jean
paul

Sämtliche
Werke

jean paul

Grönländische Prozesse oder Satirische Skizzen

Auswahl aus des Teufels Papieren nebst einem nöthigen Aviso vom Juden Mendel

Die unsichtbare Loge (Mumien), Eine Lebensbeschreibung

[darin: Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal]

Hesperus oder 45 Hundposttage, Eine Lebensbeschreibung

Leben des Quintus Fixlein aus funfzehn Zettelkästen gezogen; nebst einem Mußteil und einigen Jus de tablette

Biographische Belustigungen unter der Gehirnschale einer Riesin

[darin: Satirischer Appendix]

Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs

Der Jubelsenior, Ein Appendix

Das Kampaner Tal oder über die Unsterblichkeit der Seele nebst einer Erklärung der Holzschnitte unter den 10 Geboten des Katechismus

Palingenesien

Jean Pauls Briefe und bevorstehender Lebenslauf

[darin: Konjektural-Biographie]

Titan

Komischer Anhang zum Titan

[darin: Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch]

Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana (Anhang zum I. komischen Anhang des Titans)

Das heimliche Klaglied der jetzigen Männer; eine Stadtgeschichte und Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht

Vorschule der Ästhetik nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit

Flegeljahre, Eine Biographie

Freiheits-Büchlein; oder dessen verbotene Zueignung an den regierenden Herzog August von Sachsen-Gotha; dessen Briefwechsel mit ihm; – und die Abhandlung über die Preßfreiheit

Levana oder Erziehlehre

Friedens-Predigt an Deutschland

Dämmerungen für Deutschland

Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz mit fortgehenden Noten; nebst Der Beichte des Teufels bei einem Staatsmanne

Dr. Katzenbergers Badereise nebst einer Auswahl verbesserter Werkchen

Leben Fibels, des Verfassers der Bienrodischen Fibel

Museum

Mars’ und Phöbus’ Thronwechsel im Jahre 1814, Eine scherzhafte Flugschrift

Politische Fastenpredigten während Deutschlands Marterwoche

Über die deutschen Doppelwörter, eine grammatische Untersuchung in zwölf alten Briefen und zwölf neuen Postskripten

Der Komet oder Nikolaus Marggraf, Eine komische Geschichte

Selberlebensbeschreibung

Selina oder über die Unsterblichkeit der Seele

Für Marcus C.

Jean Paul

Biographische Belustigungen unter der Gehirnschale einer Riesin

(1796)

inhalt

Vorrede

Biographische Belustigungen unter der Gehirnschale einer Riesin Eine Geistergeschichte

Erste biographische Belustigung Die bleierne Jungfer Europa – das Schlachtfeld – die Melancholie – der Frühling.

Zweite biographische Belustigung Die Jungfer Europa – Baurede

Dritte biographische Belustigung Anfang der Historie – die magnetische Hand – das mütterliche Gespräch – das Echo bei Genetay

Vierte biographische Belustigung Der Tod

Fünfte biographische Belustigung Trauer einer guten Tochter – Neujahrstag – Derbystoner-Vase – Zweck der Ehe – Argwohn

Sechste biographische Belustigung Der Vor-Frühling – Echo-Dreiklang – der Honig-Essig der Widersprüche der Liebe – unsre Armut an Liebe

Satirischer Appendix

Vorrede zum satirischen Appendix, oder Extrakt aus den Gerichtsakten des summarischen Verfahrens in Sachen der Leser, Klägern, contra Jean Paul, Beklagten, Satiren, Abhandlungen und Digressionen des letztern betreffend.

Erster Appendix Die Salatkirchweih in Obersees, oder fremde Eitelkeit und eigne Bescheidenheit

Vorrede

Ich schreibe sie bloß, damit man nicht das erste Kapitel für eine nimmt und nicht dieses überhüpft, sondern diese Vorrede. Denn ich habe nichts darin zu sagen als sechs kurze Gedanken – und kaum diese – und das Datum.

1) Spießens Münzbelustigungen, Rösels Insektenbelustigungen und der Patienten Brunnenbelustigungen sind nicht nur die Vorgängerinnen und Muster der gegenwärtigen biographischen, sondern auch die (metaphorischen) Bestandteile davon.

2) Der Rest des Titels wird im zweiten Kapitel schön erklärt und gerettet.

3) Zuweilen kommen in den besten Menschen und Autor und in die Werke von beiden auf eine ebenso unbegreifliche Weise Herzpolypen und Gries und Gallensteine hinein als in weißen Marmor und feste Stämme lebende – Kröten; man sollte aber über die Kröten lieber natur-historisch nachsinnen als inquisitorisch aburteln, sonst wird man ein Infinitesimalteilchen des Pöbels, der Kröten nur für kleinere Hexen und Teufel hält.

4) Der sogenannte Appendix dieses Buchs, der die Salat-Kirchweih von Obersees beschreibt, ist wegen seines satirischen Grundtons und Musikschlüssels zwar für Leser – und wenig für Leserinnen – gemacht; indessen ist doch eine schöne Geschichte darein verwoben, die es wohl verdient, daß man sie herauszieht.

5) Im Alter werfen sich zwar Menschen und Hölzer krumm; ich aber werde und gehe in Schriften immer mehr gerade und mache wenig Ausschweifungen mehr, die gedruckt werden.

6) Möge der Leser im Buche entweder Erinnerungen oder Hoffnungen antreffen, um sich (wie der Verfasser) wechselsweise durch die einen für die andern zu entschädigen. – Denn wir genießen alle nur aus beiden, und gleich den Nachteulen sehen und fliegen und jagen und haschen wir nur in beiden Dämmerungen.

Hof im Voigtlande, den 24. Febr. 1796 (d. h. am Schalttage, an dem man, weil er an die 365 andern Schalttage und an unser Transito-Leben und an das dissonierende Intervall von 70 Jahren erinnert, wohl etwas Größers machen sollte als eine kleine Vorrede, die ja – ungleich der Präfation unsers Lebens – zu keiner größern Belustigung führt als zur folgenden biographischen: – –)

Jean Paul Friedrich Richter.

Biographische Belustigungen
unter der Gehirnschale einer Riesin

Eine Geistergeschichte

Erste biographische Belustigung

Die bleierne Jungfer Europa – das Schlachtfeld – die Melancholie – der Frühling.

Auf der Chaussee, den 28. April 1795.

