cover
Titelseite

Stars und Stallgeflüster

Montag, 27. Juli

„Also“, fragt Papa in die Runde. „Wer hat eine Idee? Es geht immerhin um ein Frühstücksei!“

Keine Ahnung, warum ausgerechnet ich nicht in einer normalen Familie leben kann. Keine Ahnung, was ich verbrochen habe, dass ich morgens um acht in einem bescheuerten Wettbewerb um ein weiches Ei kämpfen muss.

Papas allmorgendliches Überschriftenspiel geht mir seit meinem zwölften Geburtstag tierisch auf die Nerven.

„Rheumaskandal – Camping abgesagt!“, schlägt Mama vor und grapscht nach dem Eierbecher. Mein Bruder Flori haut ihr unsanft auf die Finger und umklammert den Eierbecher, als ginge es um Leben und Tod.

Er überlegt krampfhaft, dann grinst er breit, als wolle er an unserem Frühstückstisch Schleichwerbung für seine neue Zahnspange betreiben.

„Geplatzter Urlaubstraum wegen Krankheitsfall“, titelt er ziemlich unkreativ und schaut Beifall heischend um sich.

Papa schüttelt den Kopf, blickt mich an und zieht seine Stirn in Falten. Dann nimmt er das Ei, köpft es mit dem Messer und streut in aller Seelenruhe Salz darüber.

„Grenze Intensivstation. Wenn der Urlaub im Krankenhaus beginnt“, sagt er und schiebt sich den Löffel mit dem klebrigen Eigelb in den Mund.

Wieder einmal hat er es geschafft. Der Meister der Schlagzeilen. Klar, ist schließlich auch sein Beruf.

Zugegeben, manchmal mache ich ganz gern mit bei diesem albernen Spiel. Jeden Morgen geht es darum, die Ereignisse des vergangenen Tages in eine möglichst treffende Zeitungsüberschrift zu verpacken. Meist wetteifern wir um irgendeine Kleinigkeit. Ein zweites Glas Saft, den übrig gebliebenen Joghurt mit Erdbeeren oder, wie heute, um das einzige Frühstücksei.

Meine Eltern sind beide Journalisten. Wahrscheinlich beginnen meine Tage deshalb so seltsam.

Papa ist mit dem Ei fertig und verschränkt zufrieden die Arme hinter dem Nacken.

„Gehst du heute wieder in die Redaktion?“, fragt Mama und gähnt.

Papa nickt und macht eine Kopfbewegung nach links, wo sich unser Gepäck auf dem Teppichboden türmt. Ein Berg aus Koffern, Taschen und Tüten. Obenauf thront mein grüner Bundeswehrrucksack mit dem Peace-Zeichen darauf.

„Das Gepäck können wir dann wohl auch wieder ausräumen!“, sagt er und klingt nicht einmal übermäßig traurig dabei.

Ach ja. Ihr kennt ja noch gar nicht die Geschichte zur Schlagzeile des Tages: Eigentlich wollten meine Familie und ich gestern zu unserem alljährlichen Campingurlaub an den Gardasee aufbrechen. Aber dann hat meine Oma ganz plötzlich einen schlimmen Rheumaschub bekommen, der sie schnurstracks ins Krankenhaus befördert hat.

Damit fällt unser Urlaub fürs Erste ins Wasser – und Papa und Mama sind offenbar schon wieder völlig in ihrem Arbeitsalltag versunken.

Auch Flori wirkt überhaupt nicht geknickt. Klar. Jetzt kann er mit seinen Kumpels zelten gehen, wie es ihm sowieso von Anfang an lieber gewesen wäre. Und ich? Meine Freundinnen sind alle längst in die Ferien abgezischt. Kein Mensch weit und breit, mit dem ich die Zeit totschlagen kann.

Papa schaut besorgt zu mir herüber.

„Tief Sonja bringt schlechtes Wetter“, sagt er und schüttelt sich unter einem imaginären Kälteschub. „Wolkenfront und Regenschauer.“

Ich seufze gequält.

Dann fällt mir auf einmal Freddie ein. Freddie gehört der altmodische Reiterhof im Nachbarort, wo ich normalerweise jede freie Sekunde verbringe. Klar, vorgestern haben wir uns für drei Wochen verabschiedet, aber Freddie hat sicherlich nichts dagegen, wenn ich trotzdem komme. Wie merkwürdig, dass mir das nicht gleich eingefallen ist. Ich liebe Freddie. Aber nicht so, wie ihr jetzt denkt. Eher so auf eine platonische Art. Er wäre sowieso zu alt für mich, und diesen Ziegenbart, den er trägt, finde ich ziemlich unsexy. Außerdem ist er verheiratet. Ich bin doch nicht blöd und werde Ehebrecherin!

Nein, wenn ich ehrlich bin, geht es mir auch weniger um Freddie als vielmehr um Rosina. Rosina ist kein Mensch, sondern ein Pferd. Und zufälligerweise das prächtigste Reitpferd auf diesem Planeten.

Rosina ist ein Palomino. Mit herrlich goldenem Fell und wunderbar weißer Mähne. Das reinste Schmuckstück. Und bestimmt fließt edles Blut in ihren Adern. Aber nicht deshalb liebe ich Rosina über alles. Viel faszinierender als ihr Aussehen ist nämlich ihr Kopf. Und der ist ganz schön eigensinnig. Genau wie meiner!

Eigentlich hatte ich mich ja schon darauf eingestellt, Freddie, den Hof und mein Lieblingspferd drei lange Wochen nicht mehr zu sehen. Aber jetzt habe ich auf einmal alle Zeit der Welt, mich ausgiebig um Rosina zu kümmern.

Ein Strahlen huscht über mein versteinertes Gesicht.

