9783990482483_frontcover.jpg

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Nichts stirbt, wenn die Erinnerung bleibt

Kindheit

Jugendzeit

Hochzeit 1966

Familie in Tunesien

Sommer 1969

Die Elfenbeinküste, 1970 …

Studium 1972–1974

Familie in Togo

Sommer 1977

Domäne Blumenrod 1978

Schloss Marienthal

Schlossgut Marienthal

Die Lasten werden schwerer …

Päckchen auf Päckchen, stapelte sich zur Last

Schlusswort

Anhang mit Geschichten

Liebe Kinder

Fahrerpech

Auf den Hund gekommen

Die liebe Verwandtschaft

Versprechen – Verzeihen – Vergessen!

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2016 novum Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-99048-248-3

ISBN e-book: 978-3-99048-249-0

Lektorat: Silvia Zwettler

Umschlagfoto: Srecko Djarmati | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildungen: Monika Schreiber (20)

www.novumverlag.com

Nichts stirbt, wenn die Erinnerung bleibt

Meine Erinnerungen möchte ich für meine Kinder Michael, Martin, Manfred, Marc und Mirco schreiben.

Große Freude hätte ich, wenn meine Enkelkinder Biliana, Michel, Ronja, Larissa, Marie-Charlotte, Marla Lou, Malik und Lisa und alle, die noch kommen werden, das Buch eines Tages in die Hand nehmen würden.

Zu Lebzeiten hat man einfach keine Zeit für alte Geschichten, jeder ist mit sich und seinem Leben beschäftigt. Doch es kommt der Tag, da man älter wird und nach den Wurzeln sucht und nach der Vererbung, nach der Erziehung und Übernahme von Gewohn- und Eigenheiten, die den Menschen von Generation zu Generation prägen.

Somit lernt man die Worte aus der Bibel verstehen „… bis in das dritte und vierte Glied …“

Sicherlich kann man mit Vernunft und eisernem Willen anders werden als die Eltern und doch werdet ihr an euch Reaktionen entdecken, die ihr nicht erwartet habt, die ihr nicht erklären könnt und die ihr nicht gewollt habt. Dann spricht man von Erbanlagen, von Übernahme der Erziehung, von dem Einfluss eurer Vorfahren.

Vielleicht entdeckt ihr in meiner Geschichte Dinge, die euch helfen, euch selber besser zu verstehen, euch selbst zu finden und euren Platz in der Familie zu entdecken.

Auch Jörn erhält ein Exemplar, ungeachtet der niederschmetternden Beurteilung meiner Ausführungen, er wird das Buch in der Luft zerreißen – macht nichts –, für 33 Jahre war es auch seine Zeit.

Allen Lesern möchte ich hiermit versichern, dass ich für Lügen kein Gedächtnis habe, für Märchen zu wenig Fantasie und dass meine Erzählungen auf fundierten Berichten, Briefen an meine Eltern aufgebaut sind und belegt werden können.

Es ist der letzte Tag im Jahr und die Gedanken wandern zurück und in die Zukunft. Was hat uns das Vergangene gebracht, was wird uns das Neue bringen?

Ich nehme mir Zeit, bummle mit meiner Erinnerung bis in die Kindheit zurück.

Kindheit

Mitten in den Kriegswirren kam ich 1944 am 6. Mai in Eschwege zur Welt. Es war eine gruselige Zeit, jeder kämpfte um sein Überleben zwischen Bombeneinschlägen, Luftschutzkelleraufenthalten und der Suche nach Lebensmitteln. Mein Bruder Horst war schon 2 Jahre und ein rechtes Sorgenkind, daher waren meine Friedlichkeit und das nette Aussehen die einzigen Bemerkungen in den Briefen meiner Mutter, die meinen Vater an der Front erreichten: „Um Monika braucht man sich nicht zu kümmern, sie spielt mit ihren Händchen und brabbelt vergnügt vor sich hin“, ein wahrer Ausdruck, der das ganze Leben blieb.

