdrucksweise wählt. Dann ist zu fragen, was ihn dazu veranlasst, den kommunikativ unbequemeren Weg einzuschlagen. Rudi Keller gibt darauf folgende Antwort: „Der Sprecher wählt den indirekten Weg genau dann, wenn er ihn als den aussichtsreicheren beurteilt.“ (Ebd.: 218) Doch was ist eigentlich unter der Direktheit bzw. Indirektheit eines Wegs zu verstehen? Gemeint ist der Unterschied zwischen der Wörtlichkeit und der Nichtwörtlichkeit des Gesagten. Letzteres ist beispielsweise der Fall, wenn sich der Sprecher (Textproduzent) metaphorischMetapher/Metaphorisieren oder ironisch äußert. So kann sich eine metaphorische Ausdrucksweise als aussichtsreicher herausstellen, einen intellektuellen ErtragErtragintellektueller zu erzielen, eben weil sie es vermag, abstrakte Sachverhalte zu veranschaulichen. Metaphorik verlangt allerdings auch dem Hörer (Textrezipienten) höhere geistige Kosten ab, denn sie impliziert die an ihn gerichtete Aufforderung, „etwas als etwas anderes zu sehen“ (ebd.: 224). Eine ironische Ausdrucksweise kann sich als aussichtsreicher herausstellen, einen emotionalEmotionalität/Emotionalisieren-psychischen ErtragErtragemotional-psychischer zu erzielen, eben weil sie es vermag, die Bewertung von Sachverhalten als distanziert-spöttisch erscheinen zu lassen, etwa im Rahmen der journalistischen TextsorteTextsorte Glosse (vgl. Lüger 1995: 137ff.). Vom Hörer (Textrezipienten) wird bei dieser Form von Indirektheit erwartet, dass er sein Wissen einbringt, um die IronieIronie/Ironisieren zu erkennen. Es wird außerdem erwartet, dass er den SpottSpott als gerechtfertigt ansieht. Auch er hat also erheblich höhere Kosten, doch der mögliche Nutzen liegt auf der Hand: Der Text kann Vergnügen bereiten.

2 Definitionsmerkmale der Textkategorie Stil

2.1 Einleitung

Vor mehr als hundert Jahren beginnt Richard M. Meyer seine „Deutsche Stilistik“ mit folgenden Worten:

Die Stilistik wird insgemein als eine Art Geheimmittellehre aufgefaßt, die allerlei Kunstgriffe zur Erzielung ästhetischer Wirkungen an die Hand geben soll. Davon kann im Ernst nicht die Rede sein; vielmehr ist sie eine wissenschaftliche Disziplin, die als solche das Verständnis vorhandener Erscheinungen zu fördern und zu verbreiten sucht. In diesem Sinn behandeln wir die Stilistik in dem folgenden Abriß als ein System theoretischer Erkenntnisse, das sich selbstverständlich praktisch verwerten läßt, gerade wie die Grammatik (im Sprachunterricht) oder jede andere Wissenschaft. (Meyer 1913: 1)

Aktuell an diesen Worten ist einiges: der Status der Stilistik als Wissenschaft, die Systemhaftigkeit theoretischer Erkenntnisse, die praktische Verwertbarkeit von Einsichten in stilistische Regularitäten. Nicht mehr aktuell ist natürlich auch einiges: Von einer Geheimmittellehre spricht heutzutage niemand mehr. Statt um Kunstgriffe geht es heute um theoretisch fundierte methodische Instrumentarien. Und schlösse man sich der Auffassung Meyers an, dass die Stilistik letztlich nichts anderes sei „als eine vergleichende Syntax“ (ebd.: 3), bliebe das Blickfeld eingeengt auf ein Teilsystem des SprachsystemsSprachsystem als Stilmittelreservoir und der Blick versperrt auf den eigentlichen Stilbereich in seiner Bindung an und seiner Einbindung in die Kommunikation. Erstaunlicherweise gelingt es dem Autor dennoch, den Blick zu weiten und Stilistisches auch im Rahmen von „Gattungen“ wie ‚Essay‘, ‚Literarisches Porträt‘ und ‚Wissenschaftliche Darstellung‘ zu beschreiben.