„Es lockert auf!“, sagt Mama gespielt erschrocken und räumt die Teller aufeinander. „Überraschendes Hoch im Anmarsch!“

Flori lacht. „Hoch Sonja? Das kann ja heiter werden!“

Freddie verschluckt sich beinahe, als ich mich am Telefon melde.

„Sonja?“, stottert er, als würde er soeben einen Anruf aus dem Jenseits erhalten. „Sonja, rufst du etwa aus Italien an?“

„Von wegen!“ Rasch erzähle ich ihm, was passiert ist. Omas Transport ins Krankenhaus. Die verschobene Reise. Mama und Papa bereits wieder voll im Arbeitsstress und Flori mit seinem Rucksack über alle Berge. Nur ich hier, allein und zu Tode gelangweilt.

„Also, kann ich gleich zum Reiterhof kommen und mich wie immer um Rosina kümmern?“, platze ich mit meiner Frage heraus.

Betretenes Schweigen am anderen Ende. Freddie räuspert sich umständlich, verhaspelt sich, verliert sich in einem Kauderwelsch an Worten.

„Reiterhof?“, krächzt er. „Kümmern?“

Ich verdrehe die Augen.

Schließlich scheint er wieder zu sich zu kommen und sich zu erinnern. Dass ich es bin. Sonja. Die fast täglich bei ihm abhängt. Schubkarren mit zentnerschwerem Mist durch die Gegend fährt. Die Pferde bewegt. Sich im Winter um die eingefrorenen Wasserrohre kümmert.

„Weißt du, das ist so …“, sagt er und räuspert sich schon wieder. „Heute kommen Handwerker. Eine ganze Gruppe. Der Hof braucht dringend eine Generalüberholung. Es gibt Probleme an allen Ecken und Enden. Du weißt doch, dass es in die Ställe sogar schon reinregnet.“

Und wie ich das weiß! Schließlich habe ich schon fünfmal notdürftig das Dach geflickt. Löcher im Mauerwerk zugegipst. Und den Zaun repariert.

Freddies Reiterhof ist eigentlich ein Paradies. Aber ein ziemlich vergessenes, heruntergekommenes leider. Kaum ein Reitschüler oder Feriengast verirrt sich in unser verschlafenes Nest. Obwohl man bei Freddie vollen Service geboten bekommt. Es gibt vier Gästezimmer mit Blick auf wunderschöne alte Obstbäume. Fünf herrliche, liebe Pferde. Und erstklassigen Reitunterricht bei Freddie und seiner Frau Sabrina.

Aber irgendwie scheint ein Fluch auf Freddies Hof zu liegen. Denn die Zimmer stehen seit Monaten leer, und weil es auch kaum regelmäßige Reitschüler gibt, fließt so wenig Geld in die Kassen, dass Sabrina sogar im Supermarkt arbeiten muss, damit sie die offenen Rechnungen für Futter und Stroh bezahlen können. Da fragt man sich doch, wieso die beiden sich plötzlich teure Handwerker leisten können.

„Renovierungsarbeiten?“, sage ich also etwas skeptisch.

„Renovierungsarbeiten!“, wiederholt Freddie mit wenig Überzeugungskraft in der Stimme. „Die Pferde habe ich zwischenzeitlich auf einen anderen Hof gebracht. Rosina macht ausgiebigen Sommerurlaub!“

Er lacht übertrieben laut und fröhlich.

Ist doch offensichtlich, dass die ganze Geschichte zum Himmel stinkt! Wer’s glaubt, wird selig. Die Geschichte kaufe ich ihm jedenfalls nicht ab.

Auf einmal fährt mir ein Schreck durch alle Glieder. Freddie hat doch nicht etwa in seiner Verzweiflung die Pferde verkauft? Meine Rosina! Mein Ein und Alles!

Ich schlucke trocken.

„Und wann ist wieder normaler Reitbetrieb?“, frage ich vorsichtig, als würde ich ihm seine fadenscheinige Lüge abnehmen.

Wieder stockt Freddie. Im Hintergrund ist auf einmal ein seltsamer Lärm zu hören. Ein Krachen. Dann eine dumpfe Männerstimme. Als würde jemand durch ein Mikrofon sprechen. Was war das denn?

„In frühestens zwei Wochen – eher später!“, bringt Freddie hastig heraus und hat es auf einmal ziemlich eilig. „Sonja, ich melde mich, sobald du wieder kommen kannst, okay?“ Dann legt er auf und hat sich noch nicht einmal richtig von mir verabschiedet.

Da stehe ich also vor dem Gepäckberg im Wohnzimmer. Papa ist längst in die Redaktion gefahren. Mama sitzt oben im Arbeitszimmer und hämmert wie eine Verrückte in die Tastatur ihres Computers.

Und Flori? Der hat sich direkt nach dem Frühstück mitsamt seinem gepackten Rucksack und unserem blauen Zelt aus dem Staub gemacht.

Ich lege das Telefon zurück und schnappe mir meinen Rucksack. Dann schlurfe ich in mein Zimmer und bleibe vor dem Foto von Rosina stehen.

Das hat mir Freddie geschenkt, als Dankeschön für ein Jahr Mitarbeit auf seinem Hof. Für ein Jahr Schuften. Für ein Jahr bedingungslose Treue. Und jetzt werde ich einfach abserviert! Unter einem Vorwand, den selbst ein Dreijähriger als Lüge erkennen würde.

Ich lasse mich wütend aufs Bett fallen und schließe die Augen.

Eine Minute später öffne ich sie wieder und stehe auf. Nein, ich bin nicht umsonst die Tochter zweier arbeitswütiger Journalisten. Wenn es eine merkwürdige Geschichte zu enträtseln gibt, bin ich dabei.

„Ich fahre mal zu Freddie“, rufe ich Mama durch die geöffnete Arbeitszimmertür zu. „Oma besuche ich dann morgen!“

Mama reagiert nicht. Das hastige Klappern, als ihre Finger in Rekordgeschwindigkeit über die Tasten wandern, ist die einzige Antwort.

