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Inhalt

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2016 novum Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-99048-330-5

ISBN e-book: 978-3-99048-331-2

Lektorat: Dr. Ursula Schneider

Umschlagfoto: Mario Rottweiler

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Kapitel 1

Der Eifer der Jugend

Es begann alles mit einer eifrigen, jungen Wissenschaftlerin aus Japan. Ihr Name war Ruri Saiate. Sie arbeitete auf dem Gebiet der Genetik in einem Megakonzern in Tokio, nachdem sie kurz zuvor ihr Studium beendet hatte. Durch ihre überragenden Leistungen hatte sie die gute Stelle bei jenem Konzern bekommen.

Dieser Konzern hieß W-Global-Eta Corporation. Dort wurde intensiv Viren- sowie auch Genforschung betrieben. Durch ihren Fleiß und Eifer gelang es Ruri, das Genprojekt B89, an dem sie arbeitete, erfolgreich umzusetzen. Es sollte ein unglaublicher Durchbruch in der Wissenschaft sowie auch in der Medizin sein. Ihre Forschungen bezogen sich auf das Immunsystem, sie suchte nach einer Möglichkeit, es widerstandsfähiger zu machen. Dies belächelten anfangs viele von ihren Wissenschaftskollegen und gaben ihren Forschungen keinerlei Erfolgschancen. Doch trotz aller Skepsis ließ sich Ruri nicht beirren und forschte fleißig weiter. Nach etlichen Rückschlägen gelang ihr schließlich das Unglaubliche und sie hielt den Prototyp des Genprojekts B89 in ihren Händen. Sie wusste da noch nicht, was es auslösen würde, denn das, was sie da in den Händen hielt, bedeutete das Ende aller Krankheiten und körperlichen Leiden. Es wäre auch das Ende von so ziemlich allen Medikamenten gewesen. Das klang zwar im ersten Augenblick echt super, doch höchstwahrscheinlich hätte es unweigerlich zu einer extremen Überbevölkerung geführt sowie zu noch mehr Armut und Hunger, wovon es so schon genügend auf der Welt gab. Dazu kamen die vielen Bösewichte, die es als Kriegswaffe einsetzen wollten und zu anderen schrecklichen Dingen. Doch Ruri dachte nicht an solche Konsequenzen. Sie sah nur das Gute im Menschen und dachte an die armen Kinder in der Dritten Welt. Man könnte damit so viel Leid beenden und es somit für das Gute einsetzen. Also präsentierte die junge Wissenschaftlerin stolz dem Obersten Chef der W-Global-Eta Corporation ihren Prototypen des Genprojekts B89. Anfangs konnte dieser nicht fassen, was die blutjunge Wissenschaftlerin da Unglaubliches erschaffen hatte.

Sie hatte tatsächlich ein wissenschaftliches Wunder vollbracht. Mit dem Gen B89 konnte man dem Immunsystem sozusagen einfach ein Upgrade verpassen und ihm dadurch alle Informationen zu den uns bereits bekannten Krankheiten liefern, wobei ihm so eine zusätzliche Abwehr beigefügt wurde. Aber nicht nur das, dieses Gen B89 half dem Immunsystem, vorauszudenken und Neues dazuzulernen. So war es auch gegen neue Krankheiten und Infekte extrem effizient, eine Ansteckung wurde nahezu unmöglich. Auch Verletzungen, seien es Schnitte, Verbrennungen oder anderes in der Art, heilten viel besser und schneller ab. Eine Blutvergiftung schien unmöglich und Tumore wie auch genetische Missbildungen hebelte es einfach aus. Die Voraussetzung dafür war jedoch, dass das Gen B89 schon an den Fötus im Mutterleib abgegeben wurde.

Ruri hatte zwar den Prototypen des Gens B89 und all ihre bisherigen Forschungsergebnisse. Jedoch fehlte noch ein wichtiger Faktor, die korrekte Verknüpfung mit der menschlichen DNS. Diese hielt einfach nicht dauerhaft stand und ein zweites Mal nahm es der Körper nicht an. So musste sie einen Weg finden, dass das Gen B89 nicht mehr vom Organismus abgestoßen würde, sondern dieser es dauerhaft als ein Teil von sich akzeptierte.

Ihrem Chef, Marlon Adam Jones, ging es hingegen nur um den Profit. Er wollte nicht wie Ruri die Welt retten und etwas Gutes tun. Ihn interessierten nur die Patentrechte und wie er sich die am besten zu eigen machen könnte. Dafür musste er die junge Wissenschaftlerin unauffällig aus dem Weg räumen, was ihm jedoch nicht so ganz gelingen sollte. Denn während Ruri an ihren Forschungen arbeitete, um eine konstante Wirksamkeit des Gens B89 zu gewährleisten und somit auch dessen Nebenwirkungen zu beheben, hatten die französische wie auch andere Regierungen Agenten bei der W-Global-Eta Corporation eingeschleust, darunter auch Jérôme Martinez.

Dieser arbeitete beim Persönlichen Sicherheitsdienst der W-Global-Eta Corporation. Man bezeichnete diese Männer auch als „Jungs fürs Grobe“, zumindest Marlon Adam Jones nannte sie immer so.

Mr. Jones erteilte dem jungen, verdeckt ermittelnden Agenten Jérôme den Auftrag, die hübsche junge Wissenschaftlerin Ruri schnell und ohne Aufsehen verschwinden zu lassen. (Es sollte wie ein Unfall oder Selbstmord aussehen.)

Da Jérôme den klaren Auftrag seiner Regierung hatte, Informationen über die Forschungen der genetischen Testreihen der W-Global-Eta Corporation zu sammeln, musste er für Mr. Jones auch so manche üblen Jobs erledigen – egal, wie nieder oder widerwärtig diese auch waren. Seine Regierung war nämlich überzeugt davon, dass die W-Global-Eta nicht nur Virenforschung betrieb.