Auf nichts ist die Welt in Büchern so erpicht als auf das, wovor ihr auf den Theatern so ekelt – aufs Erzählen. Der Leser hat sich kaum in sein Schlaf-, Lese- und Schreibkanapee gesetzt und ich mich in meinen Reisewagen: – sofort soll ich eintunken und meine Historie anfangen. Ich beteur’ es ihm, ich erzähl’ ihm eine – und die außerordentlichste dazu; – aber hier auf dem Schreibetische des Reisewagens ist nicht daran zu denken: es muß abgewartet werden, bis ich die erste biographische Belustigung zu Ende gebracht, die nicht länger währen kann als der Weg nach Waldkappel. Bin ich freilich in diesem Lustschlosse, das prächtig wie ein Obeliskus in der Schultheißerei Neuengleichen steht, übermorgen ausgestiegen: so setz’ ich mich – ich verpfände mein Ehrenwort darauf – nieder und erheitre mein Auge an den entfalteten Pfauenspiegeln der Auen, an der Goldlasur des Horizonts und an den kouleurten grünen und weißen Lustfeuern des so eilig abbrennenden Frühlings und zeichne dann, mitten in diesen Lichtern, der Nachwelt die sonderbare Geschichte des vorigen Winters ab, die man schon im ersten Kapitel verlangte. Ich könnte sie auch unmöglich hier im Fürstentume Flachsenfingen, wo ich fahre, schon geben, hier, wo ich noch alle Gerüste, Kulissen und Opernkleider der ausgespielten Szenen samt dem eng zusammengerollten Theatervorhang der vergangnen Zukunft um mich sehe. Ach ich dürfte ja nur das Wagenfenster niederlassen und hinausschauen: so würde der Wagen gerade vor der Stätte vorüberrollen, wo meine Seele in dem Erdbeben zitterte, von dem meine Feder, wie ein von Salsano in Neapel erfundner Erdbebenmesser, die Richtung, die seine Stöße nahmen, jetzt auf dem Papiere nachmalt!....

Solang’ ich fahre, schreib’ ich oder schlaf’ ich: denn unter der ganzen Fahrt kömmt der Wagenfenster-Vorhang nicht weg, und ich werfe keinen Blick hinaus; und das bloß deswegen:

Es ist aus astronomischen Gründen erweislich – im Grunde darf man nur die Augen auftun –, daß in Flachsenfingen heute, den 28sten April, wo ich abreisete, die dekollierte Allee noch aussah wie abgewetzte Besemen, womit der Winter den Frühlingshimmel rein gefegt – daß der Hofgärtner noch alle Gemüser aus den Mistbeeten liefern mußte – und daß die Wiesen, wodurch ich diesen Morgen kam, nichts Bessers waren als lebendige Herbarien mit der aufgeklebten falben flachsenfingischen Flora; die Faun ist noch nicht einmal aus der Erde. Das ist nun besser, als ich mirs wünschen konnte.

Denn in Waldkappel, wohin ich übermorgen gebracht werde, ist dafür schon ein ganzer voller lichter Frühling wie eine Sonne aufgegangen, der die dasige Natur mit Brautnächten und Schöpfungstagen überhäuft: alles quillt, blüht, schillert und singt schon dort. Ich kann also, wenn ichs recht mache, aus dem flachsenfingischen braun-gegitterten Sparrwerk des Lenzes auf einmal in den ausgebauten blendenden Sonnentempel desselben treten. Und zu diesem Zwecke wird die erste Belustigung geschrieben; und ich bitte die guten Leser, es gern zu sehen, daß ich mir die Langeweile der drei Tag- und der zwei Nachtreisen dahin, die ich völlig eingemauert unter der Himmelhaut der Kutsche versitze, durch schönes Ausschweifen und Sprechen mit ihnen verkürze: ihnen kömmts ja auch zustatten, wenn ich nachher den Frühling prächtiger nachsteche. Welch ein einfältiger Mann müßte überhaupt der sein, der unter dem Fahren aus dem Wagen gucken und sich von den Ländern, wodurch er rollt, den Frühling heft- und scheibenweise in den Schoß wollte schneiden lassen – zuerst Grasspitzen – dann Staudenblätter – dann sechs gelbe Schmetterlinge und ebensoviel gelbe Blumen – und endlich mehrere grüne Birkengipfel als Bier- oder Birkensaftzeichen! Könnte denn ein solcher Mann nicht bedenken, es sei kein Unterschied, ob er sich von der Zeit oder dem Raum den Frühling wie einen zerlegten Gliedermann Glied vor Glied zubröckeln lasse? – Beim Himmel! die Natur soll übermorgen wie eine riesenhafte Göttin mit allen ihren Strahlen, Adern, Reizen und Girlanden Knall und Fall aufrecht vor mir stehen, und ihren Schleier sollen Frühlingslüfte weit aufheben und über mich wegwehen: ich werde schon zu seiner Zeit, wenn mirs zuviel wird, erblinden und umfallen. – –

Solange Schnee fällt, will der Mensch alle vier Welt-Ecken bereisen; – bricht aber das Frühjahr an, so schlägt er zwei seiner besten Vorsätze aus der Acht, erstlich den, früher aufzustehen, und zweitens eben den obengedachten. Ich bin – das sieht Europa – anders und reise jährlich. Aber in diesem Jahre ist noch dazu der Fall dringend.

Es ist nämlich wenigen Menschen in Deutschland unbekannt, daß ich in der Stadt Flachsenfingen im Schlosse des Fürsten wohne, und zwar (in gewissem Sinn) als apanagierter Prinz: ich darf das bei Deutschen voraussetzen, da ich in den Hundsposttagen, deren Ballen vielleicht heute (den 28sten April) ohne mein Wissen neben ihrem Verfasser vorbei und auf die Ostermesse fahren, über meine wichtigsten Personalien deutlich genug herausgegangen bin. Nun wurzl’ ich hier am Throne und Hofe, wo man alles in der Welt bequemer machen kann als ein Buch. Man hat keine Zeit – kaum erübrigt man soviel, um noch etwas Wichtigers zu machen, nämlich so viele Besuche wie ein Arzt, deren z. B. der Arzt Antonio Porcio in Neapel täglich dreihundert ablegt. Ich ging also meinen Herrn Vater – ich will Se. Durchlaucht so nennen – um eine Dispensation von der Hoftrauer, d. h. um die Erlaubnis an, nach seinem Lustschlosse Waldkappel zu reisen und da im blühenden singenden Freudenhimmel – worein ohnehin so wenig einer vom Hofstaat will als in den künftigen – das Frühjahr einsam zu verschweigen, d. h. zu verschreiben. Denn in der Tat, da will ich eben gleich der webenden Gartenspinne unter freiem Himmel, und von nichts eingeschlossen als von Blüten, wieder mein biographisches Weberschiff durch historische Fäden werfen. Wahrlich, ich kann nicht genug schreiben, nicht einmal für mich selber; so viel lieset heutigestags ein Mensch.