Stars und Sternchen in Igelstadt?

(Nachrichten aus der Region)

Laut inoffiziellen Medienberichten ist der Landkreis Igelstadt zurzeit Schauplatz eines neuen Familienfilms des privaten Fernsehsenders TV2. Gerüchten zufolge hat die 15-jährige Tochter der mehrfach ausgezeichneten Schauspielerin und Fernsehgröße Juliane Bauer die Hauptrolle des Films.

Hotels und Gasthöfe in der näheren Umgebung halten sich bedeckt, was den genauen Aufenthaltsort des Filmteams anbelangt. Werden sich in Igelstadt bald internationale Berühmtheiten die Klinke in die Hand geben?

„Wer ist denn Juliane Bauer?“, frage ich und klemme mir das Handy so zwischen Ohr und Schulter, dass ich während des Telefonierens Rad fahren kann. Mein Vater, der mir gerade seinen neuesten Artikel vorgelesen hat, schnauft empört durch den Hörer.

„Juliane Bauer?“, fragt er und klingt beinahe vorwurfsvoll. Dann rattert er ungefähr siebenhundert Filmtitel herunter, von denen ich keinen einzigen kenne. Juliane Bauer war eindeutig vor meiner Zeit. Aber so viel Ehrlichkeit will ich Papa dann doch nicht zumuten.

Seit er im Januar seinen vierzigsten Geburtstag gefeiert hat, darf man keine Scherze mehr über sein Alter machen! Jede Zahl, die höher als 39 ist, ist im Moment tabu! In dieser Angelegenheit ist er ziemlich sensibel. So eine Art Midlife-Crisis. Eigentlich erbärmlich, wie er sich gehenlässt!

„Wenn du was läuten hörst, Sonja, ruf mich einfach in der Redaktion an!“, befiehlt er und legt auf, um sich wieder der Überarbeitung seiner Eilmeldung zu widmen.

Mein Vater ist ein bisschen aufdringlich. Ständig schikaniert er mich und Flori mit seinen brandheißen Nachrichten aus der Region. Die Handys hat er uns nur gekauft, um sofort informiert zu werden, falls uns in der Stadtbücherei Robbie Williams begegnet oder Britney Spears beim Weihnachtsbasar der Schule Plätzchen verkaufen sollte.

In der Vorstellung meines Vaters lauert überall, wo seine Kinder sich befinden, die Story seines Lebens. Dabei vergisst er offenbar, dass seine Tochter ihre Freizeit in erster Linie auf einem völlig verlassenen Pferdehof verbringt oder durch die einsame Landschaft reitet.

Ich schalte das Handy aus und schiebe es wieder in meine Gürteltasche zurück. Auf der Anhöhe bleibe ich stehen und starre hinüber zum Hof. Meine Augen verengen sich. Tatsächlich stehen drei große Kastenwagen vor dem efeuumwachsenen Gartenzaun. Sie glänzen weiß in der Sonne und irgendein hellblauer Schriftzug ist darauf zu erkennen. Sehen so die Fahrzeuge eines Handwerksbetriebs aus?

Auf dem Vorplatz geistern jede Menge Gestalten umher. Maurer? Elektriker?

Nein, Kabelträger! Eben zerrt ein junger Mann mit Tuch im Haar ein Endloskabel hinter sich her. Das Kabel gehört zu einem Scheinwerfer. Und der Scheinwerfer ist eindeutig auf den Balkon gerichtet und leuchtet Sabrinas Geranien aus.

Moment. Habe ich gerade einen Scheinwerfer gesehen?

Ich steige wieder auf mein Rad und trete wie verrückt in die Pedale. Bin gespannt, was Freddie dazu zu sagen hat!

„Ausweis?“, schnauzt mich der bullige und imposant große Kerl an, der breitbeinig vor der Einfahrt zu Freddies Hof steht. Er trägt eine ziemlich abgewetzte Lederhose und steckt in einem schmuddeligen Achsel-Shirt. Um den Hals baumelt eine Kette mit einem Namensschild: „Diddi“. Offenbar braucht der Gorilla das, um nicht ständig zu vergessen, wie er heißt.

„Ausweis?“, brummt er noch einmal und packt mich unsanft an der Schulter, als wolle er mir den Zugang zum Reiterhof versperren. Zu meinem Reiterhof.

„Ist das hier die versteckte Kamera?“, blaffe ich den Mann an und beobachte aus den Augenwinkeln, wie tatsächlich gerade eine wuchtige Kamera aus einem der Kastenwagen geladen wird. Zwei Typen schleifen das schwere Ding an uns vorbei und verschwinden damit in Richtung Pferdestall.

Der Kerl mustert mich gelangweilt.

„Bist du von der Crew oder …“ Er schüttelt den Kopf und schaut abfällig auf mich herunter. „Nee. Für eine Journalistin bist du eindeutig zu grün hinter den Ohren.“

Crew? Journalistin? So langsam will ich wirklich wissen, was hier gespielt wird!

„Ich gehöre zum Hof!“, sage ich eine Spur zu schroff und stemme die Arme in die Seiten. „Ich reite hier und betreue die Pferde.“

„Aha?“ Der Typ wirkt wenig beeindruckt. Doch plötzlich wird sein Gesichtsausdruck weich und ein Anflug von spontaner Zärtlichkeit huscht über seine kantigen Züge.

Na also, denke ich und schenke ihm das erste Lächeln an diesem Tag. Aber ich habe mich zu früh gefreut.

Der Orang-Utan meint gar nicht mich, sondern schaut haarscharf an mir vorbei.

Ich drehe mich um. Ein cremefarbenes Taxi schiebt sich fast lautlos an uns vorüber durch das geöffnete Einfahrtstor und macht in der Mitte des Vorplatzes halt.

„Da ist sie ja endlich!“, flüstert der Typ beinahe ehrfurchtsvoll und kratzt sich am Kopf.