Doch Jérôme konnte so einen unschuldigen und wunderbaren Menschen wie Ruri nicht einfach umbringen. Er war schließlich kein Monster. Sie wollte eigentlich immer nur Gutes mit ihren Forschungen bezwecken und war lediglich ein wenig naiv. Also verstieß er gegen seine Befehle und warnte die junge Wissenschaftlerin. Diese konnte die Wahrheit zuerst gar nicht fassen, da sie an das Gute im Menschen glaubte und sich gar nicht vorstellen konnte, dass jemand so ein Geschenk wie das Gen B89 missbrauchen könnte. Doch der junge Agent schaffte es, sie dennoch wach zu rütteln, und so flohen sie zusammen aus Tokio. Sie tauchten in Paris unter, denn trotz Jérômes Enttarnung und den vielen missachteten Befehlen bekam er noch Unterstützung von seiner Vorgesetzten Marlen Andros. Die Regierung gewährte den beiden Unterschlupf und besorgte Jérôme sogar eine neue Stelle bei der Pariser Polizei. Durch die ganzen Ereignisse entstand zwischen den beiden eine enge Freundschaft, aus der schon bald eine innige Liebe wurde. Ruri arbeitete mittlerweile in einem Pariser Krankenhaus im Blutlabor. Obwohl die junge Wissenschaftlerin ihrem Liebsten Jérôme versprochen hatte, die Forschungen zum Genprojekt B89 komplett einzustellen, arbeitete sie trotzdem heimlich weiter daran. Sie war schon so weit gekommen und es bedeutete einen Riesendurchbruch in der Wissenschaft und der Medizin. Sie konnte es doch nicht einfach verwerfen, sie musste es weiter erforschen. Sie kam auch immer einen kleinen Schritt weiter und es fehlte nun nicht mehr viel, dann hätte man das Gen B89 auch endlich am Menschen einsetzen können. Denn bei den Katzen, bei denen sie heimlich ihre Tests durchführte, zeigte das Gen nun schon eine 82%ige Erfolgsquote. Das zusätzliche Gen wurde problemlos vom Organismus angenommen und zu einem zusätzlichen Teil der DNS. Doch es war nicht vererbbar und musste zuvor jedem einzelnen Organismus genau angepasst werden. Nur so konnte man einen passenden Impfstoff erhalten und es auf weitere gleiche Organismen anwenden. Jérôme wusste nicht, dass Ruri hinter seinem Rücken fleißig weiterforschte. Als Ruri dann auch noch schwanger wurde und die beiden kurz darauf heirateten, dachte er, nun könne es nicht mehr schöner kommen, und war mit vollem Eifer bei der Sache. Als Ruri im sechsten Monat schwanger war und die werdenden Eltern schon voller Vorfreude, holte sie leider die Vergangenheit ein und es klopfte eines Tages unsanft an ihre Tür. Die Männer waren natürlich hinter dem Gen B89 her und wollten es um jeden Preis haben. Doch Ruri konnte dies nicht zulassen und so tat sie etwas, was sie danach ihr ganzes Leben lang bereute. Sie hätte das Gen, wie sie es Jérôme auch versprochen hatte, einfach vernichten sollen.

Gen B89 war zwar ein großer Segen, aber ein noch viel größerer Fluch. Doch die junge Wissenschaftlerin wusste sich in diesem Moment nicht anders zu helfen und machte den allerersten Versuch am Menschen mit dem Gen. Sie war der Wirt und ihr ungeborenes Kind wurde zum Träger. Dies war gleichzeitig die Formel zum Einsatz des Gens B89. An dieser Formel hatte sie die ganzen letzten Jahre gearbeitet und nun musste sie ihre Forschung um jeden Preis schützen. Doch sie konnte das Gen nicht einfach irgendwo bunkern, es musste wirklich sicher sein. Also versteckte sie es dort, wo keiner suchen würde, da keiner davon wissen konnte – bei ihrem ungeborenen Kind. Die Schwangerschaft sah man ihr kaum an und die Leute von W-Global-Eta Corporation ahnten bestimmt nichts davon. Durch ihre Tests an den Katzen wusste sie, dass es so oder so zuerst auf einen Fötus im Mutterleib angewandt werden musste, um das Gen genau auf den Organismus des jeweiligen Lebewesens abzustimmen, wie zum Beispiel auf den des Menschen. Danach konnte man mittels einer Knochenmarksentnahme beim jeweiligen Testobjekt eine mutierte Art des Gens B89 entnehmen und dieses mit dem ersten kreuzen. So erhielt man den Impfstoff des Gens und konnte es problemlos nach Belieben weitergeben. Nachdem sie ihrem ungeborenen Kind das Gen B89 verabreicht hatte, vernichtete sie alles, was ihre Forschungen betraf, und floh mit Jérôme ein weiteres Mal. Die Flucht endete in einem kleinen, russischen Dorf, nahe der mongolisch-chinesischen Grenze.

Kapitel 2

Die ewige Flucht

Dort, in diesem öden Niemandsland, gebar Ruri ihren ersten Sohn. Sie gab ihm den Namen Krys. Niemand außer ihr wusste, dass er das Gen B89 in sich trug, nicht einmal sein Vater Jérôme, und die ersten Jahre ging dies auch gut.

Da der kleine Krys anfangs keine auffälligen Veränderungen durch das Gen B89 aufwies und wie jeder andere Säugling zu sein schien, schöpfte auch keiner einen Verdacht. Er hatte allerdings eine Iris-Heterochromie. Diese Pigmentstörung hatte zur Folge, dass er zwei verschiedenfarbige Augen hatte. Das war unübersehbar, denn sein rechtes war saphirgrün und sein linkes dunkelbraun. Nach kurzer Zeit war auch klar, dass er keinen Schmerz empfand, zumindest nicht wie andere Kinder. Er reagierte zwar auf Berührung und teilweise auf Wärmeunterschiede. Doch Schmerz empfand der kleine Knirps nicht. Dies musste auch sein Vater schockiert feststellen, als er seinem kleinen Jungen an einem Abend aus Versehen ein kochend heißes Fläschchen Milch zu trinken gab und dieser die brühend heiße Milch ohne Zögern runternuckelte. Danach musste er sich schnell auf den langen Weg in ein Hospital machen, da der kleine Knirps sich Mund und Kehle mehr als nur verbrüht hatte. Doch auch da dachte keiner an etwas Außergewöhnliches oder Seltsames. Nur seine Mutter wusste, dass beides vom Gen B89 ausgelöst wurde und ungefährliche Nebenwirkungen davon waren. Alle anderen dachten, dass es sich um herkömmliche genetische Anomalien handele und es nichts Besorgniserregendes oder Lebensbeeinträchtigendes sei. Er sei halt einfach ein eher spezieller kleiner Junge und so wurde er auch leider oft genug behandelt.

Die Zeit in Russland war hart und kräftezehrend. Aber die Familie war trotz allem glücklich und sie hielten zusammen. Die Kinder kannten es nicht anders und beklagten sich auch nie, sei es wegen der Temperaturunterschiede oder der Ödnis. Die Eltern jedoch lebten nun nicht mehr in einer Großstadt und mussten sich zuerst anpassen. Dies fiel besonders Ruri sehr schwer, denn die junge Wissenschaftlerin kannte das Leben auf dem Land noch gar nicht und es war ihr eher ein Graus. Das Leben in Borsja in Russland war rückständig und wie aus einem anderen Jahrhundert. Mit seinen letzten Ersparnissen kaufte Jérôme mehrere Hundert Hektar Land und begann mit einer Pferdezucht. Der Franzose war in der Bretagne auf einem großen Gestüt aufgewachsen und hatte viel Ahnung von der Zucht dieser edlen Tiere. Doch in Borsja war auch dies eine große Herausforderung und extrem zeitaufwendig dazu. So mussten alle in der Familie mit anpacken und das Geld wurde immer knapper. Ruri hatte zu großen Respekt vor den kräftigen Tieren und war nie für die Arbeit zu begeistern. Das meiste blieb deswegen an Jérôme allein hängen und er war zu dieser Zeit mehr als nur überlastet.

