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Inhalt

Impressum

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Epilog

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2015 novum Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-99048-320-6

ISBN e-book: 978-3-99048-321-3

Lektorat: Susanne Schilp

Umschlagfoto: Lisa Eberherr

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Vorwort

Traurige Schicksale haben schon viele von uns ereilt. Das Wichtige dabei ist zu erkennen, dass man sich nicht aufgeben darf, dass man kämpfen und nach vorne blicken muss, denn das Leben hält noch so viel Wunderbares für uns bereit.

Auch wenn wir uns in den Momenten der Trauer nicht vorstellen können, dass es irgendwann auch mal wieder bergauf geht und dass sich irgendwann einmal wieder ein Lächeln über unser von Tränen gezeichnetes Gesicht schleicht. Wir werden irgendwann wieder glücklich sein.

Kapitel 1

Ich werfe einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. Es ist 14:07 Uhr. Wir liegen gut in der Zeit. Meine Mutter trällert lauthals und voller Vorfreude die Lieder im Radio mit. In dröhnender Lautstärke schmettert uns Rupert Holmes den Pinacolada-Song entgegen. Meine Mutter liebt diesen Song, und immer wenn er läuft, wird das Radio voll aufgedreht. Grinsend beobachte ich sie. „Du solltest lieber deinen Blick der Straße zuwenden, Schätzchen!“, sagt sie und wirft mir dabei einen gespielt tadelnden Blick zu. Wo sie recht hat, hat sie recht.

Am Himmel türmen sich dicke schwarze Regenwolken auf. Und leider lässt der Regen auch nicht lange auf sich warten. Laut fallen erste dicke Regentropfen auf mein Autodach. Wir befinden uns im Moment auf der A 7 kurz vor Hamburg, die Hälfte der Strecke ist schon geschafft.

Plötzlich tut sich eine Regenwand vor mir auf, und von einem auf den anderen Moment bin ich blind. Hilfe. Mit klopfendem Herzen verringere ich meine Geschwindigkeit und fahre langsam auf dem rechten Fahrstreifen dahin. Ich kann es nicht leiden, wenn ich vor lauter Regen fast nichts mehr erkennen kann. Noch schlimmer als Regen ist Nebel. Da fühle ich mich total beklemmt.

Nach einigen Minuten lichtet sich der Regenmantel etwas, und ich kann wieder besser sehen.

Allerdings spritzt mir nun der Lkw vor mir die ganze Gischt auf die Scheibe. Daher setze ich zum Überholen an. „Deine Scheibenwischer quietschen wie die Hölle Emma, du solltest dir wirklich mal neue kaufen. Das ist fürchterlich!“, meckert mich meine Mutter an.

Genervt verdrehe ich die Augen. Ich finde es auch nicht gerade prickelnd. Die Scheibenwischer nicht, die Lkw-Schlange nicht und das Wetter gleich dreimal nicht. Konzentriert umklammere ich mein Lenkrad und hoffe, dass es endlich aufhört zu regnen.

Erleichtert, dass ich die Lkw-Schlange überholt habe, setze ich den Blinker rechts und bin gerade im Begriff, den Fahrstreifen zu wechseln, doch plötzlich erkenne ich zwei Scheinwerfer vor mir. Panisch lenke ich meinen Seat nach rechts, doch die Scheinwerfer tun es mir gleich. Also reiße ich mein Lenkrad wieder nach links. Das Auto kommt bedrohlich schnell näher. Meine Mutter schreit, und ich kann nicht mehr denken. Alles geht so verdammt schnell. Ich versuche, einen klaren Kopf zu behalten. Was soll ich nur tun? Wo soll ich hin? Blut rauscht in meinem Kopf, mein Herz rast. Ausweichen Emma, du musst ausweichen, schreit mir eine innere Stimme zu. Aber ich weiß nicht wohin. Links ist die Leitplanke, vor mir der Geisterfahrer und rechts jetzt fast auf gleicher Höhe der Lkw, den ich gerade überholt habe.

Es ist zu spät.

Ein lauter Knall und plötzlich ist um mich herum alles dunkel.

Regen prasselt auf meinen Seat, laut und eindringlich. Ich versuche, meine Augen zu öffnen. Es geht nicht. Etwas zieht an mir, und mein Körper kribbelt. Plötzlich ist alles schwarz.

Stimmen … ich höre Stimmen … was ist da los?

Regentropfen hämmern auf das Autodach. Alles scheint hell erleuchtet. Aber ich kann meine Augen nicht öffnen. Da sind wieder die Stimmen. Ja, jetzt höre ich sie deutlicher. Hektisch rufen sich irgendwelche Menschen Befehle zu. Leider kann ich kein Wort verstehen. Wieso nur kann ich meine Augen nicht öffnen? Plötzlich rüttelt jemand an meiner Schulter, und endlich verstehe ich etwas. Klar und deutlich ruft jemand direkt neben mir: „Hallo, hallo können Sie mich hören …?“ Ja, ja ich kann Sie hören! Aber warum kann ich mich nicht bewegen, nichts sagen, und warum verdammt noch mal kann ich meine Augen nicht öffnen? Was ist nur passiert? Alles scheint so weit weg. Der Mann bewegt sich, ich kann seine Schritte hören. Nein, nein bleib hier, würde ich am liebsten schreien, aber meine Lippen bewegen sich nicht. Auf einmal werde ich wieder weggezogen. Nein, ich will das nicht! Aber ich habe kein Mitspracherecht, plötzlich bin ich wieder von einer tiefen Stille umgeben, alles ist schwarz.

Kapitel 2

Aufgeregt rüttelte jemand an meiner Schulter, aber ich wollte einfach noch nicht die Augen aufschlagen. Mit aller Kraft versuchte ich, den Traum von eben festzuhalten. Ich lag am Meer, der Wind wehte sanft durch mein offenes Haar. Der Duft von salzigem Wasser und Sonnencreme umspielte meine Nase. Die Möwen kreischten. Ich spürte den Sand unter meinen Füßen.

Aber der Traum entglitt mir. Unaufhörlich tippte mir nun jemand auf die Schulter. Plötzlich hörte es auf, und ich kuschelte mich tiefer in mein Kissen. Angestrengt versuchte ich, den Traum zurückzuholen, aber es gelang mir nicht. Plötzlich wurde es hell. Was ist das? Ich zog mir die Decke über den Kopf. Nun hörte ich die fröhliche Stimme meiner Mutter.

Sie trällerte: „Guten Morgen, mein Engel“ und riss mir dabei mit einem Ruck die Decke weg.

