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Inhalt

Impressum

Vorgeschichte

Prolog

Stammbaum Isabella und Werner

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Achtundzwanzig Jahre später

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Drei Jahre später

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2016 novum Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-903067-39-4

ISBN e-book: 978-3-903067-40-0

Lektorat: Nicole Schlaffer

Umschlagfoto: Elisabeth Winter

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildung: Stammbaum: Elisabeth Winter (1)

www.novumverlag.com

Vorgeschichte

Ich durfte meine Kindheit ohne Drill und Konventionen leben, meistens sogar genießen. Meine Mutter sprach oft davon, dass man mich in der Geburtsklinik mit einem anderen Säugling vertauscht und ihr boshafterweise ein fremdes Kind untergeschoben habe. Diese Geschichte erzählte sie immer und immer wieder allen Bekannten und besonders gerne beim Greißler. Ich neige dazu anzunehmen, dass es sich so zugetragen hat, denn ich schlage vollkommen aus der Art dieser Familie, sowohl im Aussehen als auch in den Veranlagungen. Ich bat sie oft, schon von klein an, meine richtige Mutti zu suchen und mich gegen ihr eigenes Kind auszutauschen. Sie tat es nicht, also beschloss ich, sie als Vielleichtmutter einzustufen. Meine Vielleichtmutter ließ mich unbehelligt. Sie tadelte mich nie, sie lobte mich nie, sie ignorierte weitestgehend meine Existenz. Und mein Vielleichtvater handelte genauso. Die Vielleichteltern übergaben mich meinem Erzieher. Ohne ihn wäre ich wahrscheinlich als verwahrlostes Kind aufgewachsen! Er förderte meine Talente, gab mir Schutz und Geborgenheit und sorgte in allen Belangen für mich. Doch er starb viel zu früh.

Als Sechsjährige fragte ich jede Mutter meiner Freundinnen, ob nicht sie meine Mutter sei. Ich erinnere mich gut, wie mitleidvoll sie meinen Kopf gestreichelt und gemeint haben, ich sei ein armes Kind. Arm war ich nie, fühlte ich mich auch nie so! Ich lebte in Freiheit, vergötterte meinen Erzieher, ging gerne zur Schule und mochte meine Lehrer, sowohl in der Grundschule wie auch im Gymnasium. Sie halfen mir, gut in das Erwachsenenalter zu gleiten.

Die Gefühlslosigkeit der Eltern kränkte mich kaum. Ich sah mich aber leid, tue es heute noch, nie die Wahrheit über meine Herkunft erfahren zu haben. Als die Wissenschaft so weit fortgeschritten war, mittels DNA-Analyse die Abstammung eines Menschen zu bestimmen, weigerten sie sich, diese Analyse durchführen zu lassen. Ich jedenfalls wäre glücklich, die Tochter anderer Eltern zu sein.

Meine Vielleichteltern sind nun hochbetagt, seit mehr als 50 Jahren geschieden und hassen einander trotz Demenz und Gebrechlichkeit nach wie vor mit unglaublicher Intensität. Ich glaube nicht, dass sie einander noch erkennen würden, aber der Hass bricht durch, sobald einer der beiden von ihrer verpfuschten Ehe zu sprechen beginnt. Albert Einstein sagte einmal, nicht das Universum, sondern die Dummheit der Menschen ist unendlich. Ich musste erfahren, dass auch der Hass unendlich sein kann. Ich habe beide seit Jahren nicht mehr gesehen, habe auch kein Interesse mehr daran, sie zu treffen, höre aber von Bekannten hin und wieder Episoden aus ihrem jetzigen Leben.

Um der Wahrheit gerecht zu werden, schenkten mir meine Vielleichteltern indirekt lehrreiche Lektionen. Es waren ihre Erzählungen, Gespräche, die sie mit ihren Bekannten oder Verwandten führten. Als Enkelin eines Polizisten und Tochter eines leidenschaftlichen Hitler-Anhängers – mein Vater behauptete erst in hohem Alter und dritten Personen gegenüber, dass er mein Vater sei – erfuhr ich bereits in zartem Kindesalter wie grausam Menschen sein können. Stundenlang lobten sie Hitlers „Genialität“ oder die Arbeit meines Großvaters im Kampf gegen das Verbrechen.