Als Krys sein zweites Lebensjahr erreicht hatte und langsam wieder ein wenig Ruhe einkehrte, wurde Ruri ein zweites Mal schwanger und gebar Jérôme einen zweiten Sohn. Sie nannten den kleinen Sonnenschein Yoshi. Dieser Name stand im Japanischen für Güte sowie Glück, was auch gut seinen Charakter beschrieb, denn er war stets ausgelassen und positiv gestimmt. Wenn andere Kinder weinten, dann lachte er und deswegen nannten ihn auch alle Sunny. Er hatte nämlich das Gemüt einer strahlenden Sonne und dies stand ihm gut.

Im Gegensatz zu ihrer Mutter liebten die beiden Jungen die Arbeit mit den Pferden. Besonders Krys half seinem Vater gerne und das schon als ganz kleiner Knirps. Er hatte ein gutes Händchen für die sanften Riesen und verbrachte auch seine meiste Zeit mit ihnen. Sein Vater war stolz auf das Talent seines ältesten Sohnes und froh um die Unterstützung bei der vielen Arbeit. Yoshi hingegen hatte mehr Freude daran, seiner Mutter in der Küche zu helfen und Essen zu kochen. Er kam immer nur zu den Pferden, wenn sie Hausarbeiten verrichtete, vor denen er sich liebend gern drückte, und dies blieb auch so. Er war immer ein liebenswerter Chaot und meist ein wenig verträumt. Sein großer Bruder Krys hatte jedoch die Augen steht’s weit offen. Auch wenn er nie viel sprach, bekam er trotzdem immer alles mit.

So gingen die Jahre vorbei und die beiden Jungen wuchsen langsam heran. Durch das Gen B89 in seiner DNS wurde Krys nie krank und hatte nicht mal die kleinsten Grippesymptome. Als er nach einem Sturz vom Pferd mit gebrochenem Schienbein und einem Schädelbruch im Krankenhaus lag, meinten die Ärzte, es sei ein Wunder, dass er noch am Leben sei und die Blutung in seinem Gehirn von allein wieder aufgehört habe. Er kam zu aller Erstaunen schon nach zwei Tagen wieder zu Bewusstsein und seine Verletzungen waren schon gut am Verheilen. Die Ärzte waren sprachlos und hatten so etwas zuvor noch nie erlebt. Nach nicht mal ganz drei Wochen waren die schweren Brüche schon so gut verheilt, dass man kaum noch etwas davon sehen konnte. Auch Krys benahm sich, als wäre nie etwas geschehen, und stieg sogleich wieder auf Sibur, sein liebstes Pferd. Sein Vater wurde zwar immer mehr stutzig, doch er hätte seiner Frau nie so etwas zugetraut und kam deshalb gar nicht auf die Idee, dass es am Gen B89 liegen könne, das sein ältester Sohn so anders war.

Als Krys an einem eher kühlen Abend den Unterstand der Pferde reinigte, kam Yoshi angerannt und wollte sich wie üblich vor der ach so gehassten Hausarbeit drücken. Krys hatte nichts dagegen und ließ sich gerne von seinem kleinen Bruder unterhalten. Das konnte der auch wirklich gut, er hatte richtiges Talent darin, jemanden zum Lachen zu bringen. So wurde sogar das Ausmisten zu einem Spaß, auch wenn Yoshi mehr quatschte, als wirklich mit anzupacken. Da ihr Vater an jenem Tag beim Angeln war, stand er abends ausnahmsweise mal in der Küche und die Mutter wusch fleißig Wäsche. Keiner von ihnen hatte es kommen sehen, als auf einmal ein Kastenwagen voller russischer Söldner vor ihrem Haus hielt und gewaltsam in dieses eindrang. Zum Glück waren die beiden Jungen draußen und die Söldner trafen im Haus nur auf das Ehepaar. Sie machten den beiden schnell klar, dass sie nur wegen der Forschungen da seien. Sie wollten um jeden Preis das Gen B89, und um an dieses heranzukommen, würden sie alles tun – was sie dann auch so ziemlich taten. Als sie den Vater aufs Übelste folterten und ihm dabei sogar ein Ohr abschnitten, entdeckte einer der Männer auf dem Kamin ein Foto, auf dem die beiden Jungen mit den Pferden abgebildet waren. Da fingen sie an, hektisch nach ihnen zu suchen, und schleppten dabei die Eltern mit durchs ganze Haus. Als sie jedoch nirgends fündig wurden und langsam schon durchdrehten, sah einer der Söldner die brennende Fackel und alle machten sich auf den Weg zum Pferdeunterstand. Krys hatte die furchterregenden Männer jedoch zum Glück zuvor gesehen und versteckte sich mit seinem kleinen Bruder in einem großen Heuberg inmitten von Dutzenden Pferde. Die Tiere wurden ganz unruhig und schon fast panisch, als die Männer angetrampelt kamen. Als diese auch beim Unterstand nichts fanden und die Mutter immer noch kein Wort sprechen wollte, drehte der Anführer durch. Er packte sich zwei der gestressten Tiere und nahm sich zwei Stricke dazu. Dann band er dem schon halb toten Vater die Hände und Füße zusammen. Was dann folgte, war einfach nur schrecklich und grausam. Der Anführer der Söldner spannte den Vater zwischen die Hinterläufe der beiden Pferde und schreckte die so schon völlig gestressten Tiere mit einem Schuss aus seinem Revolver auf. Als die Pferde panisch in entgegengesetzte Richtungen losstürmen wollten, rissen sie dabei dem Vater die Gliedmaßen von seinem Korpus. Er schrie und man konnte laut hören, wie seine Knochen barsten unter dem Zug. Während die Mutter hysterisch schrie und panisch um sich schlug, hielt Krys seinem kleinen Bruder instinktiv Augen und Mund fest zu. Als der Anführer danach auch noch über die Mutter herfiel und sie vergewaltigen wollte, spuckte diese ihm furchtlos ins Gesicht und gab ihm noch einen Kopfstoß hinterher. Der Mann zog wutentbrannt seinen Revolver und schob ihn der Mutter in die Kelle, dann drückte er einfach ab. Die Söldner steckten zuerst den Pferdeunterstand in Brand und danach auch noch das Haus der Familie. Krys war zuerst wie paralysiert, als er auf die brennenden Kadaver seiner zuvor aufs Übelste gefolterten Eltern starrte und rund um ihn die Flammen tobten. Als sein kleiner Bruder Yoshi jedoch anfing, wild um sich zu schlagen, und ihn sogar in die Hand biss, begriff er, dass sie da weg mussten, und zwar schnell. Er bahnte sich einen Weg durch das unübersichtliche Flammenlabyrinth, konnte durch den vielen Rauch fast nichts mehr erkennen und tastete sich halb blind voran. Während er vorsichtig vorankroch, zog er seinen kleinen Bruder mit sich mit. Dieser keuchte und hustete stark. Der Kleine war kaum noch bei Bewusstsein und er schleppte ihn nur mühselig mit. Als er es endlich geschafft hatte, sich selbst und seinen kleinen Bruder da herauszubringen, musste er sich zuerst einen Augenblick orientieren und Luft holen. Er hatte viel von dem Rauch eingeatmet und seine Lunge kollabierte fast. Da sein kleiner Bruder Yoshi sich nicht mehr rührte und schon blau anlief, schüttelte er ihn. Doch Yoshi wollte sich einfach nicht bewegen. Also hob er ihn mit letzter Kraft hoch und schleppte ihn weg vom Feuer. Er versuchte, vom Grundstück wegzukommen. Aber er kam in seinem Zustand einfach nicht weit und brach immer wieder zusammen. Nachdem er das fünfte Mal zu Boden gefallen war und kaum noch auf konnte, legte er seinen leblosen Bruder auf den Boden. Dann stand er mühsam auf und pfiff mehrmals laut. Er wollte Sibur, seinen weiß-schwarz gescheckten Hengst anlocken, wusste aber nicht, ob dieser nach all der Hektik überhaupt noch darauf hören würde. Sein Pferd reagierte sonst stets darauf. Sibur konnte das Pfeifen von Krys von dem aller anderen unterscheiden und kam nur bei ihm angetrabt. Es dauerte eine Weile und Krys dachte schon, dass Sibur nicht kommen würde, was er gut verstehen könnte. Er selbst wäre auch um keinen Preis hierher zurückgekommen. Doch dann, auf einmal, sah er den Schatten seines herangaloppierenden Pferdes. Er konnte es nicht fassen, aber Sibur kam tatsächlich zurück, um ihn und seinen kleinen Bruder zu retten. Der Hengst blieb neben den beiden Jungen stehen und Krys mühte sich mit seinem kleinen Bruder auf den Rücken des Pferdes. Sie ritten in die Steppe raus und das Pferd brachte sie zum Rest der Pferdegruppe. Doch sein kleiner Bruder wollte einfach nicht zu sich kommen. Als er verzweifelt vor ihm kniete und hilflos weinte, kam auf einmal Sibur nahe dazu. Er fuhr mit seinen Nüstern durch Yoshis Haare und leckte ihm dann sanft übers Gesicht. Einen Augenblick später öffnete Yoshi benommen seine Augen und kam langsam zu sich. Krys war ungeheuer erleichtert, dass sein kleiner Bruder dies wenigstens halbwegs überstanden hatte.

