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Titelseite

 

 

 

 

 

Für meine Mutter, die mir beigebracht hat,
dass alles möglich ist.
 
Und für den Cat Suit Club, der es zuerst gehört hat.

Die drei Arten der Magie:

Natürliche Magie:

Natürliche Magie

Die reinste Form der Magie stammt von magischen Wesen, Pflanzen und den Elementarkräften der Natur, wie Sonne, Sterne und Meere.

Vergängliche Magie:

Vergängliche Magie

Von Menschen ausgeübte Magie; insbesondere unter Zuhilfenahme magischer Instrumente und anderer Mittel, die von Magiern erschaffen wurden, um magische Kräfte heraufzubeschwören.

Übernatürliche Magie:

Übernatürliche Magie

Die dritte und dunkelste Form der Magie greift auf die Kräfte von Geistern und anderen übernatürlichen Wesen zurück.

Die drei Buchkünste,
die jeder Lehrling erlernt:

Finden

Finden

Binden

Binden

Bewahren

Bewahren

Die Lehre von den Fünf
Magischen Tabus:

Im Jahre 1666 verursachte ein magischer Unfall in London einen Großbrand. Man einigte sich auf fünf magische Tabus, um weitere magische Katastrophen zu vermeiden. Die Lehre von diesen Tabus gilt bis heute als ehernes Gesetz.

Erste Lehre: Sämtliche magischen Bücher und Artefakte müssen dem Museum für Magiekunde übergeben werden, wo man sie untersucht und klassifiziert. (Man teilt sie ein in Stufe eins, zwei oder drei magischer Kraft.)

Zweite Lehre: Magische Bücher und Artefakte dürfen nicht benutzt, gekauft oder verkauft werden, solange sie nicht ordnungsgemäß identifiziert und klassifiziert worden sind.

Dritte Lehre: Der unerlaubte Gebrauch von Magie außerhalb magischer Räumlichkeiten ist untersagt.

Vierte Lehre: Das private Horden von magischen Büchern und Artefakten, um zu größerer Macht zu gelangen, ist gemäß dem Erlass zu gefährlichen Praktiken untersagt.

Fünfte Lehre: Die Ausbeutung magischer Wesen ist ausdrücklich untersagt.

 

 

Symbol

 

 

In Gewölben aus Stein und Eis

Geheimnisse ruhen, stumm und leis.

Bewacht von Hütern aus ferner Zeit

Mit Adlers Augen und Löwes Tapferkeit.

Nur der, so lautet mein Letzter Wille,

Darf bergen den Schatz der steinernen Stille,

Der den Wächtern nennen kann,

Wem ich war am treusten zugetan.

              1              

Niemands Geburtstagskuchen

In der Säbelzahnstraße in Oxford saßen zwei Kinder am Küchentisch und starrten auf das Essen vor ihnen. Es gab Türme von belegten Broten, Schüsseln mit Chips und einige kleine Gläser mit unbekanntem Inhalt, deren Etiketten schon vor Urzeiten abgeblättert waren.

»Können wir endlich anfangen, Mum?«, bettelte das ältere der beiden Geschwister. Bramble Foxe war vierzehn, hatte grüne Augen und langes dunkles Haar, das ihr in dicken Locken über den Rücken fiel. Obwohl es in der Küche ziemlich warm war, trug sie eine Wollmütze mit eingestricktem Muster und Bommeln, die ihr über die Schultern baumelten.

»Noch nicht, Bramble!«, erschallte eine Stimme aus der begehbaren Speisekammer.

»Aber wir sind am Verhungern«, beklagte sich Thistle Foxe, Brambles Bruder. Er war elf, hatte strubbeliges Haar und dunkle Sommersprossen auf der Nase.

»Thistle, ich habe dir doch schon gesagt, dass du warten sollst!«, schimpfte die Stimme aus der Speisekammer.

»Können wir dann wenigstens was zu trinken haben?«, fragte Thistle.

»Etwas zu trinken?«, trällerte die Frau in der Vorratskammer. »Ein Getränk! Natürlich dürft ihr etwas trinken, meine Lieben! Der Holunderbeersaft ist sehr gut, aber seid sparsam damit. Es ist ja nicht so, als würden wir in Holunderbeersaft ertrinken!«

Die beiden Foxe-Kinder verdrehten die Augen: das weltweit verbreitete Zeichen für nervende Eltern.

Bramble schenkte aus einer großen Kanne Saft in zwei Gläser ein, die sie und ihr Bruder in einem Zug ausschlürften, um anschließend wieder das Essen auf dem Tisch anzustarren. Nachdem eine Minute vergangen war, hob Bramble die Kanne an, um sich ein zweites Glas einzugießen.

In diesem Moment tauchte ihre Mutter, Loretta Foxe, aus der Speisekammer auf. Sie war eine kleine Frau mit stechenden türkisfarbenen Augen und einer dichten Mähne aus dunklem Haar. Sie trug ein purpurnes Samtkleid und schleppte einen großen Kuchen.

Loretta Foxe bemerkte das Vorhaben ihrer Tochter. »Was habe ich eben über den Holunderbeersaft gesagt, Bramble?«, tadelte sie und riss die Augen zur Größe zweier Untertassen auf. »Glaubst du etwa, Holunderbeeren wachsen auf Bäumen?«

Bramble verzichtete wohlweislich darauf, ihre Mutter über die Unsinnigkeit ihrer Wortwahl aufzuklären. »Nein, Mum«, sagte sie augenrollend. Die Geschwister linsten hungrig auf den Kuchen, der mit blauem Zuckerguss und zwölf Kerzen verziert war.

»Wofür ist der Kuchen, Mum?«, fragte Bramble.

»Wir feiern Geburtstag«, erklärte Loretta Foxe.

