Inhaltsverzeichnis

Zum Buch

 

Der theologische Ansatz Hansjürgen Verweyens gehört zu den profiliertesten und meistdiskutierten im deutschen Sprachraum. Wer einen universalen Anspruch göttlicher Offenbarung glaubwürdig vertreten will, muss vor allem zwei Fragen beantworten: Ist wenigstens ein Begriff letztgültigen Sinns denkbar? Wenn ja: Wie ließe sich dieser Begriff so in Realität umsetzen, dass ich ihn als einen unbedingten Anspruch an meine Existenz kritisch verantworten kann? Wer sich diesen Fragen nicht ernsthaft stellt, setzt sich dem Verdacht aus, ein fundamentalistisches Schlupfloch für den Ernstfall bereitzuhalten.

Der Autor hat seinen in „Gottes letztes Wort“ dargestellten Ansatz noch einmal gründlich überarbeitet. Zur besseren Verständlichkeit für einen größeren Kreis von Leserinnen und Lesern trägt vor allem bei, dass er die entscheidenden Punkte seiner Argumentation nun Schritt für Schritt anhand von Beispielen aus der Literatur veranschaulicht.

 

 

 

Zum Autor

 

Hansjürgen Verweyen,
Dr. theol., Dr. phil. habil., geb. 1936, war bis zu seiner Emeritierung Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Freiburg i. Br.

Hansjürgen Verweyen

 

 

Mensch sein neu buchstabieren

 

Vom Nutzen der philosophischen und historischen Kritik für den Glauben

 

 

 

 

 

 

Verlag Friedrich Pustet
Regensburg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

eISBN 978-3-7917-6084-1 (epub)
© 2016 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg
Umschlaggestaltung: Martin Veicht, Regensburg
eBook-Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg

 

Diese Publikation ist auch als Printprodukt erhältlich:
ISBN 978-3-7917-2772-1

 

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Vorwort

Am Anfang dieses Buchs muss eine Erinnerung an Thomas Pröpper stehen. Wir kamen vor etwa dreißig Jahren am Rande einer Tagung zufällig ins Gespräch und stellten erstaunt fest, dass wir beide ein gemeinsames Ziel verfolgten. Karl Rahner hatte sich in „Hörer des Wortes“ einer zuerst von Maurice Blondel angegangenen zentralen Frage gestellt, die danach leider weitgehend vernachlässigt wurde. Diese Frage wollten wir in neuer Perspektive wieder aufnehmen: Was ist nötig, damit wir ein unbedingten Gehorsam forderndes Wort Gottes als unsere ganze Existenz zu Recht beanspruchend erkennen können? Aus der ersten Begegnung entwickelte sich bald eine Freundschaft, von der wir aber das unnachgiebige Ringen um den richtigen Weg zu dem gemeinsamen Ziel nicht beeinträchtigen ließen. Seit der früh einsetzenden schweren Erkrankung Pröppers und endgültig dann durch seinen Tod fehlen mir seine gewichtigen Einwände, die mich immer wieder zur kritischen Hinterfragung meines eigenen Ansatzes motivierten. Nachdem ich vor Kurzem versucht hatte, den Unterschied zwischen unseren philosophischen Zugängen noch einmal herauszuarbeiten, ging mir auf, dass auch mein eigenes Konzept erneut einer sorgfältigen Überprüfung bedurfte.

Im Bemühen um bessere Verständlichkeit habe ich jetzt zum Beispiel Schachtelsätze vermieden und die wichtigsten Schritte meiner Argumentation anhand von Texten aus der Literatur veranschaulicht. Was die Sache selbst angeht, konnte ich einen gefährlichen Gedankensprung durch den Rückgriff auf die in meiner Dissertation erarbeitete Phänomenologie des Staunens überwinden. Im ersten Teil des nun vorgelegten Buchs geht es um eine Analyse der Grundsituation des Menschen. Mit Albert Camus verstehe ich diese als allem Anschein nach absurd, insofern unser Handeln von der Idee einer vollendeten, aber unerreichbaren Einheit geprägt ist. Camus zufolge erfährt Sisyphos gerade durch diesen „Götterfluch“ ein unerwartetes Glück. Die Dinge, denen er auf seinem mühsamen Weg immer wieder begegnet, werden zu einer nur ihm vertrauten Welt. Diese Erfahrung von Lebenssinn ist jedoch ebenso fragmentarisch, wie die menschliche Grundsituation absurd bleibt. Soll uns ein Wort Gottes unbedingt in Anspruch nehmen können, dann müsste sich ein letztgültiger Sinn zumindest widerspruchslos denken lassen. Die entscheidende Voraussetzung dafür wäre aber, dass unsere Ausrichtung auf eine vollendete, doch unvollendbare Einheit eine notwendige Möglichkeitsbedingung für letztgültigen Sinn ist, nicht ein über uns verhängter Fluch.