„Wer?“, frage ich begriffsstutzig und starre zum Auto hinüber. Die Tür springt auf und ein viel zu glänzender pinker Schuh tänzelt durch die Luft. Ein schmales Bein folgt. Dann schält sich eine Frau mit einer gewaltigen blonden Dauerwelle aus dem Fahrzeug heraus.

„Marilyn Monroe lebt!“, entfährt es mir. „Und sie hat ihren Lockenstab wiedergefunden!“

Der Kerl neben mir reagiert nicht mal darauf. Er scheint hin und weg von diesem Anblick.

Jetzt erst fällt mir auf, dass die Schöne viel jünger ist, als ich erst gedacht habe. Sie ist bestimmt nicht viel älter als ich. 14, allerhöchstens 15. Aber geschminkt und aufgebrezelt wie ihre Großtante beim Maskenball.

Das Mädchen schüttelt sein Haar, dass die platinblonden Strähnen in der Morgensonne nur so funkeln. Dann blinzelt sie mit gespielter Überraschung und blickt mit großen, treuen Hundeaugen um sich. Es wirkt beinahe, als wäre sie zu schüchtern, um zu atmen. Kann sie vermutlich auch nicht. Denn sie steckt in einem schreiend rosafarbenen Kleid, das so eng geschnitten ist, dass man allein vom Hinsehen Platzangst bekommt.

„Ein Traum!“, seufzt der Gorilla neben mir.

„Ein Albtraum in Rosa“, erwidere ich schroff und dränge mich endlich an dem Typen vorbei. Ehe er schalten kann, renne ich schnurstracks durch das Einfahrtstor hindurch.

„Aus dem Weg, Erdbeere!“, zische ich das rosa Ding neben dem Taxi an und verschwinde mit vier eiligen Schritten im Hausflur.

Der Blick, den mir das Mädchen nachwirft, bohrt sich in meinen Rücken wie ein Speer. Jede Schüchternheit ist auf einmal daraus gewichen. Aus Marilyn Monroe ist Winnetou geworden. Und Winnetou will meinen Skalp, so viel steht fest.

„Freddie?“, schreie ich und poltere die Treppe in den ersten Stock hinauf, stürme in sein Büro und baue mich vor ihm auf wie die Rachegöttin höchstpersönlich.

„Ich kann alles erklären!“, sagt Freddie, als er mich sieht, und streckt vor lauter Schreck die Hände in die Luft.

„Seit wann nimmt Barbie Reitunterricht?“, pflaume ich ihn an und stelle mich extra auf Zehenspitzen. Fast sind wir auf Gesichtshöhe. Nur lächerliche fünfzehn Zentimeter fehlen. Freddie seufzt und lässt sich in den Bürostuhl fallen.

„Das ist nur ein Filmteam“, nuschelt er und wird sagenhaft rot dabei. „Die drehen hier so einen Familienfilm. Besser gesagt, Teile davon. Der Rest wird im Studio aufgenommen. In ein paar Wochen sind sie wieder weg.“

Mir schwant Übles.

„Ein Filmteam?“, wiederhole ich und atme scharf aus. „Und was wollen die ausgerechnet hier? Auf u-n-s-e-r-e-m Hof?“

Jetzt kommt Sabrina durch die Seitentür und sieht uns besorgt an.

„Reg dich nicht auf, Sonja“, versucht sie zu schlichten. „Wir brauchen einfach dringend Geld. Und mit den Kameraleuten und Schauspielern haben wir das Haus die Sommerferien über ausgebucht. Die zahlen eine irre Tagesmiete. Davon können wir locker die Schulden abbezahlen. Freddie hat sich nicht getraut, es dir zu sagen.“

„Und die Pferde?“ Irgendwie kann ich den beiden nicht wirklich böse sein. Vor allem, weil ich selber ja auch nicht viel dazu beitrage, dass die Kasse sich füllt. Bei Freddie und Sabrina reite ich kostenlos. Dafür helfe ich in jeder freien Minute mit, so gut es geht. Aber gerade deshalb finde ich es auch echt fies, dass sie mir nichts von ihren Plänen erzählt haben. Denn ein bisschen ist das ja auch mein Hof.

„Die Pferde sind auch mitgemietet“, hüstelt Freddie verlegen. „Der Film spielt auf einem Reiterhof. Auf unserem Reiterhof quasi. Die haben in ganz Deutschland nach dem passenden Anwesen gesucht. Und unseren Hof haben sie ausgewählt, weil er so … so abgelegen und romantisch ist.“

Abgelegen? Romantisch?

Draußen vor dem Fenster hangelt sich eben ein Kameramann vorbei.

Hinter uns wird die Tür aufgerissen. Eine große mollige Frau mit raspelkurzem tomatenrotem Haar steht im Türrahmen. Sie ist komplett in Schwarz gekleidet. Schwarzer Blazer, schwarze Hose, schwarze Stiefel. Und auf der Nase sitzt eine quietschgelbe Hornbrille.

„Freddie, Frau Bauer lässt fragen, wo der Wellnessbereich ist“, sagt sie und blickt prüfend zu Freddie hinüber.

Freddie setzt sein Kleiner-Junge-Gesicht auf und wird schon wieder rot. „Wellness?“, wiederholt er, als hätte er den Ausdruck noch nie gehört. Fehlt bloß noch, dass er um ein Lexikon bittet, um das böse Wort nachzuschlagen.

Sabrina seufzt. „Eine Dusche gibt es am Ende des Flurs“, sagt sie kleinlaut und zuckt mit den Schultern.

 Die tomatige Person kaut auf ihrem Fingernagel.

„Nicht mal eine Sauna?“, fragt sie mit leiser Hoffnung in der Stimme. Sie wartet gespannt, als könnte es Freddie doch noch einfallen, dass unten im Keller ein unbenutztes Hallenbad wartet.