»Das sehen wir«, meinte Thistle. »Aber wer hat denn?«

»Darüber zerbrich dir mal nicht den Kopf«, sagte Loretta Foxe und stellte das Backwerk schwungvoll auf den Tisch. »Es ist ein Geburtstag, der gefeiert werden sollte, und wir, die Familie Foxe, feiern ihn. Du solltest dankbar dafür sein.«

Die Foxe-Kinder hoben die Augenbrauen und tauschten vielsagende Blicke aus. Sie waren daran gewöhnt, dass ihre Mutter sich eigenartig verhielt, aber heute benahm sie sich sogar für ihre Verhältnisse übertrieben seltsam.

»Ein Geburtstagskuchen für niemand?«, ließ Bramble nicht locker.

»Ich habe nie behauptet, dass er für niemand ist«, fuhr Loretta Foxe sie an und wurde mit einem Mal gefühlsduselig, bis ihr die Tränen in den Augen standen. »Ich habe gesagt … Ach, egal! Das Wichtigste ist doch, dass Geburtstage zum Feiern und Kuchen zum Essen da sind. Ob das Geburtstagskind davon weiß oder nicht«, fügte sie hinzu, während sie sich verstohlen über die Augen wischte.

Bramble und Thistle begutachteten ihre Mutter besorgt, bevor Thistles Aufmerksamkeit sich wieder dem blauen Zuckerguss zuwandte. »Was für ein Kuchen ist es denn, Mum?«

»Das Rezept habe ich selbst erfunden«, teilte Loretta Foxe, schon wieder munterer, mit. »Schokolade und Marshmallows …«, die beiden Kinder leckten sich die Lippen, »… mit Sardinenfüllung.«

Brambles und Thistles Brauen ruckten in die Höhe, allerdings nicht vor Überraschung – ihre Mutter war Spezialistin für ungewöhnliche Rezepturen. Genau genommen war sie in so ziemlich jeder Hinsicht speziell.

Die Säbelzahnstraße war auf den ersten Blick eine gewöhnliche, wenn auch leicht schmuddelige Straße. Nichts deutete darauf hin, dass hier irgendetwas Ungewöhnliches vor sich ging. Die Eingangstür von Hausnummer 32 war grauviolett gestrichen. Hier und da blätterte die Farbe bereits ab, wie bei den meisten anderen Eingangstüren. Möglicherweise war diese hier einen Touch grauvioletter als der Durchschnitt, aber damit hörte das Außergewöhnliche bereits auf.

Die Familie Foxe jedoch, die hinter dieser Tür wohnte, war kein bisschen wie die meisten anderen Familien. Die Foxes waren dafür bekannt, anders zu sein. Als »ein wenig eigenartig« wurden sie von den übrigen Bewohnern der Säbelzahnstraße gegenüber Besuchern beschrieben – vorzugsweise hinter vorgehaltener Hand und im Flüsterton, damit die Foxes es nicht hörten.

Natürlich wussten die Bewohner von Hausnummer 32 trotzdem Bescheid und amüsierten sich prächtig darüber. Vor allem die Kinder machten sich einen Spaß daraus, ihre Nachbarn in Verlegenheit zu bringen, indem sie sie bei jeder Gelegenheit angrinsten und ihnen betont liebenswürdig einen guten Morgen oder einen angenehmen Nachmittag wünschten.

Besonders viel Erfolg hatten sie damit, wenn besagter Nachbar besagtem Besuch kurz zuvor mitgeteilt hatte, dass die Foxes »ein wenig eigenartig« seien. Denn nichts war peinlicher, als den Kindern höflich lächelnd ebenfalls einen guten Tag wünschen zu müssen, nachdem sie deutlich gemacht hatten, dass sie mit dieser komischen Familie nichts zu schaffen haben wollten. Für Bramble und Thistle war das ein harmloses Vergnügen, beinahe schon ein Hobby, das ihnen merkwürdig gute Laune verschaffte.

Doch zurück zu dem Geburtstagskuchen auf dem Küchentisch.

»Gut, gut«, fuhr Loretta Foxe geschäftig fort, »jetzt müssen wir nur noch auf euren Vater warten, damit er die Kerzen anzündet, dann können wir anstoßen.«

»Für wen denn?«, wollte Thistle ungeduldig wissen.

»Du meinst, auf wen«, korrigierte Loretta Foxe.

»Für, wen, Wurst.« Thistle zuckte gleichgültig mit den Schultern.

Loretta Foxe warf ihrem Sohn einen finsteren Blick zu, bevor ihr ein Geistesblitz kam und sie übers ganze Gesicht zu strahlen anfing, wie ein Einbrecher beim Juwelier.

»Ich sage dir, auf wen«, sagte sie. »Auf abwesende Verwandte, wo immer sie auch sein mögen.« Sie lächelte breit. Dann hob sie die Stimme und rief vorwurfsvoll: »Woodbine! Woodbine! Wo steckst du, Woodbine?«

Sie erhielt keine Antwort.

Loretta Foxe stierte die Küchentür böse an, als könnte sie den verschwundenen Woodbine so herbeizaubern – was nicht der Fall war.

»Woodbine!«, schrie sie erneut und murmelte dann den Kindern zu: »Das ist die Krux mit eurem Vater. Nie ist er da, wenn man ihn braucht!«

              2              

Plötzliche Post

Achtzig Kilometer entfernt starrte Horace Catchpole in den Londoner Büros von Folly & Catchpole, der ältesten und verschwiegensten Anwaltskanzlei ganz Englands, auf das Paket auf seinem Schreibtisch. Sein ganzes Leben schon hatte er auf diesen Tag und diese Lieferung gewartet.

Es war eine mittelgroße Holzkiste, eingepackt in schlichtes braunes Papier, das mit mehreren Stricken verschnürt war. Darauf klebte ein Etikett, auf dem zu lesen war: Lieferung wie angewiesen. Daneben lag eine gelbliche Schriftrolle, die mit einem tiefroten Band zugebunden war und dem Paket beigelegen hatte. Beide rochen dezent nach Mottenkugeln. Horace hatte keine Ahnung, was die beiden beinhalten mochten, aber in seinem Beruf war das nichts Ungewöhnliches.