Aber auch ohne Dintenfaß und Federbüchse hätt’ ich nach Neuengleichen fahren müssen, schon bloß des Frühlings wegen: denn hier denke man nur nicht daran, nur in einen Gießbach oder in ein grünes Kabinett auf eine gescheute, d. h. gerührte Art hineinzusehen, ich meine hier unter den durch Glanzpressen und Druckwerke schlank und fein gezognen Hoffiguren, die die Nudelmaschine dieses Säkuls wie Nürnberger Makkaroni in Kellern als zartes Gewürm ins Leben drückte. Ich besiegt’ es hier mit meinem Ehrenwort, wir warten es allemal ab, bis die Blütezeit in etwas verstrichen ist; dann nehmen wir Pferde und eilen sämtlich in die englischen Anlagen, Villen und Lusthölzer hinaus – dann durchziehen wir in geselligen Marschsäulen die Einsiedleien oder Solituden und suchen, ohne den Transitozoll des Ennui zu umfahren, durch unsern gemeinschaftlichen Genuß das Vorurteil zu schwächen, als ob Höflinge, Damen und Leipziger Lerchen madig würden, wenn sie so gepackt sind, daß sie einander berühren – und endlich schießen wir uns aus den 24 Stunden eines astronomischen Tages gerade die wenigen freien zum Promenieren aus, die zwischen das Dinieren und Spielen fallen. Es würde alles noch besser genossen werden, wenn das Herz des einen und des andern nicht so eng zusammengezogen und eingeschnürt würde durch etwas, was seine Pflicht ist – so eng, daß er in seinen Herzkammern kaum für eine fremde Blume, geschweige für eine ganze Abendsonne, oder eindringende Frühlingswelt, oder gar für einen vollen Sternenhimmel Platz zu machen imstande ist – und dieses pflichtmäßige Etwas, was man ihm ansinnen kann, ist jenes Kaimans-Lauern auf die kleinste moralische Lücke und Blöße, die entweder ein Fürst oder seine Diener geben, und die stets von Bedeutung ist, weil alsdann entweder in den erstern der Saug- und Legestachel, oder in die andern der Giftstachel eingesetzt werden kann. Etwas Ähnliches findet sich – wie ich in Krünitz lese – auf Madagaskar, nämlich ein Insekt, namens Akadandef, das, gleich unsern Roßbremsen, über den Tieren dem Augenblicke des Stallens auflauert, um sofort in ihre Eingeweide zu schleichen, die es zernagen will. Der beste Fürst kann zugleich der Erbfeind, der Augenzeuge und der Blutzeuge oder Märtyrer eines Akadandefs sein. –

Es ist lächerlich; aber ich lasse mir doch jetzt aus einem Gasthofe außer meinem Gouter ein Licht in meinen Wagen geben, weil es hier bei mir wie bei Tal-Insassen früher finster wird. Bei solchen Verleugnungen und Absichten konnt’ ich daher einem blumigen Kammerherrn – sonst dem glatten Stockknopf des ganzen Kammerherrn-Stabs – unmöglich willfahren, als er mich sonntags anlag, unterweges in Wirzburg auszusteigen und beim Guardian des Minoritenkloster, P. Bonavita Blank, einzusprechen, der die ganze Natur von jedem Bergkessel bis zu jedem Blumenkelch zu seinem Färbekessel und Schmuckkästchen macht. Dieser malerische Pater (das hab’ ich auch von andern, die alles gesehen) malt oder schafft seine Landschaften nicht aus oder mit Farbenkörnern, sondern aus oder mit ordentlichen Sämereien, gleichsam aus der Musaik des Ewigen – die Vögel aus ihren eignen Federn – Weiberschuhe aus Tulpen-, nicht Schuhblättern – den Staubbach aus Moosen – das Abendrot aus herbstlichem roten Laube – kurz die große Natur aus der kleinen. – – »Der größte Maler,« (sagt’ ich ernsthaft zum Kammerherrn) »den ich je in diesem Fache noch gesehen und dessen Stücke der Minoriten-Guardian vielleicht in der Schweiz oder in Franken zu studieren Gelegenheit gehabt, dieser Maler, der imstande ist, zu Waldungen keine kleinere trockne Tusche zu nehmen als ganze Fichtenbäume und zu Gebirgen Felsen, zu Menschen Erdschollen und Äther, zu Himmeln Sonnen, dieser Artist, Herr Kammerherr, bei dessen Blättern ich Sie einmal vorzutreten rate, das ist unser Herr Gott.«

Jetzt leg’ ich mich an den Seitenpolster und schlaf’ ein und aus.

Den 29. April.

Ich gehe jetzt durch den Morgenglanz, und aus dem kalten blauen Himmel quillt eine länderbreite Flut von stählenden Frühlingslüften nieder, dringt in Tropfen durch meine Wagenfugen und badet meinen heißen Mund – die Lerchen fahren in ganzen Singschulen, gleichsam mit den Flügeln prall-trillernd, vor meinem Kasten empor, und überall schlägt ein frisch aufgequollnes Lebensmeer über meine Täucherglocke zusammen. – Aber ich muß jetzt die Feder wegwerfen, sonst nötigt mich meine vorlaute durstige Natur, nach nichts zu fragen und die Fenster einzustoßen und auf den guten Frühling mit meinen Blicken loszufahren, eh’ er sich nur halb in die Kleider geworfen....

Schon an der gekerbten, schartigen Straßen-Treppe vermerk’ ich, daß wir jetzt über die flachsenfingischen und **lichen Herkulessäulen heute nacht hinausgekommen sind. Auch werden die Gegenden immer wärmer. Denn Waldkappel liegt sehr südostöstlich.... Beiläufig! ich werde doch nicht zu besorgen haben, daß irgend jemand (etwan ein Ausländer) mein Waldkappel mit einem ganz andern, in der Landschaft an der Werra belegnen Waldkappel vermenge, oder meine Schultheißerei Neuengleichen darneben mit einer Namensbase in Katzenelnbogen? Die beiden Ortschaften, die Sr. Durchlaucht gehören, liegen ja an- und ineinander, aber die zwei andern gleichnamigen bekanntlich nicht. Ich hoffe überhaupt, daß niemand einen dermaßen abbrevierten Kursus in der Erdbeschreibung absolviert hat, daß er nicht weiß, wie sehr das Fürstentum Flachsenfingen, gleich dem niederrheinischen Kreise oder gleich Abdera, fast in alle deutsche Kreise verzettelt und zerworfen ist.

Eben läuten die vorübergetragnen Viehglocken die lärmende Messe des Tages ein – die Hirten klatschen – Rebhühnervölker knattern wie Raketen auf – mein Sattelgaul wiehert zu dem unten in den Wiesen naschenden Marstall hinab – betaute Äste schlagen, vom Kutscher abprallend, an den Wagen – und alles lärmt und lebt.