Niemand registrierte damals meine Anwesenheit, die eines Kindes, und kam auf die Idee, dass ich ihren Gesprächen interessiert folgte und sie mir merkte. So sehr mich die Geschichten über die Grausamkeit der „Herrenmenschen“, Holocaust, Gewaltverbrechen und Terror ängstigten – ich hatte oft böse Albträume – so sehr lauschte ich fasziniert den Erzählern. Ich erfuhr sehr viel über die raffinierte und eiskalte Vorgangsweise von Menschen mit dem Hang zum Verbrechen.

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg verstand es so mancher der ehemaligen Herrenmenschen sich zu tarnen, unterzutauchen, um irgendwann wieder an die Oberfläche zu kommen. Und sie kamen. Man erkannte sie nicht mehr, forschte nicht mehr nach ihrer Vergangenheit und ließ sie leichtfertig gewähren, ihre Erfahrungen auf dem Gebiet der Menschenvernichtung weiterzugeben. Die meisten dieser Schinder sind schon lange tot, aber ihr Werk und vor allem ihre Fertigkeit blieb bestehen, gedieh zur Basispraxis menschenverachtender Gruppierungen und wird von ihnen laufend auf den neuesten Stand gebracht.

Die Folgen dieser Nachlässigkeit tragen wir alle. Es graut uns, wenn wir Nachrichtensprechern zuhören. Es graut uns vor den Meldungen der Kriegsberichterstatter. Es graut uns, wenn wir Leichen unschuldiger Menschen im Internet oder am Bildschirm des Fernsehapparats sehen. Wieder sind es die Unliebsamen, die Unangepassten, die mit der falschen Konfession, denen das Siegel „Unwertes Leben“ aufgedrückt wird und deren Leichen zuhauf im Staub der Wüste liegen. Alleine die Ströme der Tränen trauernder Menschen und das Blut der Opfer versickern im Wüstensand.

Elisabeth Winter

Prolog

Das Privileg zu töten vermeinen religiöse Fanatiker, machtbesessene Emporkömmlinge, korrupte Staatsmänner, oder andere Geisteskranke zu haben. Sie opfern Verblendete, morden Andersdenkende und zelebrieren deren Tod, wenn es darum geht, ihren Willen oder ihre Ideologie durchzusetzen, Menschen zu versklaven oder ihren Egoismus zu befriedigen.

Isabella und Werner, die ungeliebten Kinder Annemaries und Robert Weilers leben mit ihren Eltern im Wien der 60er-Jahre des vorigen Jahrhunderts. Roberts reicher Cousin Venda setzt Isabella als seine Alleinerbin ein. Dieser Umstand erweckt den Unmut und die Habsucht ihres Vaters.

Roberts Wunsch, seiner aufgezwungenen Ehe zu entfliehen, nimmt Gestalt an, als er die schöne Jüdin Sara kennenlernt. Er will ihr die Welt zu Füßen legen, doch dafür braucht er Geld, viel Geld. Im zukünftigen Erbe seiner Tochter sieht er den Goldschatz, den es an sich zu reißen gilt. Um sein Leben so zu gestalten, wie es ihm seiner Meinung nach zusteht, beginnt er einen perfiden Plan auszuhecken und in die Tat umzusetzen. Eine unscheinbare Taubenfeder setzt schließlich eine Entwicklung in Gang, der nicht mehr Einhalt geboten werden kann und die in einem mörderischen Showdown endet.