Zu behaupten, dass Horace es nicht gerne gewusst hätte, wäre allerdings gelogen. Innerlich platzte er vor Neugier, jedoch war er lange Jahre darauf getrimmt worden, sich grundsätzlich nur um seine eigenen Angelegenheiten zu scheren. Genau genommen hingen der Erfolg und der gute Ruf der Kanzlei von ebendiesem Talent ab, sich nicht um anderer Leute Angelegenheiten zu kümmern. Horace würde sich da keinen Ausrutscher erlauben.

Folly & Catchpole stellten eine Menge alter Pakete zu. Doch dieses hier war sogar für sie etwas Besonderes. Vierhundert Jahre lang hatte man es im Keller der Kanzlei aufbewahrt, und in all der Zeit hatte es darauf gewartet, an einem bestimmten Datum ausgeliefert zu werden – und dieser denkwürdige Tag war heute. Horace musste sich zwicken, um sich zu vergewissern, dass er nicht träumte.

Der Großteil seiner Arbeit für die Kanzlei bestand aus regelmäßigen, mancher würde sogar sagen »langweiligen« Tätigkeiten. Doch heute spürte Horace einen Anflug von Aufregung, die ihn bis in den kleinen Zeh kitzelte. Aufregung, das wusste er, sah man bei Folly & Catchpole nicht gern – Prudence Folly, die Seniorpartnerin der Kanzlei, würde dies keinesfalls gutheißen! –, aber er konnte sich nicht helfen.

Der Keller unter den Büroräumen von Folly & Catchpole, die in einer Seitenstraße der Fleet Street beheimatet waren, beherbergte alle möglichen Geheimnisse und viele von ihnen waren noch nicht einmal den langjährigsten Mitarbeitern geläufig. Bei Folly & Catchpole hatte seit über hundert Jahren niemand mehr die eigentlichen Aufgaben eines Anwalts ausgeführt. Stattdessen war die Kanzlei zum Treuhänder für die verschiedensten seltsamen, aber ausnahmslos wertvollen Besitztümer geworden, die nur darauf harrten, gemäß ihren Anweisungen überbracht zu werden.

Horace richtete die gestärkten Ärmel seines säuberlichst gebügelten, wenn auch etwas schäbigen Hemds und knöpfte das Jackett seines dreiteiligen Anzugs zu. Nachdem er mit steifen Schritten zu einem Lesetisch am Ende des Zimmers gestakst war, holte er einen uralten, in Leder gebundenen Folianten aus dem Regal. »Klienten« lautete die Beschriftung (in der Firma war er auch bekannt als »der Foliant mit dem Klienten-Bestand«). In diesem Register waren in gestochener Handschrift die Aufträge jedes einzelnen Klienten der langen Kanzleigeschichte festgehalten.

Insgesamt gab es fünfzig solcher Bestandsregister, die für gewöhnlich in den Eingeweiden des Kellers von Folly & Catchpole lagerten, und zwar in einem Raum, der liebenswürdig »Kerker« genannt wurde. Dies hier jedoch war der Urvater von allen. Horace pustete den Staub vom Einband, öffnete den Wälzer und fuhr mit dem Zeigefinger über die Einträge. Lange brauchte er nicht, bis er aufgespürt hatte, wonach er suchte, denn der Eintrag befand sich unter den allerersten.

Gewissenhaft nahm Horace seine schwarze Hornbrille ab, putzte sie gründlich mit einem grauen Taschentuch und setzte sie sich wieder auf die Nase, um die aufgeschlagene Seite zu begutachten. Tabellenartig aufgeteilt befanden sich am Rand etwas Platz für den Namen des Klienten, daneben die Beschreibung des zu überbringenden Gegenstands, der sich in der Obhut der Kanzlei befand, gefolgt vom Datum, an dem er entgegengenommen wurde, und der Anweisung, wie damit zu verfahren sei. Horace kniff die Augen zusammen, um die halb verblichenen Buchstaben entziffern zu können.

»Überreicht: 10. Mai 1603«, war da zu lesen. »Zur Weitergabe an Archie Greene, Krabbenhäuschen 3, West Wittering.« Der Termin dahinter war mit Rot eingekreist und nach vier Jahrhunderten war er nun endlich gekommen: der heutige Tag. Heute war es so weit!

Die Beschreibung des Artikels stimmte mit den Gegenständen auf Horaces Schreibtisch überein: »Ein mittelgroßes Päckchen mit zugehöriger Schriftrolle«. Der Eintrag in der Spalte mit dem Namen des Auftraggebers war zu vergilbt, um ihn noch erkennen zu können. Das war zwar schade, aber kein Desaster, da es der Ausführung des Auftrags nicht im Weg stand.

Flüchtig bemerkte Horace, dass sich der Eintrag darunter in sogar noch schlimmerem Zustand befand. Es hatte den Anschein, als wäre die Tinte verschmiert worden, noch bevor sie richtig hatte trocknen können, wodurch es unmöglich war, irgendetwas auszumachen.

Horace schüttelte verständnislos den Kopf. »Äußerst schlampig«, murrte er leise. Zu Zeiten seines Vaters wäre so etwas nicht vorgekommen. Hugo Catchpole war ein Erbsenzähler gewesen, wenn es um die gewissenhafte Verwaltung ihrer Aufträge ging. Catchpole Junior – die Angestellten von Folly & Catchpole nannten ihn nach wie vor »Junior«, obwohl er bereits sechsundvierzig Jahre alt war – hatte daran nichts auszusetzen. Er wusste, dass Verwaltung bei Folly & Catchpole großgeschrieben wurde. Er wusste, was man von den Mitarbeitern erwartete, damit sich Fehler weniger leicht einschleichen konnten – denn Fehler waren etwas, das man bei Folly & Catchpole nicht duldete. Seit geraumer Zeit schon war der Kanzlei kein einziger Fauxpas mehr unterlaufen.

Einer der Vorteile, die älteste Anwaltskanzlei Englands zu sein, war das Gefühl von Beständigkeit und Tradition, das man Klienten vermittelte. Wenn jemand einen Brief, ein Päckchen oder sonst etwas hatte, das zu einem bestimmten Termin in der Zukunft zugestellt werden sollte, dann wusste er, an wen er sich zu wenden hatte. Man konnte das betreffende Objekt vertrauensvoll den Herren und Damen von Folly & Catchpole überlassen, die es verwahren und exakt zum rechten Zeitpunkt – und keine Sekunde früher – gemäß den Klientenwünschen überbringen würden. Das konnte einige Jahre, einige Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende später sein.