Den Begriff eines letztgültigen Sinns versuche ich im zweiten Teil herauszuarbeiten. Um sich seiner selbst als frei bewusst zu werden, bedarf der Mensch der Anerkennung durch andere. In dieser ursprünglichen Anerkennung kann ihm aber nur ein geringer Teil seiner Möglichkeiten bewusst werden. Ein Leben lang bleibt er auf weitere Anerkennung verwiesen. Letztlich bedarf er des unbeirrbaren Entschlusses von Menschen, ihm, dem anderen und Fremden, zum Ohr für die Worte zu werden, in denen er sich selbst zu sagen versucht. In diesem Entschluss ist das Ja zu einer vollendeten, wegen der unbegrenzten Freiheit des anderen aber unvollendbaren Einheit enthalten. „Gottes letztes Wort“ an uns fordert die Bereitschaft, immer wieder neu zu buchstabieren, was es heißt, Mensch zu sein.

Im dritten Teil frage ich nach der Möglichkeit, rational verantwortbar daran zu glauben, dass in der Botschaft Jesu von Nazaret dieses letzte Wort Gottes wirklich ergangen ist. In einer Übersicht über die Entwicklung der historisch-kritischen Exegese hebe ich hervor, dass eine die früheren Ergebnisse dieser Entwicklung sorgfältig berücksichtigende Redaktionskritik der auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil verkündeten Lehre über eine angemessene Auslegung der Heiligen Schrift am besten gerecht wird. Als Beispiel für eine solche Exegese stelle ich ans Ende meiner Ausführungen eine redaktionskritische Interpretation des Eucharistieverständnisses im lukanischen Doppelwerk. Die Nähe dieser Sicht zur diesbezüglichen paulinischen Verkündigung legt es nahe, das heutige Ringen um die rechte Feier der Eucharistie vom Neuen Testament her neu zu bedenken.

Das Werden dieses Buchs hat Herr Dr. Rudolf Zwank von Anfang an nicht nur als kompetenter Lektor, sondern vor allem als mitdenkender Leser begleitet. Ich habe mich gefreut, dass seine Einwände und Anregungen stets Dinge beim Namen nannten, auf die ich auch selbst hätte kommen sollen. Ihm möchte ich hier, wieder einmal, ganz herzlich Dank sagen.

 

Merzhausen, im November 2015

Hansjürgen Verweyen

Einleitung

Vorbemerkungen

In einem unlängst veröffentlichten Beitrag, der an mich als Gesprächspartner gerichtet ist1, gibt der Mailänder Fundamentaltheologe Pierangelo Sequeri seiner Sorge über den inflationären Umgang mit den Begriffen „Freiheit“ und „Autonomie“ beredten Ausdruck. Er fragt, ob dieses Phänomen letztlich nicht auf den Einzug transzendentalen Denkens in die Theologie zurückzuführen ist. Die von ihm geäußerte Kritik betrifft nicht allein den von mir vertretenen philosophischen Zugang zur Fundamentaltheologie, sondern auch analoge Positionen2. Ich entschloss mich daher, zur Klärung der mich selbst betreffenden Fragen zunächst eine nochmalige sorgfältige Überarbeitung meines eigenen Ansatzes3 vorzulegen. In diesem Buch versuche ich, die in meinem „Grundriß“ teilweise weit auseinanderliegenden Hauptlinien ihrer logischen Folge entsprechend zusammenzuführen, das Ganze verständlicher darzustellen und einige notwendige Korrekturen vorzunehmen.

Bei dem Bemühen, einen schwerwiegenden Fehler in meiner bisherigen Argumentation zu beseitigen, erkannte ich, dass ich dazu auf die in meiner theologischen Dissertation erarbeitete „Phänomenologie des Staunens“4 zurückgreifen musste (I 1b–3). Diese Einsicht war für mich insofern erfreulich, als selbst mir der Zusammenhang zwischen meinem ersten, vor allem an Gustav Siewerth und Hans Urs von Balthasar orientierten Ansatz und meiner dann ab 1991 vertretenen, insbesondere von J. G. Fichte beeinflussten Neukonzeption bislang nie recht deutlich geworden war.

Zur besseren Verständlichkeit dürfte beitragen, dass ich jetzt fast jeden neuen Gedankenschritt in den beiden ersten, philosophischen Teilen des Buchs durch Beispiele aus der Geschichte oder Literatur zu veranschaulichen suche. Der Rückgriff auf Albert Camus ist im Blick auf meine früheren Arbeiten nicht überraschend. Wenn ich jetzt häufiger auf Wolfgang Borchert verweise, hängt dies nicht nur damit zusammen, dass meine Interpretation seiner Kurzgeschichte „Die Hundeblume“ ein wichtiger Baustein in meiner Analyse des Staunens war5. Camus und Borchert haben in der Zeit im und nach dem Zweiten Weltkrieg die Frage des Menschen nach Lebenssinn in einer durch und durch sinnwidrig erscheinenden Welt mit Blick auf den Mythos von Sisyphos thematisiert – und sind dabei zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen gekommen (II 4a). Beide Ergebnisse dürfen meines Erachtens auf der Suche nach einem Begriff letztgültigen Sinns nicht übergangen werden.