Wütend öffnete ich die Augen. „Mama, es ist kalt, warum ziehst du mir einfach die Decke weg und warum in Gottes Namen lässt du mich nicht ausschlafen?“

Meinen Wutanfall ignorierend, strahlte mich meine Mutter an. „Emma, stell dir nur vor, ich hatte heute Nacht eine super Idee!“ Erwartungsvoll schaute ich sie an, quälte mich aus meinem Bett und strich mir die zerzausten Haare aus dem Gesicht. „Was für eine Idee hattest du denn? Jetzt rück schon raus mit der Sprache.“

Sie ließ die Bettdecke auf den Boden fallen und setzte sich aufgeregt neben mich.

„Also meine liebste Emma, halt dich fest …“ Sie legte eine Kunstpause ein und atmete tief ein und aus. Dass sie es aber auch immer so spannend machen musste.

„Wir fahren in den Urlaub!“ Die Erinnerung an meinen schönen Traum huschte kurz vor meinem inneren Auge vorbei, aber mutlos ließ ich die Schultern sinken.

„Das können wir uns doch gar nicht leisten Mama, wir haben momentan nicht genug Geld!“

Aber sie ließ sich in ihrer Euphorie nicht stoppen. Meine Mutter sprang auf, legte meine lilafarbene Bettdecke neben mich und zog den Koffer unter meinem Bett hervor. Danach riss sie die Türen von meinem Schrank auf und drehte sich immer noch grinsend wie ein Honigkuchenpferd zu mir um. „Doch, das können wir! Und zwar hab ich mir überlegt, dass wir an die Nordsee fahren. Da ist es zur Herbstzeit ganz wunderbar. Außerdem müssten wir nicht so weit fahren. Ich möchte einfach mal ein bisschen raus, ich brauche das jetzt. Biiiiiitteeeeee!“

Da ist er, ihr berühmter Hundeblick. Dem konnte wirklich keiner widerstehen. Aber so schnell wollte ich mich nicht weichkochen lassen. „Ach Schätzchen, du weißt doch, dass die letzten Wochen in der Schneiderei wirklich anstrengend und nervenaufreibend waren, wir hatten so viele Aufträge, und ich brauch jetzt einfach einmal eine Pause!“ Sie schob die Unterlippe vor und tat so, als würde sie schmollen.

Dabei sah ich ihr schelmisches Leuchten in den Augen. „Aber ich weiß doch überhaupt nicht, ob ich so kurzfristig Urlaub bekomme. Da muss ich erst meinen Chef fragen.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ja, das verstehe ich. Aber eure Auftragslage ist doch momentan nicht so großartig da kann er dich bestimmt eine Woche entbehren.“

Eigentlich hatte sie ja recht, daher warf ich langsam meine Bedenken über Bord. „Aber es ist Samstag, meinst du wirklich, ich soll ihn da belästigen?“ Meine Mutter stürmte hinaus und kam wenige Sekunden später mit dem Telefon zurück und drückte es mir in die Hand. „Na komm schon, ruf ihn an, ihr versteht euch doch so gut. Außerdem kann man am Samstagmorgen schon mal die Leute belästigen!“

„Du meinst wohl, aus dem Bett klingeln, hast du eigentlich schon mal auf die Uhr geguckt?“

Sie lächelte vielsagend. „Aber natürlich mein Schatz. Was du anscheinend noch nicht getan hast, denn es ist bereits halb neun, meine kleine Schlafmütze. Also ruf ihn an, und ich spring so lange unter die Dusche.“ Sie tänzelte aus meinem Zimmer hinaus und summte fröhlich eine Melodie.

Bevor sie im Badezimmer verschwand, rief sie mir noch kurz zu: „Wenn du fertig bist, koch doch schon einmal Kaffee, ja?“

Seufzend ließ ich mich rückwärts auf mein Bett fallen. Sie hatte ja recht, ein kleiner Urlaub würde uns beiden nicht schaden. Aber ich hatte vor ein paar Monaten mein ganzes Erspartes für ein „neues“ gebrauchtes Auto, einen schwarzen Seat Leon, ausgegeben. Leider hatte mein 15 Jahre alter Golf den Geist aufgegeben, und die Reparatur hätte viel mehr gekostet, als ich am Ende noch für den alten Karren bekommen habe. Da mich der Seat achttausend Euro gekostet hatte, war ich momentan eben etwas sparsam. Ich wählte die Nummer von meinem Chef, und nach dreimaligem Klingeln meldete sich eine angenehme männliche Stimme mit „Maurer“. Ohne Umschweife erläuterte ich meinem Chef die Sachlage:

„Guten Morgen Joachim, hier ist Emma. Es tut mir leid, dass ich dich so früh belästige, aber meine Mutter möchte mit mir in den Urlaub fahren. Sie hat darauf bestanden, dass ich dich sofort anrufe und frage, ob es möglich wäre, dass du mir ab sofort eine Woche Urlaub gibst?!“

Joachim räusperte sich. „Da bin ich jetzt ganz schön überrumpelt. Warte mal Emma, ich werfe nur kurz einen Blick in unser Terminbuch. Bin gleich wieder da.“

Er legte den Hörer ab, und ich hörte, wie sich Schritte entfernten. Nach ein paar Minuten raschelte es, und Joachim war wieder in der Leitung. „Also, ich denke, es wäre machbar, Marie müsste halt ein bisschen was von dir übernehmen, aber wenn wir uns die Arbeit aufteilen, dann schaffen wir das mit links. Du hast ja eh noch Urlaubstage übrig. Also, das geht in Ordnung. Viel Spaß wünsche ich euch!“

Ich bedankte mich recht herzlich bei Joachim und wünschte ihm ein schönes Wochenende. Gerade als ich Richtung Küche lief, um das Frühstück zu machen und das Telefon aufzuräumen, öffnete sich die Badezimmertür, und meine Mutter streckte den Kopf heraus. Ihre frisch gewaschenen Haare hatte sie in ein Handtuch gewickelt. „Und? Was sagt er, hast du Urlaub bekommen?“ Ich nickte lächelnd. Meine Mutter stieß einen Freudenschrei aus und strahlte von einem Ohr zum anderen. Ihre gute Laune und ihre Euphorie steckten mich nun auch endlich vollends an. An das fehlende Geld verschwendete ich keinen Gedanken mehr.

Ich lief zu ihr und umarmte sie. „Sag mal“, sie schnüffelte. „Du hast ja noch gar keinen Kaffee gekocht, was hast du denn so lange gemacht?“

Ich stieß die Hacken zusammen und legte die Hand an die Stirn, wie ein Soldat der „stramm“ stehen muss. „Jawohl Sir, ich werde Ihnen sofort Ihr Frühstück zubereiten!“

„Das möchte ich aber auch hoffen, Soldat!“, erwiderte sie in strengem Ton, brach daraufhin in lautes Gelächter aus und schloss die Badezimmertür hinter sich.