Eine Reihe von Klienten der Kanzlei nutzten diesen Service, um sicherzustellen, dass ihre am höchsten geschätzten Besitztümer nicht an ihre nächsten Angehörigen übergingen, sondern eine Generation übersprangen – oft, ohne dass die betreffende Generation je etwas davon mitbekam. Denn Folly & Catchpole rühmte sich nicht nur, die älteste Anwaltskanzlei Englands zu sein, sondern auch die verschwiegenste.

Der Großteil der Aufträge galt als historisch – historisch in dem Sinne, dass man sie vor langer Zeit entgegengenommen hatte. Manchmal, so wie bei dem Päckchen auf Horaces Schreibtisch, vor wirklich sehr langer Zeit. Niemandem innerhalb der Kanzlei war noch bekannt, wer die Anweisungen dazu geliefert hatte oder was sich in dem Paket befand. Dafür herrschten keinerlei Zweifel darüber, dass was auch immer da vor vierhundert Jahren im Keller verstaut worden war, überaus wertvoll sein musste.

Die Schriftrolle, so nahm man an, erklärte alles. Doch es war laut Firmenvorschrift strengstens untersagt, die Sendungen der Klienten zu öffnen oder deren Briefe zu lesen, es sei denn, man war ausdrücklich dazu angewiesen. Im Falle dieses Päckchens jedoch gab es keinerlei solche Anweisung, nur eine schlichte Nachricht, die besagte, wann und wohin es überbracht werden sollte.

Dieser Tag war nun gekommen, und es war Horace Catchpoles heilige Pflicht, den Auftrag nach den Bestimmungen des Klienten auszuführen. Der Umstand, dass dieser Klient inzwischen seit vier Jahrhunderten tot war, spielte keine Rolle. Es war eine Frage von Berufsehre.

Um genau 7 Uhr 29 verließ Horace das Büro von Folly & Catchpole, um an den Gerichtsgebäuden entlang die Fleet Street hinab zur berühmten Londoner Straße The Strand zu laufen. Die Schriftrolle hatte er sicher in seiner Innentasche verstaut, während er das Päckchen unter dem Arm trug. In seiner freien Hand hielt er einen großen Gehstock, den er »Der Überredungskünstler« nannte. Während er so dahinstolzierte, hielt er die Augen nach möglichen Anzeichen für Ärger offen. Welche Sorte Ärger er erwartete, wusste er selbst nicht, doch die Angestellten der Kanzlei trugen nun schon seit Hunderten von Jahren große Stöcke mit sich – nur für den Fall der Fälle. Mit dem Überredungskünstler unter dem Arm fühlte Horace sich einfach besser. Es war eine Tradition.

Er wandte sich zur U-Bahn-Station Embankment und nahm den nächsten Zug zum Hauptbahnhof Victoria Station, wo er den erstbesten Zug nach West Wittering an der Südküste des Landes bestieg. Die Reise dauerte etwas über zwei Stunden und in all der Zeit ließ Horace das Päckchen keine Sekunde aus den Augen. In West Wittering angekommen, zog er einen Stadtplan zurate und marschierte anschließend vom Bahnhof zum Meer. Kurz vor dem Wasser bog er scharf links ab, damit seine schwarzen Schuhe nicht nass wurden, und stakste den Strand entlang, wobei er einen durchaus ungewöhnlichen Anblick abgab: ein Mann in einem abgetragenen schwarzen Anzug, der mit strammem Schritt über den Sand marschierte. Doch längst hatte Horace sich daran gewöhnt, aus der Menge herauszustechen.

Am hintersten Strandabschnitt entdeckte er schließlich, wonach er gesucht hatte: ein Straßenschild mit der Aufschrift An den Krabbenbuden.

Horace folgte der Gasse, bis er eine Reihe alter Fischerhäuschen aus Stein erreichte. Vor Nummer drei blieb er stehen und richtete seine dunkelblaue Krawatte, bevor er mit dem Gehstock laut an die Tür pochte. Es dauerte nicht lange, da öffnete ihm ein Junge, ein kleines, drahtiges Kerlchen mit unscheinbar braunem Haar. Auffällig erschien Horace lediglich die Farbe seiner Augen; eins war smaragdgrün wie ein tiefer, tiefer See, das andere silbergrau wie eine verwitterte Eiche.

Horace lächelte den Jungen gutmütig an. Wie lange hatte er gespannt auf diesen Moment gewartet! Er öffnete den Mund, um sein Anliegen vorzubringen, als der Junge ihm mit einem gelangweilten Blick zuvorkam: »Danke, wir kaufen nichts.«

Das wirkte auf Horace einigermaßen ernüchternd. Welche Reaktion genau er erwartet hatte, konnte er nicht sagen, doch sicherlich nicht, wie ein Hausierer abgewimmelt zu werden. Nach diesem Schock brauchte er einen Augenblick, um sich zu fangen, und räusperte sich schließlich.

»Junger Mann«, begann er in seinem wichtigsttuerischen Tonfall, »ich komme von Folly und Catchpole, der ältesten Kanzlei in ganz England, und bin in einer wichtigen geschäftlichen Angelegenheit hier.«

Seine Worte ernteten ein lautes Donnern – das Geräusch der Tür, die ihm vor der Nase zugeschlagen wurde. Empört klopfte Horace erneut, woraufhin der Junge seufzend zurückkehrte.

»Hören Sie, ich hab’s Ihnen doch schon gesagt: Egal, was Sie verkaufen, wir haben’s schon.«

Horace räusperte sich noch einmal. Das lief alles ganz und gar nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte – und wie oft er sich diesen denkwürdigen Moment vorgestellt hatte! Die Krönung all seiner bisherigen Verdienste hatte er werden sollen. Vor Horaces innerem Auge hatte der verblüffte Empfänger des Päckchens jedes Mal zu Tränen gerührt erklärt, dass der Name Folly und Catchpole zur Legende werden würde. Doch dieser junge Knabe schien vollkommen gleichgültig. Sicher wären seine Eltern verständnisvoller.