Warum mühe ich mich dann aber mit der philosophischen Frage nach einem Begriff letztgültigen Sinns ab? Dies erscheint mir als eine unverzichtbare Aufgabe unter der Annahme, dass eine alle Menschen betreffende göttliche Offenbarung ergangen ist, die sich an jeden mit dem Anspruch auf eine unbedingte Zustimmung richtet. Wer seinen Glauben an ein solches von Gott ergangenes Wort vor anderen zu verantworten bereit ist und sich zuletzt nicht doch ein fundamentalistisches Schlupfloch sichert, darf sich nicht vor dieser Aufgabe drücken. Schon der bloße Ansatz zur Erfüllung dieser Aufgabe wird heute allerdings von Nichtglaubenden müde belächelt und von Glaubenden schon lange als Angriff auf die den Möglichkeiten menschlicher Vernunft entzogene göttliche Gnade beargwöhnt. Darum bedarf es einer wichtigen Klärung.

Im Unterschied zur traditionellen, metaphysisch orientierten Philosophie, die Behauptungen über wirkliches Sein aufstellt, beschränkt sich transzendentales Philosophieren auf die Erforschung der bloßen Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnis. Sie enthält sich jedes Urteils über die tatsächliche oder mögliche Wirklichkeit des Erkannten selbst. Mit der Frage, ob ein Gegenstand des Glaubens der Wirklichkeit entspricht oder wirklich werden kann, hat sie nichts zu schaffen. Infolgedessen tritt dieses Philosophieren nicht in Konkurrenz zu dem nur im Glauben erfahrbaren Geschenk göttlicher Gnade. Aber damit ich etwas Letztgültiges und Unbedingtes als glaubwürdig behaupten kann, muss ich mir wenigstens einen Begriff davon bilden können, der grundsätzlich von allen nachvollziehbar ist. Nur um diesen Begriff geht es in den ersten beiden Teilen dieses Buchs. Wenn sich ein solcher Begriff rein philosophisch ermitteln lässt, hat er aber auch Bedeutung für die Suche nach einem Sinn des Lebens außerhalb des theologisch verstandenen Glaubens.

Erster Teil

Im ersten Teil dieses Buchs stelle ich die Frage nach strukturellen Elementen der menschlichen Vernunft, die in jeder theoretischen oder praktischen Tätigkeit, unabhängig von der inhaltlichen Bestimmung dieses Handelns, wirksam sind. Ausgangspunkt der Untersuchung ist die für den Menschen spezifische Wahrnehmung nicht nur von anderem, sondern von anderem als anderem. Diese Wahrnehmung setzt ein zumindest rudimentäres Vertrautsein eines Ichs mit sich selbst voraus, das allein, ohne jeden Einfluss von anderem oder anderen, eine solche Differenz erkennen kann (I 1a).

Durch die Annahme, dass die Wahrnehmung von anderem als anderem mit der Erkenntnis des anderen als Grenze zusammenfällt, habe ich bisher implizit denselben Fehler wie Thomas Pröpper begangen, nämlich das objektivierende Vorstellen als primären Akt der Vernunft anzusetzen. Vorstellen in seinen Grundvollzügen von Fragen und Urteilen kann aber nicht aus der ursprünglichen Erkenntnis von Differenz abgeleitet werden. Am Beispiel des Staunens angesichts eines Naturschönen lässt sich vielmehr zeigen, dass Fragen und Urteilen erst dann aufbrechen, wenn die im Staunen für einen Augenblick gewährte volle Einheit eines anderen mit dem selbsttätigen Ich vergeht (I 1b–3a).

Aufgrund dieser phänomenologisch gewonnenen Evidenz lässt sich ein zweites strukturelles Element der Vernunft erschließen, das ich als „Idee vollendeter Einheit in Differenz“ umschreibe. Diese Idee ist im Akt des Staunens für einen Augenblick verwirklicht, bestimmt beim Vergehen dieses Augenblicks dann aber als Suche nach einer vollendeten Einheit in Differenz alle anderen menschlichen Denkvollzüge und praktischen Tätigkeiten (I 3c). Für den Versuch, vollendete Einheit in Differenz aus eigener Kraft zu erreichen, führe ich zunächst einige Beispiele aus der abendländischen Geschichte an (I 4–5a). Die anhand von Goethes „Faust“ gewonnene Erkenntnis, „wer immer strebend sich bemüht“ könne zu vollendetem Glück finden, vermag ich jedoch nicht nachzuvollziehen.

Stattdessen stimme ich Albert Camus zu, dass die Grundsituation menschlicher Existenz unaufhebbar absurd erscheint. In seinen beiden 1942 erschienenen Werken – „Der Mythos von Sisyphos“ und „Der Fremde“ – hat Camus meines Erachtens überzeugend dargelegt, dass es trotz absurd bleibender Lebensbedingungen und gerade unter diesem „Götterfluch“ möglich ist, glücklich zu ein: wenn man nur für jedes Detail seiner kleinen Welt die nötige Aufmerksamkeit aufbringt, die ihm im Allgemeinen vorenthalten wird (I 5b–6a).