Aus meiner frühen Kindheit gibt es also nicht so viel zu berichten, als Sonnenschein war ich für meine Mutter erholsam, friedlich, still und bescheiden. Eine Begebenheit wurde mir dennoch immer wieder und wieder erzählt, nämlich als Bombeneinschläge das Nachbarhaus zerstörten, meine Mutter im Schutzkeller festgehalten wurde und ich im 4. Stock auf der Glasveranda inmitten von Millionen Glasscherben unverletzt und glücklich brabbelnd aufgefunden wurde. Meine Mutter konnte die Verzweiflung, während die Bomben auf Eschwege niedergingen und ihr Kind mittendrin alleine auf der Veranda im Körbchen lag, ihr Leben lang nicht vergessen! Wie unmenschlich war der Kommandant des Schutzkellers, doch eine Ausnahme konnte er nicht zulassen, da Gefahr für das Leben aller Schutzbefohlenen bestand. Für uns, die keinen Krieg erlebt haben, unvorstellbar.

Eine weitere Geschichte kann ich auch nur von Erzähltem berichten, denn ich war noch zu klein, um Erinnerungen daran zu haben. Wir hatten eine polnische „Nanny“, die sollte auf mich aufpassen, da meine Mutter und Horst mit dem Handwagen auf das Land fuhren, um Ähren zu sammeln, vielleicht auch, um von Bauern, die meine Mutter noch aus ihrer Zeit als Geflügelzüchterin kannte, ein Stückchen Speck einzutauschen. Nun, das junge Ding hatte alles andere im Kopf und bemerkte nicht, wie ich auf der Straße dem Handwagen nachlief. Bald waren Mutter und Horst verschwunden und ich allein auf weiter Flur. Das machte mir wohl nichts aus und wacker stapfte ich weiter auf der großen Straße. Frauen und Mütter wollten mich retten, doch dann schrie ich wie am Spieß und so ließen sie mich weiterlaufen. Eschwege hatte ich schon lange hinter mich gebracht und vor mir lag das Dorf Reichensachsen. Keiner konnte mich stoppen und so hing eine Traube von Frauen hinter mir. Jeder versuchte es, wollte das arme Kind nach Hause zurückbringen, doch ich brüllte und lief weiter. Da kam ein alter Mann auf mich zu, sprach mit ruhiger Stimme, fragte, wie ich heiße, und siehe da, ich brüllte nicht und sagte meinen Namen: „Hossi.“

Wo ich wohnte wusste ich jedoch nicht und auch meinen richtigen Namen kannte ich noch nicht. Ich war erst 2 Jahre alt. Der Mann mit der beruhigenden und herzlichen Stimme nahm mich auf den Arm und mit ihm ging ich friedlich in seine Wohnung. Eine wunderschöne Puppe hatte ich im Arm, saß glücklich auf dem Schoß und lachte meiner verzweifelten Mutter entgegen. Sie war tausend Tode gestorben, die Polizei war eingeschaltet und nur deshalb wurde ich gefunden. Die Familie hatte mein Auffinden gemeldet. Das hätte auch anders ausgehen können!!!

Für meine Mutter eine grausige Situation, hatte sie doch gerade Post vom Kommandeur des Grenadier-Regiments, nachdem schon im Jahr 1945 eine Vermisstenanzeige ausgestellt worden war, erhalten, mit der Nachricht, dass die Kompanie vom Vater ausgelöscht und es keine Überlebenden gab. Aber meine Mutter gab die Hoffnung nicht auf, schrieb weiter die Briefe an meinen Vater, berichtete von den Kindern und ihrem Leben. Der Krieg war unmenschlich.

Über den Namen Hossi, den ich mir gab, wurde noch lange gesprochen, denn Hossi, so nannte ich meinen Bruder und so wollte ich gerne sein!! Psychologen würden heute darauf meine restliche Lebensgeschichte aufbauen.

Die Hoffnung meiner Mutti ging in Erfüllung. An diesen Tag erinnere ich mich, als ich mit einem niedlichen Kleidchen herausgeputzt am Bahnhof stand, bewaffnet mit einem Blumenstrauß, meinen Vater begrüßen sollte und ihn ganz ordentlich mit „Guten Tag, Onkel Vati“ und einem Knicks empfing, während sich mein Bruder, die Händchen hoch gerissen, freudig „Papi, Papi“ rufend auf meinen Vater stürzte. Damit hatte er gepunktet und das Eis gebrochen. Meinetwegen bekam meine Mutter gleich Ärger mit Vater, da er ihr „Männer-Onkelbesuch“ vorwarf. Ich war gerade einmal 3,5 Jahre und hatte mir sicherlich nichts Böses gedacht. Die dunklen Wolken verzogen sich schnell, das Glück der Eltern breitete sich in unserer kleinen, beengten, einfachen, altmodischen und für die heutige Zeit „luxuslosen“ Wohnung, die wir mit Flüchtlingen teilten, aus, deshalb kann ich nur sagen, dass meine Kindheit mit Liebe umgeben war. Erst heute weiß ich, dass ich keine großen Ansprüche an das Glück habe und mit sehr wenig zufrieden sein kann. Das sei nur am Rande erwähnt!