Vergnügt lief ich in unsere Küche. Bei unserem Einzug hatten wir uns eine schicke, matt beigefarbene Küche mit mahagonifarbener Arbeitsplatte und einer Kochinsel einbauen lassen. Außerdem schmückte ein toller alter Esstisch aus dunklem Holz mit vier Lederstühlen unsere Küche. Ich öffnete die Terrassentür. Das Highlight an unserer Altbauwohnung war eine 25 Quadratmeter große Dachterrasse. Ein wahrer Traum. Genüsslich sog ich die frische Luft ein, es versprach ein toller Tag zu werden. Das spürte ich.

Die Luft war recht kühl, daher schloss ich die Tür wieder und widmete mich dem Kaffee. Als die Maschine im vollen Gange war und glucksend den Kaffee braute, deckte ich den Küchentisch.

Nachdem ich fertig war, rief ich laut. „Mama, das Frühstück ist fertig!“ Kurz darauf betrat meine Mutter, in ihren saphirblauen Bademantel gehüllt, die Küche. „Hm, wie das hier duftet, so mag ich das, wenn das Frühstück bereits auf dem Tisch steht.“ Neckend knuffte sie mir in die Seite und ließ sich am Esstisch nieder. Ich schenkte uns beiden Kaffee ein und gesellte mich zu ihr. Schmatzend aß meine Mutter ihren Toast. „Sag mal Mama, was hast du denn heute für Manieren?“ Meine Mutter lachte nur laut und verspeiste ihren Toast. „So, jetzt habe ich eine Überraschung für dich!“ Sie biss in ihren zweiten Toast und kaute in aller Ruhe und Gemütlichkeit. „Jetzt sag schon, was du für eine Überraschung hast, ich platze ja gleich vor Neugier!“ Schelmisch grinsend und mich neckend sagte sie: „Na das sollst du ja auch!“ „Also, ich hatte gestern Nachmittag ein langes Gespräch mit meiner Chefin. Sie erzählte mir, dass ihr Ehemann ein Ferienhäuschen an der Nordsee hat. Ich glaube, der Ort heißt Büsum. Auf jeden Fall steht es momentan frei, da Nebensaison ist. Und sie bot mir an, es für eine Woche zu nutzen. Wir müssten auch nichts bezahlen, außer die Nebenkosten, wie Strom und Wasser, und wir müssten es gründlich putzen, wenn wir wieder fahren, aber ansonsten ist es umsonst. Was hältst du davon?“ Ich sprang auf. „Das ist ja der absolute Hammer!“ Stürmisch fiel ich ihr um den Hals. „Ach, meine Chefin hat außerdem erwähnt, dass man das Haus im Internet anschauen könnte, hättest du Lust?“ „Aber Hallo!“ Schnell lief ich ins Wohnzimmer und holte den Laptop. Meine Mutter kramte in der Zeit in ihrer Handtasche nach einem kleinen weißen Zettel, auf dem sie sich den Namen des Hauses und die Adresse notiert hatte. Als der Computer endlich nach einer schier endlosen Wartezeit hochgefahren war, gingen wir ins Internet und gaben in die Suchmaschine den Namen und die Adresse ein. Es dauerte nicht lange, da hatten wir das Haus auf dem Bildschirm.

„Heiliges Kanonenrohr“, entfuhr es meiner Mutter. „Schau mal Emma, wie groß das Haus ist, und es liegt mitten in den Dünen. Das ist ja wunderschön. Das kostet bestimmt sonst ein Vermögen!“ Ich tippte auf andere Bilder auf dem Bildschirm, die man öffnen konnte „Mach doch mal die anderen Bilder auf!“ Auf fünf weiteren Fotos waren das Wohnzimmer mit offenem Kamin, die zwei Schlafzimmer, das Badezimmer mit Eckbadewanne und die hauseigene Sauna zu sehen. „Mama, ich kann das nicht glauben, zwick mich mal bitte, ich glaub, ich träume!“ Stattdessen sprang meine Mutter auf, stieß mich dabei fast um, packte und wirbelte mich in der Küche herum. „Wir fahren in den Urlaub, wir fahren in den Urlaub!“, sang sie aus voller Kehle. Irgendwann lagen wir völlig außer Atem und vor lauter Schwindel auf dem Boden und lachten.

Als wir uns wieder etwas beruhigt hatten, stürzten wir uns auf die Urlaubsvorbereitungen. Wir packten unsere Koffer, gossen noch mal unsere Pflanzen und ließen uns gegen Abend erschöpft auf unser Sofa fallen.

Am nächsten Morgen frühstückten wir in aller Ruhe, beluden meinen Seat und fuhren gegen Mittag in Detmold los in Richtung Nordsee.

Fröhlich sangen wir die Lieder im Radio mit und lachten lauthals, wenn uns die Leute kopfschüttelnd anstarrten.

Kurz vor Hamburg kamen wir in einen fürchterlichen Platzregen …

Kapitel 3

Was sind das nur für fürchterliche Schmerzen? Wo bin ich nur? Ich schlage die Augen auf und muss ein paar Mal zwinkern, da ich alles nur schemenhaft wahrnehmen kann.

Meine Umgebung nehme ich nur verschwommen, wie durch einen Schleier wahr. Nach einigen Minuten haben sich meine Augen endlich an das Licht gewöhnt. Daher schaue ich mich erst einmal um. Ich lasse meinen Blick durch den Raum schweifen und erkenne, dass ich in einem Krankenzimmer liege. Links neben mir steht ein frisch gemachtes Bett, und an den Wänden hängen Kunstdrucke von renommierten Künstlern. Mein Bett steht direkt neben einem großen Fenster. Die Vorhänge sind halb zugezogen, und es regnet. Ich bin alleine. Fieberhaft versuche ich mich zu erinnern, was geschehen ist, aber es fühlt sich an, als wäre da nur ein großes schwarzes Loch.

Ich blicke an mir herab, in meiner linken Hand steckt ein Schlauch. Als ich ihn bis zum Ende verfolge, erkenne ich, dass er zu einer Infusionsflasche gehört, die links an meinem Bett befestigt ist. Außerdem ist mein rechtes Bein eingegipst und hochgelegt. Meine Arme sind übersät mit Blutergüssen und blauen Flecken. Langsam versuche ich mich zu bewegen, aber aufgrund der starken Schmerzen beschieße ich, es lieber zu lassen.