Stammbaum Isabella und Werner

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Kapitel 1

In der Nähe des Schlosses Schönbrunn, im Garten eines gediegenen, alten Biedermeierhauses, spielten vier Mädchen. Eines dieser Kinder wuchs in diesem Haus auf, die anderen stammten aus der unmittelbaren Nachbarschaft. Der Garten, einst schön angelegt und mit Liebe von den Vorbesitzern gepflegt, sah verkommen aus. Unkraut wucherte, verwilderte Rosensträucher bildeten eine undurchdringliche Hecke, ein Apfelbaum mit vorwiegend toten Ästen stand neben anderen offensichtlich sterbenden Obstbäumen. Warum gerade ein Pfirsichbaum, zurzeit in voller Blütenpracht, das Desinteresse der neuen Besitzer überstand, wunderte jeden Gartenliebhaber.

Die Kinder liebten den verwilderten Garten, niemand befahl ihnen auf Blumenbeete oder den Rasen zu achten. Sie fanden im Unkraut und den herumliegenden Trümmern einstiger Gartenmöbel und geborstener Mauern, verursacht von den Bombenangriffen im Jahr 1944 auf Wien, wunderbare Dinge zum Spielen. In ihrer Fantasie sahen sie in herausgerissenen Wurzeln von Buschwerk und kleinen Bäumen Wurzelseppln und Kräuterweiblein, kleideten sie mit ausrangierten Stoffresten, setzten sie rund um morsche Baumstümpfe, in denen sie deren Esstisch sahen, und servierten ihnen Gerichte aus Gras, Unkraut und kleinen Ziegelbrocken, die in ihrer Fantasie Gemüse, Salat und Fleischspeisen darstellten. Viele Stunden verbrachten die Mädchen hier im Spiel als Mütter und Köchinnen.

Zeitweise, am Anfang seltener, später immer öfter, hörten die Mädchen Geplärr und Gezänk einer Frau und eines Mannes aus einer der Wohnungen des Hauses, danach weinte ein Kind. Isabella sagte zu ihren Freundinnen: „Das ist mein Bruder! Er heult schon wieder, weil er Schläge vom Papa bekommen hat.“ Die Mädchen nahmen diese Aussage zur Kenntnis und spielten weiter.

Werner, der siebenjährige Bub, trat wegen seines zu zarten Körperbaues erst ein Jahr später in die Volksschule ein. Die Gesellschaft von Isabellas Freundinnen war ihm lieber, als die von gleichaltrigen Jungen. Die Mädchen mochten es, wenn er Puppenkleider entwarf. Die Entwürfe entbehrten zwar jeglicher Passform, aber seine Kreationen gefielen seiner Schwester und ihren Freundinnen. Isabella bekam von ihrer Tante letzte Weihnachten eine Kindernähmaschine mit einer Handkurbel geschenkt. Er als Einziger konnte sie so bedienen, dass eine Naht entstand. Eifrig nähte Werner für vier Puppen Kleider nach seinen Entwürfen. Die Kleider sahen hübsch aus, aber die Puppen waren zu groß für seine Kreationen, also entschied er, aus den Kleidern Blusen zu nähen. Dabei schnippelte er einfach die Rockteile der Kleider ab, ohne vorher Maß zu nehmen. Nun bemerkte er, dass die eine oder andere Bluse viel zu kurz geraten war. Dieser Tatsache kühl ins Auge blickend, schneiderte er einfach aus zu kurzen Blusen Patschen für die Puppen. Als Folge seiner Schneiderkunst besaßen zwei Puppen zwar lange, aber zu enge Blusen und die anderen zwei nichts als Patschen. Im Laufe seiner kreativen Phase versorgte er Isabellas Puppe mit etlichen Paar Patschen, gefertigt aus bunten Stoffresten. Als der Winter hereinbrach, beschwerte sich Isabella bei ihm. „Wie soll ich meine arme Puppe vor der Kälte schützen, wenn sie nur Patschen anzuziehen hat?“ Er gab seiner Schwester zur Antwort, dass ihre Puppe einen viel zu großen Bauch habe, um von ihm eingekleidet werden zu können.