Es ist dem Publikum nicht zu verdenken, wenn es jetzt hofft, ich werde meine Zeichnungsmaschine mit dem Transparentspiegel aufsetzen und ihm damit einen vorläufigen Umriß von Waldkappel geben; aber ich war noch nicht dort und kann also nichts davon liefern als statt der Gemälde Aussagen. Was ich vernommen habe, ist, daß die Gegend sehr reizend ist und daß die Jungfer Europa darin steht. Von dieser Jungfer, auf die ich mich sehr freue, erstatt’ ich für die, die nicht in Flachsenfingen wohnen (wer es schon weiß, überschlägt es), folgenden Bericht:

Mein Großvater, regierender Fürst von Flachsenfingen, der ein bekannter lebenslanger Rival von Hessenkassel – nämlich vom dasigen Landgrafen Friedrich – war, konnte sich über nichts so sehr entrüsten als über dessen »Winterkasten« und am meisten über den kupfernen Herkules darauf, – und das darum, weil er einen solchen Kasten und metallnen Goliath nirgends in seinem Territorium vorzuweisen hatte. Wenn zuweilen ein hoher Reisender oder gar ein vornehmer Hesse, der nichts von der Nebenbuhlerei gehört hatte, über der Tafel den hochstämmigen Enaks-Sohn oder Christofel – so nennt ihn der kasselsche Pöbel –, so gut er konnte, nach dem Leben schilderte, wenn er deswegen anführte, daß der Titan 31 Fuß messe (ohne das Stativ), daß folglich sein Ellenbogen unter kein preußisches Rekrutenmaß gehe, und wenn endlich der hohe Reisende mit dem letzten aufgesparten Zuge zu überraschen gedachte, daß der Orlogskopf zehn Mann, die noch dazu die herrlichsten Aussichten aus dem Schädel haben, recht bequem logiere und sein Keulen-Bloch nur die Hälfte: so wurde meinem Großvater vor Ärger nicht nur grün und gelb vor den Augen, sondern sein Gesicht nahm selber diese Farben an, und alle Hofkavaliere sahen es schon voraus, daß er mehr Bauernkrieg(1) als gewöhnlich (das sicherste Zeichen seines Grimms) sich werde servieren lassen. Das Beste wäre die Baute eines ähnlichen Winterkastens samt Zubehör gewesen, damit wieder der Landgraf von Hessenkassel seinerseits von hohen Reisenden über der Tafel durch Erzählungen hätte geärgert werden können. – – Das wollt’ auch mein Großvater längst, konnt’ aber nicht, weil der dem Winterkasten zur Unterlage nötige Geldkasten die einzige Stelle im Lande war, die man nicht durch Geld besetzen konnte.

Er sann überall darüber nach, auf der Jagd, in der Oper, in den Alleen, aber umsonst – er wollte (um nur Geld zu kriegen) gern alles tun, was einem Fürsten erlaubt ist – er wollte alles stempeln, sogar das Löschpapier, die Brandbriefe der Spitzbuben, jeden Privatbrief und alle Wappen und Pitschaften – er wollte die toricellische Leere richtig halbieren zwischen dem Kammerbeutel und der Chargenkasse – er wollte verpfänden und vermieten (nämlich Schatullgüter und Landesstiefkinder) – er wollte die Justiz wie einen vornehmen Fremden an den Hof ziehen und die plumpe Gerechtigkeitswaage umarbeiten lassen zu einer Perlen- und Probierwaage für die Themis als Hofbankierin – – – er wollte das alles mit dem größten Vergnügen tun; aber es war nicht zu tun: denn eben alles dieses hatt’ er – schon getan für geringere Staatsausgaben.

Der Kammerpräsident und sein Sohn dachten noch mehr darüber nach, und brachten fast noch weniger heraus.

Zum Glück hielt gerade damals der Oberbau- und Gartendirektor um seine Entlassung an, um nach Wien zu gehen und da etwan in der Akademie der bildenden Künste »Lehrer der Ornamente« zu werden. Wie wenig er aus Mißvergnügen über seinen Dienst weg wollte, das suchte er dem Fürsten dadurch zu zeigen, daß er um eine mündliche Unterredung ansuchte und ihm darin nicht nur einen neuen Riß zu einem prächtigen Sommerkasten – eben zum Waldkappel, wohin ich gehe –, sondern auch die besten Ratschläge gab, die Baukosten zu erschwingen. Er dachte viel dabei; das sieht man, weil ihm mein Großvater statt der Dimission durchaus nichts gab als das uneingeschränkte Inspektorat über die Kasten-Baute.

Was er vorschlug und durchtrieb, war zusammengesetzt: »Man sollte auf dem nächsten Landtage den Syndikussen sagen, eine neue Steuer legten diesesmal Ihro Durchlaucht, obwohlen Sie könnten, gar nicht auf, sondern auf einen Steuernachlaß wär’s alles abgesehen. Se. Durchlaucht müßten bekanntlich nach dem Reichsmatrikularanschlag dem Reiche Vieh und Menschen stellen: das könnten Sie nun dem Lande wieder abfodern; aber Sie möchten nicht – bloß als einen seinsollenden Ersatz bedingten Sie sich für jede 25 fl. rhnl., die einer habe, einen elenden Nürnberger Bleisoldaten zu Pferde (oder das Geld dafür), welches bleierne Kontingent noch dazu bloß zu einer großen Jungfer Europa vergossen werden sollte. – Sie wüßten recht gut, daß ein Untertan als ein zweiter Milo leicht das wachsende Kalb der Abgaben und Lasten trage und daß mit dem Kalbe das Tragvermögen wachse, und daß das zum Ochsen ausgestreckte Tier so leicht wie ein Taufpate in den zähen Armen herunterhänge. Inzwischen hofften Sie, bisher die Tragemuskeln, wenn nicht gestärkt, doch auch nicht sehr geschwächt zu haben; und Sie hielten es für moralisch-, wenn auch nicht für politisch-gut, in den nächsten 25  Schaltjahren(2) nicht einen Heller Steuer anzunehmen. Sie hätten sich vielmehr entschlossen, außer dem Gelde auch das Blut der Landeskinder zu besparen und zu bewachen; und daher wollten Sie, da den Badern mehr Blut und Leben aufgeopfert würde als dem Fürsten, eine Kopf- oder Fußsteuer, die als Strafe abhalten sollte, auf jede Aderlaß und auf jedes Schröpfen ausschreiben.«

Es ging gut. Da man aber nicht wissen konnte, ob nicht ein Steuer-Defraudant heimlich Blut lasse: so mußte jeder in Pausch und Bogen die Blut-Gebühren entrichten, und Reiche, bei denen Plethora und Blutlassen zu präsumieren waren, mußten sie jeden Quatember abführen, wie die Klöster viermal jährlich zur Ader lassen – und so war die Krone sozusagen selber der transzendente Schröpfkopf, wie der Zepter der Schnepper. Dieser Blutzehent lief unter dem Namen der Jungfern-Schröpf- und Europas-Steuer ein.

Beiläufig! Sonst wurde der Mörtel zum Staatsgebäude, wie anderer, mit der Wolle oder den Haaren und dem Blute des Untertans zugleich festgeknetet; jetzt aber wird mit dem Blute dieses Tiers bloß im Kriege der Zucker des Friedens raffiniert. So wenig hat eine freie Regierungsform, wo nur die Gelder der Landessassen zu nehmen stehen, mit einer despotischen gemein, wo man auch das Leben anpackt; auf gleiche Weise wurde dem Teufel (besonders anfangs) nur vergönnt, Hiobs Effekten und Immobiliarvermögen anzutasten, nicht aber sein Leben, was viel später geschah.

