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Inhalt

Impressum

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel – Epilog

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2016 novum Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-99048-324-4

ISBN e-book: 978-3-99048-325-1

Lektorat: Dr. Annette Debold

Umschlagfoto: Ramon Burghoff

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

1. Kapitel

Die Vergangenheit kann nicht geheilt werden.

(Queen Elizabeth I.)

Thomas Terenz und Kimberly Terenz

Und schon wieder saß ich hier. Auf demselben abgenutzten Stuhl, auf dem ich auch die letzten Male gesessen hatte – zumindest fühlte er sich genauso an. Die Lehne, an die ich meinen Rücken presste, fühlte sich an, als ob sie jeden Moment abbrechen würde, wenn sie nicht an die Wand gelehnt wäre. Der blaue Stoff mit dem orangen Rautenmuster hatte an einigen Stellen kleine Löcher, in denen der gelbe Schaumstoff zum Vorschein kam. Dabei fiel mir wieder einmal auf, wie gut der gelbe Schaumstoff zu den orangen Rauten passte. An den metallenen Füßen des Sitzes befanden sich halb abgerissene Aufkleber der letzten Fußballweltmeisterschaft. Ich legte meine Unterarme sich kreuzend auf meine Oberschenkel, senkte den Kopf und schloss meine Augen. Mir schossen Tausende und Abertausende Gedanken durch den Kopf, einer schlimmer als der andere. Ich wollte nicht daran denken, dass wieder etwas schiefgehen könnte. Das würde ich nicht mehr überstehen, und noch viel schlimmer würde es meine Frau treffen. Wenn gleich die Flügeltür aufginge und der Arzt herauskäme, mitfühlend den Kopf schüttelte und ich in seinen ehrlichen Augen die Worte »Es tut uns sehr leid, Herr Terenz« läse. Und ich durch die Flügeltür ginge und meine Frau daliegen … »Nein«, schrie ich laut und hob den Kopf, um mich selbst aus meinen Gedanken zu reißen. Ich öffnete langsam wieder die Augen und bemerkte, dass sich noch zwei andere Männer in die kleine Nische zu mir gesellt hatten. Einer der Männer stand vor der Sitzreihe, die in einer U-Form platziert war. Er hatte einen hellblauen Anzug an, der nicht sehr gut an seinen Körper passte. Er wirkte am Rumpf zu groß, schien aber an den Schultern wieder zu eng zu sein. Das weiße Hemd, das er unter der Jacke des Anzuges trug, schien auch seine besten Tage hinter sich zu haben. Das ehemalige weiße Hemd wich einem ausgewaschenen Grau. Zudem schien es dem Mann auch zu klein zu sein, da die Knöpfe einem das Gefühl gaben, sie rissen jeden Moment ab. Die Hose zu der hellblauen Jacke war verwaschen und hatte unterhalb des rechten Knies ein kleines Loch, welches ich nur sehen konnte, da seine Hose genau dort eine Falte schlug. Seine Schuhe waren im Vergleich zu dem Anzug wohl neu. Es waren typische Schuhe, die man anzog, wenn man einen Anzug trug. Schwarz, schlicht, zum Schnüren. Seine braunen Haare waren so gekämmt, dass sie den leichten Ansatz einer kahlen Stelle an seinem Hinterkopf verbergen sollten. Der andere Mann saß mir vor Kopf. Er schien sehr nervös zu sein. Er bewegte seine rechte Fußferse immer wieder auf und ab, in einem wohl unbewussten ¾-Takt. Er hatte schwarzes, längeres Haar, welches ihm ungefähr bis zur Schulter hing. Es sah sehr strähnig aus, als hätte er es einige Zeit nicht gewaschen. Dazu passten auch seine nicht zu übersehenden Augenringe. Seine Ellenbogen waren so auf seinen Oberschenkeln platziert, dass er sein Kinn in seine Handflächen legte. Seine Finger reichten über die Wange bis in seine Haare, wo er sich eine Haarsträhne nahm und damit spielte. Seine ganze Kleidung ließ darauf schließen, dass er diese schon länger trug. Beide hatten mich auch gemustert, so wie ich sie gemustert hatte. Ich fragte mich, zu welchem Urteil sie gekommen waren.

Was sehen sie, wenn sie mich sehen? Einen 191 cm großen Mann, mit braunen, kurzen Haaren, einer leicht ausgewaschenen blauen Jeans und einem roten Langarmshirt und dazu weiße, schlichte Turnschuhe. Ich fragte mich, ob die letzten paar Tage auch bei mir Augenringe hinterlassen haben.

Fragen über Fragen, die mich beschäftigten. Ich schob den Ärmel meines Poloshirts hoch, um auf meine Armbanduhr zu sehen. Es war der 14.09.2013, 14:27 Uhr und 17 Sekunden. Ich erinnerte mich daran, woher ich diese Uhr hatte. Meine Frau schenkte sie mir zum zweiten Hochzeitstag. Als sie und ich zwei Monate vor diesem Hochzeitstag durch die Stadt zogen und an einem Juwelier hielten, weil sie sich Ohrringe kaufen wollte, habe ich mich nach Uhren umgesehen und nach einiger Zeit dann diese Uhr gefunden. Eine Uhr mit Schweizer Uhrwerk und einem schwarzen Lederarmband. Eine selten schöne Uhr, doch bevor ich mich zum Kauf entschließen konnte, zerrte meine Frau mich aus dem Laden mit der Begründung, sie müsse schnell nach Hause. So eilten wir dann zu unserem schwarzen Kombi, der in der Tiefgarage des großen Einkaufszentrums stand, und fuhren auf dem schnellsten Weg nach Hause. Erst zu unserem zweiten Hochzeitstag erfuhr ich, warum sie mich tatsächlich aus dem Geschäft zerrte. Sie wollte mir die Uhr zu unserem Hochzeitstag schenken. Ich musste lächeln, als ich an diesen Tag zurückdachte. Damals hatten wir noch nicht solche Probleme, und meiner Frau ging es gut. Sie lächelte mehr und war lebensfroher.