Vater hatte nach seiner Gefangenschaft sofort seine alte Tätigkeit als studierter Landwirt am Landwirtschaftsamt aufgenommen. Ein halbes Jahr später, 1948, wurde er im Rahmen einer Fortbildung nach Amerika geschickt, um die deutsche Landwirtschaft zu modernisieren, auf Vordermann zu bringen und sie zu revolutionieren. Wieder stand uns eine aufregende Zeit bevor, denn Vater schickte uns wunderbare Carepakete von Übersee, gefüllt mit Milchpulver, Kaffee, Anziehsachen und leckeren Bonbons. Vater dachte mit Liebe an uns, denn ein Foto begleitete ihn.

Bild1.jpg

Mutti mit Bruder Horst und ich – 1948

Das tägliche Leben musste Mutti mit uns alleine bewältigen, gar nicht einfach, denn die Kriegsnachwehen hatten die Menschen noch fest im Griff, die Lebensmittel wurden noch immer auf Marken zugeteilt, es gab nur wenig Freude oder Abwechslung. So war ein Ausflug in den Stadtpark etwas ganz Besonderes. Die Aufregung war uns anzumerken, denn wie die Wilden waren wir unterwegs, ich kletterte im Eiltempo mit Hossi um die Wette auf den Diebesturm. Beim Rangeln schubste mich Horst vom Eingang fort, ich berührte das Geländer, welches brach und mit mir in die Tiefe stürzte. 25 m ging es mit mir bergab, Gott sei Dank durch Baum und Busch, über ein steil abfallendes Gelände und nur ein kleiner Stein bremste mich vor den Fluten der Werra. Da fand mich Mutti laut schreiend.

Anscheinend schrie ich nur vor Schreck, denn der nette Arzt streichelte mir über den Kopf mit der Bemerkung: „Bist du heiratest, ist alles wieder gut!“ – Erst vor Kurzem erkannte man an meiner Wirbelsäule einen Bruch aus alten Tagen und das Rätsel um meine Unfähigkeit, einen Purzelbaum zu rollen, ist nun endlich aufgeklärt.

So einfach wurde geheilt, denn ein aufgebauschtes Gesundheitssystem gab es in der Nachkriegszeit noch lange nicht!

Vaters Carepakete halfen uns sehr, die Aufregungen und Freude sind unvergessene Begebenheiten, es gab auch ein unvergessenes Erlebnis, welches vor Mutti streng geheim gehalten wurde, denn wir wussten über unsere Bösartigkeit. Die Bonbons aus Amerika waren glaskugelähnlich, sehr sauer und groß. Eine echte Lutscharbeit. Wie es der Zufall wollte, kletterten wir mit den Bonbons im Mund an der Glasveranda im 4. Stock, zur Freude der gegenübersitzenden Schulklasse und machten, wie so oft, Faxen. Aus Versehen verlor ich mein Bonbon, das geradewegs auf dem Hut eines vorbeigehenden Passanten landete. Ihn traf der Schlag, der zwar nicht tödlich, aber dennoch sehr schmerzhaft war. Im ganzen Haus wurde nach dem Übeltäter geforscht. Die Schulklasse hing am Fenster und beobachtete das Schauspiel. Aufregung beherrschte das Straßenbild und wir Kinder sahen wie Unschuldsengel drein!!! Wir haben, das muss ich hier gestehen, noch öfters die Hüte zu treffen versucht.