Isabellas und Werners Vater Robert sah blendend aus: groß, schlank, blond und grauäugig. Den Frauen gefiel er nur zu gut. Sie umschwärmten ihn, er fühlte sich dabei großartig und ließ sich gerne verführen. Er, der Sohn eines Polizisten und zweites Kind des Ehepaares war der Stolz seines Vaters. Die Geburt eines Mädchens, Roberts älterer Schwester, enttäuschte den Vater so sehr, dass dieser sich lange weigerte, das Neugeborene als sein Kind anzuerkennen. Erst nachdem sein Sohn geboren war, widmete er sich auch seiner Tochter. „Robert, so soll er heißen“, bestimmte der Vater. Robert wurde in Wien in der Zeit der großen Inflation vor 1923 geboren. Die Feudalherrschaft der Habsburger lag nur wenige Jahre zurück. Österreich, seit 1918 bar der meisten in der Monarchie erheirateten Länder, schmolz zur Republik mit nur einem Bruchteil des einstigen Territoriums zusammen. Fast alle Menschen dieser Zeit litten bittere Not und so manchen trieb das Elend in den Selbstmord. Franz, sein Vater, verdiente wenig, aber da er in einem Gefangenenhaus die Dienstaufsichtspflicht über die Wachbeamten erhielt, besserte er sein Einkommen mit Unterschlagungen von Paketen, die den Gefangenen von ihren Familien geschickt worden waren, auf. Der Inhalt der Pakete, in erster Linie Lebensmittel, reichte aus, um seine vierköpfige Familie ausreichend mit Nahrungsmitteln zu versorgen.

Robert erkrankte im Säuglingsalter an einer Darminfektion, begleitet von hohen Fieberschüben, die die Eltern um das Leben ihres Kindes bangen ließen. Rosa, seiner Mutter, gelang es nur mit viel Aufwand das Kind gesund zu pflegen. Bis zum Schuleintritt blieb Robert klein und schwächlich, versteckte sich gerne hinter dem Rock seiner Mutter und entwickelte sich zum Einzelgänger. Er sekkierte seine Schwester Martha mit Leidenschaft, sein Vater sah darüber großzügig hinweg. In der Familie kristallisierten sich zwei Parteien heraus: Vater und Sohn, Mutter und Tochter. Der Vater lehrte seinen Sohn schon von klein an das Töten: Hasen zu schießen, Vögel als Zielscheibe zu benutzen und neugeborene Hunde und Katzen zu ertränken. Die Mutter brachte ihrer Tochter bei, über all das hinwegzusehen, alles gelassen hinzunehmen und jeder Situation das Beste abzugewinnen.

Annemarie, Isabellas Mutter, rief zum Abendessen. Isabella überhörte den Ruf. Ein weiteres Mal rief die Mutter vergeblich nach der Tochter, erst als sie nach ihr brüllte, blickte das Mädchen in ihre Richtung. Ihre Freundinnen, aufgescheucht von dem lauten Gekreische und dadurch ängstlich geworden, liefen heim zu ihren Müttern. Isabella ließ sich Zeit auf dem Nachhauseweg. Als sie endlich die Wohnung betrat, überfiel sie die Mutter mit einem tadelnden Redeschwall. Das Mädchen blickte die Mutter nur interesselos an, setzte sich zum Tisch und wartete, bis die Mutter den Teller füllte. Werner saß neben Isabella und schniefte. Er liebte seinen Vater, schaute zu ihm auf, wäre so glücklich darüber gewesen, dass sein Vater stolz auf ihn sei. Robert verachtete es, wenn sein Sohn sich, wie er es nannte, mit „Mädchenkram“ abgab. Robert und Annemarie saßen den Kindern gegenüber. Roberts Mundwinkel hingen vor Zorn tief hinunter, während Annemarie weiter vor sich hin kebbelte. Sie verschluckte sich dabei mit der Suppe. Isabella kicherte. Annemarie empörte sich über Isabellas Spott und wollte das Mädchen ins Gesicht schlagen. Es wich geschickt aus und sah die Mutter so lange böse an, bis diese den Blick von ihr abwandte.