Langsam fing auch meine Fußferse immer wieder an, sich auf und ab zu bewegen. Während meine Füße sich nach einem unbekannten Rhythmus bewegten, ging ich im Kopf die letzten Male durch, bei denen ich hier auf den Arzt gewartet hatte. Ich versank wieder ganz in meinen Gedanken, und während sich mein Kopf wieder dem Erdboden entgegenneigte und meine Augen sich wieder langsam schließen wollten, musste ich aus diesem irrsinnigen Kreislauf ausbrechen. Ich wusste, wenn ich mich wieder meinen Gedanken hingeben würde, würde ich nur an die Vergangenheit denken, und das durfte ich nicht zulassen. Ich hob meinen Kopf, legte die Handflächen auf meine Oberschenkel und stand langsam auf. Während ich mich aufrichtete, überkam mich der dringende Wunsch nach einer Zigarette. Ich fragte mich, warum man solche Gelüste immer dann bekommt, wenn man vor Nervosität platzen könnte. Als ich meine Frau heiraten wollte und vor der Kirche stand, überkam mich dasselbe Gefühl nach einer Zigarette. Dieser Zwang, mir eine Zigarette zu besorgen und langsam das Nikotin Zug für Zug zu inhalieren. Oh Mann, dachte ich in dem Moment, was würde ich jetzt alles für eine Zigarette geben? Die beiden Männer in der kleinen Nische beobachteten mich, während ich mich nach der Mühe, die das Aufstehen mit sich brachte, streckte. »Guten Tag, die Herren. Hat einer von euch eventuell eine Zigarette für mich? Das Warten macht mich verrückt, und ich hab nun keine Zigarette dabei«, sagte ich lachend. Der Mann mit dem hellblauen Anzug wühlte in seinen Jackentaschen herum und hielt mir kurze Zeit später eine rote Zigarettenschachtel hin. »Ich muss auch immer rauchen, wenn ich auf etwas warte. Es bringt einen um den Verstand«, sagte er lächelnd. Ich bedankte mich mit einem Nicken und einem verstehenden Grinsen. Ich drehte mich um und ging den Gang hinauf, bis ich zu dem Fahrstuhl gelangte, mit dem ich herunterfahren konnte. Ich drückte an der silbernen Tafel neben dem Fahrstuhl den Knopf mit dem Pfeil nach unten. Einige Augenblicke später stand ich auch schon in der Eingangshalle des St.-Stephanus-Krankenhauses, ging an der Rezeptionistin mit einem Lächeln vorbei und passierte die zwei Glasschiebetüren, bis ich auf dem Bürgersteig vor dem Krankenhaus stand und mir endlich die Zigarette anzünden konnte. Der Weg von dem Fahrstuhl bis zu dem Moment, als ich den Genuss einer Zigarette genießen konnte, kam mir vor wie eine Ewigkeit. Jeder Schritt glich einem Kilometer. Ich nahm einen kräftigen Zug aus der Zigarette und genoss die wohltuende Wirkung des Nikotins. Meine Nervosität wich mit jedem Zug, den ich von der Zigarette nahm, immer mehr. Nach zehn entspannenden Zügen war mein kurzes Glück auch wieder verbrannt, und ich drücke die Zigarette am Boden aus. Ich ging zurück zu dem Fahrstuhl. Um in den Flur zu fahren, in dem ich schon so einige Stunden verbracht hatte. Im Fahrstuhl angekommen drückte ich auf die Taste mit der Fünf, neben der Kreißsaal stand. Mein Herz raste immer schneller, je höher wir kamen. Die Wirkung des eben noch so wohltuenden Nikotins ließ schlagartig nach, und meine gewohnte Nervosität kam zurück. Nach qualvollen Sekunden, die sich wie Stunden anfühlten, kam ich endlich im fünften Stock des Krankenhauses an und beschritt den Gang, der zu der kleinen Nische führte, wo die beiden Männer eben noch saßen. Nach wenigen Augenblicken kam ich wieder in der Ecke an, wo mich der Mann mit dem hellblauen Anzug lächelnd erwartete. »Und, hat die Zigarette geholfen?«, fragte er. »Solange die Zigarette an und ich außerhalb des Krankenhauses war, ja. Aber als ich wieder im Fahrstuhl war, war meine gewohnte Nervosität wieder da.« Die beiden Männer mussten lachen, weil es bei ihnen nicht anders war. Ich zwinkerte dem Mann zu und stellte mich auf die andere Seite der Nische, mit dem Rücken an die Wand und mit den Augen auf die gegenüberliegende Wand gerichtet. Dabei fiel mir ein Bild auf, das an der Wand hing. Es war das Bild von Dali mit dem Titel »Laufende Uhren«. Ich konnte mir kein Bild vorstellen, welches besser und gleichzeitig ungeeigneter für diese Situation gewesen wäre. Es symbolisiert die Vergänglichkeit des Menschen, besonders die Potenz der Männer, die Zeitlosigkeit in der Welt und den Zerfall.