Sabrina und Freddie schauen sich schweigend an.

„Ein Heubad“, unterbreche ich die Stille. „Kann stündlich im Misthaufen hinter dem Stall genommen werden.“

„Das war nicht nötig“, sagt Sabrina, als ich mich mit ihr in die Küche verziehe und ihr zuschaue, wie sie Äpfel schält.

Äpfel schälen ist Sabrinas liebstes Hobby. Sie schafft es, die Schale abzuschneiden, ohne einmal das Messer absetzen zu müssen. Ein wunderschöner Ring aus hauchdünner roter Schale bleibt übrig. Weil Sabrina ständig Äpfel schält, muss Freddie die ganze Zeit über Apfelkuchen backen. In der Küche hängt immer der Geruch von frischem Hefeteig. Schwer und duftig, man möchte sich am liebsten darin wälzen!

Aber zum Backen hat Freddie ab sofort offenbar keine Zeit mehr. Durch die Gardinen hindurch kann ich beobachten, wie er mit einem schlaksigen Kerl mit Schirmmütze über den Hof hastet. Richtig wichtig sieht er dabei aus. Gemeinsam verschwinden sie in den Ställen, im Heuschober, im Geräteschuppen. Dann bleiben sie in der Mitte des Hofes stehen und starren so konzentriert in den Himmel hoch, als stünde ein Angriff vom Mars unmittelbar bevor.

„Die Leute sind wirklich nett“, erklärt mir Sabrina. „Und das Mädchen, Harriet, ganz besonders. Sie ist die Tochter von Juliane Bauer. Aber völlig auf dem Boden geblieben. Überhaupt keine Starallüren. Mit der kannst du dich doch vielleicht anfreunden. Die ist doch in deinem Alter!“

Voller Grauen muss ich an das rosa Püppchen von eben denken. Harriet. Nicht mal der Name klingt natürlich. Und dann muss sie zu allem Überfluss auch noch wirklich wichtig sein. Offenbar habe ich einen Volltreffer gelandet und bin genau am Drehort dieses seltsamen Familienfilms gelandet, nach dem mein Papa die ganze Gegend absuchen lässt. Wenn der wüsste!

Meine Hand wandert wie von selbst zum Handy. Eigentlich hätte ich ihm die Neuigkeit längst melden müssen. Sicher wäre er schlimm enttäuscht, wenn er wüsste, dass ich hier in aller Seelenruhe sitze, während sich draußen die Tochter seiner heiß geliebten Juliane Bauer in lackierten Stöckelschuhen durch den Schlamm kämpft. Auf der hysterischen Suche nach einem Wellnessbereich. Das gäbe eine tolle Schlagzeile!

Aber in all dem Trubel hier auch noch Papa mit seinem nervigen Notizblock und seinen oberpeinlichen Fragen? Nein, das wäre mir jetzt echt zu viel.

Die Tür springt auf und ein Mädchen spaziert herein. Das braune Haar hat sie mit einem roten Gummi zu einem einfachen Zopf zusammengebunden. Sie steckt in knallengen Jeans und einem karierten Holzfällerhemd. L-e-v-i-s kann ich gerade noch entziffern und stopfe verlegen mein verwaschenes T-Shirt mit dem Logo vom Sportverein in meinen Hosenbund.

„Gibt es hier Kaffee?“, fragt das Mädchen in Sabrinas Richtung und sieht sich suchend in der Küche um. Wer das wohl ist? Vielleicht eine Kamerafrau? Oder jemand von der Maske? Ganz schön jung, wenn ich es mir recht überlege.

Sabrina steht auf und reicht ihr die grüne Thermoskanne. Die mit den gelben Blumen drauf, die schon so altmodisch ist, dass sie langsam wieder modern wird.

„Tassen sind im Schrank. Und wenn ihr selbst gebackenen Kuchen wollt …“

Endlich schaut das Mädchen mich an. Nett sieht sie aus. Nett und selbstbewusst, als könne nichts und niemand sie umhauen. Und diese großen Hundeaugen! Irgendwie kommt sie mir nun doch verdächtig bekannt vor.

„Ich bin Harriet!“, stellt sie sich vor und reicht mir die Hand. „Kannst mich Harry nennen. Das mit der Erdbeere eben war ziemlich fies. Aber auch lustig. 1 : 0 für dich!“

Jetzt bin ich es, der die Spucke wegbleibt. In Harriet habe ich mich fürs Erste wohl ziemlich getäuscht.

„Sonja“, stelle ich mich selber vor, mit einer ganz kleinen und piepsigen Stimme. Keine Ahnung, wohin mein Mut mit einem Mal verschwunden ist. Auf jeden Fall fühle ich mich plötzlich ziemlich doof. Ist ja eigentlich klar, dass das auf dem Hof nur Verkleidung war. Dass die nicht immer in diesen scheußlichen Klamotten herumrennt!

„Ich war noch in Hamburg bei Modeaufnahmen“, sagt Harriet, als könne sie meine Gedanken lesen. „Hatte keine Zeit mehr, mich vor dem Flug umzuziehen.“

Hamburg. Modeaufnahmen. Flug. Oje. Warum komme ich mir auf einmal wie der langweiligste Mensch auf dieser Erde vor?

„Wo ist denn Mister F?“, fragt Harriet jetzt und wendet sich wieder Sabrina zu. Sie greift über den Tisch, nimmt einen Schalenkringel und schiebt ihn sich komplett in den Mund.

Sabrinas Augen leuchten. Offenbar hat Harriets Charme sie schon jetzt regelrecht eingewickelt. Sabrina hängt an Harriets kauendem Schmollmund, als wäre alles andere mit einem Schlag verschwunden. Keine Küche. Kein Pferdehof und auch kein Planet Erde. Nur Harriet. Die einfach in ein wildfremdes Zimmer marschiert und den Küchenabfall futtert.

