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1

Mit erhobenem Kinn, die lockigen blonden Haare zurückgeworfen, schloss Ivy die Tür der Schulpsychologin hinter sich und lief den Gang hinunter. Auf dem Weg zu ihrem Spind drehten sich mehrere Jungs aus der Schwimmmannschaft um und starrten ihr hinterher. Ivy zwang sich, ihrem Blick standzuhalten und selbstsicher zu wirken. Die Kleidung – Hose und Top –, die sie an diesem ersten Schultag trug, hatte Suzanne ausgewählt, ihre älteste Freundin und Modeexpertin. Schade, dass Suzanne nicht auch noch einen passenden Sack ausgesucht hat, den ich mir über den Kopf ziehen kann, dachte Ivy. Sie ging am Schwarzen Brett der Senior Class vorbei. Einige Mitschüler tuschelten. Andere deuteten mit einem kurzen Kopfnicken auf sie. Das war zu erwarten gewesen.

Es wurde auf jede gedeutet, mit der Tristan je etwas gehabt hatte. Es wurde über jeden getuschelt, der an dem Abend, als Tristan verunglückte, mit ihm zusammen war. Deshalb wurde logischerweise auch auf jede gedeutet, die sich aus Verzweiflung über Tristans­ Tod umzubringen­ versucht hatte; man tuschelte über sie und beobachtete sie sehr, sehr genau. Denn genau dieses Gerücht kursierte über Ivy: Sie hätte völlig verzweifelt Pillen geschluckt und dann versucht, sich vor den Zug zu werfen.

Sie selbst konnte sich bloß an die Verzweiflung erin­nern, an den langen Sommer nach dem Autounfall, an die Albträume von dem Hirsch, der durch die Windschutzscheibe krachte. Vor drei Wochen hatte sie wieder einen ihrer Albträume gehabt und war schreiend aufge­wacht. Sie konnte sich bloß noch daran entsinnen, dass Gregory, ihr Stiefbruder, sie in jener Nacht getröstet hatte­ und sie dann mit Tristans Bild vor Augen eingeschlafen war. Dieses Foto verfolgte sie nun, es war ihr Lieblingsbild von Tristan, er trug darauf eine alte Jacke seiner Schuluniform und hatte ein Basecap verkehrt he­rum aufgesetzt. Es hatte sie sogar schon verfolgt, bevor ihr kleiner Bruder Philip ihr von den seltsamen Ereignis­sen dieser Nacht erzählt hatte.

Philips Geschichte, dass sie von einem Engel gerettet worden war, konnte weder ihre Eltern noch die Polizei davon überzeugen, dass es kein Selbstmordversuch gewesen war. Und wie konnte sie leugnen, Drogen genommen zu haben, wenn es mithilfe von Bluttests im Krankenhaus nachgewiesen worden war? Wie konnte sie der Aussage des Zugführers widersprechen, er hätte den Zug nicht mehr rechtzeitig anhalten können?

»Wer ist cool genug? Cool genug?« Eine leise zittrige Stimme unterbrach Ivys Gedanken. »Wer ist cool genug? Cool, cool, cool …«

Aus dem Schatten unter den Treppen rief jemand nach ihr. Ivy wusste, es war Gregorys bester Freund Eric Ghent. Sie lief weiter.

»Schisser, Schisser, Schisser …«

Als sie nicht reagierte, trat er aus dem dunklen Treppenhaus, er sah wie ein Skelett aus, das man in seiner Gruft aus dem Schlaf gerissen hatte. Seine dünnen blonden Haare klebten strähnig auf der Stirn, seine Augen wirkten in den knochigen Augenhöhlen wie blassblaue Murmeln. Ivy hatte Eric die letzten drei Wochen nicht gesehen; sie hatte den Verdacht, dass Gregory seinen zy­ni­schen Freund von ihr ferngehalten hatte.

Doch jetzt kam Eric schnell auf sie zu und verstellte ihr den Weg. »Warum hast du es nicht getan?«, fragte er. »Hat dich der Mut verlassen? Warum hast du es nicht einfach durchgezogen und dich umgebracht?«

»Enttäuscht?«, fragte Ivy zurück.

»Nicht cool genug …«, höhnte er leise.

»Lass mich in Frieden, Eric.« Ivy lief schneller.

»Nee. Jetzt nicht.« Er packte ihr Handgelenk, seine dürren Finger umklammerten ihren Arm. »Du kannst mich jetzt nicht einfach abblitzen lassen, Ivy. Du und ich – wir haben zu viel gemeinsam.«

»Wir haben überhaupt nichts gemeinsam«, entgegnete Ivy und versuchte, sich loszumachen.

»Gregory«, erwiderte er und tippte auf einen Finger. »Drogen.« Er hakte den zweiten Punkt mit dem nächsten Finger ab. »Und bei Mutproben sind wir auch beide Weltmeister.« Er wackelte mit dem dritten Finger. »Wir sind jetzt Kumpels.«

Ivy eilte weiter, am liebsten wäre sie gerannt. Eric lief neben ihr her.