»Nun hör mal, junger Mann«, sagte Horace und rang sich ein Lächeln ab, »ist dein Vater zu Hause?«

»Nö«, erwiderte der Junge und schlug die Tür ein zweites Mal zu, diesmal noch schwungvoller.

Vollkommen aus dem Konzept gebracht, griff Horace in seine Tasche und wischte sich mit seinem Taschentuch über die Stirn. Nach kurzem Überlegen pochte er ein drittes Mal gegen die Tür, die sich diesmal umgehend öffnete, um das Gesicht des Jungen zu offenbaren, der Horace genervt anstarrte.

Das freche Kind hätte die Tür abermals zugedonnert, hätte Horace nicht den Fuß in den Weg gestellt.

»Jetzt hör mir gefälligst zu, junger … äh … Mann!«, bemühte sich Horace um einen gebieterischen Ton. »Ich komme von Folly und Catchpole, der – wie ich dir versichern kann – ältesten Anwaltskanzlei Englands, und ich muss dir etwas sehr wichtiges mitteiiiiiiiiiii…!«

Sein letztes Wort wurde zu einem Jaulen, als der Junge seinen Fuß in der Tür ignorierte und die Tür dagegendonnerte.

»Und wenn Sie vom Mond kommen, ist mir schnuppe«, meinte der Junge. »Meine Gran sagt, ich soll nicht mit Fremden an der Haustür reden.«

Während Horace mit schmerzverzerrtem Gesicht auf einem Bein herumhopste und sich das andere hielt, setzte der Junge dazu an, die Tür erneut zu schließen.

»Warte!« Horace hielt flehend eine Hand in die Höhe. »Ich bin wegen einer wichtigen Angelegenheit hier. Einer wirklich wichtigen, offiziellen Angelegenheit«, betonte er bedeutungsschwer. »Ist deine … äh … Mutter da?«

»Nein«, sagte der Junge. »Ich habe keine Mutter, auch keinen Vater, nur eine Oma.«

»Äh … Bruder oder Schwester?«

»Nein.«

»Ist das hier Krabbenhäuschen, Nummer drei?«

»Ja«, antwortete der Junge. »Warum?«

»Weil ich an diese Adresse ein Päckchen zu liefern habe«, erklärte Horace.

Plötzlich veränderte sich die Miene des Jungen. »Warum sagen Sie das nicht gleich?« Er strahlte. »Das muss für mich sein.«

»Nein, das glaube ich kaum«, meinte Horace – allein der Gedanke war lächerlich! »Diese Lieferung …«

Aber es war zu spät. Der Junge hatte sich das Paket mit beiden Händen geschnappt und es mit einem kräftigen Ruck ins Haus befördert, während Horace einbeinig in ein Büschel Brennnesseln im Vorgarten plumpste.

Bis Horace sich aus den Nesseln gekämpft hatte, war er am ganzen Körper rot und die Haustür war erneut fest verschlossen. Leicht mitgenommen richtete er seine blaue Krawatte und glättete sein dünner werdendes Haar. Nachdem er keine andere Möglichkeit sah, beugte er sich vor und brüllte durch den Briefschlitz.

»Hier liegt ein Irrtum vor. Das Päckchen ist sehr wertvoll, daher kann es unmöglich für dich sein! Diese Lieferung ist äußerst alt und mit Sicherheit unbezahlbar, also sei vorsichtig damit!«

Zur Antwort öffnete sich der Briefschlitz von innen, woraufhin die Stimme des Jungen meldete: »Heute ist mein Geburtstag, ich werde zwölf. Ganz bestimmt ist es für mich.«

Horace Catchpole blieb der Mund offen stehen.

              3              

Ein verhängnisvoller Fehler

Im Haus Nummer drei der Krabbenhäuschen hockte Archie Greene im kleinen Wohnzimmer und starrte das Päckchen an. Seine anfängliche Begeisterung verpuffte bereits wieder, als er die komische Kiste betrachtete, die in braunes Papier gewickelt und mit Lederriemen verschnürt worden war. Sie sah alt aus. Sie fühlte sich alt an. Und – und das war das Schlimmste – sie roch alt, nach Spinnweben und Staub. Archies Erfahrung nach hatte das vermutlich zu bedeuten, dass sie alt war. Und leider hatte Archie den Großteil seines bisherigen Lebens damit verbracht, alte Dinge loszuwerden.

Er konnte nicht anders. Er sehnte sich nach dem Duft von etwas Neuem. Etwas, das in einem normalen Geschäft verkauft wurde. So sehr wünschte er sich etwas – irgendetwas –, das vor ihm noch keinem anderen gehört hatte: etwas, das allein seines war. Dabei war er weder gierig noch verwöhnt, eigentlich sogar das genaue Gegenteil – noch nie hatte er etwas Brandneues besessen.

Die Kleidung, die er trug, das Bett, in dem er schlief, und die Teller, von denen er aß, waren allesamt alt. Sogar das Fahrrad, das er letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte, war gebraucht. Natürlich hatte er sich trotzdem wie ein Schneekönig gefreut, doch selbst sein ungeübtes Auge hatte feststellen können, dass es nicht brandneu war. Seine Oma hatte sich große Mühe gegeben, es zu putzen und so gut wie neu erscheinen zu lassen, aber die Kratzer im roten Lack waren nicht zu übersehen, und wenn Archie die Gangschaltung benutzte, klackerten und ratterten die altersschwachen Gänge.

Archie liebte sein Fahrrad, und seine Oma liebte er umso mehr, weil sie so viel Arbeit hineingesteckt hatte. Ein neues Rad hätte sich Oma nie im Leben leisten können. Schon für das alte, das aus einer Kleinanzeige der West Wittering Post stammte, hatte sie das Geld, das sie als Putzfrau verdiente, mühsam zusammengespart.