Doch was nun? Sie hatten alles verloren und saßen ganz allein in der Steppe. Die ersten paar Wochen blieb dies auch so und sie wurden zu kleinen Wilden. Aber eines Tages trafen ein paar patrouillierende Soldaten auf die beiden verwilderten Kinder. Diese lebten in Mitte der Pferde und schenkten den Soldaten kein Vertrauen, was nach dem Albtraum, den die beiden erlebt hatten, kein Wunder war. Das wirkliche Wunder war, dass sie so lange alleine in der Steppe überleben konnten. Doch schließlich ergriffen sie die Soldaten und brachten die beiden in das zwei Stunden entfernte Zabaykalsk. Dort wurden sie der Polizei überlassen. Da die beiden Jungen kein Wort sprechen wollten und niemand wusste, wer sie überhaupt waren, musste die Polizei dies zuerst ermitteln. Als diese schließlich herausfand, dass es sich bei den beiden um die vermissten Jungen handelte, deren Eltern im letzten Jahr beim großen Brand auf der Farm so schrecklich ums Leben gekommen waren, steckten sie die Brüder prompt in ein Kinderheim.

Kapitel 3

Der Goldfisch im Glas

Dieses sogenannte Kinderheim glich eher einer Fabrik und zugleich einem Knast. Die armen Kinder wurden dort regelrecht zu kleinen Soldaten Stalins ausgebildet und die Nonnen waren die Teufel, die sie erzogen. Sie mussten Schuhe und Hemden nähen und ihre Hände waren meist blutig und aufgerissen vom vielen Nähen. Dies mussten sie zwölf Stunden am Tag tun, und wenn eines der erschöpften Kinder zusammenbrach, gaben sie ihm eine Ladung von irgendwelchen Drogen, die es wieder aufputschten.

Krys beschützte seinen jüngeren Bruder und versuchte, für ihn mit stark zu sein. Das Heim war voller Waisenkinder und viele davon hatten schreckliche Dinge erleben müssen. Einige von ihnen sprachen nicht und ließen einfach alles über sich ergehen. Andere waren extrem aggressiv und hatten sich nie unter Kontrolle. Nur wenige schienen noch normal zu sein trotz allem, was ihnen widerfahren war. Krys sprach auch nicht viel und ging auf Distanz zu den anderen Kindern. Sein kleiner Bruder Yoshi folgte ihm blind und sprach mit keinem. Er flüsterte nur Krys manchmal etwas zu und mehr auch nicht.

Die erste Zeit war hart und Krys musste viel Prügel einstecken. Doch darin war er gut und er stand immer wieder auf. So gewann er auch oft, trotz etlicher Prellungen und so mancher Brüche. Er fand sogar eine Freundin. Ihr Name war Cloé. Anfangs wollte er kein Wort mit der hübschen Blondine wechseln. Doch sie saß beim Nähen direkt neben ihm und sprach immerzu. Manchmal sang sie auch leise vor sich hin. Dies mochte er sehr, denn ihre Stimme klang lieblich und warm. Meist sang sie immer dasselbe Lied, und zwar ein französisches Kinderlied. Es hieß Frère Jacques und manchmal, während sie dieses sang, kullerten ihr die Tränen über die Wangen. Dieses Lied schien ihr offensichtlich viel zu bedeuten und eine wichtige Erinnerung für sie zu sein. Dazu kam, dass sie ihn von Anfang an nie Krys nannte, sondern immer nur Giro. Sie meinte immer, er erinnere sie an Giro. Als er sie fragte, wer oder was ein Giro sei, meinte sie nur, der frechste und süßeste Affe, den es gebe. Auch wenn er dies anfangs nicht mochte, gewöhnte er sich mit der Zeit daran und es wurde sein Spitzname in dem Horrorheim. Nach etwa vier Jahren in der Hölle und etlichen zerstörenden Erlebnissen war Krys schon mehr als abgestumpft und fügte sich einfach nur den Anweisungen. Es kamen immerzu weitere Kinder und ersetzten die schwachen, die starben. Aber es wurde nie eines der Kinder adoptiert, denn sie waren billige Arbeiter und standen nicht zum Verkauf. Er gewöhnte sich an fast alles. An das ekelhafte Essen konnte er sich allerdings nie gewöhnen und es gab auch noch jeden verdammten Tag denselben Dreck. Ucha nannte man dieses Gericht und es wurde einmal am Tag an die Kinder gereicht. Ucha war eine klare Fischsuppe, die außer aus Wasser und groben Kartoffelstücken nur noch aus Fisch bestand. Dies waren die Haupt- und auch ziemlich die einzigen Zutaten. Der Fisch war meist schon verdorben und so roch die Brühe auch. Doch sie bekamen nur dies zu essen und so aßen sie alle brav die ekelhafte Brühe. Er pickte sich oft nur die Kartoffeln raus und verschmähte den Rest. Dies ließen sich die strengen Nonnen aber nicht gefallen und zwangen ihn, auch den widerlichen Fisch und dessen abgestandene Brühe zu trinken. Dies brachte ihn immer zum Erbrechen und er fühlte sich hundeelend.