Das Bild schaffte es, meine Gedanken zu fesseln. Die Gedanken über den Zerfall und die Vergänglichkeit der Menschen. Aber auch über die Zeitlosigkeit auf dieser Welt. Ich hatte das Gefühl, dass die Zeit am Rennen war, während ich mich auf die laufenden Uhren von Dali konzentrierte. Es fühlte sich an, als ob ich die Uhren um mich herum sehen kann, wie ihre Zeiger nur so rennen und die Zeit im Fluge vergeht. Ich hatte alles um mich herum ausgeblendet und konzentrierte mich nur auf die Uhren und das, was sie mir zu zeigen schienen. Plötzlich riss mich eine Stimme aus den Gedanken, und die Uhren, die mich bis eben noch umgeben hatten, sind in Luft aufgegangen. Ich stand nicht mehr in einem Meer von laufenden Uhren, sondern wieder auf dem Boden des fünften Stockwerks des Krankenhauses. Ich schaute zu meiner Linken und sah, dass die Flügeltür aufging, ein Mann aus der Tür herauskam und einige Schritte später stehen blieb. Weit genug von der Tür weg, dass sie wieder zufallen konnte, aber auch nicht sehr nahe bei uns. Es herrschte ein angenehmer Abstand zwischen dem Arzt und uns. Als ich verstand, dass der Arzt etwas gesagt haben musste, ich dies aber durch meine Gedankenwelt nicht mitbekommen hatte, sah ich zu den beiden Männern, die denselben verwirrten Gesichtsausdruck hatten wie ich. »Herr Jakob. Sie haben eine gesunde Tochter bekommen. Ihrer Frau geht es gut! Herzlichen Glückwunsch. Kommen Sie bitte mit mir, ich möchte sie Ihnen gerne vorstellen«, sagte der Arzt mit einer zum Nachfolgen motivierenden Geste. Der Mann im hellblauen Anzug strahlte von einer Sekunde auf die nächste und ging mit dem Arzt durch die Flügeltür zu seiner Frau und seinem Kind. Als diese sich hinter den beiden schloss, merkte ich, dass meine Nervosität immer mehr in mir anstieg. Um mich abzulenken, beschloss ich, einige Runden im Kreis zu laufen. Ich hoffte, dass dabei die Zeit vergehen würde. Dabei verschloss ich meine Hände hinter dem Rücken und senkte meinen Kopf. Ich ging eine Runde um die nächste. Doch leider verging die Zeit immer noch im Schneckentempo. Je mehr ich wollte, dass die Zeit verflog, desto langsamer wurde sie. Nach gefühlten dreißig Runden kam ich mir wie Dagobert Duck vor, der in seinem Zimmer umherwanderte, bis er Laufrinnen im Boden hinterließ. Bei dem Gedanken drehte ich mich um, schaute auf den grauen Linoleumboden und erkannte, dass ich zum Glück noch keine hinterlassen hatte. Genervt setzte ich mich wieder auf den Sitz, auf dem ich eben schon saß. Ich stieß einen großen und tiefen Seufzer aus, und der Mann mit den Augenringen sah mich an und fragte: »Wie lange wartest du denn schon?«