Aus der Blei-Soldateska und aus der Blut-Akzise wurde nun eine kolossalische Jungfer Europa gegossen, die drei Ruten lang ist und also 5 rheinländische Zolle mehr hält als der hessische Herkules. Ich werde übermorgen erstaunen, wenn ich sie ansehe. Im Kopfe des modischen Kolossus soll man (les’ ich) wie in Herschels Teleskop ein musizierendes Orchester eingestellt haben; aber unter dem Kranium der Miß Europa soll (hör’ ich) ein ganzes besetztes Inquisitions-Gericht mit seinen Sessionstafeln Platz genug vor sich haben. Das ist keine Unmöglichkeit; – aber noch gemächlicher muß im Kopfe ein kleines Schreibepult und ein Sessel aufzustellen sein. Wenns also bei jetziger Jahrszeit in der Blei-Riesin nicht zu kalt ist: so wird übermorgen der erste Ausflug, den ich in Waldkappel tue, der in Europas Kopf sein (es geht innen eine Treppe bis an den Hals); und ich gedenke, unter ihrer Hirnschale meinen Schreibetisch wie ein Nähkissen einzuschrauben und daselbst – indem ich zugleich aus ihren Augenhöhlen die herrlichste Aussicht von der Welt genieße – den größten Teil der gegenwärtigen Belustigungen und Mémoires ungemein heiter abzufassen....

Ich habe mich und den Leser schläfrig geschrieben. – Morgen mehr! – Ich wollt’, ich wär’ in Europa! –

*

Den 30. April.

Mit Vergnügen horch’ ich oft, wenn gefüttert wird, den meinen Wagen umkreisenden Satelliten zu, die meine Feder auf dem Papiere scharren hören und die doch vom Kopfe dazu nichts ansichtig werden können als den oben ausgepackten Hut seines Huts. Es ist ein neues Lustgefühl, so mitten im Gewimmel, durch den Gyges-Ring der Wagenkartause vergittert und unsichtbar, festzusitzen.

Als kleiner Junge wurd’ ich oft von einem Schloßdrescher mit zugedrückten Augen durch alle Winkel getragen, und ich belustigte mich, fest an ihn geschlungen, an meiner eignen Angst über den verhüllten Weg, den ich zu vergessen und nicht zu erraten suchte: – wenn er endlich hart an einer Mauer stockte und ich aufsah und umher und ich konnte aus dem metamorphotischen Flächen-Chaos nicht sogleich ein bekanntes Zimmer zusammenschieben – – wie süß lösete sich da meine freiwillige Beklemmung auf!

Die Kutsche ist dieser Schloßdrescher: denn die Kinder machen überhaupt den Erwachsenen nicht mehr nach als diese jenen, und unser Kothurn ist oft aus lauter ausgezognen Kinderschuhen genäht. Ich kann nicht dreimal eintunken, ohne mich zu fragen: wobei wird es wohl jetzt vorübergehen? Manchmal hör’ ich, daß ich vor der Ecke einer orgelnden Kirche – vor den offnen Fenstern einer schreienden Knabenschule – durch Schafherden – durch Wochenmärkte – vor Walkmühlen vorüberkomme. Jetzt um 8 Uhr (sagt’ ich heute) muß die Deichsel gerade in ein Ländchen beugen, wo es noch mehr Landschaftsmaler geben sollte als Landleute. Es wird da für alle schöne Künstler, die in Griechenland bloß durch das Studium des lebendigen Nackten so hoch emporflogen, gewiß dadurch nicht am schlechtesten gesorgt, daß der Staat sie überall, wo sie nur einen Bossierstuhl oder ein Malergestelle setzen können, mit lauter Bauern umringt, die – weil sie nichts haben – so nackt sind, als rängen sie miteinander für Lorbeern in athenischen Gymnasien.

Ich wußt’ es gestern nachts aus der bloßen Straßenbeleuchtung, die gerade vor den engen, finstern, für Beutel- und Kopfabschneider zugeschnittnen Sackgassen abbrach, wo ich wäre, nämlich in einer Residenzstadt, wo gerade die Armen das wenigste Licht haben sollen und das meiste der Hof.

Wenn ich jetzt meinen Kutscher fragen und ihn mit der Lenkschnur an den Kasten ziehen wollte: so würd’ ichs hören, daß wir neben einem fürstlichen Lustgehölz – denn ich kenne das Schaf-Glockengeläute der japanesischen Tempel – fahren, wo der Minister an einer ähnlichen Lenkschnur den seinigen auf dem Throne zerrt, weil der Mann sich in diesen republikanischen Passatwinden den ganzen Tag ängstigt, jede Kannengießerei werde eine Stück- und Sturmglockengießerei und man läute ihn mit der neu gegoßnen Sturmglocke aus dem Lande, die doch (wie die Glocke im Franekerischen Wappen) gegenwärtig keinen Klöppel hat. –

Aus welchen Spinnenfäden ist oft das Band der Liebe gewebt! Ich sah, wie oft ein Mann mehr Interesse an einem andern nahm, bloß weil dieser den Namen seines Hundes gelobt – oder weil sie einerlei Leibgerichte oder Leibgetränke hatten – oder einerlei Schneider – kurz die kleinen Ähnlichkeiten des Zufalls, des Schicksals, des Körpers flicken die in ihren Nährahmen gespannten Menschen oft fester zusammen als die großen des Charakters. Und so bin ich selber: ich würde ordentlich die Leute mit mehr Interesse sprechen – und diese werden mich ihrerseits mit größerem lesen –, vor denen ich in der ledernen Nische hermetisch versiegelt vorüberzog; – und wers unter meinen Lesern machen kann, der sollt’ es ausrechnen, ob ihm vom 28sten April bis zum 1sten Mai 1795 kein fest zugemachter Bärenkasten mit einem kleinen Gewitterableiter aufstieß: der Kasten enthielt eben den Verfasser dieser Belustigungen; und unter jenen Lesern und Zuschauern müssen (ich wollte drauf schwören) Leute von jedem Geschlechte gewesen sein – und Reise- und Staatsdiener – Primaner und Buchhändler, die alle Leipzig beziehen, um Kenntnisse mitzubringen und wegzubringen – Rechtsfreunde, die mit ihrer Diäten-Reiterzehrung zu einem fremden Gerichtsstand reiten, um nachzusehen, ob der venerierliche Gerichtsstand die Fakultäts-Siegel des zurückkommenden Urtels so unzerbrochen gelassen, als der Reiter präsumieren muß – rote Mädchen auf dem Felde mit einem roten schafwollenen Strick-Globus, und bleiche am Fenster mit einem weißen baumwollenen – einige, die mich rezensieren müssen und die den Geschlechtsnamen eines Autors ausplaudern und ihren eignen verkappen – Reichskammergerichts- und Eilboten – verakzisete k. Kammerknechte – Land- und andere Stände – Mendikanten – Obristkuchen- und Hammermeister – Pupillenräte – Nicolai – mein eigner Verleger – du! – der Minister von Hardenberg (wenn er anders schon aus Basel ist) und.....