Schon im Alter von fünf Jahren erkannte Isabella, dass sie mit bestimmten Blicken ihre Eltern in Schach halten konnte. Außerdem zeigte sie weder Respekt noch Angst vor ihnen und sonderbarerweise verkniffen sie es sich dadurch, das Mädchen zu verprügeln. Die Schläge bekam ihr Bruder. Die Kinder fühlten deutlich, dass ihre Eltern sie nur als lästige Anhängsel betrachteten und sie am liebsten der Fürsorge überlassen hätten, wäre da nicht Isabella als Erbin eines reichen Verwandten eingesetzt worden. Die Kleine erinnerte Roberts Cousin an seine Tochter, die gemeinsam mit ihrer Mutter bei einem Bombenangriff während des Zweiten Weltkriegs ums Leben kam. Werner behielten sie, weil sie 1945 mit einem Baby mehr Lebensmittel zugeteilt bekamen und als zwei Jahre darauf Isabella zur Welt kam, verdoppelte sich die Ration an Milch, Grieß oder Mehl und etwas mehr Fett gab es zusätzlich.

Annemarie weigerte sich, ihre Babys mit Muttermilch aufzuziehen. Sie gab vor, keine Milch zu haben. Die zusätzlichen Nahrungsmittelrationen allerdings begrüßten sie und ihr Gatte. Wenn die Kleinkinder ihre zugemessene Mahlzeit nicht zur Gänze verzehrten, stürzten sich beide Eltern über die Reste. Nachfüttern eines schlechten Essers wie speziell Werner, kam für beide nicht infrage.

Keiner in Roberts Familie verstand, dass er Annemarie heiratete. Und er verschwieg den Grund, warum er seine Cousine ersten Grades drei Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ehelichte.

Rosa, die jüngere Tochter ihrer Familie, übernahm die Erziehung des jüngsten der drei Kinder, die ihres Bruders Johann, Annemaries Vater, nachdem die Mutter gestorben war. Als Johann den Kinderschuhen entwachsen war, verließ Rosa die Familie, da sie mit der zweiten Frau ihres Vaters ständig in Unfrieden lebte. Rosas Vater verfügte über ein stattliches Vermögen, aber seine zweite Frau brachte ihn so weit, seine Kinder aus erster Ehe schmählich im Stich zu lassen. Rosa durfte wohl eine Haushaltsschule besuchen, um sich auf ihre zukünftige Rolle als Hausfrau an der Seite eines wohlhabenden Mannes vorzubereiten, aber eine effektive Berufsausbildung blieb ihr, wie den meisten Frauen ihrer Zeit, verwehrt. Ohne Geld, nur mit ein paar persönlichen Habseligkeiten verließ sie die Familie. Sie fuhr nach Wien, um sich nach Arbeit umzusehen. Sie fand eine Anstellung als Köchin in einem Haushalt einer gutbürgerlichen Familie. Dort lebte sie in einem kleinen Zimmer, bekam ausreichend und gut zu essen, einige Wäsche und Kleider brachte sie von zu Hause mit. Den Großteil ihres Lohnes sparte sie. Als sie Franz kennenlernte und nach einiger Zeit heiraten wollte, hatte sie genug Geld, um Franz vom Militär loszukaufen und eine Dreizimmerwohnung zu mieten.

Vor 1914 musste der Kaiser von Österreich seine Einwilligung zum Freikauf eines seiner Soldaten geben. Franz erhielt aufgrund seines Militärdienstes nach dem Abrüsten eine Stelle bei der Wiener Polizei als Wachmeister.

Als Hitler in Österreich einmarschierte, begrüßte Roberts Vater begeistert den politischen Umschwung. Robert mauserte sich während der Pubertät zu einem gut aussehenden Jungen und träumte davon, bald in den Krieg zu ziehen. Als er seinen Einberufungsbefehl erhielt, zur Musterung vorgeladen wurde, meldete er sich zur Waffen-SS. Aufgrund seiner körperlichen Verfassung, seiner Größe und seiner Bildung, er maturierte unmittelbar vor der Musterung, nahm man ihn in diese Eliteeinheit auf und gliederte ihn in die Division „Totenkopf“ ein. Er kämpfte und handelte gnadenlos in Frankreich, Russland, in der Ukraine, sowohl an der Front als auch im Hinterland.