Ein Blick auf meine Uhr verriet mir, dass wir 17:33 Uhr und 20 Sekunden hatten. »Drei Stunden. Ich hoffe nur, dass bei meiner Frau alles okay ist. Ich mache mir große Sorgen.« »Das wird schon. Meine Frau bekommt heute ihr drittes Kind. Ich bin total stolz auf sie.« Wieder musste ich einen großen und tiefen Seufzer über mich ergehen lassen. Seine Frau bekommt nun das dritte gesunde Kind. Ich wünschte, meine Frau … Bevor ich den Satz zu Ende denken konnte, fragte der Mann mich, wie ich heiße und was denn los sei. »Ich heiße Thomas. Thomas Terenz. Meine Frau Kimberly ist heute das dritte Mal im Krankenhaus. Es zerreißt mir das Herz. Jedes Mal, als sie hier ihr Kind auf die Welt bringen wollte, hatte sie eine Fehlgeburt. Das erste Mal, dass wir hier waren, war vor gut acht Jahren. Sie war Mitte zwanzig und kerngesund. Die Schwangerschaft verlief ohne Probleme. Und dann gab es wohl Komplikationen während der Geburt. Das Baby bekam nicht genug Luft, da die Nabelschnur sich um den Hals meines kleinen Mädchens gelegt hatte, und somit … und somit gab es eine Unterversorgung der Luftzufuhr. Die Ärzte haben versucht, meine kleine, süße Prinzessin wiederzubeleben, aber ohne Erfolg. Ihr kleines Herzchen schlug einfach nicht mehr. Das zweite Mal, als wir hier waren, war vor knapp vier Jahren. Wir waren guter Dinge und hatten gerade die traumatischen Erfahrungen als Paar verarbeitet. Wir gingen zweimal die Woche zur Therapie, zur Trauerbewältigung. Die Schwangerschaft war für uns ein Neuanfang. Bis zur Geburt meines Sohnes. Er verstarb … er … er verstarb direkt nach der Geburt. Er hatte eine Mutation eines lebenswichtigen Organs. Eine sogenannte Trisomie 13, oder wie die Ärzte das auch nennen wollen. Diese wurde zwar schon in der dreißigsten Schwangerschaftswoche entdeckt, und meine Frau war am Anfang innerlich zerstört. Ihr zweites Kind war krank. Der Arzt machte ihr Hoffnung, dass es in Deutschland nur sehr wenige Totgeburten geben würde und dass das Kind sicherlich gut zur Welt kommen würde. Aber unser Sohn würde es nicht leicht haben, versicherte uns der Arzt. Er hätte nur eine kurze Lebenserwartung, aber wir könnten ihm eine schöne Zeit bereiten. Meine Frau war geradezu wild entschlossen dem Kind ein wundervolles Leben zu gestalten. Wir hatten schon das Zimmer für den kleinen Knirps vorbereitet. Und dann starb er. Sie hatte nach der Geburt einen Nervenzusammenbruch. Sie wollte gar nicht mehr rausgehen. Sie aß kaum noch etwas. Manchmal lag sie Tage über Tage nur im Bett und weinte sich die Augen aus. Es brach mir das Herz, meine Frau so leiden zu sehen. Nachdem sie sich etwas gefangen hatte, ging sie zum Arzt, um sich untersuchen zu lassen. Sie verstand es nicht, warum ihre Kinder immer starben. Der Arzt meinte, dass er nicht sicher wäre, ob er den Grund wirklich herausfinden könnte. Er bat uns auch, eine Frauenärztin aufzusuchen. Er hat meiner Frau versichert, alles zu versuchen, um die Fehlgeburten aufzuklären. Er bat meine Frau zu seiner Arzthelferin zu gehen, um ihr Blut abnehmen zu lassen. Die Ergebnisse würden in drei Tagen vorliegen, und wir sollten uns bis dahin keinen Kopf machen. Nach dem Arztbesuch gingen wir nach Hause und meine Frau vereinbarte den schnellsten Termin bei einem Frauenarzt. Die nächsten drei Tage waren die Hölle. Bei jedem Telefonanruf hat sie Dr. Resting erwartet, der ihr ihre Untersuchungsergebnisse mitteilen sollte. Aber die meisten Anrufe waren Werbeanrufe, ob wir Küchengeräte erwerben wollten. Als die drei Tage mit schlaflosen Nächten dann überstanden waren und wir bei Dr. Resting im Sprechzimmer saßen, war Kimberly nervöser als nervös. Sie ging in dem kleinen Sprechzimmer auf und ab und ließ sich kaum davon abbringen, sich nicht aufzuregen, dass der Arzt auf sich warten ließ. Nach gefühlten zehn Minuten kam der Arzt mit einer grimmigen Miene in das Sprechzimmer. Ich sah in das Gesicht meiner Frau, und man merkte, dass eine Tür in ihrer Seele zufiel. Ihr Herz zersprang in eintausend Teile, ohne dass sie wusste, was passiert sein könnte. Der Arzt bat uns, uns zu setzen, als er uns mitteilte, dass meine Frau Translokations-Trisomie 13 habe. Das sei eine Umlagerung eines Chromosoms oder eines Chromatinabschnittes auf ein anderes Chromosom, wobei das Erbgut in einem Gleichgewicht bliebe. Für die betreffende Person bestehen keine phänotypischen Auswirkungen. Es brach eine Welt für meine Frau zusammen. Die Tür, die ich vor dem Gespräch in ihr zufallen sah, glich jetzt einer kleinen Luke. Und es kam noch schlimmer. Einen Tag später hatten wir einen Termin beim Gynäkologen. Nach einem ausführlichen Gespräch über die zwei Fehlgeburten und die Untersuchung des Blutes mit den Chromosomen. Der Arzt war der Auffassung, dass eine erneute Schwangerschaft nicht nur dem Kind, sondern auch meiner Frau schaden könnte. Nach den ganzen Terminen beschlossen wir, das Thema Kinder erst einmal auf Eis zulegen. Vor fünf Monaten hatte meine Frau einen Kontrolltermin zur normalen Untersuchung, bei der herauskam, dass sie erneut schwanger war. Wir suchten nach Erklärungen, wie es trotz der Verhütung zu einer Schwangerschaft hatte kommen können. Die einzig logische Antwort war, dass die Pille wohl nicht geholfen hatte. Und deswegen saß ich heute erneut hier und hoffte, dass meine Frau und mein Kind es schafften.« Bevor der Mann mit den Augenringen, der mir direkt gegenübersaß, antworten konnte, flog die Flügeltür auf, und ein ca. 180 cm großer Mann in einem dunkelblauen Kittel kam durch die Tür mit schnellem Schritt zu mir geeilt. Mein Herz rutschte in den Keller, als ich die Mimik des Arztes zu deuten versuchte. Es war eine Mischung aus Angst und Verzweiflung. Bevor ich mir über die Bedeutung dieses Gesichtsausdruckes richtig klar werden konnte, stand er vor mir und fragte mich, ob ich der Ehemann der Frau Terenz sei. Ich war starr vor Angst und brachte keinen einzigen Laut hervor. Auch konnte ich nicht mit dem Kopf nicken, um dem Arzt zu signalisieren, dass er vor dem richtigen Mann stand. Alles in mir war starr und bewegungsunfähig geworden, und es schien, als hörte kein Muskel mehr auf meine Befehle. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich ein stammelndes und kurzes »Ja« aus meinem Mund pressen konnte. Die tiefblauen Augen des Arztes wurden weicher und mitfühlender, aber auf eine Art mitfühlend, die ich nicht deuten konnte. Er reichte mir seine rechte Hand, nachdem er den Latexhandschuh ausgezogen hatte, damit ich die Hand greifen konnte, um ihm in die Hölle zu folgen. Eine Hölle, in der der Teufel den Namen Schicksal trug und die lodernden Flammen die Gesichter meiner toten Kinder und meiner verzweifelten Frau zeichneten. Ich griff mit zitternder Hand die des Arztes und ließ mich mitnehmen, durch die Tore in die Hölle. Als ich stand und meine ersten vagen Schritte unternahm, hörte ich von dem Mann mit den Augenringen, dass er in Gedanken bei mir sei und mir und meiner Frau alles Gute wünsche. Die wenigen Schritte bis zu der Flügeltür, aus der der Arzt eben gekommen war, fühlten sich wie unendliche Kilometer an. Ein Gang aus Glasscherben, über die man mit nackten Füßen ging. Jeder Schritt fiel schwerer als der andere, und jeder weitere Meter war ein weiterer Stich in mein Herz.

2. Kapitel

Leider wird eine Zunahme von

Träumen mit einem wachsenden

Potenzial an Albträumen bezahlt.