– Beim Himmel! alle Menschen! – Wie einfältig ists auf der einen Seite, alle die nennen zu wollen, vor denen mein zugeknöpftes Geschirre kann vorbeigegangen sein, da ich ja die Namen des ganzen Adreßkalenders und aller Kirchenbücher hersetzen könnte – und wie schwer auf der andern, gerade wenn 1000 Millionen Menschen sich vor der Feder hinauf- und hinunterstellen, auf einige das Schnupftuch zu werfen. – –

Gute Nacht! Morgen schlaf’ ich nicht mehr steilrecht.

Den 1. Mai.

So schrieb ich beim Erwachen; es ist aber falsch, und der 30ste April dauert noch: ich vermengte – wie ein Schwärmer – die Abendröte mit der Morgenröte. Nach welchen Gesetzen ist der Schlaf ein so zweideutiger Schrittzähler unsers schmalen Lebensweges und misset die Zeit bald mit Wersten, bald mit Meilen, bald so genau, daß man sein eigner Wecker sein und aufwachen kann, wenn man will? – Mit einem bangen Gefühle, wie man etwan eine aufwachende Schein-Leiche anfassen würde, wärmet man das vorgebliche kalte Gestern wieder zum Heute auf... Herrliche Abendröte! Widerschein einer langen, um Eden gezognen Rosenhecke! Die vier roten Strahlen, die die Sonne an meine Seele wirft, adeln mehr als die vier roten Linien im aragonischen Wappen, und alle nagenden Vampyre fallen vor ihrem Scheine welk vom entkräfteten Herzen herunter.... Ich habe mir hundertmal gedacht, wenn ich ein Engel wäre und Flügel hätte und keine spezifische Schwere: so schwäng’ ich mich gerade so weit auf, daß ich die Abendsonne am Erdenrande glimmen sähe, und erhielte mich, indem ich mit der Erde flöge und zugleich ihrer Achsebewegung entgegenführe, immer in einer solchen Richtung, daß ich der Abendsonne ein ganzes Jahr lang ins milde weite Auge blicken könnte.... Aber am Ende sänk’ ich glanz-trunken, wie eine mit Honig überfüllte Biene, süß-betäubt aufs Gras herab!

*

Den 1. Mai.

Nachmittags um 1 Uhr. Eine Sache oft denken, heißt, sie auf den Objektenträger des geistigen Vergrößerungsglases bringen, unter welchem sie Farben und Erhabenheiten – beide gehen unter dem physischen verloren – gewinnt. Ein kleiner Tag, ein geringfügiges Ziel, worauf man vier Tage Vorbereitungen und vier Umwege durch ebenso viele Vorsäle macht, wird zuletzt mit fieberhafter Erwartung ergriffen. Aber da bei mir noch dazu von keiner Kleinigkeit die Rede ist – denn vor der erhabnen Rotunda des Frühlings darf man schon mit einigen süßen Fiebern auszusteigen denken –, und da ich wirklich um 6 Uhr abends aussteige: so wären solche labende Wallungen nicht im geringsten unrecht; – aber ich habe keine einzige. –

Von einem kleinen Umstande kömmt es, der mich in den Augen eines versuchten Gliedes vom Generalstab lächerlich machen kann. Mein Kutscher sah nämlich einen abgezehrten Bauer nicht weit von uns aus einem Wasserbeete eine Kanonenkugel mit der Pflugschar ausackern; und sagte mir es in den Wagen mit dem Zusatze, daß wir eben über das – Schlachtfeld führen, wo vor einiger Zeit Frankreicher und Aristokraten ein ebenso blutiges als unnützes Treffen geliefert hatten. Einem, der das erstemal über eine solche Brandstätte und Arafnens-Tenne der Menschheit reitet oder fährt, greift eine solche Nachbarschaft nach dem Atem, er mag sich immerhin mehr als zehnmal fragen, ob denn nicht die ganze Erde ein ähnliches Schlachtfeld sei und jedes Meer eine Greve-Platz. Man nimmt keine Vernunft an: so weiß man z. B. recht gut, daß die ganze Erdkugel mit Begrabnen gleichsam überbaut ist und daß jeder Acker ein liegender Gottesacker ist, wie jeder Mensch ein stehender, weil unser Fleisch aus Totenstaube anflog: gleichwohl fasset uns ein Partikular-Kirchhof neben einer Kirche noch ebenso an, als wäre jenes alles gar nicht wahr.

Ich gab also meiner Phantasie lieber den Pinsel und Blut dazu und ließ sie eintauchen und malen. Aber als sie mir die von Wunden auftauchende Ebne vorhielt und den ruhenden Gottesacker aufdeckte und lebendig machte, wo ein Schmerz neben dem andern liegt: so schlug der stechende Gedanke wie eine durchwanderte Dornenhecke am tiefsten in die zerritzte Brust zurück, daß es einen Jammer gebe, den unser Mitleiden nicht umreichen kann, eine unabsehliche wimmernde Wüste, vor der das zergangne Herz gerinnt und erstarrt, weil es nicht mehr Gequälte, sondern nur eine weite namenlose Qual erblickt; denn ich konnte mit keinem Verwundeten neben mir seufzen, weil tausend andere, den Berg hinauf und die langen Gräben hinunter wie gefallne Blätter geworfne ja diesen Seufzer auch begehrten. O! nur vor Dem, der die Zukunft und die unendliche Liebe hat und den unendlichen Balsam, dürfen sich alle nasse Augen und alle roten Wunden der Menschheit auf einmal aufschließen; – aber vor dem kleinen zusammengezognen Menschenherzen nicht. Als ich das Schlachtfeld aufriß und den stillenden Blutschwamm des Rasens von den Rissen aller Hülflosen und Namenlosen und Schuldlosen weghob; als ich das gebogne Heer noch einmal fallen und noch einmal sterben sah: so wünscht’ ich mir bloß eine eigne Wunde, um wenigstens auf diese Art mitzuleiden mit einer niedergebrochnen Generation, weil das enge Auge nicht mehr die Menschen beweinen konnte, sondern die Menschheit. Dürftiger Erdensohn! dein Arm kann Tausende auf einmal zerschlagen; aber kaum zwei Verwundete davon kann er an deine Brust ziehen, damit sie auf dem wärmenden Herzen ausbluten und zuheilen! Mehr Raum für mehrere Zerschlagne ist auf der Menschenbrust nicht; und darum ist es gut für das Leiden und für das Mitleiden, daß der Schöpfer die Unglücklichen auseinanderrückte, daß er jedes Herz nur an die Schmerzen und an das Sterben seiner eignen Freunde stellte. Aber der grausame Mensch wirft tausend zerstreute Sterbende, deren jeder auf der weiten Erde ein verwandtes Auge voll Trauer und Liebe und sein weiches Sterbekissen hatte, auf ein einziges hartes Schlachtfeld zusammen und lässet jeden allein vergehen auf einem kalten Grabe und fern von dem Auge, das ihn beweint hätte....