Seine Oma trug keine Schuld daran, dass sie kein Geld hatten, schließlich hatte sie nicht darum gebeten, ihren Enkel aufziehen zu müssen, es war einfach so passiert. Archies Eltern und seine ältere Schwester waren bei einem Schiffsunglück ertrunken, als er noch ein Baby gewesen war. Seitdem lebte er bei Gran.

Und einzig bei seiner Oma – ihr richtiger Name war Gardenia Greene, aber Archie nannte sie immer nur Gran – war es Archie egal, dass sie alt war. Auf Gran konnte man sich nämlich verlassen. Obwohl – oder gerade weil – sie allmählich etwas langsam wurde, würde sie kaum zu irgendwelchen verrückten Abenteuern aufbrechen. Ganz bestimmt würde sie nicht wie seine Eltern auf eine Fähre nach Frankreich steigen und nie wieder zurückkommen.

An seine Mutter und seinen Vater konnte Archie sich kaum noch erinnern, genauso wenig wie an seine Schwester, die inzwischen fast fünfzehn gewesen wäre. Aber das änderte nichts daran, dass Archie alle drei schrecklich vermisste. An seinem Geburtstag war es immer am schlimmsten.

»Archibald!« Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Oma aus der Küche nach ihm rief.

»Ja, Gran«, antwortete er.

»Wer war da an der Tür?«

»Nur ein Mann.«

»Ein Mann? Was wollte er?«

»Ach, nichts weiter«, meinte Archie.

»Hast du ihm gesagt, dass wir nichts kaufen?«

»Ja, Gran, hab ich.«

»Warum hat er dann noch mal geklopft?«

Archie betrachtete das Päckchen. »Er hat was für mich abgegeben.«

»Ach so.«

Omas Kopf tauchte in der Küchentür auf. Ihrem Gesicht sah man ihre siebzig Jahre deutlich an, doch ihre Augen sprühten noch immer vor Leben.

»Etwas für dich …?« Ihre Lippen verzogen sich zu einem halb neugierigen, halb besorgten Ausdruck. »Was ist es?«

Archie warf ihr über die Schulter einen Blick zu. Jetzt stand sie auf der Schwelle und trocknete sich die Hände an ihrer Schürze ab. Er musterte das geheimnisvolle Kästchen auf dem Tisch.

»Ähm, es ist ein Päckchen«, erklärte er nichtssagend.

»Das sehe ich auch.« Oma lächelte. »Willst du es nun weiter anstarren oder doch lieber aufmachen?«

Archie zögerte. Unsicher linste er zu seiner Großmutter und dann wieder zu seinem Geschenk.

»Sollten wir nicht vorher herausfinden, von wem es ist?«, fragte er. »Wahrscheinlich ist es nämlich gar nicht für mich. Da steht nirgends mein Name drauf oder so.«

Aufmerksam musterte er seine Gran. Sie war von Natur aus ein misstrauischer Mensch, daher erwartete er von ihr, dass sie alle möglichen Bedenken anmelden würde, doch sie zuckte leichthin mit den Schultern.

»Ach, wie heißt es doch so schön?«, sagte sie. »Man muss die Dinge nehmen, wie sie kommen. Wir können den ganzen Abend hier herumsitzen und uns den Kopf darüber zerbrechen, was in der Kiste ist, oder du kannst sie öffnen und es herausfinden. Deine Entscheidung. Aber wenn du mich fragst, hat in ganz West Wittering keiner ein Geschenk mehr verdient als du, also solltest du es auspacken.«

Länger ließ Archie sich nicht bitten. Er spürte, wie die anfängliche Aufregung zurückkehrte. Mag sein, dass das Ding alt ist, dachte er, aber das heißt ja nicht, dass es nicht toll sein kann. Es könnte ein Piratenschatz sein – ein juwelenbesetzter Dolch oder Golddublonen oder spanische Silbermünzen von einer Schatzflotte! Seine Fantasie ging mit ihm durch.

Archie zog an dem Strick, doch die Knoten saßen felsenfest, sodass er das Päckchen schließlich an den Mund hob und versuchte, das Band durchzubeißen. Dabei stieg ihm der komische Geruch umso deutlicher in die Nase – das Aroma von Holzfeuer und Spinnweben. Seine Lippen berührten das Papier, das sogar alt schmeckte – nach Staub, Rauch und etwas Süßlichem wie Honig, vermischt mit der Bitterkeit von Bienenwachs oder Schuhcreme. Dazu mischte sich eine weitere Note, beißend und unangenehm säuerlich wie Essig. Angewidert wischte Archie sich mit dem Handrücken den Mund ab, um den Geschmack loszuwerden.

»Hier, probier’s damit«, sagte seine Oma und reichte ihm die Küchenschere.

Archie schnitt den Strick durch, der sofort an Spannung verlor und aufschnalzte, woraufhin das Papier schlaff auf den Boden zu seinen Füßen glitt und eine Holzschatulle zum Vorschein kam, die so alt war, dass sie von zahlreichen Flecken bedeckt war.

Archie grinste. Er genoss die gespannte Vorfreude und wollte sie so lange wie möglich auskosten. Zögernd blickte er zu seiner Großmutter.

»Na los«, forderte sie ihn auf. »Mach es auf!«

Horace Catchpole, der zum Bahnhof zurücktrottete, fühlte sich gänzlich ernüchtert. Wenn er sich vorgestellt hatte, was in dem Päckchen sein könnte – und wie viel Zeit hatte er damit verbracht, darüber nachzugrübeln! –, war ihm nie auch nur in den Sinn gekommen, dass es sich dabei um das Geburtstagsgeschenk für einen kleinen Jungen handeln würde. Als älteste Kanzlei Englands zogen Folly & Catchpole eine gewisse Klientel an. Üblicherweise beinhalteten ihre Aufträge nicht das Überbringen von Geschenken für Kinder.