„Der sichtet draußen mit eurem Regisseur das Gelände“, sagt sie endlich, nach einer halben Ewigkeit.

„Ach so.“ Harriet nickt. „Wegen der Helikopteraufnahmen. Das kann dauern.“

Draußen schreit jemand etwas durch ein Mikrofon und zwei Männer rennen eilig am Fenster vorbei. Harriet streckt sich, als wolle sie eine Gymnastikübung machen. Dünn und sportlich sieht sie aus. Und einen richtigen Busen hat sie auch schon. Nicht so ein Trauerspiel wie bei mir!

„Mister F ist übrigens wirklich süß“, sagt sie grinsend zu Sabrina. „Pass auf, dass ich ihn dir nicht ausspanne!“ Sie schnappt sich noch ein Stück Schale und verschwindet wieder nach draußen. Nur ein klebriger Parfümduft bleibt in der Küche zurück.

Mit einem Mal ist der Spuk vorbei. Eine Fliege erhebt sich brummend von der Herdplatte in die Luft, als hätte sie extra darauf gewartet, dass der Stargast den Raum verlässt. Sabrina nimmt seufzend einen neuen Apfel aus der Schüssel.

„Wer ist denn Mister F?“, frage ich gereizt und ärgere mich, dass Sabrina immer noch dümmlich vor sich hin lächelt.

„Na, Freddie eben. Ist doch süß, die Kleine. Hat jetzt schon einen Narren an ihm gefressen! Und er auch an ihr. Du weißt doch, dass er sich heimlich schon immer eine Tochter gewünscht hat.“

Ich merke regelrecht, wie mir die Wut in den Kopf steigt. Wahrscheinlich leuchte ich schon wie ein Warndreieck und aus meinen Ohren zischt tödlicher Dampf. Mister F. Mister F. Was für ein kindischer Spitzname! Freddie heißt Freddie und damit basta. Das ist doch schon eine Abkürzung!

Und was heißt hier ausspannen? Wenn hier eine das Recht hat, Sabrina ihren Mann auszuspannen, dann doch bitte schön ich!

Auf einmal fällt mir etwas ein. Was viel Wichtigeres als Freddie und Sabrina und der doofe Apfelkuchen. Gehetzt springe ich von meinem Hocker hoch.

„Ich schau mal nach, was Rosina so macht!“, presse ich hervor und renne schon zur Tür.

Sabrina blickt mir nachdenklich hinterher. „Die Pferde sind alle auf der Koppel“, ruft sie mir nach. „Die sollen später vom Regisseur gemustert werden. Und Aufnahmen stehen auch noch an.“

Draußen halte ich mir erst mal die Hand vor Augen. Warum ist das denn auf einmal so gleißend hell? Und wieso fuchtelt der dicke Kerl da drüben so aufgeregt mit den Händen?

„Runter!“, brüllt er mir durch einen ansteigenden Lärmpegel hindurch zu und zieht ein Gesicht, als wolle er mich an Ort und Stelle erschießen lassen. Der Krach wird lauter. Rotorenblätter. Ein ziemlicher Wind hebt an.

„Runter auf den Boden!“

„Wieso?“, rufe ich laut. Doch er hört mich nicht. Sind wir plötzlich im Krieg, oder was? Wird Igelstadt von Kampfflugzeugen angegriffen? Rasch lege ich mich auf den Bauch und schiele seitlich nach oben. Über mir, direkt über dem Dach des Reiterhofs, dreht ein Helikopter einen wackeligen Kreis durch die Luft. Er geht noch tiefer, macht knapp über dem Balkon halt und vollführt eine Schleife über den Obstbäumen.

Was soll das denn? Und wieso um alles in der Welt muss ich hier liegen bleiben, während dort drüben unter der alten Eiche … Auf der Bank sitzen Freddie und Harriet mit dem Regisseur. Und Harriet hat allen Ernstes ihren Arm um Freddies Schultern geschlungen! Sie feixen zu mir herüber und finden es offenbar superlustig, dass ich mich bis auf die Knochen blamiere.

Endlich ebbt der Lärm ab und der Helikopter verschwindet als kleine Silhouette in der Ferne.

Der Dicke quasselt aufgeregt in ein Walkie-Talkie und kommt schließlich zu mir herübergestapft.

„Hast Glück, Mädchen, wir müssen die Aufnahmen nicht noch mal machen“, sagt er und hilft mir auf. „Der Chrisi meint, man sieht dich nur, wenn man weiß, dass der Schatten vor der Tür ein liegendes Mädchen ist.“

Ich verstehe nur Bahnhof.

Harriet und Freddie erheben sich von der Bank und kommen Arm in Arm auf mich zugeschlendert.

„Hättest du doch sagen können, dass du auch mitspielen willst!“, sagt Harriet und lacht herzlich. „Wir hätten bestimmt was Besseres für dich gefunden als die Rolle des Fußabstreifers.“

Gequält falle ich in das Gelächter mit ein. Offenbar sind eben die Einstellungen für den Vorspann gedreht worden. Großbildaufnahme des Reiterhofs von der Luft aus. Und irgendwo im Staub vor der Tür … Ich wende mich ab, weil ich merke, wie mir das Wasser in die Augen schießt.

Nein, den Gefallen tu ich denen ganz sicher nicht. Ich heule doch nicht in aller Öffentlichkeit wegen so eines Schwachsinns!

Außerdem will ich endlich nach Rosina gucken. Filmaufnahmen hin oder her. Das Pferd muss nämlich geritten werden. Und jeder auf dem Hof weiß, dass das meine heiligste Aufgabe ist!