Diesen von Camus aufgewiesenen „Lebenssinn im Fragment“ halte ich für eine wichtige Voraussetzung sinnvollen Lebens überhaupt. Aber die dem christlichen Theologen gestellte Aufgabe geht darüber hinaus. Er glaubt, dass Gott für alle Menschen einen unzerstörbaren Sinn ihres Lebens bereithält. Um davon überzeugt zu sein und dann auch andere davon überzeugen zu können, muss er sich zumindest einen Begriff letztgültigen Sinns bilden können, der von allen verstanden werden kann. Dann müsste sich aber die „Idee einer vollendeten Einheit in Differenz“ als eine notwendige Möglichkeitsbedingung für diesen Sinn und nicht als dessen bleibende Verhinderung erweisen lassen (I 6b). Um die Erfüllung dieser Aufgabe geht es im zweiten Teil dieses Buchs.

Zweiter Teil

Das ursprünglichste Element in der Grundstruktur der Vernunft ist die von anderem und anderen unbeeinflusste Selbsttätigkeit und insofern unbedingte Freiheit eines Ichs in der Erkenntnis von anderem als anderem (I 1a). Wie kommt es dann, dass sich in die Vernunft ein zweites strukturelles Element (I 3c) gleichsam eingraviert hat, das den Menschen anscheinend in eine letztlich vernunftwidrige Existenz zwingt? In jedem Austausch von Argumenten zeigt sich, dass Menschen sich auf vernünftiges Denken und Handeln angelegt wissen und daher zumindest vorgeblich bemüht sind, sich allem Vernunftwidrigen zu widersetzen. Dem Menschen selbst kann die Idee einer vollendeten Einheit in Differenz, die seinen Lebenssinn allem Anschein nach untergräbt, nicht entspringen. Woher stammt sie dann?

In meinem „Grundriß der Fundamentaltheologie“ habe ich gesagt, diese Frage lasse sich, wenn überhaupt, nur „von oben her“ klären6. Daran halte ich nach wie vor fest. Aber muss diese Frage überhaupt geklärt werden? Dies entsprach meiner damaligen Auffassung. Inzwischen habe ich diese Ansicht revidiert und darum jetzt einen in vielen Punkten anders verlaufenden Weg beschritten.

Dem veränderten Ansatz liegt eine genauere Reflexion des Theodizeeproblems zugrunde. Dieses Problem steht dem Versuch im Wege, eine „von oben“ stammende Prägung der Vernunft durch die Einheitsidee positiv zu interpretieren. Die ihrer Gewohnheit nach willkürlich handelnden Götter des Olymps für den über Sisyphos verhängten Fluch zur Verantwortung zu ziehen, ergab keinen Sinn. Aber widerspricht es nicht aller Vernunft, einen als allmächtig geltenden Alleinherrscher, der nicht nur durch Menschen verübte Torturen zulässt, sondern auch selbst durch Naturkatastrophen unvorstellbar große Qualen über Menschen verhängt, für einen weisen und gütigen Gott zu halten? Mit der für den menschlichen Verstand unlösbaren Theodizeeproblematik ist die Möglichkeit, dass ein weiser und gütiger Gott den Menschen mit der Idee einer vollkommenen Einheit in Differenz ausgestattet hat, nicht ausgeschlossen. Kant zufolge nimmt der Verstand nur die Erscheinung der Dinge wahr. Welches „An-sich“ letztlich dahintersteht, kann er nicht erkennen. Diese der theoretischen Vernunft verschlossene Möglichkeit nützt aber nichts bei dem Versuch, einen Begriff letztgültigen Sinns zu ermitteln.

Der von Albert Camus in „Die Pest“ beschrittene Weg der praktischen Vernunft könnte hingegen weiterführen (II 1c). Wenn Gott dem Leiden in dieser Welt, bis hin zu den letztlich vom Schöpfer selbst zu verantwortenden Folterungen unschuldiger Kinder, untätig zusieht, dann darf der Mensch keine Zeit an theologische Spekulationen vergeuden. Er muss selbst mit aller Kraft die Qualen zu lindern versuchen, auch wenn die Erfolge seines Einsatzes wie Tropfen auf einen heißen Stein sind. Diese Verpflichtung hat Camus dann in „Der Mensch in der Revolte“ argumentativ begründet: Wer sich gegen solche Misshandlungen auflehnt, hat sich damit implizit für solidarisch mit den Misshandelten erklärt und sollte daraus auch die Konsequenzen ziehen. In einer schon früher an Camus gerichteten Frage7 versuche ich im Blick auf diese Konsequenzen zu zeigen, dass eine bis zum Äußersten durchgehaltene Solidarität die Hoffnung auf eine jenseits des Todes wartende Einsicht in den Sinn des jetzt zu Recht als sinnwidrig verabscheuten Leides nicht ausschließt, vielmehr kaum an dieser Hoffnung vorbeikommt.