Mein Vater hatte mir einen Puppenwagen aus Amerika versprochen und nun kam er zurück ohne mein Geschenk, doch mit einer unheimlichen Geschichte, die er mir immer und immer wieder erzählen musste: Auf der Überfahrt zog ein tobender Sturm mit dunklen Wolken und unheimlichen Wellen auf. Kein Gepäck, kein Bett, kein Tisch und Stuhl blieb an seinem Platz. Die Menschen hielten sich an rettenden Seilen fest und bangten um ihr Leben. Schauderhaft malte mein Vater seine Geschichte aus, denn im Wasser rissen die Haie die Mäuler auf und warteten auf ihre Beute. Mit der nächsten großen Welle passierte es. Mein Puppenwagen riss sich aus der Verankerung und rutschte einem gefährlichen, riesigen Hai gerade ins Maul.

Ich glaubte ihm!

Wir hatten Freunde im Haus, einen kleinen Garten zum Spielen und verbrachten glückliche, aber einfache Kindertage. Mein Vater bastelte schöne Holzspielzeuge für meinen Bruder, ein Puppenbett für mich und vieles mehr, das wir unter dem Weihnachtsbaum fanden. Zuvor aber mussten wir den bösen Hans-Muff, der mit dem Weihnachtsmann kam, sonst aber in den tiefen Höhlen des Berges lebte, beruhigen und unter Zittern sagten wir die gelernten Gedichte und Lieder auf. Natürlich kam ich ins Stottern, Tränen liefen mir über die Backen, denn Hans-Muff öffnete seinen Sack und wollte mich Ketten rasselnd packen. Da stellte sich mein Bruder vor mich und sagte, wenn er mich mitnehmen wolle, müsse er auch ihn mitnehmen! Wir waren ein Herz und eine Seele.

So lieb war Horst aber nicht immer. Er wollte mich sogar als Hexe im Märchenspiel „Hänsel und Gretel“ mit seinem Freund Wilfried verbrennen, indem er mich unter den Tisch im kleinen Kinderzimmer sperrte und mit einem Fidibus das gestapelte Holz anzündete. Nur die schnelle Reaktion von Mutti verhinderte Schlimmeres. Ein andermal, in Abwesenheit der Eltern, rettete er mich heldenhaft vor einer Maus. Während ich kreischend auf den Tisch kletterte und auch dann noch die Füße hob, kämpfte er, mit Kehrichtschaufel und Handfeger bewaffnet, mutig gegen die Maus, die hin und her raste, plötzlich aber verschwunden war. Welch ein Glück, denn sonst wäre Horst meinetwegen zum Mörder geworden.

Im späteren Leben habe ich meinem Bruder die Heldentaten nie vergessen und ihn oft aus seinen schwierigen Situationen befreit.

Vater war von einer Unruhe getrieben, die auf Sehnsucht nach Leben beruhte.

Er modernisierte Muttis antike Möbel, indem er alle alten verschnörkelten Verzierungen an einem Weihnachtsfest absägte und ihr damit, zu ihrem Ersetzen, auch noch eine Freude machen wollte. Missverständnisse, wie sie schrecklicher nicht sein konnten.

Ein anderes Fest, 1949, blieb mir auch in guter Erinnerung, denn nach dem Heiligen Abend wurde das Weihnachtszimmer zur Werkstatt umfunktioniert. Ein Haufen verölter Schrottteile lag plötzlich auf dem Teppich. Die Tränen meiner Mutter waren nicht zu löschen. Aber nach den Festtagen hatte mein Vater ein fahrbares Motorrad gebaut, der Motor heulte im Haus zur Freude der Mitbewohner. Das Strahlen von Vaters Augen leuchtete stärker als alle Kerzen am Weihnachtsbaum.

Mit diesem Motorrad fuhren wir viele Jahre, sogar bis an die Nordsee! Er baute zusätzlich einen Beiwagen und Anhänger, Mützen mit Augenschutz für die ganze Familie, ein Zelt mit Campingausrüstung. Er reparierte mit wachsender Begeisterung, modernisierte auf seine Art. Dachte auch an die Familie, denn er beglückte uns zu Weihnachten mit selbst gesägten und gebastelten Skiern, die wir dann gleich auf dem Meißner ausprobieren mussten. So lernte ich Skirutschen.

Unsere Kleidung hatte mit der heutigen Skiausrüstung so viel Ähnlichkeit wie Himmel und Hölle. Wie es aber der Teufel wollte, musste ich ganz dringend. Keine Toilette, keine Gaststätte, kein Bauernhof weit und breit, also war die Natur der Zeuge meiner Qualen, denn der moderne amerikanische Overall hatte keine Öffnung – wo ich sie brauchte. Mein praktischer Vater nahm kurzerhand sein Taschenmesser und schnitt mir eine Öffnung. So einfach wurden die Probleme gelöst und meine Tränen der Not waren umsonst geflossen.