Als ich an der Koppel ankomme, beruhigt sich mein Atem langsam wieder. Auch die Tränen sind aus meinen Augen verschwunden. Irgendwie ist mir an diesem Tag wohl alles zu viel. Das war ganz schön happig und so plötzlich. Erst der geplatzte Urlaub. Dann Freddies faustdicke Lüge. Und schließlich der Schreck mit dem Filmteam. Wenn ich mir vorstelle, dass die die nächsten Wochen überall auf dem Hof herumschnüffeln …

Rosina steht wie ein kleiner gelber Fleck am anderen Ende der Koppel. Sie bewegt sich nicht, sondern scheint in einen ihrer Tagträume versunken. Aber als hätte sie mein Kommen gespürt, hebt sie auf einmal den Kopf, starrt genau in meine Richtung und setzt sich mit raschen Schritten in Bewegung. Mit wehender Mähne kommt sie auf mich zugetrabt.

Toll sieht das aus, wie sie an den anderen Pferden vorbeiprescht und hoch erhobenen Hauptes über die Wiese donnert. Ihre Hufe schlagen gleichmäßig auf der Erde auf und ihr Fell glänzt wie mit Gold bemalt. Daneben verblassen alle anderen Pferde. Daneben wird alles andere unwichtig und lächerlich.

Sollen Sabrina und Freddie diese überaus dämliche Harriet meinetwegen adoptieren. Ist mir doch egal. Rosina auf jeden Fall lässt sich nicht von diesem supercoolen Getue beeinflussen.

Fast zeitgleich erreichen wir das Gatter und ich streichle zärtlich über Rosinas Nüstern. Aus meiner Hosentasche zaubere ich einen Würfelzucker in Kleeblattform.

Ich weiß, das ist kitschig. Und nicht gut für Rosinas Zähne. Und vielleicht stimmt es ja auch, dass die Pferde so was gar nicht kapieren. Aber ich finde es einfach schön, Rosina mit diesen Glückszuckern zu verwöhnen. Ein Kleeblatt, ein Dreieck. Manchmal ist auch ein Herz dabei.

Ein paar Meter von der Koppel entfernt stehen ein paar Kameramänner und lachen lautstark über irgendeinen Witz. Rosinas Spurt haben sie natürlich beobachtet und starren neugierig zu mir herüber. Ein Junge löst sich aus dem Kreis und kommt zu mir geschlendert.

„Tolle Show!“, sagt er anerkennend und krault Rosina die Mähne. „Mit den Pferden scheinst du dich echt auszukennen.“

„Klar!“, sage ich und es tut mir leid, dass ich so schnippisch dabei klinge. „Ich bin schließlich fast jeden Tag hier. Und Rosina steht unter meinem persönlichen Schutz.“

„Aha! Rosina also!“, sagt der Junge und hört endlich auf, in ihrer Mähne herumzuwühlen. Dafür schaut er jetzt mich an. Ziemlich direkt sogar. Seine Augen sind dunkelgrün und um die Iris liegt ein hauchfeiner blauer Rand, wie mit Tinte gemalt. Und erst die Wimpern! Ganz schön lang für einen Jungen. Überhaupt ist der ganze Typ phänomenal hübsch. Nicht so eine Augenkrankheit wie die Jungs in meiner Klasse. Mit ihren pickeligen Gesichtern und tonnenweise Gel im Haar. Das hat der hier gar nicht nötig. Aber gut. Immerhin ist er sicherlich schon 16.

„Ich bin Jonathan!“, stellt er sich jetzt endlich vor und nickt mir zu. „Und du? Hast du auch einen Namen? Oder bist du nur die Pferdeflüsterin?“ Er grinst und ich schaue verlegen zur Seite.

Woher kennt der denn meinen Lieblingsfilm? Den „Pferdeflüsterer“ habe ich bestimmt schon zehnmal gesehen. Papa hat mir die DVD zur Firmung geschenkt. Auch das Taschenbuch. Aber ich bin nicht so die Leseratte.

Immer wenn ich mich einsam fühle, mache ich im Wohnzimmer das Rollo runter und schaue mir den Film an. Gut, zum Glück passiert das nicht sehr oft. Und echte Pferde sind tausendmal besser als welche im Fernsehen! Vor allem, wenn sie so zutraulich wie Rosina sind.

„Ich bin Sonja“, sage ich und bin froh, dass meine Stimme wieder fest klingt. „Ich arbeite hier.“

Jonathan mustert mich. „Das wird Papa bestimmt freuen, dass hier so ein richtiges Pferdemädchen unterwegs ist“, sagt er dann und schaut auf seine Uhr. „Vielleicht kannst du Harry ein bisschen Nachhilfeunterricht geben. Ich meine nur. Klamotten und so. Bei Harry wirkt das alles noch ein bisschen steril und nicht authentisch.“

Steril? Authentisch? Wie reden die hier eigentlich alle? Außerdem nervt mich, dass man nirgends vor dieser Harriet sicher ist. Sogar hier, am Gatter bei Rosina!

„Ich bin übrigens der Sohn des Regisseurs“, erklärt Jonathan, als er mein fragendes Gesicht sieht. „Darf ein Praktikum am Set machen. Später will ich mal Kameramann werden.“

Ich nicke und mache das Gatter auf. Irgendwie habe ich große Lust, mit Rosina zusammen ganz weit wegzureiten. Pferdemädchen! Wie dämlich das klingt. Der sollte mal sehen, wie ich auf Rosina über den Waldweg jage! Wie ich die wacklige Leiter zum Stall hochklettere, um verrottetes Laub aus der Regenrinne zu holen. Oder wie ich Ricco, unseren Araberhengst, sattle. Der kann ganz schön wild werden und kaum jemand traut sich so nah ran wie ich. Wütend streife ich das Halfter über Rosinas Kopf und schließe das Gatter sorgfältig hinter mir ab.

„Was willst du mal werden? Später, meine ich?“, fragt Jonathan, als wäre ich gerade aus dem Kindergarten entlassen worden.

Ich zucke mit den Achseln. „Bademeister?“, antworte ich, weil mir im Moment nichts Blöderes einfällt.