(Sir Peter Ustinov)

Miljana Koleva

Monolog

Alles ist dunkel. Keine normale Dunkelheit. Es ist eine andere, bedrohlichere Art von Dunkelheit. Eine allumfassende schwarze Färbung. Es ist nicht die fleckige Dunkelheit wie die, wenn man plötzlich die Augen schließt und vor dem inneren Auge helle Blitze erscheinen. Ich weiß nicht, wie ich diesen Zustand beschreiben soll. Es macht keinen Unterschied, ob meine Augen geschlossen oder ob sie geöffnet sind. Doch, einen Unterschied gibt es. Wenn ich die Augen schließe, kann ich versuchen mich an meine Familie zu erinnern. An die schönen Tage, an denen ich morgens bei den ersten, wärmenden Sonnenstrahlen aufgewacht bin.

Ich kann mich noch an den schönen Sommermorgen erinnern. Auch an dem Morgen wurde ich von den Sonnenstrahlen geweckt, und ich bin zu meinem Fenster gelaufen, mit meinen halb verschlafenen Augen, und habe meine weißen Vorhänge mit einem kräftigen Ruck zur Seite gezogen, um all die herrlichen Sonnenstrahlen an dem schönen Morgen persönlich zu begrüßen. Man merkte schon am Fenster, dass es ein warmer Tag werden würde. Ich schlenderte zu meinem Kleiderschrank, der gegenüber dem Fenster stand. Ich öffnete die Flügeltüren meines weißen, verspiegelten Wandschrankes, um mich von der Vielfalt meiner Kleider inspirieren zu lassen, in welches ich heute schlüpfen möchte. Nach kurzer Zeit entschied ich mich für das gelbe Kleid, das so gut zu den ebenso gelben, wärmenden Sonnenstrahlen passte, durch die ich an dem Morgen geweckt wurde. Ich hüpfte die Wendeltreppen, ausgelegt mit einem roten, weichen Teppich mit einem Lächeln hinunter und begrüßte meine Mutter, die gerade eine Schüssel mit Brötchen in den Garten brachte. Meine Mutter ist eine warmherzige Frau mit einem sehr großen Herzen. Mein Bruder und ich fanden einmal einen alleingelassenen Hund auf der Straße, die an unsere grenzt. Wir brachten den kranken, traurigen Hund mit nach Hause und meine Mutter erlaubte uns, ihn zu behalten. Wir haben in ihm einen tollen Spielgefährten gefunden. Viele andere hätten ihn nicht zu Hause aufgenommen, doch Mama pflegte immer zu sagen: »Jedes Wesen Gottes hat ein liebevolles und warmes Zuhause verdient.« Sie meinte immer, die Familie sei das Wichtigste im Leben. Ihr war es wichtig, dass wir zusammen unsere Mahlzeiten einnahmen. Bei schönem Wetter aßen wir immer auf unserer Terrasse. Meine Eltern haben erst vor drei Jahren neue Möbel gekauft, weil es zur Tradition wurde, dass wir gemeinsam in der Sonne auf der Terrasse aßen. Es war ein viereckiger Tisch aus feinem Rattan, und die Stühle, die einem Sessel glichen, waren auch aus Rattan und mit einem Kissen aus einem weiß-cremefarbenen Baumwollstoff ausgestattet. Der Tisch stand in der Mitte unserer quadratischen Terrasse, die mit einem bestimmten Holz ausgelegt war. Ich habe jeden Morgen den frischen Wind in meinen Haaren gespürt, der mich sanft umgab. Der Geruch von Rosen und frisch gemähtem Gras der Nachbarn umspielte meine Nase bei jedem neuen Windstoß. Das sind schöne Erinnerungen, doch wenn ich die Augen öffne, ist nichts mehr davon da. Dann habe ich nur noch die Kälte und die Dunkelheit, die mich umgibt. Der Geruch von Rosen wich dem Geruch von Zigaretten und abgestandener Luft. Ich weiß nicht, wieso das alles passiert ist oder warum es mir passiert ist. Aber ich weiß, ich bin nicht die Erste. Ich bin in einem kleinen Käfig gefangen, der keine Chance bietet, sich zu drehen oder sich aufzusetzen. Ich kann nur liegen und warten, wann ich wieder hier rauskomme.

Der eiserne Käfig war gerade breit genug für mich, sodass ich ansatzweise bequem darin liegen konnte. Bis zu den Wänden blieben mir auf jeder Seite höchstens 10 cm. Von der Länge her konnte ich mich nicht beschweren. Der Käfig schien noch sehr viel Spielraum in der Länge zu bieten. Ich war ca. 165 cm groß, und ich berührte noch nicht das Ende der Kiste. Der Boden war mit einem merkwürdigen Stoff ausgepolstert, sodass ich nicht auf dem nackten Boden lag. An der Decke befand sich kein Stoff, da war nur der kalte, schwere Deckel, der sich keinen Spalt öffnen ließ. In dem Deckel waren leichte Kratzer, als ob die anderen Menschen, die hier drin waren, mit aller Gewalt versucht hätten auszubrechen, wohl ohne Erfolg; somit habe ich nach meinen verzweifelten Versuchen, den schweren Deckel meines Käfigs zu öffnen, auch recht schnell aufgegeben. Ich habe versucht, die Kratzer zu entziffern, die in dem Deckel verewigt worden waren. Sie schienen nicht ohne Grund da zu sein, als wäre es eine Botschaft, die ich nicht entschlüsseln konnte. Ich habe nur H. E. L. P. mit vagen Vermutungen erkennen können. Ich fragte mich, warum man HELP in die Decke kratzte. Keiner war imstande, ihr oder ihm zu helfen, der das lesen konnte. Aber was würde ich wohl schreiben? Ich vermutete, nichts anderes. Ich war froh, dass meine Mutter mir Englisch beigebracht hatte. In Bulgarien ist es nicht gang und gäbe, noch Englisch zu lernen. Mein Vater verdiente ganz gut, und daher konnte er mich auf eine bessere Schule schicken. Aber diese würde ich wohl nie mehr besuchen können. Neben dem HELP habe ich noch andere Buchstaben entdeckt.