Diese Betrachtungen wurden von einem ländlichen Hochzeitgefolge, das mit heller Musik über die grünende Walstatt zog, nicht unterbrochen, nur gemildert: ach! ich wurde nur desto weicher über die Nachbarschaft, worin die fünften Akte unsrer Lustspiele so hart neben und nach den fünften Akten unsrer Trauerspiele gegeben werden. Was konnten die Frühlingslüfte, die sich flatternd in meinen Wagen einwühlten und ihn zugleich mit gedämpften Freudentönen und mit Apfel-Düften ausfüllten, mir auf dem traurigen Platze, über dessen Blumen sie gingen, anders zuwehen als den ernsten Gedanken: wie nahe liegt in unserm Leben wie auf den Alpen unser Sommer neben unserm Winter, wie klein ist der Schritt aus unsern Blumengärten in unsre Eisfelder! – Und doch wirft sich der Mensch in der Freude vor, daß er sie so leicht über den Kummer vergesse – und in dem Kummer, daß er ihn so leicht über die Freude vergesse. Aber der Vorwurf der Täuschungen ist oft nur selber eine trübere.

Um 4 Uhr abends. Obgleich in zwei Stunden der Frühling den Vorhang seines Operntheaters vor mir aufzieht: so will doch der beklommne Herzschlag, den mir die Ruinen meines Weges gaben und den die sanften Kirchengesänge in allen Dörfern am heutigen Aposteltage nur schwerer machen, in kein freudiges Pochen übergehen. Auf der äußern Welt liegt allemal der Widerschein unsrer innern, wie auf dem Meer der Widerschein des Himmels liegt, entweder als düsteres Grau, oder als helles Grün. Dieser schöne Abend müßte einem lichtern Tage zugehören als dem heutigen, wenn mich das Flüstern und Duften der Säulenreihe von Obstbäumen nicht beklemmen sollte, die sich jetzt über meinen Wagen ihre mit Blüten-Girlanden umwundnen Arme reichen und die auf jedem Arm eine neugeborne Welt voll singender, voll honigtrunkner Kinder tragen und sie bebend auf- und niederwiegen. – – Ja, in zwei Stunden springen am Frühling alle Tore seines griechischen Tempels vor mir auf – und seine Mauern fallen um – und ich schaue hell zwischen seine Waldung von Säulen hinein, aus denen überall Blütengehänge und Laubwerk bricht – und dränge die Augen durch das Gewimmel von Sonnenaltären und Altarlichtern und Rauchwolken und Chören hindurch – und dann lass’ ich sie ruhen an den aufstrebenden Alpenpfeilern, die das blaue Tempelgewölbe tragen, bis sie sich erheben und sich oben am Portal des hereinbrennenden Glanzes gesättigt und geblendet schließen. – –

Aber heute nicht! – Heute ist der Spiegel meiner Seele mit einem Dunste angelaufen, den ja wohl die Blicke auf ein Schlachtfeld im Auge wie in der Seele zurücklassen durften. Sondern morgen, wenn der Schlaf diesen Dunst weggewischt hat, wird die grünende Natur ihren zitternden Widerschein in meiner hellern Seele beschauen, und wenn sie ihr Lächeln und ihre Glieder vor mir regt, so wird sich mein Herz bewegen, und es wird allemal zittern und lächeln wie sie. – – Nein, heute will ich nichts sehen! Ach! mein Herz schwillt auch ohne das von Minute zu Minute mehr von den Bienenstichen auf, die ihm der Gedanke gibt, weswegen und wohin ich komme – welche Geschichte ich hier im singenden Lustlager des Frühlings niederschreiben muß – und welche himmlische unvergängliche Gestalten das wunde Auge meiner Phantasie unter dem Abzeichnen anzublicken hat, vor denen es sich wohl hundertmal voll und dunkel wird abkehren müssen, ohne die Züge gesehen zu haben, die ich malen will. – – O! wie könnt’ ich heute abends fröhlich sein und den Frühling ansehen? –

Abends um 5½ Uhr. Das Schicksal zieht unser dünnes Gewebe als einen einzigen Faden in seines und kettet unsre kleinen Herzen und unsre nassen Augen als bloße Farbenpunkte in die großen Figuren des Vorhangs, der nicht vor uns herniederhängt, sondern der aus uns gemacht ist. Jetzt spielt es neben mir und mit mir und will es, daß ich weiß, es spiele. Warum soll es ihm wichtiger sein, die Facetten eines Käferauges zu schleifen und die Flughaut eines Schmetterlings zu befiedern, als den Gedanken eines Menschen zu wenden und zu kolorieren? – Schmelzende Körper zerfließen, wenn man sie erschüttert – – und mich erschüttert die unbekannte Hand in dieser weichen Stunde mit zwei widersprechenden Tönen, gleichsam mit dem Zusammenläuten der Sturm- und Harmonikaglocken auf einmal.

Ich höre nämlich eine Singstimme und eine Sterbeglocke....

Jetzt schwankt mein Wagen, sich zurücklehnend und wiegend, zwischen den Koloraturen der Abendstimmen den Berg hinauf, wo ich wohnen will – der Tag stirbt sanft im Blütennebel an seinem Schwanengesang – die Alleen und die Gärten reden wie gerührte Menschen nur leise, und um die Blätter fliegen die Lüftchen und um die Blüten die Bienen mit zärtlichem Gelispel – nur die Lerchen steigen wie der Mensch schmetternd in die Höhe, um dann wie er schweigend in die Furche zurückzufallen, anstatt daß die große Seele und das Meer sich ungehört und ungesehn in den Himmel erheben und rauschend und erhaben und befruchtend, in Wasserfällen und Gewittergüssen, in die Täler niederstürzen. – –

Ein unaussprechlich-süßer Ton steigt aus einer weiblichen Brust wie eine zitternde Lerche auf, in einem Landhause am Abhange der Bergstraße. Sie tönt, als wenn der Frühling singend aus dem Himmel flöge und in einem entzückten Tone aushaltend mit aufgeschlagnen Flügeln so lange über der Erde hinge, bis Blumen zu seinem wallenden Lager unter ihm aufgesproßt wären. – – Aber deine Zunge, grausame Tonkunst, zieht sich, wie die Löwenzunge, so lange kitzelnd und wärmend auf dem nackten Herzen hin und her, bis alle seine Adern bluten.

Und hart greift in diese Singstimme das Geläute ein, das aus einem Kloster hinter Neuengleichen dringt. Es ist das sogenannte Zügenglöckchen, das die Mönche immer ziehen, wenn ein Mensch im Sterben ist, damit eine sympathetische Seele für den Liegenden bete, um den der letzte Engel eine Nacht gezogen, um ihm darin das Herz abzulösen, wie man uns beim Ablösen der Glieder die Augen zubindet. – Wenns auf mich ankäme, scheidender Unbekannter, ich würde die Totenglocke halten und sprachlos machen, damit jetzt in deinen verfinsterten Totenkampfplatz kein Nachhall der entfallnen Erde hineintönte, der dir (weil das Ohr alle Sinne überlebt) so grausam die Minute ansagt, wo du für uns verloren bist, wie sich aufsteigende Luftschiffer durch einen Kanonenschuß den Augenblick melden lassen, wo sie vor den Zuschauern verschwinden. – – Aber ich tät’ es heute auch um meinetwillen, weil die zwei Töne wie die Parzenschere auseinandergehn und dann zusammenfallen und dann tief im wunden Herzen aufeinanderschneiden....