Im Sommer nutzten wir jedes Wochenende für Freizeit am See, im Wald und auf Wiesen, damit wurde der Grundstein für meine Naturverbundenheit, zusätzlich zur genetischen Vorbelastung, gelegt oder wir unternahmen eine Fahrt zu Verwandten. In den Ferien ging es an die See, nach Österreich und Italien. Wir lernten sehr früh Schwimmen, Radfahren und Schlittschuhlaufen.

Die Verwandtschaft bestand aus den Eltern vom Vater in Dülken, die Besuche dort waren immer unheimlich und aufregend für uns Kinder, das nächtliche Austreten in das „Herzchen-Haus“ im Hinterhof bei völliger Dunkelheit war so gruselig, dass ich noch Jahre später nur bei dem Gedanken zittern musste. Einen Vorteil hatte die nächtliche Benutzung, die Millionen Fliegen schliefen. Mich gruselte es auch vor meinem Großvater, er war so streng und exakt, verlangte von uns ein solch perfektes Benehmen, was wir eigentlich durch Mutti schon erlernt hatten, ihm aber nicht ausreichend war, weshalb er uns ständig korrigieren, befehligen und schimpfen musste. Omas liebevolle Art konnte den Schaden nicht ausgleichen, obwohl sie uns rührend zu verwöhnen suchte.

Die weitere Verwandtschaft bestand aus dem Bruder meines Vaters, Onkel Heinz mit Christel, Goller und Christa, sie lebten in Warstein. Mein Onkel war Chefarzt der Lungenheilanstalt. Dort waren wir sehr gerne, denn viele Kinder wohnten im Block, so wurde uns nicht langweilig. Ein besonderes Erlebnis grub sich ganz tief in mein Gedächtnis ein, es war kurz vor dem großen Feiertag Fronleichnam, die Straßen bis zur Kirche wurden mit Blumenbildern gesteckt, auch ich durfte ein Karree ausfüllen. Millionen Blumenköpfe wurden gebraucht und wahre Kunstbilder lagen auf der Straße, eine Pracht! Doch dann kam die Prozession und alles war zerstört, ich weinte um mein schönes Bild.

Einen Kurzurlaub verbrachten die Eltern mit Onkel und Tante, währenddessen waren wir mit den Dülkener Großeltern in Warstein, sie waren verantwortlich für uns vier, ein gefundenes Fressen für den Opa, der uns nun erziehen wollte. Mein Trotzkopf brachte ihn zur Raserei und mit nichts und gar nichts wollte er mich zwingen, die süßsaure Linsensuppe zu essen. Das hatte er sich so vorgestellt, dachte auch ich. Bis die Eltern kamen, dauerte der Kampf, einsperren, hungern, verhauen, nichts half. Ich blieb stur und aß meine Suppe nicht. Ein schlimmes Erlebnis blieb es bis heute, was zur Folge hatte, dass meine Kinder nie zum Essen gezwungen wurden. Probieren mussten meine Kinder alles und sollte es ihnen dann nicht bekömmlich sein, brauchten sie es nicht zu essen. Was relativ selten vorkam, denn meistens schmeckte ihnen alles und der Hunger tat seines dazu.

Die Verwandtschaft mütterlicherseits war auch aufregend, aber der Kontakt nicht so eng und oft. Meine Mutter hatte 5 Schwestern, der Bruder Horst und ihr Vater waren noch vermisst.

Die Großmutter und Großtante waren in der sowjetischen Zone, während wir im Westen lebten. Das wirtschaftliche und politische Klima zwischen den beiden war nicht positiv, den Stress bekamen die Bürger zu spüren, also vermied man Besuche in der Ostzone, beschränkte sich auf die Sendungen von Paketen, um die größte Not abzuwenden, denn bei uns begann das Wirtschaftswunder, begleitet von Warenauslagen in den Geschäften, von gefüllten Lebensmittelläden und den nicht enden wollenden Wünschen eines jeden. Während wir leckere Sachen zum Essen einpackten, wie Kaffee, Schokolade und alles, was dringend benötigt wurde, kamen von Oma und Tante Trude ganz liebevolle Überraschungen. Alleine das liebevolle Einpacken der Kleinigkeiten hat uns Kinder fasziniert, es waren meistens Handarbeiten mit solcher Liebe gestrickt und so wunderschön, wie ich sie nie wieder im Leben gesehen habe. Eine Strickjacke mit Rock, grau mit rotem Muster, liebte ich so sehr, dass ich später meinen Jungs auch graue Janker mit roten Bordüren webte.