Für den Versuch, statt im „vertikalen“ Fragen nach dem Woher in der „Horizontale“ des menschlichen Lebens einen Begriff letztgültigen Sinns zu ermitteln, greife ich auf Fichtes Intersubjektivitätstheorie zurück8 (II 2). Meine Argumentation verläuft in den folgenden Schritten:

Der Mensch kann versuchen, sich diese nötige Anerkennung selbst zu verschaffen (II 3a). Dieser Versuch, durch Zwang oder List andere zum vollkommenen Spiegel seiner selbst werden zu lassen, ist mit dem Optimismus vergleichbar, seine „Potenz“ zur Unendlichkeit durch das Verfügen über anderes erweisen zu können (I 4a); und er ist ebenso aussichtslos wie dieser (II 3b). Einem letztgültigen Sinn käme man dann näher, wenn Menschen im freien Entschluss Raum in sich selbst dafür schaffen, dass andere ganz zu sich selbst finden können. Um die dafür nötigen Voraussetzungen zu veranschaulichen, habe ich zunächst auf Wolfgang Borcherts Erzählung „Schischyphusch“ zurückgegriffen (II 4a). Wie schon früher9 bemühe ich mich dann (verkürzt und an einigen Stellen präzisiert), einen Begriff letztgültigen Sinns unter dem Stichwort „Bildwerden im Ikonoklasmus“, d. h. im Zerbrechen von Bildern, darzulegen (II 5).

Ich skizziere in aller Kürze die beiden wichtigsten Voraussetzungen für diesen Begriff. Die erste Vorbedingung ist die unbedingte Entscheidung, in mir so viel Raum für die Selbstfindung anderer zu öffnen, wie diese nötig haben. Durch diesen Entschluss wird die unvollendbare Unendlichkeit – der „Fluch des Sisyphos“ – zur unabdingbaren Voraussetzung für den Sinn meiner eigenen Existenz. Indem ich mich nämlich vorbehaltlos für andere freie Wesen auf der Suche nach ihrem eigentlichen Selbst öffne, wird die nie an ein Ende kommende freie Aktivität anderer zum integrierenden Teil meines eigenen Wollens.

Zum anderen müsste diese unbedingte Entscheidung wechselseitig von allen Menschen getroffen werden, damit es zu einer vollendeten Einheit in Differenz kommen kann. Schon der Hinweis auf diese Voraussetzung genügt, um zu sehen, dass es sich bei dem hier gewonnenen Einheitsbegriff nicht nur um einen bloßen, sondern einen phantastisch anmutenden Begriff handelt. Denn wie könnte sich dieser Begriff eines letztgültigen Sinns, so folgerichtig er auch ermittelt wurde, je in Realität umsetzen lassen? Dazu bedürfte es zunächst jemanden, der den Anfang zu diesem jedem „normalen“ Menschen verrückt erscheinenden Unternehmen zu machen wagt. Ist dieses Unternehmen erst einmal in Gang gekommen, dann könnten andere, die dadurch zu sich selbst gefunden haben, darin den entscheidenden Weg zu einem überzeugenden Lebenssinn erkennen.

Über Jesus von Nazaret wird berichtet, dass er diesen ersten Schritt gemacht hat. Von ihm heißt es auch, dass nicht nur die geistlichen Autoritäten seiner Zeit, sondern selbst seine nächsten Verwandten sein Handeln als Ausgeburt eines verrückten Geistes erklärt haben10. Schon darum legt es sich nahe, die Dokumente, in denen davon die Rede ist, auf ihre Glaubwürdigkeit zu prüfen, gleichzeitig aber auch zu fragen, welche Mittel für eine solche Prüfung angemessen sind. Die damit verbundenen Probleme und schließlich der Versuch, zu einer tragbaren Lösung dafür zu finden, werden das Thema des dritten Teils dieses Buches sein11.

Dritter Teil

Dass sich die Kirchen, nicht nur die Kirche Roms, in einer Krise befinden, tritt besonders in Deutschland zutage, wo der Katholizismus und die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen immer schon eng beieinander wohnen. Bei der Suche nach der richtigen Diagnose und den zu treffenden therapeutischen Maßnahmen wurde – abgesehen von der fundamentalistischen Kritik in evangelikalen Gemeinschaften – noch nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil vor allem von Rom her auf die historisch-kritische Exegese als Bedrohung für den Glauben verwiesen. Weniger beachtet wird, dass die Auslegung der Heiligen Schrift insgesamt, sowohl in ihrer an traditionellen Mustern orientierte, von kirchlichen Lehrschreiben aber längst überholten Form (III 4b) als auch die historisch-kritische Exegese selbst, von einer tiefgreifenden Unsicherheit erfasst ist und eben darin ein nicht zu unterschätzender Faktor für die Krise der Kirchen liegt.