Ach, führet keinen Menschen, dessen Wunden nicht alle recht fest verbunden sind, in den Tempel des Frühlings! Die süßen Wallungen drücken sonst das Blut durch seinen Verband. – Aber wie Ärzte die Verbluteten in eine horizontale Lage bringen lassen: so legt ja der Schlaf (oder der Tod) jeden Verbluteten in die waagrechte Lage, die alles stillt....

– Ich komme jetzt an – aber ich trage mit geschloßnen Augen eine Brust, die jetzt zu sehr zittert und schlägt, bloß unter den warmen dunkeln Flügel des Schlafs – – – und kniee erst morgen vor dem Frühling nieder....

Nachts um 12 Uhr. Ach! ich konnt’ es nicht – ich hab’ alles gesehen, und nicht längst ist die nachglühende und überwölkte Seele gleich der Nacht wieder heiter und kühl. Was ich jetzt male, ist das Bild eines kränklichen fieberhaften Herzens; aber der Gesunde höre vergebend die schmerzlichen Fieberträume seines liegenden dürstenden Freundes an und sage sich immer: »Der Kranke wird sich auch wieder aufrichten, und du wirst dich auch niederlegen, und dann wird er ebenso nachsichtig an deinem Bette stehen.« –

Als der Wagen oben auf der breiten abgerundeten Platteforme des Berges, die lauter blühende konzentrische Zirkel von Lusthecken und Lusthainen bedeckten, stille stand und seine Türe wie eine Jubelpforte des Frühlings aufging: so glitt mein Auge unwillkürlich auf etwas nahes Glänzendes hinaus: es war ein um den Berg laufender Zauberkreis von Buschwerk aus der weißen Nessel (urtica nivea), deren Blätter mit ihrer schwarz angelaufnen obern Seite und einer blendend-weiß geschminkten untern einen blutroten Blattstiel und drei rote Adern prächtig grundieren. Der Wind wühlte dieses Blut und diesen Schnee und diesen Ruß untereinander und griff den schwermütigen Dreiklang auf diesem bewegten Farbenklavier. Und als ich in dieses blutige Ineinanderflattern sah, zog der erste gelbe Schmetterling dieses Jahrs darüber hinweg und den Berg hinab; und herauf flogen unbehülflich drei Pfauen mit ihren niederhängenden Farben-Schleppen und schauten, einsinkend, sich auf der Lusthecke um nach den nächsten Ästen des Kastanien-Zirkus, um darauf zu übernachten. – –

Nun übermannte der Frühling meine Seele, und ich vergaß alles und stürzte mich hinein ins Meer der Natur. –

Ach! ich wurde nicht glücklich....

Der große Frühling hing über der Welt wie ein breites, mit Licht und Glut und Naß gefülltes Gewitter und goß seine leuchtenden Lebenstropfen in einer unübersehlichen Katarakte nieder – und aus allen Pulsadern und Saftröhren sprang der Gewitterguß wieder in Fontänen auf – und aus dem schwellenden ausgebreiteten Lebensstrome ragten die Menschen nur wie Wasserpflanzen hervor und die Erden wie Klippen – und unter dem schöpferischen Brausen gingen die kleinen Stimmen der erquickten Lebendigen nur wie Gewitterstürmer und Glockengeläute umher....

Aber über das wie eine Konchylie geschloßne liegende Herz zog das große Meer vergeblich: nur der aufgerichtete Schiffer, nicht der hinabgezogne Täucher kann den Ozean fassen. In solchen Stunden ist der Mensch nur für Menschen, nicht für Götter gemacht, und die von einem zu schweren Tropfen gebückte Sonnenblume kann der Sonne nicht mehr folgen.

Ich schämte mich der Erweichung, als ich vor der blühenden Natur stand, die vor dem brennenden Abend wie vor einem roten sphärischen Spiegel purpurrot anlief – als die Berge aufstanden und die blaue Waldung und den Frühling mit ewigem Schnee durchschnitten, wie hohe weiße Hagelwolken das Himmelsblau – als die Sonne schon auf dem weißen Gebürge lag, in das Goldgefäß der letzten Wolken als ein vergangnes Herz der Himmelskönigin gelegt, wie oben auf Trajans Säule die Asche seiner Hülle in einer goldnen Urne steht. – – Aber alle Zweige der zu weichen Sensitive in mir fielen unter der Berührung der schöpferischen Hand zuckend zurück und konnten nichts ertragen als eine zweite Sensitive; in der erhabnen Einsamkeit sagt dann der verlaßne Mensch: »Allgütiger, erscheine mir heute nicht so groß, erscheine mir lieber in einem geliebten Bruderangesicht, an diesem will ich mich verhüllen und es unaussprechlich lieben.«

Mich drückte eine Stockung der Empfindung, ein banges Zwielicht zwischen heller Freude und dunkler Trauer, wogegen es nur zwei Mittel gibt: entweder jene oder diese zu verdoppeln. – – Ach! das letztere war leichter... Wenn dumpfe namenlose Schmerzen sich ans Herz anlegen: so gib ihnen größere Stacheln, damit sie es tiefer ritzen; und das wegfließende Blut macht den Busen leichter, so wie ein kleiner Riß einer Glocke einen dumpfen Klang nachläßt, bis ihr ein weiter den hellen wieder schafft.

Ich ging zu meinem Wagen und opferte den Wein, der den Musen zugehörte, dem Genius der Trauer. Und als ich trank vor der hinabglühenden Sonne – und als es um die Brandstätte der niedergebrannten Sonne weit umher rauchte wie Blut – als die Rauchsäulen des Dorfs unter mir den Goldrand des Abends, der an der grauen Masse glimmte, ablegten und sie wie aufgerichtete Regenwolken emporstanden – als auf den Wassern eine düstre Leichendecke über die hüpfenden Brennpunkte und schillernden Farbenpulver gebreitet war – und als alle Schlösser und Wälder und Berge solche vom Abendglanze in die Luft gezogne Gebilde waren, wie sie die Feuerwerke der Menschen schaffen: so stellte meine tränentrunkne Phantasie auf die rote Begräbnisstätte der Sonne alle Gestalten und Zeiten, die mich je betrübt oder verlassen hatten – ich hob alle mürbe Leichenschleier auf, die in Särgen lagen – ich entfernte den erhabnen Trost der Ergebung, bloß um mir immerfort zu sagen: »Ach! so war es ja sonst nicht – tausend Freuden sind auf ewig nachgeworfen in Grüfte, und du stehst allein hier und überrechnest sie.«...