Horace schüttelte den Kopf. Wo soll das mit dieser Welt noch hinführen?, überlegte er, wenn ein Angestellter von Folly und Catchpole jetzt schon Überraschungspakete an verzogene Gören überbringen muss? Demnächst würde man ihn bitten, als Clown aufzutreten! Das war zu viel! Niedergeschlagen sinnierte er über die stolze Firmengeschichte.

Verschwiegenheit, sich nicht in anderer Leute Angelegenheiten einmischen und verwalterische Präzision – dies sind die Grundpfeiler von Folly und Catchpole!, überlegte Horace stolz. Von Präsenten für unhöfliche Bengel war nirgends die Rede gewesen.

Erst im Zug zurück nach London fiel ihm glühend heiß die Schriftrolle wieder ein, die wohlbehalten in seiner Tasche ruhte. Fassungslos starrte Horace darauf. In all dem Tohuwabohu hatte er völlig vergessen, sie gemeinsam mit dem Päckchen auszuliefern. Das war eine Katastrophe! Er hatte einen Fehler gemacht – noch dazu einen Fehler von gewaltiger Tragweite. Was konnte er nun deswegen unternehmen?

Der Zug war eine Expressverbindung und würde erst wieder anhalten, sobald sie London erreichten. Bis dahin war es noch über eine Stunde! Vorher konnte Horace nichts tun, abgesehen davon, sich die Haare zu raufen. Er begutachtete die Schriftrolle mit der dunkelroten Schnur in seiner Hand. Was würde Prudence Folly sagen, wenn sie davon erfuhr? Horace konnte es sich lebhaft vorstellen, und es war kein schönes Bild, das sich in seinem Kopf abzeichnete. Zu behaupten, dass die Seniorpartnerin der Kanzlei wütend werden würde, wäre in etwa wie zu sagen, dass ein ausgehungerter Tiger schon mal ein wenig schwierig im Umgang sein kann. Sie würde ihn umbringen! Hätte er die Wahl, würde Horace sich tausendmal lieber mit dem Tiger herumschlagen als mit Prudence. Aber natürlich führte kein Weg daran vorbei, es ihr zu beichten. Etwas so Ernstes konnte er unmöglich vertuschen. Er musste sie einweihen – es sei denn … Es sei denn, er könnte seinen Fehler irgendwie wiedergutmachen …?

Zu diesem Zeitpunkt ahnte Horace noch nicht, wie schwerwiegend sein Versehen tatsächlich war – oder wie teuer es zu stehen kommen würde. Stattdessen fragte er sich, was auf der Rolle geschrieben sein mochte. Vermutlich war der Text in Latein oder vielleicht Altgriechisch verfasst – seiner Erfahrung nach traf das auf die meisten Schriftrollen zu. Es könnte sich aber auch um Altenglisch handeln, obwohl das weniger wahrscheinlich war, falls sie es mit einer rechtskräftigen Urkunde zu tun hatten. Es bestand sogar eine winzige Möglichkeit, dass das Dokument in einer der wirklich alten Sprachen geschrieben worden war – die Vergessenen Sprachen, wie man sie bei Folly & Catchpole nannte. Sie wurden in Verbindung mit magischen Gegenständen verwendet, allerdings bekam man sie heutzutage so gut wie nicht mehr zu Gesicht.

Horace sprach sämtliche der alten Sprachen fließend, selbst die Vergessenen. Das alles gehörte zum Service von Folly & Catchpole. Wo kämen sie auch hin, wenn eine Lieferung einmal falsch zugestellt werden würde, nur weil der Überbringer die Anweisungen dazu nicht lesen konnte? Nicht auszudenken! Auf diese Weise entstehen Fehler, dachte Horace bei sich. Schlagartig kehrten seine Gedanken zum eigentlichen Thema zurück, als ihm bewusst wurde, dass er für das verantwortlich war, was sich als größter Fehler der Kanzleigeschichte herausstellen könnte. Er spürte, wie frische Panik in ihm aufstieg. Um keinen Preis durfte er das zulassen, also beschloss er, die Angelegenheit selbst in die Hand zu nehmen.

Er, Horace Catchpole, musste seinen Irrtum wiedergutmachen, und zwar sofort. Zweimal Unrecht ergibt noch kein Recht, das war ihm bewusst, doch manchmal, wenn man so richtig Mist gebaut hatte, musste man zu drastischen Mitteln greifen. Und genau das würde er nun tun.

Er atmete tief durch und streifte die Schleife von der Schriftrolle.

              4              

Das seltsame Symbol

Draußen vor dem Haus Nummer drei der Krabbenhäuschen war die Dämmerung hereingebrochen. Archie saß unter der Lampe im Wohnzimmer und starrte auf den Inhalt der geöffneten Holzschatulle auf seinem Schoß. Prompt kitzelte es ihn in der Nase, bis er gewaltig niesen musste. Staub. Das Innere der Kiste war bedeckt von einer Schicht aus weißem Staub, so fein wie Puderzucker. Sein Niesen ließ eine ganze Wolke davon in die Luft aufwirbeln, sodass Archie auch noch einen Hustenanfall bekam.

Als sich die Staubpartikel endlich legten, spähte Archie abermals in die Schatulle. Ein großer Schatz war nicht darin – weder ein juwelenbesetzter Dolch, noch Goldmünzen oder sonst etwas Aufregendes oder Gefährliches.

»Was ist es, Archie?«, fragte Gran, die gegenüber auf dem Sofa Platz genommen hatte.

»Ein Buch, Gran«, antwortete er. »Ein altes Buch.«

»Dachte ich mir«, entgegnete sie mit einem niedergeschlagenen Gesichtsausdruck, den Archie teilte. »Wie heißt es?«

Archie begutachtete suchend den Einband, musste jedoch feststellen, dass er den Titel darauf nicht lesen konnte. Er rieb sich die Augen und kniff sie dann konzentriert zusammen. Die Buchstaben erschienen ihm vage vertraut, doch jedes Mal, wenn er sie zu Wörtern zusammensetzen wollte, wurden sie unleserlich, als weigerten sie sich, erfasst zu werden. Es war regelrecht so, als würden sie sich bewegen, mal deutlich hervortreten und dann wieder verschwimmen. Archie gab dem Staub in seinen Augen die Schuld daran. Er blinzelte, presste die Lider fest aufeinander und schüttelte den Kopf, als könnte er so den Schleier vor seinen Pupillen loswerden.