Im ersten Kapitel versuche ich die verwirrende gegenwärtige kirchliche Situation von der Jahrhunderte währenden Geborgenheit abzuheben, die das Kirchenjahr gab (III 1b). Ein wesentlicher Grund für diese Geborgenheit lag darin, dass die liturgische Feier des Lebens Jesu und seines Weiterwirkens in der Geschichte weitgehend dem Jahreszyklus entsprach, in dem Menschen ihr eigenes Leben erfuhren. Mit dem Zurücktreten des ländlichen Lebens hinter das immer mehr von industriellen Mechanismen geprägte Leben in der Stadt ging nach und nach auch der Halt verloren, den das Kirchenjahr früher bot. In dem Maße, wie sich der Zugang zu höherer Schulbildung für eine ständig wachsende Zahl von Menschen erleichterte, kamen die Gläubigen mit den Ergebnissen der Wissenschaft in Berührung. Es ließ sich kaum noch verheimlichen, dass „der Jesus des Kirchenjahres“ in nur begrenztem Maße dem wirklichen Jesus der Geschichte entsprach. Doch wie kann man an diesen wirklich „historischen Jesus“ herankommen?

Im zweiten Kapitel habe ich einen Überblick über die verschiedenen Phasen dieser Frage gegeben. Ich gehe hier nur kurz auf die systematisch wichtigsten Punkte ein. Nachdem sich das Bemühen, eine Biographie Jesu zu rekonstruieren, als Sackgasse erwiesen hatte (III 2a), legte Rudolf Bultmann den Finger auf den eigentlich wunden Punkt: Die objektivierende historische Wissenschaft vermag bestenfalls wahrscheinliche Ergebnisse zu erzielen. Auf bloße Wahrscheinlichkeiten lässt sich aber kein unbedingtes Ja zu dem gründen, was durch und an Jesus geschah. Das einzig sichere historische Datum über Jesus ist, Bultmann zufolge, sein bloßes „Gekommensein“. Wenn die Rückfrage nach dem wirklichen Jesus der Geschichte aber als völlig bedeutungslos für die Verkündigung des in Jesus Christus ergangenen Wortes Gottes angesehen wird, könnte diese Verkündigung dann nicht ein bloßer Mythos sein, der an jenen „mathematischen Punkt“ des bloßen Gekommenseins angehängt wurde? So entgegnete Ernst Käsemann und versuchte, aus der Jesusüberlieferung mit methodischer Schärfe das herauszudestillieren, was man als wirklich von Jesus stammend betrachten kann. Durch dieses „authentische Jesusgut“ ließe sich dann absichern, dass ein klar erkennbarer „roter Faden“ von der heutigen kirchlichen Verkündigung zum wirklichen Jesus der Geschichte zurückführt (III 2c).

Der von Käsemann gewiesene Weg wurde nicht nur von der großen Mehrzahl der Fachexegeten aufgenommen. Auch systematische Theologen in der evangelischen und katholischen Kirche sind dieser Spur weitgehend mit großer Zustimmung gefolgt. Aber ist der „rote Faden“ Käsemanns nicht wiederum aus bloßen, wenn auch ziemlich hohen Wahrscheinlichkeiten geknüpft? Er soll dem Glauben zwar nicht als Richtschnur dienen, ihm aber doch bis zu einem gewissen Grade Halt und Orientierung bieten. Führt gerade dies aber nicht zu einer tiefen Verunsicherung derer, die ihr Ja zu Jesus Christus ohne Vorbehalt geben möchten? Müssen sie, um ihren Glauben kritisch verantworten zu können, jetzt nicht immer Ausschau halten nach den neuesten Ergebnissen der Fachleute, damit sie ihre Ansicht, was an der Jesusüberlieferung weiter als authentisch gelten darf, rechtzeitig revidieren können? Es ist nicht zufällig, dass das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ mit seiner Verbreitung der neuesten Erkenntnisse über den Jesus der Geschichte auf eine große Leserschaft rechnen durfte, solange die Frage nach der Wahrheit über den Mann aus Nazaret noch aktuell war.

In den folgenden Kapiteln (III 3–5a) versuche ich dann das Problem zu bestimmen, das dem Fragen nach dem wirklichen Jesus der Geschichte bisher zugrunde liegt, und den von mir schon seit längerer Zeit vertretenen hermeneutischen Zugang zu dieser Frage12 noch weiter zu klären. Das Problem hängt mit derselben Fehlannahme zusammen, die zu Beginn des ersten Teils dieses Buchs thematisiert wurde (I 1b–3a), dass nämlich die primäre Weise der Erkenntnis von anderem (und anderen) im objektivierenden Vorstellen gegeben sei. In den Grundakten der objektivierenden theoretischen Vernunft – Fragen und Urteilen – kommen das andere und die anderen nur in dem vom Subjekt über sie geworfenen Kategoriennetz zu Gesicht oder Wort. Frage ich hingegen nach der Glaubwürdigkeit eines Geschehens, von dem der Anspruch auf eine unbedingte Zustimmung ausgeht, so geht es um Erkenntnisse der praktischen Vernunft, die den Bereich der auf ein „Urgestein“ zielenden historisch-kritischen Analyse übersteigen.