»Erklär deinem guten Kumpel doch mal«, meinte er, »warum du das tun wolltest? Was ging dir durch den Kopf, als der Zug auf dich zugerast ist? Hattest du was eingeschmissen? Was war das für ein Trip?«

Seine Fragen widerten Ivy an. Der Gedanke, sie wäre freiwillig vor einen Zug gesprungen, war völlig abwegig. Sie hatte Tristan verloren, aber es gab in ihrem Leben immer noch viele Menschen, die ihr sehr wichtig waren – Philip, ihre Mutter, Suzanne und Beth, und Gregory, der sie nach Tristans Tod beschützt und getröstet hatte. Gregory hatte selbst eine Menge durchgemacht, als sich seine Mutter einen Monat vor Tristans Tod umgebracht hatte. Ivy hatte erlebt, welchen Schmerz und welche Wut dieser Tod bei Gregory ausgelöst hatte, und der Gedanke, dasselbe zu versuchen, erschien ihr absolut wahnsinnig.

Doch alle behaupteten, sie hätte es wirklich getan. Auch Gre­gory.

»Wie oft muss ich es dir noch sagen? Ich kann mich nicht erinnern, was in dieser Nacht passiert ist, Eric. Es ist einfach weg.«

»Wirst du schon noch«, meinte er leise lachend. »Früher oder später erinnerst du dich.«

Dann ließ er sie stehen und drehte um – als sei er ein Hund, der seine Reviergrenze erreicht hat. Ivy ging weiter­ in Richtung der Spinde und ignorierte sämtliche neugierigen Blicke. Hoffentlich waren Suzanne und Beth von ihren Senior-Class-Infoveranstaltungen zurück.

Um Suzanne Goldsteins neuen Nistplatz aufzustöbern,­ brauchte Ivy keine Spindnummer. Suzanne war nicht da, aber sie räucherte ihren Spind immer mit ihrem Lieblingsparfum aus, um Ivy und allen Jungs, die Su­zanne eine Nachricht hinterlassen wollten, den Weg zu weisen. Seit Kurzem traf sich Suzanne mit drei neuen Typen, Beth und Ivy wussten jedoch, dass es nur ein Trick war, um Gregory eifersüchtig zu machen.

Aus Beth Van Dykes Spind, der sich in diesem Jahr nah bei Ivys befand, hing ein Blatt Papier heraus, das wohl keine Nachricht von einem gut aussehenden Verehrer war. Sehr viel wahrscheinlicher hatte Beth die Ecke einer der vielen schmachtenden Liebesge­schichten, mit denen­ sie Notizbücher füllte, in der Tür eingeklemmt.

Ivy ging zu ihrem Spind, um ihre neuen Bücher einzuschließen. Sie kniete sich hin, gab die Zahlenkombi­nation ein und zog die Tür auf. Sie holte Luft. An der Türinnenseite klebte ein Foto von Tristan, es war das­selbe Bild, das sie seit drei Wochen verfolgte. Einen Moment lang konnte sie kaum atmen. Wie war es dort hingekommen?

Verzweifelt versuchte sie, sich an alles zu erinnern, was sie an diesem Morgen getan hatte: Sie war bei der mor­gend­lichen Anwesenheitskontrolle gewesen, dann in einer Schülerversammlung, später im Schulladen und schließlich bei der Schulpsychologin. Sie ging die Liste zweimal durch, aber sie konnte sich nicht daran erinnern, das Foto angeklebt zu haben. Drehte sie jetzt wirklich allmählich durch?

Ivy schloss die Augen und lehnte sich gegen die Tür. Ich schnappe über, dachte sie. Ich schnappe nun wirklich über.

»Bin ich verrückt, Gregory?«, hatte sie vor drei Wochen gefragt, als sie am Tag nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus in ihrem Zimmer stand und Tristans Foto in den zitternden Händen hielt. Gregory hatte ihr das Bild vorsichtig weggenommen und es Philip gegeben, ihrem neunjährigen Lebensretter.

»Irgendwann geht es dir besser, Ivy. Da bin ich mir ganz sicher«, war Gregorys Erwiderung gewesen, dann hatte er sie neben sich aufs Bett gezogen und in die Arme genommen.

»Das heißt, im Moment bin ich aber verrückt.«

Gregory antwortete nicht gleich. »Es ist schwer zu verstehen, Ivy«, meinte er vorsichtig. »Keiner kann sagen, was du in diesem Moment gedacht hast.« Er warf Philip, der das Bild auf die Kommode stellte, einen Blick zu. »Und Philips Geschichte hilft da auch nicht gerade weiter.«­

Ihr Bruder reagierte mit einem sturen Blick.

»Philip, vielleicht kannst du uns jetzt, wo niemand an­deres mehr dabei ist, erzählen, was wirklich passiert ist«, schlug Gregory vor.

Philip sah zu den zwei leeren Regalbrettern, auf denen früher Ivys Engelsammlung gestanden hatte. Die Figuren gehörten jetzt ihm. Ivy hatte sie ihm unter der Bedingung überlassen, dass er nie wieder über Engel reden würde.

»Ich hab dir doch schon alles erzählt.«

»Versuch’s noch mal«, schlug Gregory mit leiser, ge­reiz­ter Stimme vor.

»Bitte, Philip.« Ivy streckte die Hand nach ihm aus. »Es wird mir helfen.«

Philip ließ sie seine Hand halten. Sie wusste, dass ihr kleiner Bruder es leid war, verhört zu werden, erst von der Polizei, dann von den Ärzten im Krankenhaus und dann von ihrer Mutter und Gregorys Vater Andrew.