Die Alliierten besetzten Österreich und die Suche der Besatzungsmächte nach ehemaligen SS-Angehörigen lief auf Hochtouren. Robert versteckte sich bei seinem Onkel Johann in Oberösterreich, im von Amerikanern besetzten Teil des Landes, denn er erhoffte sich im Falle eines Aufgriffes durch die Militärpolizei eine humanere Behandlung als von den Offizieren der anderen Besatzungsmächte.

Johann heiratete die Kriegswitwe eines Bäckers knapp nach dem Ersten Weltkrieg in sehr jungen Jahren. Seine Frau, zehn Jahre älter als er, gebar ihm drei Kinder. Annemarie, die Jüngste entwickelte sich zum Sonderling. Sie lehnte die Gesellschaft gleichaltriger Kinder ab, saß meistens alleine zu Hause, las Geschichten von reichen und schönen Damen und träumte davon, ebenso wie diese von einem Märchenprinzen in ein goldenes Schloss gebracht zu werden. Sie wuchs zu einem hübschen Mädchen heran und fand Anklang bei den jungen Männern, lernte sie allerdings einer näher kennen, zog er sich bald von ihr zurück. Ihr Hang zur Überheblichkeit und ihre Rechthaberei vergraulten ihre Verehrer. Ihre Mutter versuchte öfters mit ihr über diese Defizite zu reden, aber Annemarie reagierte äußerst ungehalten auf den Versuch ihrer Mutter ihr beizubringen, dieses Fehlverhalten zu unterlassen. Alsbald blieben die Verehrer aus. Keineswegs gewillt, den Ratschlägen ihrer Mutter zu folgen, suchte sie trotzig die Schuld bei ihrer Schwester und deren Freundinnen. Als Robert in ihr Leben trat, gefiel er ihr zu gut, um ihn, wie sie befürchtete, an ihre Schwester zu verlieren.

Sie glaubte ihn für den Rest ihres Lebens zu besitzen, da sie ihm geholfen hatte, seine SS-Vergangenheit auszumerzen. Sie brannte das Blutgruppentattoo aus seinem Oberarm, vernichtete verräterische Papiere, versteckte ihn so lange, bis die Wunde verheilte, und teilte das Bett mit ihm. Als sie schwanger wurde, verlangte sie von ihm geheiratet zu werden. Seinem Einwand, dass sie Blutsverwandte seien und sie das Kind lieber abtreiben solle, entgegnete sie: „Wenn du mich mit dem Kind sitzen lässt, so zeige ich dich bei der amerikanischen Militärpolizei wegen deiner SS-Zugehörigkeit an.“ Aus triftigen, nur ihm bekannten Gründen, verzichtete er darauf, sich den Amerikanern zu stellen und heiratete die ungeliebte Frau.

Robert verstand es geschickt seine außerehelichen Affären vor seiner Frau zu verbergen und Annemarie fühlte sich sicher. Sie glaubte daran, dass Robert sein Leben lang erpressbar sein werde. Unter dem Motto: „Tust du nicht was ich will, so zeige ich dich an“, setzte Annemarie ihren Willen durch.

In den ersten Jahren ihrer Ehe beugte sich Robert ihren Drohungen, mit der Zeit allerdings entwickelte er eine Tarnstrategie. Er log und heuchelte, sprach Annemarie nach dem Mund und lachte über ihre Dummheit, sobald sie ihm den Rücken zukehrte. Nach außen hin spielte er den idealen Ehemann, sein übermäßiges Verlangen nach Beischlaf stillte er bei seinen Mätressen und seine Frustration baute er am Rücken seines Sohnes ab.