Ich fasse kurz die Hauptpunkte des von mir befürworteten Wegs zur Lösung der Problematik zusammen:

Nach den komplexen methodologischen Erörterungen, mit denen ich den Anteil der innerexegetischen Probleme an der vielschichtigen Krise der Kirchen deutlich machen wollte, bringe ich zum Abschluss ein Beispiel redaktionskritischer Arbeit (III 5b). Dabei schien mir eine Untersuchung des Verständnisses der Feier der Eucharistie, wie es Lukas in seinem Doppelwerk erkennen lässt, einen wertvollen Anhaltspunkt für ein Überdenken der heutigen liturgischen Praxis zu bieten. Vor allem aber könnte seine Darstellung des Wunders der „Speisung der 5000“ Mut machen für den Umgang mit der übergroßen Zahl von Flüchtlingen, die heute auf unsere Hilfe angewiesen sind.

I. Zur Grundsituation der menschlichen Vernunft

In meinem „Grundriß der Fundamentaltheologie“ bin ich von einer Analyse der „Elementarstruktur des Bewusstseins13 ausgegangen, die ich dann in meiner „Einführung in die Fundamentaltheologie“ genauer als „Grundstruktur der Vernunft14 bezeichnet habe; denn die Vernunft in ihrer elementaren Verfasstheit ist schon in allem Denken und Wollen des Menschen am Werke, bevor er sich seiner selbst bewusst wird. Für diesen ersten Teil meines Buches wähle ich nun den Ausdruck „Grundsituation“. Es geht mir hier vor allem darum aufzuzeigen, wie aus der Grundstruktur der Vernunft selbst eine unbehebbar scheinende Problematik der menschlichen Existenz resultiert. Die Frage, wie diese Problematik überwunden werden kann, bestimmt dann die Thematik des zweiten Teils. – Methodologisch gesehen ergänze ich die transzendentalen Analysen in „Gottes letztes Wort“ an einem bisher zu wenig geklärten Punkt15 durch eine phänomenologische Untersuchung, bevor ich die transzendentale Argumentation im Sinne Kants16 wieder aufnehme17.

In vielen auf eine letztgültige Erkenntnis abzielenden Ansätzen wird versucht, die Argumentation durch den Aufweis eines „performativen (Selbst-)Widerspruchs“18 bzw. einer „Retorsion“19 abzusichern20. Diese Versuche verwickeln sich zumeist in ein sehr komplexes Verfahren, das sich dann oft als problematisch erweist. Ich wähle als Ausgangspunkt meines philosophischen Zugangs zur Fundamentaltheologie ein Phänomen, das wohl jedem Denkenden unmittelbar evident ist: Im Unterschied zu anderen Lebewesen nimmt der Mensch anderes nicht nur wahr, sondern er erkennt dieses andere darüber hinaus als anderes.

1. Das Ich in seiner Grundbeziehung zu anderem

a) Transzendentale Analyse eines evidenten Phänomens

Die Erkenntnis von anderem als anderem kann nichts anderes und kein anderer – weder in der Welt noch aus dem Jenseits – in mir bewirken. Diese Erkenntnis ist auch nicht als ein Resultat der Evolution der Arten oder eines geschichtlich oder sprachlich vermittelten Verstehens von anderem erklärbar. Sie setzt vielmehr voraus, dass ich mit mir selbst als einer ursprünglichen, auf nichts anderes rückführbaren Einheit vertraut bin. Nur darum kann mir etwas anderes als anderes „auffallen“. Diese Einheit darf aber nicht als ein Sein verstanden werden, das – „völlig mit sich eins“ – in sich ruht. Um anderes überhaupt als anderes wahrnehmen zu können, muss ich bereits auf anderes hin offen sein. Das bedeutet aber keinen Verlust an Einheit mit mir selbst. Denn indem ich anderes als anderes erkenne, bin ich bei mir selbst, ja, finde ich mich erstmals als ein Ich, wenn auch noch in einer völlig unbestimmten Form, die nicht mit Selbstbewusstsein zu verwechseln ist21. Damit ist in kurzen Umrissen die transzendentale Basis aller Akte der menschlichen Vernunft skizziert. Alles, was der Mensch erkennt und will, und alles, was ihm je begegnen mag – selbst ein sich ihm mitteilender Gott –, kann sich nur in diese ursprüngliche Unbedingtheit des Ichs von anderem in seiner Offenheit auf anderes hin einzeichnen. Wie lässt sich dieses noch unreflektierte, aber als mit sich vertraut vorauszusetzende Ich in seiner Beziehung zu anderem näher bestimmen?

b) Das Ich im Akt des Vorstellens

An dieser Stelle ist mir in allen früheren Ausführungen dazu ein Fehlschluss unterlaufen, hinter den ich leider erst jetzt gekommen bin. Ich habe behauptet: „Wenn ich anderes als anderes begreife, erkenne ich es zugleich als Grenze für mich.“22 In diesem „zugleich“ steckt prinzipiell derselbe Fehler, den ich unlängst Thomas Pröpper vorgehalten habe23. Pröpper vertrat noch in seinem letzten großen Werk, der zweibändigen „Theologische[n] Anthropologie“ die Auffassung, dass die transzendental ermittelte ursprüngliche „Einheit in Differenz“ erst im Modus der Vorstellung ihre eigentliche Gestalt habe: „Denn nun kann das Vernehmen zum ,Haben‘ und ,Halten‘ des Vernommenen werden, so wie es das Wort ,Vor-Stellung‘ […] treffend benennt.“ Auf diese Weise habe „das Ich das Seiende vor sich und für sich ,gestellt‘ und ,stell[e]‘ es sich vor. Die relationale Einheit von Ich und Seiendem wird ,zu Stande‘ gebracht […].“24 In engem Anschluss an Hermann Krings bezeichnet Pröpper die Vorstellung als die „transzendentale Primärbeziehung des Ich“25.