Als er erneut auf den Titel blickte, schienen die Buchstaben zu schimmern. Im ersten Moment wirkten sie hell und klar, doch sobald Archie meinte, sie entziffern zu können, verwischten sie und verschwanden in den Hintergrund des dunklen Umschlags. Er neigte den Kopf und suchte auf dem Buchrücken nach dem Titel, doch da war nichts.

Das Komische dabei war, dass Archie das dumpfe Gefühl hatte, diese Art von Schrift schon einmal gesehen zu haben. Zwar konnte er sie nicht lesen, aber auf eine merkwürdige Weise, die er nicht recht in Worte fassen konnte, schien sie ihm vertraut – wie etwas, von dem man weiß, dass man es einmal erlebt oder gelernt hat, an das man sich im Moment allerdings nicht erinnern kann.

Als er aufblickte, merkte er, dass seine Großmutter ihn eindringlich betrachtete.

»Und?«, meinte sie. »Wie heißt das Buch?«

»Ich kann die Schrift nicht lesen, Gran. Es ist sehr alt und der Titel ist irgendwie ausgeblichen. Aber …«

»Aber was?«, hakte Oma nach, wobei Archie der lauernde Tonfall in ihrer Stimme keineswegs entging.

»Ach, gar nichts«, antwortete er und streckte die Hand aus, um sein Geschenk aus der Kiste zu holen, als ein stechender Schmerz durch seinen Arm zuckte. Überrascht zog er die Hand zurück. »Aua!«

»Was ist?«, fragte seine Großmutter besorgt.

»Weiß nicht.« Archie linste auf seine Hand. »Ich habe einen elektrischen Schlag bekommen.«

Vorsichtig griff er noch einmal nach dem Buch und legte die Finger behutsam um den Rücken. Diesmal versetzte es ihm zum Glück keinen Stromschlag, sodass er es ohne Probleme aus dem Holzkästchen nehmen konnte. Der riesige Wälzer war verblüffend leicht, trotz des dicken dunklen, vom Alter gezeichneten Lederumschlags. Eine Ecke war sogar versengt, als hätte jemand das Buch verbrennen wollen und es sich dann doch anders überlegt. Das würde zumindest den herben Geruch nach Holzfeuer erklären.

Als Archie es öffnen wollte, bemerkte er, dass der Buchdeckel von einer silbernen Spange zusammengehalten wurden, auf der ein merkwürdiges Symbol prangte. Archie fand, dass es aussah wie ein Strichmännchen mit einer Halbmond-Krone auf dem Kopf und Klauen statt Füßen.

Symbol

Er zwängte die Fingernägel unter den silbernen Verschluss und zog mit aller Kraft daran, aber er rührte sich kein Stück. Archie musterte das Schloss daran neugierig. Als er an einem Rädchen drehte, tauchten in einem kleinen Guckloch verschiedene Zeichen auf. Das Ganze erinnerte Archie an den Mechanismus eines altmodischen Tresors, nur leider kannte er die passende Kombination nicht. Versuchshalber drehte er das Rad im Uhrzeigersinn, bis ein lautes Klicken ertönte. Zeitgleich erschien in dem Fensterchen das Bild eines Baums mit einem Blitz, doch die Spange blieb fest verschlossen. Archie schraubte weiter, bis es erneut klickte. Diesmal tauchte ein lachender Totenschädel auf, doch die Schließe rührte sich wieder nicht. Als Archie ein letztes Mal an dem Rad drehte, zeigte sich eine Kristallkugel. »Komm schon, geh auf!«, murmelte er leise.

Mit einem staubigen Klicken wie von brechenden Knochen schnappte der Verschluss plötzlich auf und Archie stieg ein süßer Hauch wie von Vanille in die Nase. Außerdem meinte er, etwas zu hören. Es klang, als würde jemand tief einatmen, wie ein Schwimmer, der nach langer Zeit unter Wasser endlich wieder an die Oberfläche kommt. Hätte er es nicht besser gewusst, wäre Archie auf die Idee gekommen, das Buch selbst hätte dieses Geräusch verursacht. Prüfend legte er das Ohr auf den Ledereinband. Nichts.

Kopfschüttelnd fuhr er mit seinen Beobachtungen fort. Die Seiten waren dick und verfärbt. Sie waren auch nicht aus Papier, wie er schnell begriff, sondern aus einer Art wachsartigem Pergament. Als er näher hinsah, bemerkte er, dass sie fast durchscheinend waren. Außerdem hatten sie eine ungewöhnliche Struktur – Tierhaut!

Die Schrift gehörte zu keiner Sprache, die Archie bekannt war. Vorsichtig blätterte er die Seiten um. Hier und da war der Text von Skizzen komischer Tiere unterbrochen: Löwen mit zwei Köpfen und Feuer speiende Drachen. Obwohl Archie sich keinen Reim darauf machen konnte, fand er das Buch so faszinierend, dass er es nicht aus der Hand legen wollte.

Während er seinen Gedanken nachhing, bemerkte er nicht, dass seine Großmutter hinter ihn getreten war, um über seine Schulter zu lugen. Erst als sie ihn mit besorgter Miene ansprach, fuhr er erschrocken zusammen.

»Wer, sagtest du, hat das vorbeigebracht?«, fragte sie mit geschürzten Lippen.

»So ein Mann«, antwortete Archie, ohne die Augen von dem Buch zu nehmen.

»Ein Mann? Was für ein Mann? Wo kam er her?«

»Von irgendeiner Kanzlei.«

»Einer Kanzlei?« Grans Gesicht wurde immer angespannter. »Welche Kanzlei?«

»Keine Ahnung«, sagte Archie. »Irgendeine Kanzlei aus London.«

»London?« Grans Stimme klang schrill, so wie immer, wenn etwas sie beunruhigte. »Wie heißt diese Kanzlei?«