Tante Evchen mit Günther, Joachim, Veronika und Susanne beglückten wir in Hamburg auf der Fahrt nach St. Peter-Ording. In Ermangelung von Matratzen campierten wir auf Stroh.

Bild2.jpg

Familie mit Motorrad

Mit dem Motorrad, Horst und ich im Beiwagen, waren wir den ganzen Tag kräftig durchgeschüttelt worden, die Wege waren eben keine Autobahnen, also waren wir mehr als müde, schliefen wie tot. Ein großes Unglück passierte mir, ich machte in die Hose.

Mein Bruder verlor keine Minute Zeit, um das Geschehene an die große Glocke zu hängen. Was habe ich mich geschämt und war froh, als wir bald zur Weiterfahrt an die Nordsee aufbrachen. Sobald wir unser Ziel erreicht hatten, bauten wir in aller Einsamkeit der Dünen unser Zelt auf, dieses Mal mussten wir nicht zum Bauern, um Stroh zu holen, wir hatten ganz moderne Isoliermatten. Stolz waren wir auch auf unser Kochgeschirr, welches Vater aus Altbeständen der Wehrmacht organisiert hatte. So fing der Urlaub ganz verheißungsvoll an, doch Mutti musste für einige Tage ins Krankenhaus. Viele Jahre später erfuhren wir erst den Grund, denn die Fahrt auf dem Motorrad hatte eine Fehlgeburt zur Folge. Mit Vater alleine wurde das Leben nicht einfach. Auch nicht einfach leicht die Märsche zum Strand, da Ebbe und Flut zu bedenken waren. Einmal fuhren wir mit dem Motorrad nach draußen, andere Gäste waren mit Pferdewagen unterwegs zum Wasser, denn es war ein herrlicher Sonnentag. Aus dem Nichts füllten sich plötzlich die Siele, obwohl die Zeit für die Flut noch nicht gekommen war. Vater witterte nichts Gutes und trieb uns zum Festland, er mahnte noch die Nachbarn zum Aufbruch, doch die schüttelten verständnislos die Köpfe.

Der Weg war weit, das Wasser stieg schnell. Mutti hatte uns an den Händen, wir schwammen mehr, als wir laufen konnten, beim Zurückschauen sahen wir weit am Horizont draußen die ersten Wolken, dunkel und bedrohlich. Wenn es nur Wolken gewesen wären, hätten wir sicherlich nicht so Fürchterliches erleben müssen. Mit letzter Kraft kletterten wir hoch auf die Dünen, waren an unserem Zelt angekommen, Vater und Mutter sicherten, was sie sichern konnten, als das Grollen und Stampfen immer stärker wurde. Die Wand auf dem Meer kam schnell näher und wuchs höher und höher, nun sahen wir eine riesige Welle, die auf uns zukam und alles, was im Wege stand, unter sich begrub. Sturm setzte ein, das Getöse war so laut, man verstand kein Wort. Wir retteten uns hinter den Deich und von dort beobachteten wir den Weltuntergang. Die Springflut, 10 m hoch, überspülte die Dünen mit den Zelten, aber am Deich brachen die Wassermassen unter gewaltigem Getöse zusammen, nass bis auf die Haut, aber am Leben waren wir. In dieser Nacht schliefen wir nicht am Strand, sondern ein Landwirt machte uns ein Lager im Heu.

Der nächste Morgen begrüßte uns mit Sonnenschein, klarem Himmel, herrlicher Luft, man glaubte, das Erlebte sei ein Traum gewesen, aber die Wirklichkeit hatte uns schnell zurück, am Strand sahen wir die Verwüstung und glaubten es nicht, denn einsam und alleine stand unser Zelt. Alle anderen waren fortgespült. Es gab Tote und Verletzte, ertrunkene Pferde, die in der Kutsche eingespannt waren, Schäden an Deichen und Schutzwällen. Es herrschte großer Kummer und Not.