»Ich hab geschlafen«, erklärte ihr Philip. »Nachdem du den Albtraum hattest, wollte Gregory bei dir bleiben. Ich bin wieder eingeschlafen. Dann hörte ich, wie jemand­ nach mir rief. Zuerst wusste ich nicht, wer es war. Er befahl mir aufzuwachen. Er sagte, du brauchst Hilfe.«

Philip redete nicht weiter, als wäre die Geschichte damit zu Ende.

»Und?«

Er sah zu den leeren Regalbrettern, dann machte er sich von ihr los.

»Erzähl weiter«, half Ivy.

»Du wirst mich nur anbrüllen.«

»Nein, werde ich nicht«, versprach sie. »Und Gregory auch nicht.« Sie warf Gregory einen warnenden Blick zu. »Erzähl uns einfach, woran du dich erinnerst.«

»Du hast eine Stimme in deinem Kopf gehört«, wiederholte Gregory, »und sie hat dir gesagt, dass Ivy dringend Hilfe braucht. Die Stimme klang so ähnlich wie die von Tristan.«­

»Es war Tristan«, beharrte Philip. »Es war Engel Tristan!«­

»Gut, gut«, antwortete Gregory.

»Hat dir diese Stimme gesagt, warum ich in Schwierigkeiten war?«, fragte Ivy. »Hat dir die Stimme gesagt, wo ich war?«

Er schüttelte den Kopf. »Tristan befahl mir, meine Schuhe anzuziehen, die Treppe hinunterzusteigen und durch die Hintertür zu gehen. Dann sind wir über den Rasen zur Steinmauer gerannt. Ich wusste, dass ich eigentlich nicht darübersteigen darf, aber Tristan meinte, es sei in Ordnung, weil er dabei war.«

Ivy konnte spüren, wie sich Gregorys Körper neben ihr anspannte, aber sie nickte Philip aufmunternd zu.

»Ich hatte Angst, den Berg hinunterzuklettern, Ivy. Man konnte sich kaum festhalten. Die Felsen waren richtig rutschig.«

»Das ist unmöglich«, warf Gregory ein und klang frustriert und verwirrt. »Ein Kind hätte das nie geschafft. Nicht mal ich würde das schaffen.«

»Tristan war bei mir«, erinnerte ihn Philip.

»Ich weiß nicht, wie du zum Bahnhof gekommen bist, Philip«, entgegnete Gregory heftig, »aber diese Tristan-Geschichte hängt mir echt zum Hals raus. Ich will sie nie wieder hören.«

»Ich schon«, entgegnete Ivy ruhig. Sie hörte, wie Gregory Luft holte. »Erzähl weiter«, ermunterte sie Philip.

»Als wir unten ankamen, mussten wir noch über einen Zaun klettern. Ich wollte wissen, was los war, aber Tristan hat es mir nicht erzählt. Er sagte nur, dass wir dir helfen müssen. Also bin ich hochgeklettert, danach ist es ein bisschen dumm gelaufen. Ich dachte, weil Tristan ein Engel ist, könnten wir fliegen« – Gregory stand auf und ging im Zimmer auf und ab – »aber es hat nicht funktioniert, deshalb sind wir von diesem hohen Zaun gefallen.«

Ivy sah auf den bandagierten Knöchel ihres Bruders. Seine Knie waren aufgeschürft.

»Dann hörten wir das Pfeifen des Zuges. Wir mussten weiter. Als wir näher kamen, haben wir dich auf dem Bahnsteig stehen sehen. Wir haben nach dir gerufen, Ivy, aber du hast uns nicht gehört. Wir sind die Stufen hoch und über die Brücke gerannt. Und da haben wir den anderen Tristan gesehen. Den mit der Jacke und dem Basecap, genau wie auf deinem Bild«, sagte er und deutete auf das Foto.

Ivy überlief ein Schauder.

»Aha«, meinte Gregory, »Engel Tristan ist nun schon an zwei unterschiedlichen Plätzen – einmal bei dir und dann auch noch auf der anderen Seite der Gleise. Er versuch­t, Ivy einen Streich zu spielen und lockt sie zu sich. Nicht sehr nett von ihm.«

»Tristan war bei mir«, erklärte Philip.

»Und wer war es dann, der da auf der anderen Seite der Gleise stand?«­, bohrte Gregory.

»Ein böser Engel«, erwiderte Philip im Brustton der Überzeugung. »Jemand, der wollte, dass Ivy stirbt.«

Gregory musterte ihn mit ausdrucksloser Miene.

Ivy lehnte sich gegen den Kopfteil ihres Bettes. So bizarr Philips Geschichte auch klang, sie kam ihr immer noch plausibler vor als die Vorstellung, sie habe Drogen genommen und sich beinahe vor den Zug geworfen. Und dann war da auch noch die Tatsache, dass ihr Bruder es den Berg hinuntergeschafft und sie in letzter Sekunde zurückgerissen hatte. Der Zugführer hatte verschwommen etwas vor seinem Zug gesehen und über Funk gewarnt, dass er nicht rechtzeitig bremsen könne.

»Ich dachte, du hättest ihn gesehen«, sagte Philip.

»Was?«, fragte Ivy.