Wenn ich gedacht habe, dass Jonathan sich von meiner dummen Bemerkung abschrecken lässt, habe ich mich gründlich getäuscht. Im Gegenteil: Er geht einfach mit einem Lachen darüber hinweg und fängt an, mich über Igelstadt und meine Schule, meine Familie, den Reiterhof und Rosina auszufragen.

Dabei steht er so geschickt auf dem Pfad vor der Koppel, dass ich mit Rosina gar nicht an ihm vorbeikäme, selbst wenn ich wollte. Aber so eilig habe ich es inzwischen auch gar nicht mehr. Dieser Jonathan scheint eigentlich ganz sympathisch zu sein. Zum ersten Mal in meinem Leben unterhalte ich mich mit einem Jungen, der sich nicht nur für Computerspiele und Fußball interessiert.

Auch Rosina ist offensichtlich nicht böse über die Verzögerung. Zufrieden steht sie neben uns in der Sonne und zupft an den hohen Grasbüscheln.

Als Jonathan alles über mich erfahren hat, was er wissen will, erzählt er mir von seiner Arbeit am Set. Und davon, wie froh er ist, dass es mit dem Praktikum geklappt hat. Der Wunsch, Kameramann zu werden, scheint ihm wirklich wichtig zu sein. Seine Augen leuchten richtig, wenn er über die Filmaufnahmen spricht.

Irgendwann blicke ich auf meine Uhr und stelle fest, dass wir schon mehr als eine halbe Stunde an der Koppel stehen!

„Ich muss los“, sage ich ein bisschen verwirrt.

Dann schnappe ich mir den Strick am Halfter und führe Rosina endlich in Richtung Hof zurück.

Als ich auf dem Hof ankomme, trifft mich fast schon wieder der Schlag. Was soll das denn? Ein großes Holzschild wird gerade am Einfahrtstor montiert. Zwei Pferdeköpfe sind darauf abgebildet und mit schnörkeliger Schrift steht „Romantik-Ranch“ darunter. Oje. Das ist echt zu viel. Das komische Filmteam sollte mal hören, wenn sich Sabrina und Freddie zoffen. Das kommt zwar nicht so häufig vor, aber wenn es mal einen Streit gibt, fliegen hier wirklich die Fetzen. Dann ist es schnurstracks aus mit der Romantik!

Außerdem sind Pferdehöfe alles andere als heile Welt und Sonnenschein. Im Gegenteil. Sie bedeuten jede Menge Arbeit und Stress. Aber gut. Es soll ja wohl ein Familienfilm und keine Dokumentation werden.

Vorne, am Geräteschuppen, steht Freddie mit dem Regisseur. Irgendjemand hat ihm aus Pappe ein Namensschild gebastelt, auf dem in dicken Buchstaben „Mister F“ steht.

„Okidoki!“, sagt er gerade zum Regisseur und nickt so heftig, dass ihm beinahe der Kopf dabei abfällt. „Null Problemo. Harry kann ja mal ein paar Proberunden drehen.“

Super. Freddie existiert nicht mehr und ein aufgedrehter Kerl mit einer offensichtlichen Sprachstörung ist an seine Stelle getreten.

„Hallo, Mister F!“, sage ich abschätzig und klammere meine Hand ganz fest um Rosinas Strick. „Ist es in Ordnung, wenn ich mit Rosina einen Ausritt mache?“

Eine steile Falte zeichnet sich auf Freddies Stirn ab. Plötzlich scheint alles, was bis gestern selbstverständlich war, ein ernsthaftes Problem darzustellen.

„Hm!“, sagt er und schiebt seine Hände unschlüssig in die Hosentaschen. „Weißt du, die Pferde werden gleich gecheckt. Wäre schon gut, wenn du mit Rosina hier auf der ,Romantik-Ranch‘ bleiben würdest.“

Offenbar haben die Scheinwerfer Freddies Gehirn bereits zum Großteil gegart. Er fängt schon an zu reden wie all diese superwichtigen Heinis am Drehort. Und dass er seinen wackeligen, windschiefen Hof auf einmal „Ranch“ nennt, scheint ihm auch nicht zu blöd zu sein.

Der Regisseur mustert mein verzagtes Gesicht.

„Nee, nee“, sagt er. „Das Pferd da brauchen wir nur als Hintergrund. Ich habe mir gedacht, dass Harry auf einem dunklen Pferd reitet. Vielleicht auf dem Araber? Das gibt einen besseren Kontrast. Das Helle hier ist mir zu farblos.“

Mein Griff um den Strick wird immer fester. Farblos? Meine Rosina farblos? Und dann soll sie auch noch als Hintergrund verwendet werden? Das ist echt das Allerletzte. Ist Rosina vielleicht ein Stück Kulisse, das man hin und her schieben kann, wie man möchte?

Aber gut. In Wahrheit bin ich natürlich glücklich, dass Rosina aus diesem ganzen Affenzirkus rausgehalten wird. Bei der Vorstellung, dass Harriet sich auch noch an meinem Pferd vergreift und darauf über den Bildschirm galoppiert, wird mir ganz schlecht. Nein, wirklich. Da würde ich nie mehr freiwillig den Fernseher anschalten und stattdessen lieber Omas vierzehnbändiges Lexikon der Weltgeschichte lesen. Und das will was heißen!

„Na dann!“, sage ich also nur und schiebe mich an Freddie und dem Regisseur vorbei. Schnappe mir den Sattel, der im Geräteschuppen hängt. Den Eimer mit dem Putzzeug: Hufkratzer, Striegel, Kardätsche. Wo hat Sabrina denn die Kiste mit den Bürsten hingestellt?

Wieder auf dem Platz, kümmere ich mich erst mal um Rosinas Schönheitspflege. Bürste ihr den ganzen Körper sorgfältig ab, kämme vorsichtig das dichte Mähnenhaar. Dann kommen die Hufe dran.