Plötzlich klopft es an der Zimmertür, und eine junge, schwarzhaarige Schwester steckt den Kopf herein. „Ah, Sie sind ja wach Frau Koch, ich werde sofort Ihrem zuständigen Arzt Bescheid geben.“

In dem Moment, als ich sie fragen möchte, was passiert ist, hat sie schon wieder die Tür hinter sich geschlossen. Ich bin wieder alleine. Keine Ahnung, wie lange ich schon hier liege und an die Decke starre und krampfhaft versuche, mich an irgendetwas zu erinnern, als es wieder an der Tür klopft. „Ja“, krächze ich. Ein Arzt tritt ein. Er durchquert den Raum, begrüßt mich freundlich und stellt sich als Dr. Schneider vor. Auf seinem Namensschild kann ich erkennen, dass er Assistenzarzt ist. Er zieht ein Klemmbrett, das am Bettende befestigt ist, heraus und schlägt meine Krankenakte auf. „Wie geht es Ihnen?“ „Ich kann mich leider nicht erinnern, was passiert ist. Mein Kopf ist leer. Können Sie mir bitte erklären, was hier eigentlich los ist und warum ich alleine bin?“ Daraufhin macht Herr Dr. Schneider ein betrübtes Gesicht. „Hat man Sie noch nicht informiert, Frau Koch?“ „Nein, ich habe bisher mit keinem gesprochen.“ Herr Schneider versucht, professionell zu wirken, aber in seinem Gesicht kann ich erkennen, dass er keine guten Nachrichten für mich hat. „Sie hatten einen wirklich schweren Autounfall, Frau Koch. Ein Geisterfahrer kam Ihnen entgegen.“ Angsterfüllt schließe ich die Augen, um mich besser erinnern zu können. Langsam kommt sie wieder, die Erinnerung. Wie Dias schießen nun vereinzelte Bilder des Unfalls durch meinen Kopf. Voller Panik reiße ich die Augen auf und flüstere, denn mehr als ein Flüstern bekomme ich nicht zustande: „Was ist mit meiner Mutter? Ist sie …?“ Meine Stimme versagt, ich will es nicht aussprechen, bringe es nicht über die Lippen. „Wo ist meine Mutter? Auf welchem Zimmer liegt sie? Warum ist sie nicht hier bei mir?“ Immer aufgeregter und panischer dränge ich Dr. Schneider zu einer Antwort. Mein Flüstern endet mit einem erstickten Schrei, als sich meine größte Befürchtung auf dem Gesicht des Arztes widerspiegelt. Voller Mitgefühl legt Dr. Schneider das Klemmbrett auf das leer stehende Bett, zieht sich einen Stuhl heran und setzt sich zu meiner Linken. Zärtlich und tröstend nimmt er meine linke Hand in seine rechte und legt die andere schützend darüber. Dann sieht er mich an und räuspert sich kurz, um eine starke Stimme zu haben. „Es tut mir wirklich sehr leid, Frau Koch. Ihre Mutter hat bei dem Unfall eine sehr schwere Kopfverletzung und diverse Knochenbrüche und Quetschungen erlitten, sie wird noch operiert. Die Operation dauert nun schon 5 Stunden, und wir hoffen alle, dass sie durchkommt. Ich kann Ihnen jedoch nichts versprechen.“ Meine Stimme und meine Hände fangen zu zittern an. Mit angstgeweiteten Augen sehe ich ihn an und schüttle meinen Kopf hin und her wie ein bockiges Kind. „Nein! Nein! Ich kann das alles nicht glauben! Wie lange dauert die OP noch? Kann ich danach zu ihr?“ Mit dem Daumen streicht er mir nun sanft über meinen Handrücken, darauf bedacht, die Nadel, die dort steckt, nicht zu verrutschen. „Ich kann Ihnen nicht genau sagen, wie lange die Kollegen noch operieren müssen. Ich werde Ihnen jedoch sobald ich etwas Neues weiß, Bescheid geben, Frau Koch.“ Daraufhin lässt er meine Hand los, steht auf und schiebt den Stuhl beiseite. Mir schnürt es die Brust zusammen, es fühlt sich an, als würde jemand mit aller Kraft versuchen, meinen Brustkorb zusammenzudrücken. Tränen steigen in mir auf, und langsam bringe ich die entscheidenden Worte über die Lippen. „Wie hoch ist Ihre Überlebenschance?“ Dr. Schneider blickt zu Boden und atmet einmal tief durch, danach schaut er mich gefasst an und sagt: „30 Prozent.“

Mein Gott, das kann doch alles gar nicht wahr sein. Gestern noch dachte ich, was für ein Glück wir haben, und nun hat sich das Schicksal gegen uns gewendet. Schluchzend schlage ich mir die Hände vors Gesicht. „Nein, sie darf nicht sterben, sie ist der einzige Mensch, den ich habe! Sie ist meine Mutter, meine beste Freundin, sie ist doch alles, was ich habe!“ Dr. Schneider legt mir seine Hand auf die Schulter und drückt sanft zu, um mich zu beruhigen. „Ruhen Sie sich jetzt etwas aus Frau Koch, sie haben schwere Verletzungen. Ihr rechtes Bein ist gebrochen, und sie haben diverse Prellungen, Blutergüsse und außerdem eine schwere Gehirnerschütterung erlitten. Sie müssen sich ausruhen, um wieder zu Kräften zu kommen!“ Wut steigt in mir auf, und ich zische durch meine Zähne. „Wie soll ich mich ausruhen, wenn meine Mutter im Sterben liegt. Wenn ich nicht weiß, ob ich sie noch einmal lebend wiedersehen werde?“ Das Zischen verwandelt sich zu einem Schrei. „Wie soll ich mich da ausruhen!“ Ich bin außer mir vor Wut. Ich bin wütend auf mich selbst, dass ich nicht besser reagiert habe. Ich bin wütend auf den Geisterfahrer. Auf das Wetter. Einfach auf alles.

„Es tut mir leid Frau Koch, aber ich muss mich noch um andere Patienten kümmern. Wenn Sie Schmerzen haben, klingeln Sie bitte nach der Schwester, die wird Ihnen etwas bringen. Sobald ich etwas Näheres über Ihre Mutter weiß, werde ich Sie umgehend informieren!“ Daraufhin dreht er sich um und verlässt das Zimmer. Ich bin wieder allein.

Niedergeschlagen starre ich an die weiße Decke. Unaufhaltsam laufen mir die Tränen über mein Gesicht. Stunde um Stunde vergeht. Es fühlt sich aber an wie Tage. An Schlaf kann ich jetzt nicht denken. Die ganze Zeit bin ich in Gedanken nur bei meiner Mutter. Ich starre aus dem Fenster. Draußen regnet es noch immer. Der Regen prasselt unaufhörlich gegen die Scheibe, und es scheint, als würde der Himmel mit mir weinen. Ich darf meine Mutter nicht verlieren, sie ist mein Ein und Alles, ich habe nur sie. Meinen Vater habe ich schon seit vierzehn Jahren nicht mehr gesehen. Meine Eltern haben sich damals scheiden lassen, beziehungsweise ist meine Mutter eines Morgens sang- und klanglos mit mir abgehauen. Mein Vater war zu diesem Zeitpunkt mit einem Arbeitskollegen auf irgendeiner Messe. Jahrelang hatten wir unter seinen Wutausbrüchen gelitten. Meine Mutter und ich entwickelten irgendwann eine richtige Angst vor meinem Vater. Den einzigen Zufluchtsort, den ich hatte, boten meine Großeltern mütterlicherseits. Sie waren die tollsten Großeltern, die man sich nur vorstellen kann, aber leider sind sie kurz hintereinander verstorben, als ich neun Jahre alt war. Von dem Erbe meiner Großeltern kauften wir uns eine Wohnung in Detmold, weit weg von meinem Vater. Von ihm habe ich seit unserem Verschwinden nichts mehr gehört und gesehen.