»Du hast dich umgedreht. Da dachte ich, du hättest Tristans Licht gesehen«, Philip sah sie erwartungsvoll an.

Ivy schüttelte den Kopf. »Daran erinnere ich mich nicht. Ich kann mich an überhaupt nichts von dem erinnern, was auf dem Bahnhof passiert ist.«

Vielleicht wäre es einfacher, wenn sie sich niemals daran erinnern würde? Doch jedes Mal, wenn sie jetzt das Foto betrachtete, regte sich etwas in ihrem Unterbewusstsein. Irgendetwas hinderte sie daran, wegzusehen und zu vergessen. Ivy starrte das Bild an, bis es vor ihren Augen verschwamm. Sie hatte nicht gemerkt, dass sie zu weinen angefangen hatte.

»Ivy … Ivy, nicht.«

Suzannes Worte holten Ivy in die Gegenwart zurück. Als Ivy den Kopf hob, kauerte ihre Freundin neben dem Schulspind. Ihr Mund war ein grimmiger, mit Lippenstift nachgezogener Strich. Beth, die auch aus der Infoveranstaltung zurück war, stand über ihr und kramte in ihrem Rucksack nach Taschentüchern. Sie sah zu Ivy hi­nunter, ihre tränengefüllten Augen spiegelten Ivys Tränen wider.

»Geht schon«, beruhigte Ivy sie, wischte sich schnell über die Augen und sah von einer zur anderen. »Wirklich, mir geht’s gut.«

Aber sie sah, dass sie ihr nicht glaubten. Gregory hatte sie an diesem Tag zur Schule gefahren und Suzanne würde sie nach Hause bringen. Weil sie dachten, sie könne­ jeden Moment durchdrehen und sich mit dem Auto über eine Klippe stürzen, trauten sie ihr nicht mehr zu, selbst zu fahren.

»Du hättest das Bild nicht in deinen Spind kleben sollen«, meinte Suzanne. »Früher oder später musst du los­lassen, Ivy. Sonst wirst du noch –« Sie zögerte.

»Verrückt?«

Suzanne strich die schwarze Mähne zurück und spielte­ an einer goldenen Kreole herum. Früher hatte sie nie ein Blatt vor den Mund genommen, doch jetzt war sie vorsichtig. »Es ist nicht gesund, Ivy«, sagte sie schließlich. »Es ist nicht gut, dass sein Bild dich jedes Mal, wenn du die Tür öffnest, an ihn erinnert.«

»Aber ich hab es gar nicht dort hingeklebt«, erklärte ihr Ivy.

Suzanne runzelte die Stirn. »Was willst du damit sagen?«­

»Hast du mich dabei gesehen?«, fragte Ivy.

»Na ja, nein, aber vergiss nicht –«, fing Suzanne an.

»Tu ich nicht.«

Suzanne und Beth tauschten Blicke.

»Dann muss es wohl jemand anderes gewesen sein.« Ivy klang sehr viel überzeugter, als sie tatsächlich war. »Es ist eine Schulfotografie. Jeder kann sich einen Abzug organisieren. Ich hab es hier nicht angeklebt, also muss es jemand anderes gewesen sein.«

Es herrschte einen Augenblick Stille. Suzanne seufzte.

»Warst du heute bei der Schulpsychologin?«, erkun­digte sich Beth.

»Da komm ich gerade her«, erklärte ihr Ivy, schloss ihren Spind ab und ließ das Foto hängen. Sie stellte sich neben Beth, deren Outfit ebenfalls Suzanne ausgesucht hatte. Allerdings sah Beth für Ivy – egal wie modisch sie angezogen war – mit ihrem runden Gesicht und den federartigen blondierten Haaren immer wie eine Eule mit weit aufgerissenen Augen aus.

»Was hat Ms Bryce denn gesagt?«, wollte Beth wissen, als sie den Gang hinunterliefen.

»Nicht viel. Ich soll ab jetzt zweimal die Woche zu ihr kommen­ und reden, und wenn es mir nicht gut geht, soll ich sofort bei ihr vorbeikommen. Seid ihr beide eigentlich am Montag dabei?«, fragte Ivy und wechselte das Thema.

Suzannes Augen leuchteten auf. »Bei der Baines-Party? Das ist doch Tradition am Labor Day!« Sie klang erleich­tert, über etwas anderes reden zu können.

Ivy wusste, dass die letzten Monate schwierig für Suzanne gewesen waren. Weil Gregory Ivy so viel Aufmerksamkeit schenkte, war Suzanne eifersüchtig gewesen und hatte mit ihrer besten Freundin nicht mehr geredet. Später,­ als Gregory ihr erzählte, dass Ivy versucht hatte, Selbstmord zu begehen, machte Suzanne sich Vorwürfe, dass sie so abweisend gewesen war. Aber Ivy wusste, dass auch sie selbst Schuld an dem Zerwürfnis trug. Sie hatte sich zu sehr auf Gregory eingelassen. Seit dem Vorfall auf dem Bahnhof vor drei Wochen jedoch war Gregorys Verhältnis zu Ivy abgekühlt, er behandelte sie nun wie eine Schwester, nicht mehr wie ein Mädchen, in das er verknallt war. Suzanne ging Ivy nicht länger aus dem Weg und Ivy war in beiden Fällen froh über die positive Verän­der­ung.­

»Seit wir Kinder sind, gehen wir zur Baines-Party«, erklärte Beth Ivy. »So wie alle in Stonehill.«

»Außer mir«, betonte Ivy.