Zu dieser Zeit bekam das Heim einen neuen Leiter mit Namen Petrovic und dieser führte neue Sitten ein. Er veranstaltete Kämpfe und verdiente so noch mehr Geld an den Kindern. Diese Kämpfe waren wie Hahnenkämpfe, nur dass es Kinder waren, die dabei gegeneinander antreten mussten.

Die Kämpfe waren brutal und gingen bis zum K. o. Sie fanden im Keller des alten großen Gemäuers statt. Krys musste oft antreten und war einer der besseren Kämpfer. Deswegen setzten auch viele Zuschauer ihr Geld auf ihn und er war einer der Favoriten. Er wollte dies jedoch gar nicht sein und hasste die schrecklichen Kämpfe. Aber wenn er angegriffen wurde und Schläge abbekam, ging es einfach mit ihm durch. Er konnte sich meist kaum noch kontrollieren und handelte blind im Affekt. Eigentlich hatte er keine Ahnung vom Kampfsport und alles, was er konnte, hatte er sich selbst beigebracht. So konnte er sein eigenes Leben und das seines kleinen Bruder Yoshi bislang schützen. Schließlich waren die beiden trotz allem noch am Leben und die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Auch die Mädchen mussten an den Kämpfen teilnehmen und Cloé war ein sehr starkes Mädchen. Sogar er hatte Mühe gegen die Kleine und sie lehrte ihn viel über die Abwehr sowie Bodentechniken. Er erfuhr, dass ihre Mutter eine berühmte russische Westlerin war und ihr so manches davon beigebracht hatte, bevor sie starb.

Cloé war im Kampf wie eine wunderschöne, aber unberechenbare Python, die einem zuerst langsam die Luft abschnürte, bevor sie einen, ohne auch nur einmal mit der Wimper zu zucken, mit Haut und Haaren verschlang. Er hatte das Glück, sich gut mit ihr zu verstehen und konnte so manches von ihr lernen. Ein Jahr, nachdem die Kämpfe eingeführt worden waren und zur Regel gehörten, brachten sie wie so oft eine Ladung mit neuen Kindern und füllten die noch leeren Betten mit ihnen. Darunter befand sich auch ein Junge mit dem Namen Maxim. Dieser war ein großer und starker Kerl für sein junges Alter. Er sprach so gut wie kein Wort und starrte jeden immer nur grimmig mit seinen grüngrauen Augen an. Er hatte jedoch eine Schwäche für Cloé. Die blonde Schönheit mit den riesigen, strahlenden, hellblauen Augen und den vollen Lippen, ließ seinen Blick förmlich erstarren. Cloé machte der grimmige Junge jedoch eher Angst und sie mied seine Nähe.

Krys fiel dieser Junge zuerst gar nicht auf, da er sich nicht für die neuen Kinder interessierte. Er kannte ja noch nicht mal die Namen derer, mit denen er nun schon fast fünf Jahre hier festsaß. Ihn interessierten nur das Wohl seines kleinen Bruders und das Überleben. Also bekam er gar nicht mit, dass es Maxim wenig gefiel, dass Cloé immer seine Nähe aufsuchte und dies dann auch noch sichtlich genoss. Als die beiden Jungen eines Tages auch noch gegeneinander kämpfen sollten, ahnte er nicht, dass dieser Maxim einen solchen Hass gegen ihn hegte. Der Kampf war hart und erbarmungslos. Maxim war ihm nicht nur körperlich überlegen, er hatte auch eine Menge Ahnung von Kampfsport und dies bekam Krys hart zu spüren. Da er jedoch keine Schmerzen empfinden konnte, ging der Kampf sehr lange und er stand immer wieder auf. Sein Kopf war blutüberströmt und er hatte eine Riesenplatzwunde an der Stirn. Er konnte fast nichts mehr wahrnehmen, trotzdem kämpfte er weiter. Doch irgendwann brach er einfach zusammen und der Kampf war endlich vorbei. Es klingt vielleicht seltsam, aber Maxim wurde danach zu einem seiner besten Freunde und sie verstanden sich wirklich gut. Maxim war nämlich sehr beeindruckt von Krys’ Zähigkeit und Furchtlosigkeit, die dieser steht’s im Kampf an den Tag legte. Krys ließ sich nichts gefallen und wusste sich zu behaupten. Er lernte von Maxim schließlich Muay Thai und sie trainierten fleißig miteinander.

Dieser Maxim war halb Russe und hatte zuvor in den USA gelebt, bis er von seinem Vater mit neun Jahren entführt wurde. Dieser starb jedoch schon drei Jahre später, als ihn Milizen niederschossen. Da die Mutter von Maxim zwei Monate zuvor in den USA an einer Überdosis Heroin verstorben war, wurde er auch ins Heim gesteckt. Maxim war in den USA amtierender Muay Thai Weltmeister bei den Neunjährigen. Er liebte diesen Kampfstil und hatte diesen schon von klein auf von seinem thailändischen Stiefvater beigebracht bekommen.

Irgendwann kam Herr Petrovic auf die tolle Idee, die Kämpfer in Klassen aufzuteilen und so die Stärken der Kinder aufzuzeigen. Diese wurden nun auch noch gebrandmarkt und bekamen entsprechend ihren jeweiligen Stärken eine Bärentatze tätowiert, denn sie nannten die Kämpfe der Kinder Bärenkämpfe. (Warum auch immer, dies verstand Krys wie so vieles in seinem Leben auch nicht.) Die Tätowierungen befanden sich jedenfalls entweder auf einem der jeweils dominanten Knöchel des Beines oder auf dem Handgelenk des jeweils dominierenden Armes. So wussten die zahlenden Zuschauer auch immer, was die Stärke des Kämpfers war und konnten diese Information für ihre zahlreichen Wetten nutzen. Die Stärke von Krys war sein rechtes Bein und er bekam eine Bärentatze auf den rechten Knöchel tätowiert. So ging die Zeit weiter und alles schien kein Ende zu nehmen – das viele Nähen und Tausende von Kämpfen. Dazu kamen die Drogen, die sie regelmäßig verabreicht bekamen. Diese machten die Kinder gefügiger und so hatten die Nonnen sie besser unter Kontrolle.