Leise fange ich an zu beten. „Lieber Gott, falls es dich wirklich gibt, dann bitte erfülle mir nur diesen einzigen Wunsch, und rette meine Mama. Ich brauche sie so dringend wie die Luft zum Atmen. Ohne sie kann ich nicht leben. Wenn ich sie verliere, dann ist das auch mein Tod! Bitte, ich werde dich nie wieder um etwas bitten. Ich schwöre es. Lass sie am Leben!“ Immer wieder wiederhole ich diese Worte, bete und weine, bis ich irgendwann vor lauter Erschöpfung einschlafe.

Ein lautes Klopfen reißt mich aus meinem unruhigen Schlaf, und ich öffne die Augen. Verschwommen erkenne ich, dass Dr. Schneider und die kleine, schwarzhaarige Krankenschwester vor mir stehen. Beide schauen mich aus traurigen Augen an. Was hat das nur zu bedeuten?

Dr. Schneider räuspert sich und ergreift das Wort. „Frau Koch, es tut uns wirklich leid. Wir haben alles in unserer Macht Stehende getan, aber Ihre Mutter hat es leider nicht geschafft.“ Die letzten Worte erreichen mich nur wie durch Watte. Um mich herum dreht sich alles. Die Welt bricht zusammen. Wieder schnürt es mir den Brustkorb zu, und ich bekomme keine Luft mehr. Heiße Tränen steigen in mir auf. Wutentbrannt und verletzt schreie ich: „Nein! Nein!“ und gerate in Panik. Ich reiße den Schlauch von der Infusion aus meiner Hand und versuche aufzustehen. Der Arzt und die Schwester blicken zunächst schockiert auf mich herab und versuchen nach einer Sekunde des Schocks, mich wieder ins Bett zurückzudrücken. Aber ich wehre mich und schreie sie an. „Ich will sie sehen, ich will zu meiner Mutter, ich muss zu ihr, muss …“ Mir geht die Kraft aus, und ich werde von den Schmerzen übermannt. Unfähig weiterzusprechen, denn die Worte bleiben mir vor lauter Schluchzen im Hals stecken, schaue ich sie hilfesuchend an. Nun beugt sich die Krankenschwester über mich und hält mich fest, und Dr. Schneider gibt mir eine Beruhigungsspritze. Da nun sowieso alles egal ist, lasse ich es über mich ergehen. „Es wird Ihnen gleich besser gehen Frau Koch, ich verspreche es Ihnen. Sie sollten jetzt erst einmal ein bisschen schlafen und sich ausruhen!“

Alles um mich herum dreht sich auf einmal, und mein Mund wird pelzig. Meine Augen werden schwer. Ich versuche dagegen anzukämpfen. Ich will jetzt nicht schlafen. Doch da ist alles schon dunkel, und ich falle in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Kapitel 4

Als ich das nächste Mal erwache, ist mein Mund ganz trocken, und ich sehe mal wieder alles nur verschwommen. Sofort überrollt mich die Erinnerung an den Unfall und das Gespräch mit dem Arzt. Ich unterdrücke ein Schluchzen und sehe mich im Raum um. Da sitzt ja jemand, ich blinzle, um endlich wieder scharf zu sehen. Das kann doch gar nicht wahr sein! Da sitzt doch tatsächlich mein Vater. Ich mustere ihn von der Seite. Er hat sich kaum verändert. Er trägt lediglich die Haare kürzer und hat ein paar Fältchen im Gesicht bekommen. Ansonsten sieht er aus wie damals, als ich ihn zum letzten Mal gesehen habe.

Als ich ihn da so sitzen sehe und bei dem Gedanken, dass meine Mama tot ist, steigen in mir wieder Tränen auf, und ein tiefer Schluchzer entfährt mir. Da dreht sich mein Vater erschrocken zu mir um. „Du bist ja wach, wie geht es dir Emma?“ „Mama ist …“ Ich schluchze. „… sie ist …“ Er nimmt mich zärtlich in den Arm und redet beruhigend auf mich ein. „Ich weiß meine Kleine, ich weiß. Du musst jetzt stark sein. Ich bin für dich da!“ In mir tobt ein gewaltiger Sturm der verschiedensten Gefühle. Daher wende ich den Blick ab und sehe zum Fenster hinaus. Mittlerweile hat es aufgehört zu regnen, und die Sonne kämpft sich durch das Wolkendickicht. Mit tränenüberströmtem Gesicht wende ich mich wieder meinem Vater zu. „Ich möchte zu meiner Mutter, ich will mich von ihr verabschieden, kannst du mir diesen Wunsch erfüllen?“ Ich blicke meinem Vater flehend ins Gesicht. Er atmet schwer. „Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre, Emma. Der Unfall hat schwere Spuren an deiner Mutter hinterlassen. Ich möchte nicht, dass du sie so siehst. Behalte sie doch so, wie sie war, in Erinnerung!“ „Aber …“, versuche ich ihm zu widersprechen. „Pscht“, sagt er und legt mir sanft den Zeigefinger auf die Lippen. „Glaube mir Emma, es ist nur zu deinem Besten. Ich möchte dir diesen Anblick nicht antun. Dir geht es auch so schon schlecht genug. Ich werde mich um alles kümmern.“ Ich schüttle den Kopf, denn ich will nicht, dass sich mein Vater um die Beerdigung kümmert. Das hätte sie nicht gewollt. Es ist meine Aufgabe. „Wieso sollte ich das wollen? Es ist meine Aufgabe. Ich muss die Beerdigung organisieren. Ich weiß, was sie wollte. Du weißt doch nichts mehr von uns. Seit vierzehn Jahren haben wir nichts mehr von dir gehört, und damals hast du dich ja auch nicht groß für uns interessiert! Ich brauche deine Hilfe nicht! Ich kam die letzten Jahre auch ganz gut ohne dich klar!“ Meine ganze Wut und der Groll, die all die Jahre in meiner Brust schlummerten, klingen nun in meinen Worten wider. Mein Vater zuckt unmerklich zusammen. Ich sehe den Anflug von Schmerz, der sein Gesicht kurz überfliegt. Aber mein Vater war schon immer ein Meister der Tarnung, und so versucht er auch jetzt, seine Gefühle zu unterdrücken. „Ich hatte nicht vor, die gesamte Planung an mich zu reißen. Natürlich werden wir das zusammen in die Hand nehmen. Aber bitte schone dich, damit du bald wieder gesund wirst. Dich hat es ja auch ganz schön erwischt bei dem Unfall. Es ist ein Wunder, dass du es überlebt hast.“