»Und außer Will. Er ist wie du erst letzten Winter hergezogen«, warf Beth ein. »Ich hab ihm von der Party erzählt – und er kommt.«

»Wirklich?« Ivy war aufgefallen, dass Beth und Will immer öfter Zeit miteinander verbrachten. »Er ist ein netter Typ.«

»Sehr nett«, bestätigte Beth enthusiastisch.

Ihre Blicke trafen sich für einen Moment. War das zwischen Beth und Will mehr als Freundschaft? Hatte es Beth schließlich doch noch erwischt, nachdem sie jahrelang all diese Liebesschnulzen geschrieben hatte? So abwegig war es nicht: Viele Mädchen schwärmten für Will. Selbst Ivy ging es nicht anders, wenn sie in seine dunkelbraunen Augen schaute … Als sie sich bei dem Gedanken ertappte, schob sie ihn allerdings schnell beiseite. Sie würde sich nie wieder verlieben.

Die Mädchen verließen die Schule, und Suzanne führte­ sie auf einem Umweg, der ganz zufälligerweise am Trainingsplatz der Footballmannschaft vorbeiführte, zu ihren Autos.

»Ich muss eine Mannschaftsliste auftreiben«, meinte Suzanne, nachdem sie ein paar Minuten zugesehen hatten. »Am Ende bin ich hin und weg von Nummer neunundvierzig und dann finde ich raus, dass er zwei Klassen unter mir ist.«

»Ein scharfer Typ bleibt ein scharfer Typ«, erwiderte Beth philosophisch. »Und ältere Frauen mit jüngeren Liebhabern sind gerade angesagt.«

»Sagt Gregory nichts davon, dass ich mir andere Typen anschaue«, flüsterte Suzanne weithin hörbar, als sie auf ihre Autos zuliefen.

»Darf man sich denn nicht mehr umsehen?«, fragte Beth unschuldig.

»Wenn ich es mir richtig überlege, erzähl es ihm ruhig, erzähl’s ihm!«, antwortete Suzanne und warf theatralisch die Arme hoch. »Er kann es ruhig wissen, Ivy.«

Ivy lächelte nur. Suzanne und Gregory hatten von Anfang an ihre Psychospielchen gespielt.

»Warum sollte ich mich auf einen Typen festlegen?«, fuhr Suzanne fort.

Ivy wusste, dass sie nur eine Show abzog. Su­zanne hatte­ seit März nur noch Augen für Gregory und wollte um jeden Preis mit ihm zusammen sein.

»Bei der Baines-Party fang ich damit an.« Sie schloss ihr Auto auf. »Da haben schließlich schon viele Schulroman­zen angefangen.«

»Wie viele planst du denn?«, stichelte Ivy.

»Sechs.«

»Super«, meinte Beth. »Noch sechs gebrochene Herzen, über die ich schreiben kann.«

»Na gut, ich reduziere es auf fünf«, fügte Suzanne mit einem verschmitzten Blick auf Ivy hinzu, »vorausgesetzt, du übernimmst den sechsten und denkst nicht mehr an Tristan.«

Ivy gab keine Antwort.

Suzanne öffnete die Fahrertür und ließ sich auf den Sitz plumpsen. Ivy wollte eben einsteigen, da hielt Beth ihre Hand fest. Sie redete schnell und ruhig: »Du darfst nichts vergessen, Ivy. Noch nicht. Es wäre gefährlich, zu vergessen.«

Bei Beths Worten regte sich wieder etwas in Ivys Unterbewusstsein.

Beth riss die Fahrertür ihres eigenen Autos auf, stieg ein und brauste davon.

Suzanne sah stirnrunzelnd in den Rückspiegel. »Keine Ahnung, was in dieses Mädchen gefahren ist. In letzter Zeit springt sie wie ein erschrecktes Kaninchen durch die Gegend. Was wollte sie gerade von dir?«

Ivy zuckte mit den Schultern. »Sie hat mir nur einen Rat gegeben.«

»Erzähl’s mir nicht – sie hatte wieder eine ihrer Vorahnungen.«

Ivy erwiderte nichts.

Suzanne lachte. »Du musst zugeben, Ivy, Beth ist schon ein bisschen schräg. Ihre ›Ratschläge‹ nehm ich grundsätzlich nicht ernst. Und du solltest es auch nicht tun.«

»Hab ich bisher auch nicht«, sagte Ivy. Und beide Male hab ich es bereut, dachte sie.

2

»Hallo! Romeo! Wo bist du? Roooo–me-ooo!«, rief Lacey.

Tristan, der Ivy die breite Haupttreppe im Haus der Baines hinunter gefolgt war, blieb auf dem Treppenab­satz stehen und steckte den Kopf suchend aus einem offenen Fenster.

Aus einem Blumenbeet lächelte ihm Lacey entgegen, es war der einzige Fleck auf Andrew Baines’ Grundstück, wo sich nicht Hunderte von Gästen mit Picknickdecken und Körben tummelten. Auf der Terrasse spielte sich eine karibische Steelband ein. In den Pinien um den Tennisplatz hingen Papierlaternen, darunter war das Buffet aufgebaut.