Vor mehr als zehn Jahren beginnt die „Einführung in die Stilistik“ von Karl-Heinz Göttert und Oliver Jungen folgendermaßen:

Das hat Stil! Oder auch: Das hat keinen Stil! – erstaunlicherweise verstehen wir solche Aussagen bestens, ohne sagen zu können, was Stil eigentlich ist. Diese definitorische Verlegenheit stellt kein kleines Manko für die Stilistik dar. Eine Einführung in die Disziplin der Stilistik hat es da etwas einfacher, weil sie das Manko nur zu benennen, nicht zu beheben braucht. (Göttert/Jungen 2004: 13)

Kritikwürdig an diesen Ausführungen ist erstens, dass das Wort Stil in den angeführten Beispieläußerungen ein ästhetisches Werturteil zum Ausdruck bringt, im Sinne von ‚ästhetischÄsthetik/ästhetisch ansprechender Gestaltung‘ verwendet wird, während die Aufgabe der Stilistik darin besteht, den Grundbegriff Stil so zu bestimmen, dass damit die Vielfalt an Gestaltungsweisen mit neutralen Kennzeichnungen (Stil der Wissenschaft, Werbestil, Märchenstil, Stil Thomas Manns usw.) erfassbar wird. Kritikwürdig an den zitierten Worten ist zweitens die Annahme, dass Einführungen in eine Wissenschaftsdisziplin ohne eine Definition des jeweiligen Gegenstands auskommen können. Der Verzicht auf eine Definition hat zwangsläufig zur Folge, dass lediglich diffuse Vorstellungen vom Gegenstand entstehen, was wenig hilfreich und letztlich unwissenschaftlich ist. So nährt der Verzicht auf eine Stildefinition berechtigte Zweifel, ob die Stilistik überhaupt zu den Wissenschaftsdisziplinen gehört. Die Zweifel daran potenzieren sich, wenn anstelle des Bemühens, zu einer Stildefinition zu gelangen, spöttische Vergleiche angestellt werden, wenn Stil z.B. mit einem Fabelwesen wie dem Ungeheuer von Loch Ness verglichenVergleichen wird: „Man spricht davon, schreibt und hält Vorträge darüber, doch über etwas, was unsichtbar bleibt.“ (Dubois u.a. 1974: 24)

Dabei ist über Stil als Grundbegriff der Stilistik wahrlich schon viel gesprochen und geschrieben worden. Der Begriff bietet unerschöpflichen Diskussionsstoff. Es gibt mittlerweile zahlreiche Stilrichtungen (Text-, Gesprächs-, Pragma-, Sozio-, Literatur-, Funktionalstilistik u.a.) und weitaus mehr Stilauffassungen, -konzepte und -definitionen. Selbst innerhalb einer Stilrichtung können verschiedene Sichtweisen zur Geltung kommen. So ist es im Rahmen der Textstilistik möglich, den Fokus auf pragmatischePragmatik/pragmatisch Aspekte des Stils zu richten: Stil wird als die Art und Weise des Vollzugs einer TexthandlungTexthandlung (z.B. ERZÄHLENERZÄHLEN/Erzählen, WERBENWERBEN, BEURKUNDENBEURKUNDEN) begriffen. Im Rahmen der Textstilistik ist es aber auch möglich, im Stil eines Textes ein mehr oder weniger komplexes kommunikatives Zeichen zu sehen, mit sprachlichen und nichtsprachlichen Komponenten, in monologischer oder dialogischer Form, mit individueller oder überindividueller Prägung, mit pragmatischer, sozialer oder ästhetischer BedeutungSemantik/semantisch, in poetischenPoetizität/poetisch oder nichtpoetischen Kommunikationszusammenhängen. Von dieser semiotischen Sichtweise (Stil als Zeichen in der Kommunikation) sind die stiltheoretischen Ausführungen im vorliegenden Buch getragen. Die Problematik vieler Stiltheorien resultiert aus einem Universalitätsanspruch bzw. aus der Verabsolutierung eines ganz bestimmten Aspekts. Eine semiotisch orientierte Textstilistik legt sich zwar auch fest, hat aber das Potential, die verschiedensten Aspekte unter einem Dach zusammenzuführen.

Bei dem hier vorzustellenden Stilkonzept gehen wir nicht von einer fertigen Stildefinition aus. Stattdessen werden Definitionsmerkmale der Textkategorie Stil in der Art eines Puzzles aneinandergelegt und an Beispieltexten erläutert, um sie am Ende in einer Stildefinition zusammenzuführen. Strittiges bleibt weitestgehend ausgeblendet, doch auf eine Diskussion stiltheoretischer Fragen wird nicht gänzlich verzichtet, denn auch die Problematisierung von Positionen kann dazu beitragen, möglichst viel Klarheit über das Phänomen Stil zu gewinnen. In diesem zweiten Kapitel wird deshalb an das Ende eines Abschnitts gelegentlich ein Block mit der Überschrift „Diskussion“ gestellt, in dem Fragen, die sich aus dem Studium der Fachliteratur ergeben, erörtert oder offene Fragen, die sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht befriedigend beantworten lassen, formuliert werden.