Ich kannte das Wort nicht und auch keine Abkürzung, weder im Englischen noch im Bulgarischen:

A. P. U. A. Was konnte das nur bedeuten? Nach den hoffnungslosen Versuchen, die Buchstaben Wörtern zuzuordnen, machte ich mir Gedanken, wo der Käfig war, in dem ich mich befand. Durch das Ruckeln, welches ich durch den Käfig noch spürte, konnte ich mich nicht auf festem Untergrund befinden. Vermutlich also ein Lastwagen, ein Transporter oder sogar ein Schiff? Aber das Schiff konnte ich sofort wieder ausschließen, da ich letzten Sommer mit meiner Familie auf einer Kreuzfahrt war, und dort hatte es eher geschaukelt als geruckelt. Das wusste ich noch so gut, weil mir nachts durch das Schaukeln schlecht wurde und ich einige Nächte damit verbracht habe, im Bett zu sitzen und mich zu konzentrieren. Hätte ich mich nicht konzentriert, hätte ich womöglich die Nacht im Bad verbracht. Mein Bruder machte sich sehr große Sorgen um mich und weckte jede Nacht, in der es mir schlecht ging, meine Mutter, die mit meinem Vater eine eigene Kabine bezogen hatte.

So war jede Nacht meine Mutter in meinem Bett, während mein Bruder bei meinem Vater schlief. Meine Mutter saß mit mir auf dem 200 cm × 220 cm großen Bett, welches an der einen Wand der Kabine stand, von der auch die Tür ins Bad abging. Das Zimmer war ca. 16 m² groß, da jede Wand die gleiche Länge zu haben schien und das Bett zwei Meter und zwanzig Zentimeter einnahm und die Tür ins Bad noch einmal ca. einen Meter. Die Wände waren in schlichtem Weiß gehalten und rechts von dem Bett mit zwei Bullaugen versehen. Der Boden war mit flauschigem Teppich ausgelegt, den man auch mit nackten Füßen betreten konnte. Wie weich der Boden war, konnte ich jeden Tag nach dem Duschen feststellen, wenn ich mit nackten und noch nassen Füßen über den Teppich schlurfte. Es war vollkommen egal, welches Wetter draußen tobte, der Teppich wärmte meine Füße und gab mir ein angenehmes und wohliges Gefühl. Diese Erinnerungen trieben mir ein wärmendes, wohlwollendes Gefühl in den Bauch und zauberten mir trotz meiner scheinbar hoffnungslosen Situation ein kleines Lächeln auf die Lippen.

Doch nun ist der Wunsch noch größer, dass ich wieder bei meiner Familie wäre, die sich sicherlich große Sorgen um mich macht. Meine Mutter bekommt bestimmt einen Nervenzusammenbruch. Und meine kleiner Bruder … Sie überlebt das nicht, wenn ich weg bin. Ich möchte wieder in die Arme meines Vaters und seine Stimme hören. So einfache und bescheidene und doch so weit entfernte Wünsche, wie es mir scheint. Ich möchte gerne wissen, wieso ich hier bin, was die Menschen mit mir vorhaben und warum ausgerechnet mir das passiert. Ich habe doch nichts falsch gemacht, ich war doch immer eine gute Tochter, eine gute Schülerin. Ich hab das nicht verdient!

3. Kapitel

Glückliche Familien sind alle gleich,

jede unglückliche Familie ist auf

ihre eigene Weise unglücklich.

(Leo Tolstoi)

Thomas Terenz

Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Ein Gedanke wurde schneller durch einen neuen ersetzt, als er in Ruhe durchdacht werden konnte. Es war, als würden Erinnerungsstücke kurz eingeblendet werden. Nicht schnell genug, um sich genau daran erinnern zu können, wo die Erinnerung genau herkam, aber lang genug, um zu wissen, dass man das schon einmal erlebt hatte. Diese ganzen verschiedenen Eindrücke, die in mir in Sekundenschnelle wechselten, machten mich schwindelig. Je mehr Bilder in meinen Kopf kamen und je mehr Gedanken durchschossen, umso wackliger wurde ich auf den Beinen. Ich fing an zu taumeln und konnte mich kaum noch aufrecht halten. Alles um mich herum drehte sich im Kreis. Das, was eigentlich oben sein sollte, war plötzlich rechts neben mir und Sekunden später unter mir und dann wieder über mir. Das Taumeln wurde wohl immer schlimmer. Ich reagierte auf nichts mehr. Ich nahm nichts mehr wirklich wahr; weder den Schrei des Arztes nach einer Schwester und einem Rollstuhl noch die Patienten und Schwestern, die mich umgaben, oder das klirrende Geräusch, das ich erzeugte, als ich ein Tablett vom Tisch zog, an dem ich mich versuchte festzuhalten, als meine Beine mich nicht mehr tragen wollten. Und plötzlich wurde alles schwarz.