Ein weiteres unvergessliches Unwetter sollte ich später am Gardasee erleben, wir hingen an den Zeltstangen und drückten gegen den Wind, während rechts und links die anderen Zelte vom Campingplatz an uns vorbeiflogen und im Wasser verschwanden. Großer Schaden und noch größerer Kummer folgte, aber wir hatten wieder einmal Glück gehabt!

Meine Eltern waren durch den Krieg beide gesundheitlich sehr angeschlagen und ich erinnere mich an viele Tage, wo ich nicht nur meine Puppen mit Liebe bemutterte, sondern auch die kranken Eltern betreute. Schon damals war mein Helfersyndrom voll im Wachsen. Meine Freundin Hannelore half mir beim Kochen, Putzen und Einkaufen. Eine verantwortungsvolle Aufgabe für ein 6-jähriges Mädchen. Weil kein Geld zu Hause war, ging ich zur Bank, erzählte dem Kassierer von unserer Not und ohne einen Wimpernschlag händigte er mir 1000,- DM aus. Dafür kaufte ich für Mutti nicht nur Lebensmittel, sondern auch schöne Schuhe. Erst die Verkäuferin alarmierte die Familie.

Eine Begebenheit ist mir auch noch in guter Erinnerung, mein Lehrer, Herr Trümper, kämmte mir meine langen Haare in der Schule und flocht Zöpfe, weil Mutti sich nicht bewegen konnte. Einen Albtraum aus dieser Zeit habe ich allerdings auch, denn beim Anziehen vergaß ich mein Höschen, was ich erst in der Schule entdeckte. Albträume verursachte auch die amerikanische Schulspeisung, Zwiebackbrei, der so scheußlich war, dass ich trotz Hungers keinen Bissen essen konnte und alle möglichen Ausreden erfinden musste. Heute, im Land des Überflusses, würde man den Topf ohne Worte einfach auskippen!

Das Haus in Eschwege, Humboldtstraße 6, war ein bewegtes Haus, im wahrsten Sinne, denn schon war in der Waschküche jeden Tag Hochbetrieb. Wurde nicht Wäsche gewaschen, was ein Erschwernis war, wurden Rüben zum Sirup gekocht, Pflaumen zu Pflaumenmus und Gleiches geschah mit den gesammelten Äpfeln. In dem Keller ging man ein und aus, ein reger Tauschobjekthandel fand statt. Glücklich war der, der noch tauschen konnte!! Die meisten Menschen hatten nichts mehr als das, was sie auf dem Leib trugen. Unten wohnte der Hauseigentümer, ein Architekt, auch hier kamen wegen der Bombenschäden bald wieder Kunden. Darüber wohnte meine Freundin, deren Mutter einen Stoffladen im Schlafzimmer eingerichtet hatte. Der Vater lieferte Stoffballen aus den noch laufenden Webereien in Glauchau. Kunden standen oft noch auf der Treppe Schlange!! Unter uns wohnte ein Künstler, der unheimliche Bilder malte und damit seinen Kummer über seine gefallenen Söhne betäubte. Man sprach offen über seine Verrücktheit und wunderte sich nicht über einen plötzlichen Wandel, denn Massen von kitschigen Heimatbildern verließen sein Atelier. Amerikaner kauften Erinnerungsbilder, er wurde ein reicher Mann! Bei uns bewegte sich nicht nur mein Vater, meine Mutti hatte Brutkästen im Flur aufgestellt und dort betreute sie die Eier bis zum Schlupftag. Eine mühevolle Aufgabe. Alle 4 Stunden wurden die Eier gedreht und besprüht, bis dann nach 21 Tagen die Küken schlüpften und ein Gepiepse durch die Wohnung schallte. Meine Mutti war sehr gewissenhaft, hatte daher ein gutes Brutergebnis und somit viele Kunden, leider keinen Platz für weitere Brutapparate. Wir Kinder waren die höchste Gefahr, uns trieb die Neugierde, wir öffneten unerlaubt die Tür, ohne über die Konsequenzen nachzudenken, denn nichts war aufregender, als schlüpfende Küken zu beobachten und sie anschließend in den Händchen zu halten. Das war meine erste Verbindung zur Landwirtschaft.