Die hier genannten Wesenszüge des Vorstellens sind nun aber auch für die Wahrnehmung des anderen als Grenze konstitutiv. Wenn das andere dem Ich als Grenze erscheint, tritt es ihm als gegenständig gegenüber. Dem Ich, das in der Wahrnehmung des anderen als anderen seine ureigene Tätigkeit erkannt hat, wird diese Gegenständigkeit des anderen zum Gegenstand seines eigenen Denkens und Handelns. Es selbst wird damit zum Subjekt, das „Ob-jekte“ vor sich „hin-stellt“, auch wenn es sich noch nicht dieser Eigenständigkeit als Subjekt bewusst ist. Im Begriff der Grenze liegt zugleich, dass alles, was dem Wollen entgegensteht, im Denken bereits überstiegen ist – wie etwa der Zaun zwischen einem Jungen und dem Kirschbaum des Nachbarn. Darum wird alles dem Ich Entgegenstehende zum Gegenstand seines Fragens und, insoweit das Fragen zu einem Ergebnis geführt zu haben scheint, seines Urteils über den Gegenstand. An anderer Stelle bin ich auf die wechselseitige Verwiesenheit des Fragens und Urteilens näher eingegangen: Jedes Fragen wird von einem Vor-Urteil über das Befragte geleitet. Ein Urteil wird nur verständlich, wenn man die Frage kennt, auf die es eine Antwort zu sein beansprucht26.

Auch für das Fragen und Urteilen (oder Behaupten) als wesentlichen Vollzügen des Vorstellens gilt zwar das oben transzendental ermittelte Grundverhältnis des Ichs zu anderem als „Einheit in Differenz“: Das Ich erfährt in der Wahrnehmung des anderen als anderen seine ureigene Wirksamkeit; es bleibt in solchem Beim-anderen-Sein stets bei sich selbst. Sobald das andere als Grenze erfahren wird, gerät diese „Einheit in Differenz“ jedoch in eine Schwebe. Sie bleibt in dieser Schwebe, solange nicht die letzte Grenze überwunden ist, und zwar wirklich überwunden, nicht nur im Denken überstiegen. Das Ich kann aufgrund seiner generellen Verfasstheit als „Einheit in Differenz“ nicht ruhen, bevor es im anderen ganz bei sich ist, es dieses nicht mehr als Gegen-Stand vor sich hat.

Damit wird nun aber eine andere Frage vordringlich: Auch das Ich im Modus des Vorstellens lässt sich zwar aufgrund der für jeden Akt der Vernunft konstitutiven „Einheit in Differenz“ verstehen, als in der Schwebe bleibende Einheit aber nicht aus diesem Grundverhältnis des Ichs zu anderem ableiten. Wie kommt dann der Akt des Vorstellens zustande? Auf diese Frage habe ich in meiner Dissertation von 1969 eine Antwort über eine Phänomenologie des Staunens zu geben versucht, worauf ich im Folgenden zurückgreife.

2. Versuch einer Phänomenologie des Staunens

a) Der Regenbogen

Das Staunen über den Regenbogen hat sich in die Mythen fast aller Völker eingeschrieben27. Es findet sich aber selbst dort noch, wo in streng philosophischer und theologischer Reflexion Mythen entmystifiziert werden28.

In Platons Dialog „Theaitetos“ sagt nach einer längeren Ausführung des Sokrates der Gesprächspartner, er sei darüber zutiefst erstaunt (155c). Sokrates antwortet darauf, diese Gefühlsregung (pathos), das (Er-)Staunen (thaumazein), sei einem die Weisheit liebenden Manne (philosophos) höchst angemessen; ja, es gebe keinen anderen Anfang (archê) der Philosophie als diesen (155d). Dann fügt er29 hinzu: „und wer gesagt hat, Iris sei die Tochter des Thaumas, scheint die Abstammung nicht übel getroffen zu haben“ (ebd)30. Thaumas gilt als Gott der Wunder des Meeres, Iris, der Regenbogen, als Botin der Götter. Aus der Tiefe der Wasser entspringend umschreitet sie in dem noch nicht ganz gewichenen Dunkel der von oben herabströmenden Wasser das Himmelsgewölbe mit ihrem feingewebten Schleier und führt dem Menschen ein berückendes Farbspiel vor Augen, das die Götter des Lichts aus sich allein nicht hervorbringen können.

Sokrates dürfte in seiner Antwort auf die Rede des Theaitetos an dieses wunderbare Schauspiel gedacht haben. Dann wird das Wort thaumazein