»Herr Terenz, verstehen Sie mich?«, fragte der Arzt mit besorgter Stimme, die mir meilenweit weg schien. Wie ein entfernter Ruf, der nur durch ein Echo leise an mich herangetragen wurde. Das Gefühl der wackligen Beine, die meinen Körper nicht mehr tragen konnten, war auf dem Weg, dem Gefühl der möglichen Sicherheit zu weichen. Der erste Versuch, meine Augen zu öffnen, misslang mir. Die Augenlider fühlten sich an, als hängen Gewichte daran, die das Öffnen unmöglich machten. Nach einigen weiteren Versuchen gelang es mir, die Gewichte abzuwerfen und meine Augen zu öffnen. Alles vor meinen Augen war verschwommen, wie in einem 3D-Film, den man versucht ohne 3D-Brille zu sehen. Alle Menschen um mich herum waren nur schemenhaft zu erkennen. Es dauerte einige Momente, bis das verschwommene, schemenhafte Bild langsam besser wurde. Ich erkannte den Arzt. Es war der, der mich an seine Hand nahm, um mich dem Teufel persönlich auszuliefern. Die Frau daneben kam mir nicht bekannt vor. Sie war ca. 170 cm groß, hatte einen weißen Kittel an, und neben ihr stand ein schwarzer, lederner Rollstuhl, den sie mit der rechten Hand festhielt. Es schien ein älteres Modell zu sein, das Leder wies Abnutzungsspuren auf. Es hatte an einigen Stellen leichte Risse bekommen, und das Metallgerüst hatte schwarze Spuren und einige Dellen, die wohl von Zusammenstößen mit Wänden kamen. Mein Blick wanderte durch den Raum. Es war ein großer Bereich des Flurs, durch den ich eben noch ging. Ich sah eine Sitzecke, die eine Art Couch aufwies. Die Couch hatte ein helles Holzgestell, vermutlich von einer Buche, und war mit hellroten, leicht ausgewaschenen Bezügen versehen, die sowohl auf der Sitzfläche als auch an der Lehne zu finden waren. Es schien mir, als wäre ich nicht mehr im Krankenhaus, sondern bei meiner Mutter. Die hellgelbe Farbe an der Wand, die sich zu meiner Linken befand, der gräuliche Linoleumboden unter mir und die Sitzecke mit den ausgewaschenen roten Bezügen erinnerten mich an meine Kindheit. Es schien mir, als wäre ich wieder zwölf Jahre alt und im Wohnzimmer bei meiner Mutter. Wir hatten im Wohnzimmer einen ähnlich gräulichen Linoleumboden, der mit kleinen grünen Punkten versehen war. Fast so klein, dass sie mit bloßem Auge von Weitem nicht einzeln zu erkennen waren, und mit so einer Häufigkeit pro Platte vertreten, dass sie nicht zu zählen waren. Ich verbrachte eine Vielzahl von Stunden damit, auf dem Boden zu liegen und die einzelnen Punkte zu zählen. Doch jedes Mal zählte ich eine andere Anzahl. Es war eine Herausforderung, die Punkte zu zählen, während meine Mutter auf einer hellroten Couch saß und mich dabei beobachtete, wie ich langsam an der mir selbst aufgetragenen Aufgabe immer mehr zu verzweifeln schien. Immer als ich kurz vor dem Aufgeben stand, reichte meine Mutter mir ein großes Glas mit Milch und einen kleinen Teller selbst gebackener Kekse. Ich liebte es, mit meiner Mutter Kekse zu backen. Sie hat immer so getan, als würde sie nicht sehen, wenn ich versuchte so heimlich wie möglich an den Teller mit rohem Teig zu schleichen, um mir etwas davon zu klauen. Das war immer das Beste am Plätzchenbacken. Der rohe Teig, von dem meine Mutter immer sagte, dass man davon Bauchweh bekäme. Irgendwann fand ich heraus, dass sie das nur sagte, damit sie mehr zum Naschen hatte. Wenn der Teig ausgerollt war, holten wir die verschiedenen bunten Ausstechformen aus dem oberen Schrank in der Küche, und ich durfte mir dann die Formen aussuchen, die die Plätzchen bekommen sollten. Meine Lieblingsformen waren die zwei verschiedenen Sterne und der Tannenbaum. So gab es bei uns auch im Hochsommer tannenbaumförmige Kekse. Selbst als ich schon viel älter und von zu Hause bereits ausgezogen war, kam ich jeden Sonntag zum Essen und zum Plätzchenbacken, und immer noch naschte ich vom Teig, während meine Mutter mir erklärte, dass man von rohem Teig Bauchschmerzen bekäme. Den Sonntag darauf gab es dann immer zum Nachtisch diese Plätzchen.

»Herr Terenz! Können Sie sich aufrichten? Haben Sie irgendwo Schmerzen?«, fragte der Arzt und riss mich aus meinen schönen Erinnerungen an die Plätzchen und das große Glas Milch, welche meine Mutter mir mit Liebe hingestellt hatte, damit ich die Geduld wiederfände. Ich sah den Arzt an und verstand noch nicht richtig, was passiert war. Ich erblickte den ersten Ansatz eines Lächelns in seinem Gesicht, und er reichte mir erneut seine Hand, um mir aufzuhelfen.

»Danke sehr«, sagte ich, während ich mir helfen ließ und langsam wieder auf meinen Beinen stand, die mich ebenso kläglich im Stich gelassen hatten. »Mir geht es gut, ich hab mir wohl nichts getan. Nur kann ich mich bloß noch daran erinnern, dass wir durch die Tür gingen und mir plötzlich schwindelig wurde und ich mich nicht mehr auf meinen Beinen halten konnte«, erklärte ich dem Arzt, während ich von meiner Jeans den Staub und den Dreck abzuschütteln versuchte.

»Als wir gerade durch die Tür gingen, wurden Sie immer langsamer und blieben immer mehr zurück. Ich drehte mich zu Ihnen um und bemerkte, dass Sie taumelten. Ich rief eine Schwester, doch bevor diese reagieren konnte, waren Sie zu der Sitzgruppe getaumelt und haben dort ein Tablett heruntergeworfen. Und bevor wir etwas machen konnten, waren Sie auch wieder bei uns. Und wenn es Ihnen gut geht, möchte ich mich, ohne dass ich drängeln möchte, gerne wieder mit Ihnen auf den Weg zu Ihrer Frau machen. Frau Terenz erwartet Sie schon.«