Einem Attentat sind wir nur um Haaresbreite entgangen. Mitten in der Nacht gab es einen riesigen Knall im Haus, dass die Wände wackelten und ein Zittern durch das ganze Haus ging. Meinen Eltern saß die Angst in den Gliedern, denn die Erinnerungen an den Krieg waren noch lange nicht verheilt. Sie nahmen uns Kinder aus den Bettchen und stürzten in den Flur, standen im Moment wie angewurzelt still und sahen der Bescherung fassungslos ins Auge. Der ganze Flur tropfte voll Blut, wir Kinder schrien, erst damit lösten wir die Erstarrung. Ein Glasballon, mit gärenden Johannisbeeren, war in die Luft geflogen, das „schwarze“ Schnapsbrennen war voll im Gange!

Betriebsamkeit herrschte in allen Häusern. Der übernächste Nachbar kam mit schweren Kriegsverletzungen nach Hause, er war an den Stuhl gefesselt, betrieb aber in der Küche eine Schusterei mit großem Erfolg. Es gab ja noch keine neuen Schuhe und so wurden die alten repariert. Meine Liebe zum Handwerk war bald geweckt, denn der Geruch von Leder betörte mich. Ich ging dem Schuster oft zur Hand, auch wenn ich erst 6 Jahre war, dort hatte ich obendrein noch eine weitere Aufgabe. Für das Mistbeet im Garten sammelte ich jeden Tag die Pferdeäpfel von der Straße, dafür waren die Reparaturen für uns umsonst. Mein zweiter Kontakt mit der Landwirtschaft.

Meine Freundin Hannelore hatte eine alte Oma im Altenheim, am Friedhof gelegen, es war nicht weit zu Fuß und oft besuchten wir sie. Es sprach sich schnell herum, dass wir gewillt waren, den einen oder anderen Botengang zu erledigen. Bald hatten wir einen richtigen Job, nämlich Einkaufen, Blumengießen auf dem Friedhof oder auch nur von draußen zu erzählen. Der Geruch im Heim war für uns Kinder geheimnisvoll, man spürte vergangenes Leben, verbunden mit traurigen Augen.Die Besuche wurden bald zur Pflicht, unsere soziale Ader wurde voll ausgekostet zu Lasten unserer Jugend. Beide Eltern verboten uns bald die Besuche.

Wir wurden in die Ballettschule gebracht, wo ich allerdings keine Zukunft erlebte, denn rechts und links waren für mich zum Verwechseln ähnlich.

Die Nachkriegszeit war aufregend, ein Regen und Bewegen herrschte überall. Diese Unruhe verarbeitete ich erst nachts, wurde zum richtigen Schlafwandler mit vielen gefährlichen Unternehmungen. Bei Vollmond rettete man mich am geöffneten Fenster, wo ich nach draußen auf das Dach steigen wollte, ein andermal erwischte Mutti mich im Treppenhaus, bepackt mit Tasche und Geldbörse wollte ich einkaufen gehen, und das mitten in der Nacht. Rätselhaft war der Theaterauftritt „Luft aus dem Finger“, in schlafender Weise. Meine Hartnäckigkeit brachte nachts meine Eltern zum Verzweifeln, denn ich ließ mich nicht beruhigen und ins Bett wollte ich gar nicht. Aus Angst wurde ich ans Bett gefesselt, die Warnanlage bestand aus einer Glocke, erst dann schliefen meine Eltern etwas ruhiger.

Politik war für mich kein Thema, doch den Adenauer fand ich wunderbar, er war groß, sah gut aus, ein guter Vertreter für uns. Nie wieder habe ich später so für einen Mann geschwärmt wie für Adenauer!!! Vielleicht spürten wir Kinder die langsam besser werdende Zeit. Wir bekamen Geld und für unser Geld gab es Waren. Die Lebensmittelkarten, die meine Mutter für einen besonderen Anlass gehäuft hatte, wurden ungültig.

So gab es eines Tages die Banane auf unserem Tisch. Ich sollte probieren und tat es nicht. Mit Gewalt wurde ich gezwungen, die Eltern wollten mir Gutes tun und ich spuckte die Banane aus, welch ein Frevel. Das Donnerwetter erwischte mich, ich bezog Prügel und wurde eingesperrt. Welch ein schlimmes Erlebnis haftete nun an der Banane, mein Verhältnis zu ihr ist bis heute gestört, deshalb konnte ich später die DDR-Kinder nicht verstehen, deren größter Wunsch eine Banane war.