Ach, jetzt wird er auf einmal doch noch sentimental oder was? Plötzlich nimmt er meine Hände in seine und blickt zu Boden. „Emma, bitte verzeih mir!“ Oh Gott, jetzt zeigt er wirklich seine Gefühle. Wie soll ich damit umgehen? Ich bin über alle Maßen verunsichert und weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Alles in mir wehrt sich gegen diese vertrauliche Berührung und seine Entschuldigung. Bilder aus Kindheitstagen flammen vor meinem inneren Auge auf. Die Angst, die ich damals empfand, wenn er mit hochrotem Kopf schreiend über mir stand … „Ich weiß nicht, ob das so einfach geht. Es ist so viel passiert! Wie soll ich dir das alles verzeihen können?“ Ich entziehe ihm meine Hand und verstecke sie demonstrativ unter meiner Bettdecke. Nicht, dass er auf die Idee kommt, sie noch mal zu nehmen. „Du hast mir all die Jahre so gefehlt. Ich war ein Arschloch, dass ich deine Mutter und dich so schlecht behandelt habe. Ich weiß nun, dass das ein Fehler war. Ich habe mich geändert, Emma.“

Kann ich das glauben? Kann sich jemand wie mein Vater, der so cholerisch, voller Wut und Aggression war, ändern? Ich denke nicht. „Also ich weiß nicht, kann man sich denn um hundertachtzig Grad drehen? Ich glaube kaum. Außerdem, warum hast du dich in all den Jahren nicht ein einziges Mal gemeldet und dich erkundigt, wie es uns geht, wenn du uns doch so vermisst hast? Jetzt, da meine Mama tot ist, da kommst du auf einmal angeschissen!“

„Weißt du, auch wenn du das vielleicht nicht verstehen wirst, am Anfang, als ich von der Messe nach Hause kam und lediglich den Brief vorfand und als ihr verschwunden wart, war ich über alle Maßen wütend. Ich konnte all das nicht verstehen. Als die Wut nachließ, war ich zutiefst verletzt und traurig, und danach wusste ich nicht, ob ihr, vor allem du, überhaupt noch Kontakt zu mir haben wolltet. Daher dachte ich, ich lasse euch in Frieden leben. Ich hatte gehofft, dass ihr glücklich seid! Emma, bitte glaube mir, dass ich dich liebe, und ich habe dich immer geliebt und auch deine Mutter. Sie habe ich auch sehr geliebt, auch, wenn ich nicht in der Lage war, das angemessen zum Ausdruck zu bringen! Ich habe sehr viele Fehler gemacht, das weiß ich jetzt endlich. Aber ich möchte dir beweisen, dass es mir leidtut. Ich möchte in dieser schwierigen Zeit für dich da sein, Emma. Bitte lass mich dir helfen.“

Nun bin ich völlig durcheinander, meine Gefühle fahren Achterbahn. Einerseits bin ich immer noch wütend auf meinen Vater, aber andererseits bin ich froh, dass jemand für mich da ist. Ich weiß nämlich nicht, ob ich all das alleine durchstehen kann. „Ich weiß nicht, ob das so einfach geht!“ Ich verschränke die Arme vor der Brust und schaue demonstrativ abweisend zum Fenster hinaus.

„Ich weiß. Aber bitte, bitte versuche es. Ich lasse dir alle Zeit der Welt.“ Mit diesen Worten steht er auf, nimmt seine Jacke vom Fußende des leer stehenden Bettes und zieht sie über. „Ich werde mir jetzt ein Hotelzimmer in der Nähe suchen, und du versuchst, ein bisschen zu schlafen. Ich komme später noch einmal vorbei, um nach dir zu sehen. Tschüss Emma.“ Und schon war er verschwunden.

Jetzt, da ich wieder alleine bin, überrollt mich die Einsamkeit und die Trauer über den Tod meiner Mutter erneut. Während die Tränen wieder Oberhand gewinnen, starre ich aus dem Fenster. Mein Kiefer fängt zu zittern an, und ich bekomme keine Luft mehr. Es fühlt sich an, als würde jemand mit bloßer Hand mein Herz herausreißen wollen. Immer wieder schimpfe ich im Stillen zu Gott hinauf. Warum Gott, warum nimmst du mir mein Allerliebstes, du hättest mir doch diesen einen Wunsch gewähren können, aber nein, du musst mein Leben zerstören!!! Warum meinte es das Schicksal so böse mit uns, wie sollte es denn jetzt bloß weitergehen?

Kapitel 5

Zwei Tage nach dem Unfall klopft ein groß gebauter, schwarzhaariger Polizist mit Schnauzer an meine Zimmertür, um mich zum Unfallhergang zu befragen. Er stellt sich höflich als Polizeioberkommissar Wolf vor und reicht mir die Hand zur Begrüßung. Daraufhin setzt er sich an den kleinen runden Tisch am Fenster, schlägt seine schwarze Mappe im Ledereinband auf und stellt mir zunächst ein paar Fragen zu meinen Personalien, Beruf und Familienstand. Danach erklärt er mir, dass er eine kurze Zeugenvernehmung zum Unfallhergang machen muss. Also schildere ich ihm den Ablauf des Unfalls, soweit ich mich erinnern kann. „Ich bin auf dem linken Fahrstreifen gefahren, um eine Kolonne von Lkws zu überholen. Es regnete stark, und durch die aufgewirbelte Gischt konnte ich nicht viel sehen. Sonst hätte ich überhaupt nicht überholt.“ Ich muss ein Schluchzen unterdrücken. Als ich mich wieder einigermaßen unter Kontrolle habe, fahre ich fort. „Ich weiß nicht mehr, wie schnell ich gefahren bin, so 80 oder 90 km/h denke ich. Als ich die Lkw-Schlange überholt hatte und wieder nach rechts wollte, kam mir plötzlich ein Auto entgegen. Es ging alles so schnell. Ich hab versucht auszuweichen. An mehr kann ich mich leider nicht erinnern.“ Herr Wolf räuspert sich und notiert meine Angaben. Sehr gesprächig scheint er ja nicht gerade zu sein. „Was ist mit dem Geisterfahrer passiert? Hat er es überlebt?“ Der Kommissar nickt. „Ja. Er hat allerdings auch sehr schwere Verletzungen erlitten und schwebt noch in Lebensgefahr. Mehr kann ich Ihnen leider dazu nicht sagen. Nur eines noch, der Mann stand zum Zeitpunkt des Unfalles unter Alkoholeinfluss. Dies wird wohl auch der Grund dafür gewesen sein, dass er entgegengesetzt der Fahrtrichtung auf die Autobahn auffuhr.“