Lange bevor Tristan Ivy kennengelernt hatte, lange bevor Andrew alle damit überrascht hatte, dass er Ivys Mutter Maggie heiratete, war Tristan regelmäßig zu dieser jährlichen Party gekommen. Er erinnerte sich daran, wie imposant ihm als kleiner Junge das weiße holzverkleidete Haus immer vorgekommen war, mit seinem Ost- und Westflügel und Doppelschornsteinen und den vielen schwarzen Fensterläden – es sah wie eines der Häuser im New-England-Kalender seiner Mutter aus.

»Vergiss die Tussi, Romeo«, rief ihm Lacey zu. »Du verpasst eine tolle Party. Vor allem verpasst du, was hinter manchen Büschen abgeht.«

Selbst jetzt, nach zweieinhalb Monaten als Engel, war Tristans erster Impuls immer, sie irgendwie zum Schweigen zu bringen – auch wenn niemand außer ihm Lacey hören konnte. Hören konnten andere sie nur, wenn sie beschloss, ihre Stimme hörbar zu machen. Eine Fähigkeit, die er noch nicht beherrschte. Er lächelte sie schief an, dann trat er vom Fenster zurück. Im gleichen Augenblick, als Tristan sich wieder zur Treppe wandte, blieb Ivy stehen und ging zum Fenster.

Sofort schöpfte er Hoffnung. Sie spürt etwas, dachte er.

Doch Ivy sah einfach durch ihn hindurch, dann lief sie ohne zu zögern an ihm vorbei. Sie stützte sich auf die Fensterbank und beobachtete sehnsüchtig das Treiben im Garten. Tristan stand neben ihr und sah zu, wie Fackeln angezündet wurden und plötzlich im Sommerdämmerlicht aufflammten.

Als Ivy den Kopf wandte, tat Tristan unwillkürlich das­selbe und folgte ihrem Blick zu Will, der am Rand der Menge stand und alles beobachtete. Plötzlich schaute­ Will nach oben und begegnete Ivys Blick. Tristan wusste,­ was Will sah: leuchtend grüne Augen und wirre blonde Haare, die Ivy über die Schulter fielen.

Ivy sah Will eine gefühlte Ewigkeit lang an, dann trat sie unvermittelt zurück und hielt sich die Hände an die Wangen. Auch Tristan zog sich schnell zurück. Mach ein Foto, Will, davon hast du länger was, dachte er und stieg schnell die Treppe hinunter.

Auf der Terrasse wartete Lacey und machte sich einen Spaß daraus, jedes Mal, wenn der Schlagzeuger sich umdrehte, auf das Becken zu schlagen. Er sah sie natürlich nicht, noch nicht einmal den purpurfarbenen Schimmer, den man, wenn man an Engel glaubte, wahrnehmen­ konnte. Sie zwinkerte Tristan zu.

»Ich bin nicht hier, um Quatsch zu machen«, sagte er.

»Gut, Schätzchen, dann mal ran an die Arbeit«, meinte Lacey und versetzte ihm einen leichten Stoß. Obwohl sie durch die Körper von Menschen hindurchschlüpfen konnten, hatten sie für einander richtige Körper, die sie auch fühlen konnten.

»Ich will dir jemand zeigen, der sich beim Tennisplatz die Kante gibt«, erklärte ihm Lacey, steuerte jedoch zunächst auf Philips Baumhaus zu. Der Versuchung, die Baumschaukel genau in dem Moment wegzustoßen, als sich ein Mädchen im rosa Sommerkleid daraufsetzen wollte, konnte sie einfach nicht widerstehen.

»Lacey, benimm dich deinem Alter entsprechend!«

»Werd ich«, versprach sie, »und zwar sobald du dich wie ein Engel benimmst.«

»Mach ich doch schon«, erwiderte er.

Sie schüttelte den Kopf. Ihre lila Igelfrisur bewegte sich ebenso wenig im Wind wie Tristans dichten braunen Haare. »Sprich mir nach«, wies ihn Lacey mit ner­viger Lehrerinnenstimme an. »Ivy atmet, Will atmet. Ich atme nicht

»Aber auf dem Bahnhof hat sie mich angesehen«, be­harrte­ Tristan. »Ich bin mir sicher, dass sie ihren Glauben an Engel wiedergefunden hat. Als ich sie und Philip zurückgerissen habe, hat Ivy mich hundertprozentig ge­sehen.«

»Selbst wenn es so ist, erinnert sie sich nicht mehr daran«, wandte Lacey ein.

»Ich muss es irgendwie schaffen, dass sie sich daran er­innert. Beth –«

»Ist viel zu verunsichert, um dir zu helfen«, unterbrach ihn Lacey. »Sie hat den Einbruch vorhergesagt, dann hat sie die Gefahr in der Nacht am Bahnhof vorhergesehen. Sie hat eine besondere Gabe, aber sie hat zu viel Angst, um weiter ein offener Kanal zu sein.«

»Dann eben Philip.«

»Philip! Ich bitte dich. Was glaubst du, wie lange Gregory sich noch mit einem Kind herumärgert, das ständig über Engel Tristan redet?«

Tristan musste ihr recht geben.