Werner und Isabella gingen gerne in die Schule. In beiden Klassen unterrichteten liebenswürdige Lehrerinnen, gute Pädagoginnen. Werner erschien manchmal mit blauen Flecken im Gesicht in der Schule. Seine Lehrerin sprach Annemarie diesbezüglich an und meinte, dass Werner doch ein lieber, ruhiger Junge sei, und es ihr unverständlich erscheine, ihn derart zu misshandeln. Annemarie brach in Tränen aus, beschwor, dass Werner sich zu Hause manchmal wie ein Teufel aufführe und sein Vater – sie erklärte Robert sei ein sanfter Mensch – ihn deswegen züchtigen müsse, da seine Ungehorsamkeit das Erträgliche ständig überschreite. Die Lehrerin sah dies ein. Es hieß damals: „Wer sein Kind liebt, hält den Stock bereit.“ Robert liebte seine Kinder nie, den Stock allerdings hielt er bereit.

Robert und Annemarie tranken gerne und viel Alkohol. Robert soff seit seinem Einsatz als SS-Soldat in der Ukraine und Annemarie seit sich Robert immer mehr ihrer Kontrolle entzog. Je nach Menge und Art der alkoholischen Getränke stimulierten sie sich in sexuelle Eskapaden oder in lautstarke Auseinandersetzungen. Gelegentlich vernahmen die Kinder keuchende und stöhnende Geräusche aus dem Schlafzimmer der Eltern. Werner meinte, dass der Vater krank sei und die Mutter ihm den Schweiß von der Stirn wische, so wie es ihnen ihr Religionslehrer erzählt hatte, als vor 2000 Jahren Jesus sein Kreuz tragen musste, vor Schmerzen stöhnte und schwitzte und sich seiner eine gute Seele erbarmte und ihm das Schweißtuch reichte. Werner weinte, er bedauerte den Vater. „Der arme Papa ist so krank, aber morgen wird er wieder gesund sein, weil ihn die Mama so gut pflegt.“

Isabella sah ihren Bruder ungerührt an. „Du bist blöd! Der Papa ist nicht krank, er kotzt bloß, weil er zu viel gesoffen hat.“

Je nach Saison und Tageszeit vergnügten sich die Kinder im Freien, besuchten ihre Freunde, oder drehten das Radio auf, um Schlagermusik zu hören. Anders verhielt es sich, wenn sich Robert und Annemarie in ihrem Suff stritten, sich beschimpften, dabei die Hemmschwelle niedriger werden ließen, um mit den nächstliegenden Gegenständen aufeinander zu werfen. Annemarie verfehlte ständig ihr Ziel, während Robert sicher traf. Werner heulte, solange er klein war, wenn er bei dem Tumult der Eltern anwesend war. Isabella sah ihnen dabei emotionslos zu.

Mit zunehmendem Alter der Kinder scherten sie sich immer weniger um die Eltern. Werner entwickelte sich zu einem attraktiven Burschen und Isabella zu einem schönen Mädchen. Die beiden hielten zusammen, bildeten eine Allianz gegen die Eltern und taten, was sie für richtig hielten. Seit Werner an Kräften zunahm, versagte es sich Robert den Jungen zu schlagen, als befürchte er, der junge Mann könnte sich wehren.

Dem tristen Verhältnis zwischen Vater und Mutter sahen die beiden jungen Menschen gelassen, eher belustigt zu. Werners Liebe und Bewunderung für den Vater schlugen in Verachtung um. Bewarfen sich die Eheleute mit Porzellan oder Gläsern trug meist Annemarie eine Verletzung davon. Sie heulte hysterisch, als Robert mit Glasscherben nach ihr warf und sie dadurch eine kleine Wunde am Kopf davontrug. „Hol Jod und Pflaster aus dem Verbandskasten“, befahl sie Isabella. Das Mädchen tat, was die Mutter anordnete, riss ein Stück Baumwollwatte aus dem Plastikbeutel, tropfte etwas Jod darauf und drückte es der Mutter auf die Stirn. „Au“, schrie Annemarie auf, „sei etwas behutsamer! Du tust mir weh.“

Isabella antwortete: „Hör auf zu heulen, Jod brennt eben auf der Wunde. Vielleicht kannst du dir jetzt vorstellen, wie es dem armen Werner ergangen ist, als er als kleines Kind vom Vater blutig geschlagen worden ist. Dabei hast du kaltblütig zugesehen, anstatt ihm zu helfen.“ Annemarie schwieg zu diesem Vorwurf.