Schockiert blicke ich ihn an. Der Mann war betrunken schießt es mir durch den Kopf. Nichts auf der Welt rechtfertigt es, dass man sich betrunken ans Steuer setzt. Nichts, aber rein gar nichts. Unermessliche Wut steigt in mir auf, aber ich schlucke sie herunter. Vor dem Polizisten will ich Haltung bewahren. Herr Wolf ignoriert meine Gefühlsregungen, steht auf und reicht mir seine Mappe, damit ich die Vernehmung unterschreiben kann. Danach zieht er eine Visitenkarte hervor und überreicht sie mir. Mit zitternden Händen nehme ich sie entgegen. „Falls Sie noch irgendwelche Fragen haben sollten. Ach, was ich noch sagen wollte, ihr Fahrzeug steht beim Seat-Händler. Es ist derzeit jedoch noch von der Staatsanwaltschaft sichergestellt. Sobald es freigegeben wird, müssten Sie entscheiden, was damit passieren soll.“ „Könnten Sie das in die Hand nehmen?“, bringe ich mit zittriger Stimme hervor. Nach einer kurzen Überlegung antwortet er: „Ja, warum eigentlich nicht, was soll ich denn dem Händler ausrichten?“ „Ich nehme an, dass mein Auto einen Totalschaden hat, oder?“ „Ja.“ „Dann wäre es wohl das Beste, wenn sie es einfach verschrotten! Ich möchte damit jetzt nicht behelligt werden. Ich muss mich um wichtigere Dinge kümmern! Die können mir dann ja vielleicht einfach die Rechnung schicken.“ Leise füge ich „Danke“ hinzu. Immer noch mit stark zitternden Händen lege ich die Visitenkarte auf das Tischchen links neben mir. Danach reicht mir Herr Wolf die Hand zum Abschied. „Auf Wiedersehen Frau Koch, ich wünsche Ihnen noch eine gute Besserung und natürlich mein herzlichstes Beileid!“ Dann rückt er seine Uniform zurecht und verlässt das Krankenzimmer. Nun kann ich meiner Wut freien Lauf lassen, ich balle meine rechte Hand zur Faust und schlage auf mein Bett ein. „Ahhhhh! Das kann doch nicht wahr sein“, schreie ich. „Dieses blöde Arschloch!“ Wie ich diesen Mann hasse! Ich flippe völlig aus und habe das Gefühl, vor lauter Wut und Hass auf diesen Menschen, der meine Mutter umgebracht hat, zu zerplatzen. Nie, aber niemals werde ich diesem Mann verzeihen, was er meiner Mutter und mir angetan hat. Wie könnte ich auch. Er hat mein Leben zerstört.

Kapitel 6

Am Montag, den 29. Oktober, eine Woche nach dem Unfall, werde ich aus dem Krankenhaus entlassen, da die Beerdigung am nächsten Tag um elf Uhr stattfinden soll.

Mein Vater hat sich die letzte Woche wirklich sehr bemüht, bei mir einen guten Eindruck zu hinterlassen. Er widersprach nie bei meinen Vorschlägen für die Beerdigung und überließ mir die ganzen Entscheidungen. So wählte ich anstatt eines Grabsteines einen großen betenden Engel, wie man sie oft in Schottland auf den Gräbern sieht. Außerdem entschied ich mich für weiße Lilien für den Grabschmuck, da das die Lieblingsblumen meiner Mutter waren. Den Sarg wählten wir gemeinsam. Einen schönen, schlichten aus Buche. Ich erklärte meinem Vater außerdem, dass er veranlassen soll, dass meine Mutter zur Beerdigung ihr schönes türkisfarbenes Sommerkleid, ihre weißen Ballerinas und ihre Perlenkette trägt. Ich wollte, dass sie hübsch aussieht, und mein Vater kümmerte sich um alles.

Heute, am Tag der Beerdigung, ist das Wetter für Ende Oktober ungewöhnlich schön, der Himmel ist blau und wolkenlos, die Sonne strahlt. Regenwetter wäre mir lieber gewesen, das hätte dann wenigstens zu meiner Stimmung gepasst. Aber ich muss es so sehen, jetzt bekommt wenigstens meine Mutter ein schönes Begräbnis mit viel Sonnenschein. Die Luft ist zwar ziemlich frisch, aber durch die wärmenden Sonnenstrahlen angenehm. Mein Vater parkt konzentriert seinen Volvo vor dem Friedhof. Während ich gedankenverloren an einem Stofftaschentuch herumzupfe. Meine Mutter hat es mir vor einigen Jahren geschenkt. Sie hat es selbst genäht und bestickt. Es sind Rosen darauf zu sehen und in schöner, verschnörkelter Schrift „In Liebe deine Mama“. Der Motor verstummt, eine Tür knallt ins Schloss. Ich blicke auf und beobachte meinen Vater, wie er um das Auto herumläuft, den Kofferraum öffnet, etwas herausholt und ihn wieder schließt. Dann erkenne ich im Seitenspiegel, dass er einen Rollstuhl auseinanderklappt und zur Beifahrerseite schiebt. Er öffnet meine Tür und hilft mir fürsorglich in den Rollstuhl. Er hat ihn eigens für die Beerdigung besorgt, aus Angst, dass es mir mit den Krücken zu anstrengend werden könnte. Eigentlich ganz süß, finde ich. Aber irgendwie gefällt es mir trotzdem nicht, so abhängig von ihm zu sein. Es ist immer noch ein komisches Gefühl, dass er plötzlich wieder in meinem Leben ist.

Ächzend und stöhnend hebt mein Vater mich in den Rollstuhl. Es ist mir peinlich, dass er sich so anstrengen muss. Bin ich wirklich so schwer? Ich setze meine Sonnenbrille auf, und mein Vater schiebt mich in Richtung Friedhof. Von Weitem kann ich erkennen, dass Mamas Chefin und Arbeitskolleginnen, außerdem Joachim und Marie zur Beerdigung gekommen sind. Voller Schreck erkenne ich, dass zwar Arbeitskollegen von mir da sind, um sich von meiner Mutter zu verabschieden, dass ich aber keine richtig enge Freundin habe, die mich jetzt in den Arm nimmt und für mich da ist. Schweren Herzens muss ich mir eingestehen, dass meine Mutter meine einzige wahre Freundin gewesen ist. Ich habe mich abgekapselt und war völlig auf meine Mutter fixiert. Zwar habe ich ab und an auch mal was mit Marie unternommen, aber eine enge Freundschaft entwickelte sich nie. Traurig zupfe ich mein schwarzes, knöchellanges Kleid zurecht, dass mein Vater mir besorgt hat. Hörbar atme ich mehrfach tief ein und aus. Ein Schleier der Trauer legt sich über mich. Es fühlt sich an, als würden Zentner auf meinen Schultern lasten. Mein Vater legt seine Hand auf meine rechte Schulter und drückt sanft zu. Er hat wohl mein Ein- und Ausatmen gehört. Die anderen Trauergäste gesellen sich zu uns und sprechen mir ihr Beileid aus. Ich muss mit den Tränen kämpfen, aber ich habe mir vorgenommen, stark zu bleiben. Keiner der Menschen, die sich eingefunden haben, kann mir in die Augen sehen. Alle Blicke sind auf den Kies vor mir geheftet. Aber ich bin froh darüber, denn ich möchte vor den anderen nicht die Kontrolle über meine Gefühle verlieren.