Kapitel 4

Tag der Erlösung

Eines Tages stand wie aus dem Nichts ein älterer Mann im Empfangsbereich des Kinderheims. Dieser betrat das Waisenhaus und nach einem kurzen Gespräch mit dem Leiter, Herrn Petrovic, wurden die beiden Brüder von ihren Arbeitsplätzen erlöst und dem älteren Mann übergeben. Krys und sein kleiner Bruder Yoshi wussten nicht, wie ihnen geschah, und traten, ohne zu fragen, zu dem Mann vor. Dieser starrte sie mit großen Augen an, und je näher sie ihm kamen, desto intensiver starrte er. Krys war diese Situation nicht geheuer und er nahm seinen kleinen Bruder fest an die Hand, den alten Mann behielt er dabei die ganze Zeit über fest im Blick. Er hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Was sollte das Ganze hier? Er verstand es nicht und trauen tat er der ganzen Sache schon gar nicht. Als sie unmittelbar vor dem älteren Mann standen, wollte dieser die beiden Jungen sogleich herzlich umarmen. Diese Geste blockte Krys jedoch ab und aus der Umarmung wurde schließlich nur ein beiderseitiges Schulterklopfen.

Daraufhin meinte eine strenge Nonne zu dem Besucher:

„Ich hab es Ihnen ja gesagt, mein Herr! Die beiden sind kleine Wilde. Der jüngere von beiden hat noch kein einziges Wort gesprochen, seitdem er hier ist, und er beißt auch. Der andere ist besessen. Der Teufel haust in seinen Augen und besetzt seine Seele. Ich selbst habe schon versucht, ihm den Teufel auszutreiben. Aber keine Chance! Teufel bleibt nun mal Teufel. Gott sei seiner Seele gnädig und befreie ihn von den Dämonen, die ihn plagen.“

Der ältere Mann meinte daraufhin jedoch ruhig zu ihr:

„Lassen Sie dies meine Sorge sein und kümmern Sie sich lieber um Ihre eigenen Dämonen.“

Die Nonne sah den Mann pikiert an und schüttelte entsetzt ihr Haupt. Dieser sah jedoch nur gelassen zu den beiden Jungen rüber und meinte dabei ruhig:

„Schon gut. Mein Name ist Dong Long. Wir verlassen diesen schrecklichen Ort. Ich verstehe, dass ihr nach all dem keinem Menschen mehr traut. Das kriegen wir schon hin. Kommt schon, lasst uns gehen.“

Während Dong Long dies sprach, sah ihn Krys nur unsicher und auf Abstand bedacht an. Der kleine Yoshi hingegen krallte sich nur stumm fest an den Arm seines älteren Bruders und versteckte sich hinter diesem. Sie antworteten Dong Long nicht, sondern folgten ihm nur wortlos nach. Sie waren so viele Jahre nicht mehr draußen gewesen und außer dem kleinen, hässlichen Hof des Heims hatten sie jahrelang nichts anderes gesehen. Dies war eine schreckliche Zeit gewesen und sie konnten es kaum glauben, als sie wirklich vor der großen, schweren Holztür standen. Die schien all die Jahre undurchdringlich und nur als Eingang gedacht zu sein. Doch nun traten sie tatsächlich auf die andere Seite und dies fühlte sich unglaublich befreiend an. Krys fühlte sich in diesem Moment wie ein wilder Mustang, der endlich das Halfter und den Sattel losgeworden war, um frei in die Steppe hinaus zu galoppieren. Er wollte laufen und das so weit, wie seine Beine ihn tragen würden. Aber das konnte er nicht, denn er durfte seinen kleinen Bruder Yoshi nicht vergessen und musste weiter seine kleine Herde beschützen. Als Dong Long die Überforderung der beiden Jungen bemerkte, wurde ihm erst wirklich bewusst, dass sie mehr als nur die Hölle erlebt haben mussten. Er wusste zwar von ihren Eltern und deren schrecklichem Tod. Aber es war noch so vieles unklar und er hatte selbst jahrelang nach den beiden Jungen suchen müssen. Anfangs wusste er nicht mal von ihrer Existenz, und als er davon in Kenntnis gesetzt wurde, hatte er sich natürlich sofort auf die Suche nach den beiden gemacht.

Nachdem sich die beiden Brüder beruhigt und die ersten Eindrücke etwas verarbeitet hatten, begaben sie sich mit Dong Long zu seinem braunen Kia Jeep und setzten sich auf die Rückbank. Dann fuhr Dong Long los und zuerst sprachen sie nichts. Dong Long ließ mongolische Volksmusik laufen. Er sang ab und zu mit und meinte irgendwann zu den beiden Brüdern:

„Ruht euch aus und schlaft ein wenig. Wir haben noch eine lange Reise vor uns und den nächsten Halt machen wir erst in etwa sieben Stunden wieder. Dann sind wir nämlich in Choibalsan und ihr seht endlich eure wahre Heimat. Unter euren Sitzen findet ihr übrigens etwas zu trinken und auch was Leckeres zu essen. Greift ruhig zu, wenn ihr das Bedürfnis dazu habt.“

Da Krys sehr hungrig war, sah er neugierig in die Tüte, die sich unter dem Sitz befand. Als er darin eine große Flasche Coca Cola und daneben eine dicke Schweinskeule entdeckte, war er nicht mehr zu halten. Er öffnete zuerst das süße, goldbraun zischende Getränk. Doch bevor er selbst davon probierte, reichte er es Yoshi. Er lachte den Kleinen dabei an und darauf griff dieser sich schließlich die Flasche. Der Kleine hatte noch nie Coca Cola getrunken und nach einem herzhaften Rülpser huschte zum ersten Mal nach all den Jahren wieder mal ein Lächeln über seine kleinen Lippen, wobei seine Augen förmlich strahlten. Das ließ auch Krys wieder ein wenig fühlen und er schöpfte etwas Hoffnung. Er griff nach der Keule und biss herzhaft hinein. Endlich keinen Fisch mehr. Nie mehr, dachte er, lieber verhungern, als noch einmal Fisch essen. Er hasste alles am Fisch. Sei es sein widerlicher Geruch oder seine eklige Konsistenz. Ja, sogar sein Anblick widerte ihn an und allein die Vorstellung machte ihn beinahe krank. Es war Hass, er hasste Fisch. Die beiden Jungen aßen und tranken, als ob es um ihr Leben ginge. Dong Long sah ihnen erfreut über den Rückspiegel dabei zu und meinte dann freundlich:

„Ihr habt mir aber einen Hunger! Da, in der zweiten Tüte, gibt’s noch Brot und glaubt mir, damit schmeckt es erst richtig lecker!“