Der Satz »Ihre Frau erwartet Sie schon« hatte einen erstaunlichen Effekt. Alle leichten Beschwerden und meine ganze Unsicherheit waren wie weggezaubert. Es ging um meine Frau, die Frau, die ich über alles liebe, und um mein Kind, falls mein Kind das überlebt hatte. Meine Augen wurden immer größer, je mehr ich daran dachte, dass meine Frau unser Kind gesund geboren haben könnte. Dieser einfache, aber elementare Gedanke wirkte wie ein Motor für meine Beine. Sie setzten sich schneller in Bewegung, als ich mir nach meinem Zusammenbruch vorstellen konnte, und eilten, nein, rasten auf den Arzt zu. »Bringen Sie mich bitte zu meiner Frau!«, bettelte ich ihn mit großen Rehaugen an. Meine Frau sagt mir immer, wenn ich etwas von ganzem Herzen möchte, kann ich meine sonst sehr kalten und rationalen braunen Augen in liebliche und flehende Rehaugen verwandeln, mit denen ich alles bekommen kann, was ich möchte. Als wir vor neun Jahren unser Haus gekauft haben, wollte ich unbedingt die dunkelbraunen Massivholzdielen für das Wohnzimmer haben. Meine Frau fand diese Dielen absolut unansehnlich und ganz und gar abscheulich. Sie meinte, dass diese nicht zu der Couchgarnitur passen würden, die wir uns drei Tage vorher gekauft hatten. Wir haben uns in einem Designergeschäft beraten lassen und uns nach etlichen Stunden für eine weiße Ledercouch entschieden, die kleine, in Silber lackierte ovale Füße hat: Ich fand, dass die Dielen perfekt zu der Couch und zu den anderen Möbeln passen würden. Ich benutzte meine einzigartige Gabe und schaute meine Frau mit meinen großen Rehaugen an, als es um die Entscheidung des Fußbodens ging, und nach einigen Momenten, in denen ich meine Frau mit meinen Augen gefangen gehalten habe, lenkte sie schließlich ein und hat mich meine dunkelbraunen Massivholzdielen kaufen lassen. Als diese verlegt waren und alles stand, gab sie auch kleinlaut zu, dass der Dielenboden wirklich gut zu allem passen würde. Ich grinste wie ein Weltmeister, der gerade eine weitere Goldmedaille gewonnen hatte.

Das Seufzen des Arztes riss mich erneut aus meinen Gedanken. Ohne eine weitere Minute verstreichen zu lassen, machten der Arzt und ich uns auf den Weg zu meiner Frau. In meiner Eile habe ich ihn ganz vergessen zu fragen, wie es ihr denn ginge. Wir eilten den Weg entlang und kamen einige wenige Sekunden später an der Tür an, hinter der meine Frau lag. Ich wusste, dass gleich all meine Fragen eine Antwort finden würden. Die Frage, wie es meiner Frau geht, und vor allem, lebt mein Kind, oder ist mein drittes Kind auch …? Nein, der bloße Gedanke an das Unheil ließ alles in mir verkrampfen. Meine Beine wurden wieder weich, und wieder schossen mir Tausende Gedanken durch den Kopf. Ich ging einen Schritt näher auf die Tür zu. Währenddessen drehte ich meinen Kopf nach links und sah über meine linke Schulter zu dem Arzt.

»Danke Doktor«, sagte ich mich mit einem aufgesetzten Lächeln, welches wohl sehr künstlich aussah. »Auf geht es. Das ist also nun der Eingang zum Fahrstuhl, der in Sekundenschnelle entscheidet, ob es in den Keller, Richtung Hölle, geht oder ob der Fahrstuhl hochfährt in den Himmel«, erklärte ich mir selbst. Der Arzt schien wohl durch die ganzen Umstände, die Nervosität von mir, die bis zum Zusammenbruch geführt hatte, vergessen zu haben mir mitzuteilen, was nun mit meinem Kind passiert sei. Sehr unprofessionell, dachte ich mir, während ich meinen Kopf wieder zur Tür drehte, nachdem der Arzt in den langen Fluren des Krankenhauses verschwunden war. Na ja, dachte ich mir, finde ich es selbst heraus. Noch einmal tief ein- und ausatmen, bevor ich die Klinke in die Hand nehme, nach unten drücke, dann mit einem leichten Druck aufstoße und schon im Fahrstuhl stehe, der sich gerade dann entscheidet, in welche Richtung es gehen soll.

Ich sah mich beängstigt auf dem Gang um. Ich wusste nicht, was ich zu finden glaubte. Einen Grund, die Tür nicht zu öffnen, einen Hinweis, in welche Richtung der Fahrstuhl fahren würde? Ich wusste es selbst nicht. Eventuell war es einfach ein banaler Grund, um Zeit zu schinden, damit ich meinem Herzen noch etwas Ruhe gönnen konnte, das immer schneller schlug, je länger ich vor der Tür stand, die in das Zimmer meiner Frau führte. Ich legte meine zitternde Hand auf die Klinke, und mein Herzschlag erhöhte sich auf mindestens einhundertsechszig. Ich hatte Angst, dass mein Herz aus meiner Brust springen würde, so nervös war ich. Ich weiß nicht, wie lange meine Hand auf der Klinke lag, bevor ich mich traute sie nach unten zu drücken. Während ich die Tür mit einem leichten Druck aufschob, lief mir eine Schweißperle die Stirn herunter. Ich weiß nicht, ob das Öffnen der Tür mich nun restlos überfordert oder die Nervosität ihren Höhepunkt erreicht hatte. Als die Tür sich einen Spalt geöffnet hatte, war es zu spät, um einen Rückzieher zu machen. Mit dem Rest meines Mutes und meiner Energie legte ich mehr Kraft in das Aufdrücken hinein und überschätzte das Gewicht der Tür. Ich hatte viel zu viel Kraft reingelegt, verlor leicht das Gleichgewicht und stolperte in das Zimmer meiner Frau. Ich richtete mich auf und sah auf das Bett, in dem meine Frau lag und mein Kind …