Die Geschwister reiften viel früher heran als ihre gleichaltrigen Freunde. In ihrer Familie fanden sie wohl Zuneigung bei ihrer Großmutter väterlicherseits, die versuchte, das Defizit der Kinder an Elternliebe auszugleichen. In der Verwandtschaft sorgte Roberts verwitweter Cousin in finanziellen Belangen für die beiden, aber die Liebe der Eltern blieb ihnen versagt.

„Weißt du, dass unsere Großmutter gleichzeitig unsere Großtante ist?“, fragte Werner seine Schwester.

„Natürlich“, antwortete Isabella.

Je mehr Annemarie und Robert stritten, desto mehr versuchte die Mutter, die Kinder auf ihre Seite zu bringen. Sie wünschte, von ihren Kindern bedauert zu werden, wenn Robert sie beflegelte. Warum Annemarie ihre Drohung, Robert wegen seiner SS-Vergangenheit anzuzeigen nie in die Tat umsetzte, lag nur daran, dass sie um ihre eigene Existenz und den Verlust ihrer Bequemlichkeit bangte. Robert durchschaute ihre Befürchtungen und ließ sie für ihre Erpressungsversuche büßen. Wohl ging er mit äußerster Vorsicht vor, noch dazu, da er eine Frau kennenlernte, die ihm weit besser gefiel als seine Ehefrau.

Die Kinder erkannten ihren Vorteil, sie freuten sich darüber, dass sie den Eltern gleichgültig waren. Sie bestimmten ihr Leben selbst.

Robert vergnügte sich, als er aufhörte den Jungen zu schlagen, nur noch mit seinen Weibern und Annemarie erlaubte den jungen Menschen mit einer Ausnahme alles, um ihre Kinder für ihre Zwecke gefügig zu machen, wie sie vermeinte. Als einzige Ausnahme galt das Verbot, die Großmutter oder die Tante, Roberts Schwester, zu besuchen. Wollten die jungen Leute eine der beiden aufsuchen, waren sie gezwungen, die Mutter anzulügen. Annemarie hasste ihre Schwiegermutter und ihre Schwägerin zutiefst. Die Geschwister hingegen liebten ihre Großmutter und ihre Tante Martha. Besonders Isabella hing an ihrer Tante.

„Oma, ich wünschte mir, dass die Tante unsere Mutter wäre!“, beklagte sich Isabella bei der Großmutter.

„Kind“, meinte die Großmutter, „es geht dir im Großen und Ganzen gut, lass deine Mutter sein, wie sie ist, und komm zu mir oder zur Tante, wenn du Kummer hast oder angeregt plaudern willst.“ Isabella gab Rosa recht.

Martha heiratete in jungen Jahren einen Medizinstudenten, half ihm seine ungeheure Prüfungsangst gut zu überwinden und strahlte vor Freude bei seiner Promotion zum Doktor der Medizin. Das Ehepaar blieb kinderlos. Damals versuchte Martha auf Robert einzuwirken, Werner weniger hart zu züchtigen, aber seiner Ausrede, aus dem Buben einen richtigen Mann machen zu müssen, stand sie machtlos gegenüber.

Isabella beobachtete ihren Bruder, als er mit einem Mädchen unbeholfen tanzte. Sie wunderte sich schon geraume Zeit über ihn, da er selbst nie ein Mädchen zum Tanz oder zu sonstigen Aktivitäten einlud. Die jungen Damen allerdings waren begierig darauf, von diesem hübschen Kerl zum Ausgehen eingeladen zu werden. Die Mutigen traten von sich aus an ihn heran und forderten ihn zum Rendezvous auf.

„Bist du so schüchtern oder zu arrogant, um dir eine Freundin zu suchen?“, fragte Isabella.

„Lass mich mit der blöden Fragerei in Ruhe“, erwiderte Werner mürrisch.

„Nun ja“, dachte Isabella. „Wahrscheinlich graut ihm vor einer Beziehung. Kein Wunder, wenn ich an die Ehe unserer Eltern denke.“