Nach etwa sieben Stunden trafen sie ihn Choibalsan in der Mongolei ein. Dort in der Stadt kaufte Dong Long den beiden Jungs zuerst neue Kleidung, da die beiden mehr als nur dürftig gekleidet waren. Danach betraten sie ein Restaurant, und während sie aßen, meinte Dong Long zu den beiden:

„Ich weiß, ihr kennt mich nicht und habt keinen Grund, mir zu trauen. Aber ich möchte gern versuchen, ein wenig Licht ins Dunkle zu bringen. Ich war lange, wirklich lange auf der Suche nach euch beiden. Eigentlich seit dem Tag, an dem ich von eurer Existenz erfahren habe, und das ist nun genau viereinhalb Jahre her. Eure Mutter Ruri  …“

In diesem Moment musste Dong Long unterbrechen und sich wieder fangen. Es schien ihm alles sehr nahe zu gehen. Dann fuhr er bedrückt fort:

„Yoshi, du hast Ruris Strahlewangen und ihre süße Nase. Ich vermisse eure Mutter so. Sie war mein ganzer Stolz. Auf sie konnte man immer bauen und ihre Güte war unbegrenzt. Dazu kam ihr Genie. Sie war eine unglaublich kluge Frau und hatte alle Kapazitäten. Ich verstehe dies alles nicht.“

Er hielt wieder inne und es fiel ihm sichtlich schwer. Doch dann meinte er:

„Ruri war meine Tochter  … Und sie musste sterben. Aber ihr beiden, ihr lebt und ihr braucht mich. Ruri hatte mir nie von euch erzählt. Aber sie hatte ihre Gründe. Eure Mutter hatte immer ihre Gründe und tat nichts unbedacht. Als ich jedoch nach dem Tod eurer Eltern benachrichtigt wurde und dann auch noch von euch beiden erfuhr, wollte ich euch sofort zu mir holen. Doch ihr wart verschwunden. Als man euch dann wieder fand, wurdet ihr gleich gegen Geld verkauft und ich musste mich durch ganz Russland kämpfen, um euch zu finden. Ich meine, ich hatte ja nichts außer einem einzigen Foto von euch und euren Namen. Bis zu dem Tag, als ich endlich einen der Soldaten fand, der euch damals in der Steppe gefunden hatte. Dieser nannte mir wiederum viele verschiedene Namen von solchen falschen Kinderheimen wie das eure. Es war ein harter Weg und ich habe schlimme Dinge gesehen. Aber noch lange nicht so hart und schlimm wie euer schrecklicher Marsch. Ihr müsst meinen Worten keinen Glauben schenken oder mir vertrauen. Ich möchte nur, dass ihr wieder leben könnt und dies wie Menschen. Ihr seid meine beiden Enkel und das Einzige, was mir von Ruri geblieben ist. Durch unsere Adern fließt dasselbe Blut.“

Zuerst sahen die beiden Jungen ihn nur skeptisch an und es herrschte einen Moment Stille am Tisch. Doch dann auf einmal sprang der kleine Yoshi auf und fiel dem alten Dong Long um den Hals. Der Kleine drückte sich fest an ihn, wobei er freudig meinte:

„Großvater! Großvater! Wo warst du so lange? Großvater! Großvater! Mama hat gesagt, du kommst uns besuchen. Großvater! Großvater!“

Der Kleine war ganz außer sich und schien Dong Long auf einmal zu kennen. Doch Krys traute dem Ganzen immer noch nicht. Sein kleiner Bruder wünschte sich dies vielleicht einfach zu sehr und vermisste seine Eltern unendlich. Aber wie sollte er selbst den Worten dieses alten Mannes Glauben schenken und somit auch Vertrauen?

Dies waren schließlich auch nur Worte und denen vertraute Krys schon lange nicht mehr. Obwohl er selbst noch Abstand zu Dong Long hielt und seiner Geschichte misstraute, ließ er seinem kleinen Bruder die Freude und unterband es nicht. Denn er hatte ihn so lange nicht mehr froh gesehen und wollte dies nicht zerstören. Falls dieser Dong Long lügen sollte, müsste er es so oder so früher oder später beenden. Doch bis dahin sollte sein kleiner Bruder nicht schon wieder leiden und jemanden verlieren. Auch wenn sie Dong Long erst ein paar Stunden kannten, der Kleine sah in ihm tatsächlich seinen Großvater und glaubte ihm jedes Wort. Es hätte ihn sicher verstört, wenn man ihm diese Illusion genommen hätte. Doch Krys konnte es einfach nicht glauben und für ihn war es mit großer Wahrscheinlichkeit eine Illusion. Sie übernachteten in einem Hotel in der Stadt und setzten erst am nächsten Morgen ihre Reise fort. Diese endete erst nach weiteren zehn Stunden Fahrt und sie fanden sich inmitten von Ulaanbaatar wieder. Es war schon Abend und stockdunkel. Doch in dieser Riesenstadt war alles voller Lichter und Leben. Die beiden Brüder hatten so eine moderne Stadt zuvor noch nie gesehen, geschweige denn erlebt und es war so ziemlich alles neu. Der kleine Yoshi klebte förmlich an der Scheibe des Jeeps und war auf einmal hellwach. Krys betrachtete das hektische Farbenspiel lieber aus der Distanz und fühlte sich eher erschlagen davon. Dong Long hielt vor einem Chinarestaurant und sie gingen hinein. Er zeigte den beiden Jungen das ganze Restaurant und oben die Wohnräume. Dong Long hatte jedem ein eigenes Zimmer frei geräumt und mit einem Bett sowie einer Kommode versehen. Die Betten waren frisch bezogen und sogar die Matratzen waren nagelneu. Krys hatte noch nie so gut geschlafen wie in dieser Nacht, auch wenn er das kleine Bett mit seinem knuddelbedürftigen Bruder teilen musste, da dieser noch nicht alleine schlafen wollte und seinen großen Bruder in dieser Situation brauchte. Also teilten die beiden ein Bett zusammen und das blieb auch die erste Zeit so. Am nächsten Morgen schlich sich Krys leise aus dem Bett, denn er wollte seinen kleinen Bruder nicht wecken. Er begab sich in den unteren Bereich des Hauses. Dort saß Dong Long in der Küche, und als er den Jungen sah, winkte er ihn zu sich an den Tisch. Krys ging, ohne etwas zu sagen, zu dem alten Mann und setzte sich schweigend neben ihn. Da legte Dong Long wortlos ein Foto auf den Tisch. Der Junge sah sich das Bild an und erkannte sofort seine Mutter darauf. Sie trug einen weißen Laborkittel und neben ihr standen weitere Leute. Einer davon war Dong Long. Während er das Foto betrachtete, meinte dieser zu ihm:

„Du erkennst bestimmt deine Mutter. Sie war so eine reizende Person und so intelligent. Wie du bestimmt auch erkennst, bin ich ebenfalls auf dem Foto vertreten. Genau wie auch die Schwester deiner Mutter, Cai Li, eure Tante. Sie steht gleich dort neben eurer Mutter auf dem Bild. Du musst wissen, das Foto entstand an einem ganz besonderen Tag. Denn eure Mutter hatte einen Riesendurchbruch in der Genwissenschaft errungen und wurde dafür ausgezeichnet. Ich war noch nie so stolz wie an jenem Tag auf mein Kind.“

Krys hörte dem alten Mann aufmerksam zu. Doch als Dong Long diesen Satz sprach, meinte er dann doch leicht verdutzt zu ihm:

„Dein Kind? Was soll das? Wie soll ich das verstehen?“

Dong Long hielt einen Augenblick inne, er schien sichtlich Mühe zu haben, dem Jungen zu antworten. Bis er schließlich meinte:

„Ruri … liebliche, kleine Ruri. Sie war meine Tochter und sie wird immer meine Tochter bleiben.“

Da musste er wieder einen Moment innehalten und diesmal liefen ihm sogar die Tränen runter. Er sah Krys mit traurigem Blick an und fuhr dann fort:

„Dein Bruder Yoshi hat viel von Ruri. Sogar ihr wunderbares Lachen. Als ich erfahren habe, das Ruri verstorben ist, und vor allem, wie es dazu kam, brach für mich alles zusammen. Ich wusste nicht, wo mir der Kopf stand. Doch als ich ihrer Schwester Cai die schreckliche Nachricht verkündete, war ihre größte Sorge ihre beiden Neffen. Ich war völlig entsetzt. Denn meine kleine Ruri hatte eigentlich keine Geheimnisse vor ihrem alten Vater. Zumindest dachte ich das immer. Doch nun waren da zwei Enkelsöhne, von denen ich nichts wusste und die nun auch noch spurlos verschwunden waren. Dazu kam die schreckliche Ermordung eurer Eltern, die noch mehr Fragen aufwarf. Es schien auf einmal, als ob ich meine kleine Ruri nie wirklich gekannt hätte. Sie hatte so viele Geheimnisse. Ich hätte nie gedacht, dass es so weit kommen würde. Ich dachte, wir wären sicher. Cai Li und mich haben die ja auch nie gefunden. Wie konnten sie nur Ruri und euch finden? Aber das Gen B89 haben sie nicht gefunden, denn sie suchen noch immer danach. Es ist einfach schrecklich, sie dürfen nie erfahren, dass du und dein Bruder noch leben.“

Dong erzählte ihm alles, was er über das Geschehene wusste. Der alte Mann hatte gut recherchiert und konnte ein wenig Klarheit in das ganze Drama bringen. Krys wusste nun von den komischen Forschungen seiner Mutter und den bösen Männern, die dahinterher waren. Doch es blieben immer noch viele offene Fragen, auf die auch Dong keine Antwort hatte. Er wollte jedoch nur eines zu diesem Zeitpunkt, den Kerl erledigen, der für die ganze Scheiße verantwortlich war. Dies war allem Anschein nach Marlon Adam Jones, der Besitzer und Chef von der W-Global-Eta Corporation. Doch an den Kerl kam man nicht einfach ran. Der war eine Art Sensenmann, der zuschlug, ohne dass man ihm wirklich begegnete. Dazu kam, dass er selbst noch ein Kind war, was hätte er schon groß tun können? Doch er schwor sich Rache und die würde er auch bekommen. Nun hieß es, sich vorzubereiten auf den Kampf seines Lebens. Dong half ihm dabei, einen Plan zu schmieden. Yoshi hingegen wusste nichts von den Plänen seines älteren Bruders und auch nichts über das Gen B89 oder von Marlon Adam Jones. Doch so war Yoshi sorgenfreier und im Gegensatz zu seinem Bruder Krys konnte er sogar teilweise Kind sein. Zu ihrem neuen Zuhause bekamen die beiden auch neue Identitäten, was ihrem Schutz dienen sollte. Nun hieß Krys nicht mehr Krys, sondern Giro und Yoshi nannte sich Sunny.

Kapitel 5

Die ersten Schritte sind meist schwer

Vor 20 Jahren in einer kleinen Provinz im Norden der Mongolei bei Chowd (Khovd) erblickte ein kleines süßes Mädchen das Licht der Welt. Ihr Name war Naomi und dies ist die Geschichte ihrer ersten Schritte.

Naomi wusste nicht, an welchem Tag oder zu welcher Stunde sie zur Welt kam, nur, dass es 1994 war, und zwar im August. Ihre Mutter brachte sie auf der bloßen Erde neben einer Straße zur Welt. Gleich nach ihren ersten Schreien nahm die junge Mutter ihr Neugeborenes auf den Arm und wickelte es in ihr Halstuch, das sie trug. Dann lief sie ein Stück neben der Straße her. Nach einer Weile blieb sie jedoch stehen und legte das Neugeborene sanft auf den sandigen Boden der Straße. Danach verschwand sie für immer. Auf dem Halstuch stand Naomi, was schließlich der Name des Mädchens wurde.

Tante Mirja meinte stets zu ihr, Naomis Mutter sei so unglücklich mit ihrem eigenen Leben gewesen, dass sie ihrem Kind nicht das gleiche Schicksal habe zumuten wollen. Tante Mirja war sozusagen ihr Schutzengel. Als die Kleine nämlich damals neben der Straße lag, hatte ein Lastwagenfahrer, der mal dringend musste, angehalten und sie kaum noch atmend gefunden. Sie war schon so gut wie tot gewesen. Er brachte sie zu Tante Mirja, die sich um viele Waisenkinder in Chowd kümmerte. Sie päppelte die Kleine wieder auf und sorgte von da an für sie. Sie sagte immer, es sei ein wahrhaftiges Wunder, dass Naomi überhaupt noch lebe.

Diese war aber nicht das einzige Waisenkind, um das sich Tante Mirja kümmerte, sie waren insgesamt acht Kinder. Sie verstanden sich eigentlich gut, außer wenn es ums Essen ging, da benahmen sie sich nämlich wie eine Meute räudiger Hunde. Tante Mirja gab ihnen immer mit einem Suppenlöffel auf den Mund, wenn sie sich wieder schlecht am Tisch benahmen. Das war sehr schmerzhaft. Trotzdem gab es jedes Mal welche, die sich wie die Wilden benahmen. Badma war zum Beispiel so einer. Der konnte nie genug kriegen. Er war nicht mal dick, im Gegenteil, er war sehr schlank und groß und hatte einen schmalen Körperbau. Naomi konnte sich noch gut an seine überdicken Augenbrauen und seinen unnatürlich großen Mund erinnern. Mit diesem konnte er unglaublich schnell essen und sprechen zugleich. Die meisten der Kinder hörten ihm gar nicht zu, wenn er sprach, da meistens nur Beleidigungen seinen Mund verließen. Außer Akai, der rastete oft aus bei dem Schwachsinn, den Badma den ganzen Tag erzählte.