»Damit bleibt nur Will übrig«, stellte Lacey fest. Sie lief rückwärts und deutete mit einem langen lila Nagel auf ihn. »Also. Wie eifersüchtig bist du eigentlich?«

»Sehr«, gab er ehrlich zu und seufzte. »Dir geht es doch mit der Schauspielerin, die deine Rolle in dem Film übernommen hat und deiner Meinung nach grottenschlecht spielt, auch nicht anders.«

»Sie ist grottenschlecht«, erwiderte Lacey schnell.

»Dann multiplizier dieses Gefühl mal tausend. Es ist ja nicht so, dass Will nicht nett wäre. Er würde Ivy guttun und ich will nur ihr Bestes. Ich liebe sie. Ich würde alles für sie tun –«

»Zum Beispiel sterben«, meinte Lacey. »Aber das hast du ja schon versucht und schau dir an, was es dir gebracht­ hat.«

Tristan schnitt eine Grimasse. »Zeit mit dir.«

Sie grinste, dann schubste sie ihn an. »Schau mal da rüber. Dort, neben der Tante, die aussieht, als hätte sie sich die Haare beim Pudelfrisör machen lassen. Erkennst du ihn?«

»Das ist Carolines Freund«, stellte Tristan fest und beobachtete den großen dunkelhaarigen Mann. »Der ihr manchmal Rosen aufs Grab legt.«

»Er hat Andrew beim Tennis geschlagen und scheint jede Minute davon genossen zu haben.«

»Weißt du, wie er heißt?«, erkundigte sich Tristan.

»Tom Stetson. Er unterrichtet an Andrews College. Wer braucht schon Seifenopern, wenn man in Stonehill leben kann? Glaubst du, es war eine lange, heiße, heim­liche Liebesgeschichte? Glaubst du, Andrew wusste davon? Hey, Tristan!«

»Ich hör dich«, sagte er, starrte aber zu Ivy, Will und Beth, die sich ein paar Meter weiter unterhielten.

»Ach, die Pfeile der Liebe«, sang Lacey schmachtend. Tristan hasste es, wenn sie so überkandidelt redete. »Wirklich, Tristan, dieses Mädchen hat so viele Löcher in dich gebohrt, dass du irgendwann wie eine Scheibe Schweizer Käse zusammenfällst.«

Er schnitt eine Grimasse.

»Es ist echt jämmerlich, wie du sie mit großen Hundeaugen anstarrst. Sie nimmt dich nicht mal wahr. Ich hoffe, eines Tages –«

»Weißt du, was ich hoffe, Lacey«, fiel ihr Tristan ins Wort und drehte sich zu ihr um. »Ich hoffe, du verliebst dich.«

Lacey sah ihn überrascht an.

»Ich hoffe, du verliebst dich in einen Typen, für den du Luft bist.«

Lacey sah weg.

»Und zwar hoffentlich bald, bevor ich meinen Auftrag erfülle«, fuhr Tristan fort. »Ich will dabei sein und von morgens bis abends Witze über dich reißen.«

Er wartete auf eine schnippische Bemerkung von ihr, aber Lacey sah ihn nicht an, sondern beobachtete Ivys Katze, Ella, die ihnen durch die Menge gefolgt war.

»Ich kann es kaum erwarten«, redete Tristan weiter, »dass sich Lacey Lovitt in einen Typen verliebt, den sie nicht kriegen kann.«

»Wie kommst du eigentlich darauf, dass mir das noch nicht passiert ist?«, murmelte sie und ging in die Hocke, um Ella zu streicheln.

Sie täschtelte die Katze eine Weile.

Nachdem sie bei ihrem eigenen Auftrag zwei Jahre lang herumgetrödelt hatte, verfügte Lacey über grö­ßeres Durchhaltevermögen und mehr Fertigkeiten als Tristan. Er wusste, dass sie ihre Fingerspitzen viel länger Gestalt annehmen lassen konnte als er, um die Katze zu streicheln.

»Na los, Ella«, flüsterte Lacey, und Tristan sah, wie die Katze die Ohren spitzte. Lacey sprach jetzt mit hörbarer Stimme.

Ella lief Lacey hinterher und Tristan folgte im Schlepptau zum Buffet. Dort standen Eric und Gregory. Eric diskutierte heftig mit Gregory und dem Barkeeper und versuchte, sie davon zu überzeugen, ihm noch ein Bier zu geben.

Lacey schubste Ella ein wenig an und die Katze sprang leichtfüßig auf die Tafel. Die drei Jungs bemerkten sie nicht.

»Eine Schale Milch, bitte.«

»Einen Moment, Miss«, erwiderte der Barkeeper und wandte sich von Gregory und Eric ab. Als er Ella er­blickte, bekam er große Augen.

Ella starrte ihn ausdruckslos an.

Der Barkeeper drehte sich wieder zu den beiden Jungen. »Habt ihr das gehört?«

»Milch, und wenn’s geht heute noch.«

Jetzt stierten Eric und der Barkeeper die Katze an. Gregory verdrehte sich den Hals, um hinter Eric zu sehen. »Wo ist das Problem?«, fragte er ungeduldig. »Machen Sie einfach einen Eistee.«

»Ich möchte lieber Milch.«

Der Barkeeper beugte sich zu Ella hinunter. Sie miaute und sprang vom Tisch. Lacey kicherte, aber das war nur noch für Tristan hörbar.