Der Gottesdienst findet in der Kapelle auf dem Friedhof statt. Mein Vater schiebt den Rollstuhl in die erste Reihe. Vor dem Altar hat man den Sarg meiner Mutter aufgebahrt, schön und schlicht. Auf dem Sarg liegt ein großes Blumenbukett von weißen Lilien. Sehr schön. So wie ich es mir gewünscht habe.

Links neben dem Sarg hat mein Vater ein Bild von meiner Mutter aufstellen lassen. Es zeigt sie im letzten Sommer. Wir hatten einen Fahrradausflug mit einem kleinen Zwischenstopp an einem Badesee gemacht. Meine Mutter und ich saßen auf einem Steg, hingen die Füße ins Wasser und fotografierten uns gegenseitig. Sie lacht auf dem Bild aus vollem Herzen. Pures Glück spiegelt sich in ihren Augen wider. Ich schlucke schwer. Nie wieder werde ich sie so lachen hören und sehen. Mein Herz schmerzt. Das Bild zeigt sie so, wie sie war. Voller Lebensfreude und Elan, liebevoll und euphorisch. Ich habe es ausgewählt, damit sie alle so in Erinnerung behalten.

Nach der Predigt des Pfarrers tragen nun mehrere mir unbekannte Männer den Sarg zu Grabe. Mein Vater schiebt meinen Rollstuhl durch den Kies hinterher, und die anderen Trauergäste folgen uns. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich meine Tränenflut noch unter Kontrolle. Aber jetzt, da wir vor dem offenen Grab stehen und der Sarg hinabgelassen wird, breche ich zusammen. Ich kann das Gefühl, das sich in mir breitmacht, nicht beschreiben. Ich fühle mich so schrecklich. Es zerreißt mir das Herz. Am liebsten würde ich mich zu ihr legen und einfach sterben. Die Flut der Tränen übermannt mich jetzt, ich kann sie nicht mehr zurückhalten. Schluchzend breche ich in meinem Rollstuhl zusammen. In diesem Moment ist es mir egal, was alle anderen von mir denken. Ich möchte einfach nur … ach ich weiß es nicht. Bei ihr sein. Sterben! Der Pfarrer spricht noch einige Worte, bevor alle mit einer Schaufel Erde in das Grab meiner Mutter werfen. Durch meinen Tränenschleier kann ich die Worte nicht verstehen. Ich schnappe nach Luft, denn ich habe mal wieder das Gefühl, an meinen Tränen ersticken zu müssen. Hilflos steht mein Vater neben mir und versucht, seine Gefühle unter Kontrolle zu behalten. Aber auch ihm laufen die Tränen über die Wangen. Der Pfarrer segnet nun das Grab mit Weihwasser, und nachdem er uns beiden noch mal sein Beileid ausgesprochen hat, macht er sich auf den Weg zur Kapelle. Aus dem Augenwinkel kann ich erkennen, dass die anderen den Rückweg antreten. Wahrscheinlich wollen sie uns ein bisschen Zeit geben, damit wir uns in Ruhe verabschieden können. Weinend nimmt mich nun mein Vater fest in den Arm. Mein ganzer Körper zuckt, und ich schluchze laut. Auch mein Vater lässt seinen Gefühlen freien Lauf. „Es tut mir so leid Emma, es tut mir so leid!“, schluchzt er jetzt in mein Ohr. Alles tut mir weh, und durch seine Worte werde ich noch heftiger geschüttelt. Ein lauter Schluchzer entfährt mir, mein ganzer Schmerz liegt darin. In Gedanken schreie ich zu Gott, dass er mich von diesen Schmerzen erlösen soll.

Zehn Minuten später schiebt mein Vater mich vom Grab weg, damit ich mich wieder etwas beruhigen kann. Er fährt mich zum Ende des Friedhofs, dort steht eine Bank. Neben der Bank stellt er meinen Rollstuhl ab und setzt sich neben mich. Von hier aus hat man einen wunderbaren Blick auf ein Tal und Wälder. Es dauert weitere zehn Minuten bis mein Schluchzen aufhört. Stumme Tränen laufen jetzt nur noch über meine Wangen. Mein Vater sitzt still neben mir. Er hat sich schon wieder gefasst. Dass er seinen Gefühlen so freien Lauf lassen würde, das hätte ich nie gedacht. „Weißt du Emma“, flüstert er. „Ich habe deine Mutter wirklich sehr geliebt und dich habe ich … liebe ich über alles! Es bricht auch mir das Herz, dass sie gestorben ist!“ Langsam taste ich mit meiner linken Hand nach seiner, er bemerkt es und umschließt sie mit seinen Händen. „Es tut mir alles so Leid Emma, all den Kummer, den ich euch bereitet habe, all den Schmerz, wenn ich es rückgängig machen könnte, ich würde es tun!“ Mit schmerzverzerrtem Gesicht blicke ich ihn an. „Bitte Emma, bitte verzeih mir! Ich will dich nicht ein zweites Mal verlieren!“ Plötzlich habe ich keine Zweifel mehr. Tränenüberströmt falle ich ihm in die Arme „Ja, Papa, natürlich verzeihe ich dir!“ Es fühlt sich richtig an. Glücklich über meine Entscheidung drückt er mich fest an sich.

Als wir uns beide wieder etwas beruhigt haben, kehren wir zum Parkplatz zurück. Joachim, Marie und die Arbeitskolleginnen meiner Mutter stehen in einem kleinen Kreis zusammen und unterhalten sich. Ich hätte nicht gedacht, dass sie so lange warten würden. Die Arbeitskolleginnen meiner Mutter und ihre Chefin kommen nun auf uns zu, drücken uns noch mal ihr Beileid aus und verabschieden sich. Marie und Joachim warten noch einen Moment und fragen mich dann, ob sie irgendetwas für mich tun können. Aber ich schüttle den Kopf. „Nein danke. Es ist lieb von euch, dass ihr mir eure Hilfe anbietet, aber ich komme schon zurecht. Ich melde mich dann, wenn ich wieder arbeiten kann, ok?“