2.2 Musterbasiertheit

2.2.1 GestaltungsmusterGestaltungsmuster allgemein: Komponenten des Musters Gestalten

An unserer ersten Station auf dem Weg zu einer Stildefinition wollen wir auf die Frage eingehen, wie der Stil eines Textes eigentlich in den Text „hineinkommt“. Für die Antwort auf diese Frage erweist es sich als nützlich, wenn nicht als unumgänglich, den stilistischen Aspekt der Textproduktion mit dem Begriff Gestaltung zu erfassen. Mit Hilfe dieses Begriffs können wir Stil als ein Gestaltungsprodukt bestimmen. Wir können sagen, dass er durch einen GestaltungsaktGestaltungsakt hervorgebracht wird und dass Gestaltungsakten ein GestaltungsmusterGestaltungsmuster zugrunde liegt. Ein prägnanterPrägnanz/Prägnant-Machen stiltheoretischer Leitsatz lautet ganz in diesem Sinne: Stil beruht auf dem Muster Gestalten (vgl. Püschel 1995: 306). Da es naturgemäß viele unterschiedliche Stile gibt, müsste es eigentlich dementsprechend viele Gestaltungsmuster geben. Nun besagt der Leitsatz aber gerade, dass es ein einziges Muster gibt, nämlich das Muster Gestalten. Wie lässt sich diesem offensichtlichen Widerspruch Logik abgewinnen? Etwa so: Wenn von dem Muster Gestalten die Rede ist, dann gerät immer das Allgemeine, das allen Gestaltungsakten zugrunde liegt, in den Blick. Man kann es mit Ulrich Püschel noch deutlicher sagen und Gestalten als „das allgemeinste oder zentrale Stilmuster“ (1995: 307) bestimmen. Wenn hingegen im Plural von Gestaltungsmustern die Rede ist, dann werden einzelne, spezifizierte, konkret bestimmbare Gestaltungsakte in ihrer Musterhaftigkeit erfasst. Im Folgenden sei versucht, das Allgemeine (das Muster) und das Einzelne (die Muster) etwas ausführlicher zu beschreiben und voneinander abzugrenzen.

Gestalten heißt allgemein gesehen, einer x-beliebigen Sache (Gegenstand, Zustand, Prozess, Handlung usw.) eine bestimmte Form zu geben, und zwar – wie sogleich hinzugefügt werden muss – nach einem Formgebungsprinzip oder einer Formgebungsidee, denn nicht jede Formgebung ist per se ein GestaltungsaktGestaltungsakt. Wer eine Tasse oder einen Krug töpfert, gibt Gefäßen erst einmal eine Form, die sich als Tasse oder Krug zu erkennen gibt, ohne dass bereits ein Gestaltungsakt vollzogen sein muss. Wer einen Satz nach grammatischen Regeln produziert und Wörter nach grammatischen Regeln einbindet, gibt dem Satz und den Wörtern zweifellos einen Form, aber eben eine grammatische Form. Wer einen Text produziert, ein TextthemaTextthema abhandelt, orientiert sich bei der Textbildung zum einen an textgrammatischen Regeln, zum anderen an kommunikativen Gesichtspunkten und in diesem Zusammenhang auch an Formgebungsprinzipien. So kann man das Thema eines Textes anschaulich abhandeln (z.B. in Lehrbüchern) oder theoretisch-abstrakt (z.B. in wissenschaftlichen Aufsätzen). Vielfach ist die Gestaltung mehr oder weniger vorgeschrieben, so in Protokollen, wo es auf GenauigkeitGenauigkeit ankommt, oder in Festreden, die nach einem feierlichen Stil verlangen. AnschaulichkeitAnschaulichkeit, AbstraktheitAbstraktheit, Genauigkeit und FeierlichkeitFeierlichkeit sind Beispiele für Formgebungsprinzipien. Beispiele für Formgebungsideen findet man z.B. in Werbeanzeigen, die in Gedichtform verfasst sind, in Kontaktanzeigen, in die Märchenelemente eingeflochten sind, oder in den Laut- und Buchstabengedichten der Konkreten Poesie. Gestaltungsakte vollziehen sich nicht im luftleeren Raum. So bildet insbesondere die TextsorteTextsorteFormgebungGestaltung1

Finale Komponente

Prozedurale Komponente

Instrumentale Komponente

GestaltungsprinzipienGestaltungsprinzip

GestaltungsideenGestaltungsidee

GestaltungsverfahrenGestaltungsverfahren

GestaltungsmittelGestaltungsmittel

Tab. 1: Komponenten des Musters Gestalten

Wir werden das Muster Gestalten an passender Stelle (siehe 2.5.1) zu vervollständigen haben.