Noch immer stirnrunzelnd schenkte der erstaunte Barkeeper Eric einen Eistee ein. Dann deutete Gregory plötzlich mit einem Kopfnicken nach rechts und Eric und er gingen davon. Tristan trottete hinter den beiden her, als sie sich durch die Menge schlängelten und anschließend bis zu der Steinmauer weiterliefen, die das Grundstück umgab.

Tief unter ihnen lagen der kleine Bahnhof und die Gleise,­ die dem Flusslauf folgten. Selbst Tristan konnte kaum glauben, dass Philip und er es an dieser Seite des Berges hinunter geschafft hatten. Der Hang fiel steil ab und war voller Steinbrocken; bis auf einige schmale Felsvorsprünge und vereinzelte Büsche und verkrüppelte Bäume gab es nichts, woran man sich festhalten konnte.

»Unmöglich«, brummte Gregory. »Dieses Kind lügt mich an und versteckt irgendwas vor mir. Wer wohl mit ihm unter einer Decke steckt?«

»Sag einfach Bescheid, wenn du mit mir redest«, meinte­ Eric fröhlich.

Gregory warf ihm einen Blick zu.

»Du redest in letzter Zeit ziemlich oft laut mit dir selbst« – Eric grinste – »oder mit den Engeln.«

»Scheiß auf die Engel«, erwiderte Gregory.

Eric lachte. »Na ja, vielleicht fängst du besser an, zu ihnen zu beten. Dir steht das Wasser bis zum Hals, Gregory.« Sein Gesicht wurde ernst, er kniff die Augen zusammen. »Wirklich bis zum Hals. Und du ziehst mich mit rein.«

»Du Depp! Du ziehst dich selbst mit rein. Ständig bist du dicht – und vermasselst es jedes Mal. Ich frag dich zum letzten Mal, wo sind die Klamotten?«

»Und ich sag’s dir zum letzten Mal: Ich hab sie nicht.«­

»Ich will die Mütze und die Jacke«, forderte Gregory. »Und du wirst sie für mich finden – und falls nicht, kriegt Jimmy das Geld nicht, das du ihm schuldest.« Gregory warf den Kopf zurück. »Und du weißt, was das bedeutet. Du weißt, wie komisch Dealer reagieren können, wenn sie ihre Kohle nicht bekommen.«

Erics Mund zuckte. Ohne Alkohol war er Gregory nicht gewachsen. »Ich hab die Schnauze voll«, jammerte er. »Ich hab die Schnauze voll davon, die Drecksarbeit für dich zu erledigen.«

Er wollte weggehen, aber Gregory hielt ihn am Arm zurück. »Aber du wirst es machen, oder? Und du wirst die Klappe halten, weil du mich brauchst. Du brauchst deinen Stoff.«

Eric versuchte, sich loszumachen. »Lass mich los. Jemand beobachtet uns.«

Gregory lockerte seinen Griff und sah sich um. Eric machte, dass er wegkam. »Sei vorsichtig, Gregory«, warnte­ er. »Ich spüre, wie sie uns beobachten.«

Gregory zog die Augenbrauen hoch und ließ ein drohendes Lachen hören. Selbst nachdem Eric verschwunden war, konnte er sich nicht mehr beruhigen.

Lacey schüttelte sich. »Was für ein gruseliger Typ.«

Sie beobachteten, wie Gregory sich wieder unter die Partygäste mischte, sich unterhielt und lächelte.

»Welche Dreckarbeit hat Eric wohl erledigt?«, fragte Lacey Tristan. »Caroline umgelegt? Deine Bremsschläuche durchgeschnitten? Ivy in Andrews Office überfallen?«­ Sie ließ ihre Finger Gestalt annehmen und schleuderte einen Stein so weit sie konnte den Abhang hinunter. »Wir wissen natürlich noch nicht mal sicher, ob Caro­line umgebracht wurde oder ob deine Bremsleitungen absichtlich durchtrennt wurden.«

Tristan nickte. »Ich werde wohl wieder in Erics Erin­nerungen in die Vergangenheit zurückreisen müssen.«

Lacey hatte noch einen Stein aufgehoben, den sie nun neben sich fallen ließ. »Du willst ausgerechnet in Erics Kopf die Reise in die Vergangenheit antreten? Du bist verrückt, Tristan! Ich dachte, du hast aus deiner ersten Lektion was gelernt. Bei dem sind sämtliche Sicherungen durchgeschmort, es ist zu gefährlich, außerdem sind seine Erinnerungen kein Beweis.«

»Sobald ich weiß, was hier vor sich geht, finde ich auch den Beweis«, wandte er ein.

Lacey schüttelte den Kopf.

»Im Moment«, sagte Tristan, »ist es nur wichtig, Ivy so weit zu bekommen, dass sie sich an das erinnert, was auf dem Bahnhof passiert ist. Ich muss Will finden und ihn davon überzeugen, mir zu helfen.«

»Mann, tolle Idee!«, erwiderte Lacey. »Aber hat das nicht schon jemand anderes vor einer Viertelstunde vor­geschla­gen?«

Tristan zuckte mit den Achseln.

»Dieser Jemand wird dich begleiten, falls du noch mehr Hilfe brauchst«, fügte sie hinzu.

»Keine Streiche, Lacey«, warnte er sie.

»Keine Versprechungen, Tristan.«