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Für Galina, Leonid und Michael

In Erinnerung an Nadezhda Zotova

 

 

 

 

Manchmal denke ich, ich bin die Einzige in unserem Viertel, die noch vernünftige Träume hat. Ich habe zwei, und für keinen brauche ich mich zu schämen. Ich will Vadim töten. Und ich will ein Buch über meine Mutter schreiben. Ich habe auch schon einen Titel: »Die Geschichte einer hirnlosen rothaarigen Frau, die noch leben würde, wenn sie auf ihre kluge älteste Tochter gehört hätte.« Vielleicht ist das nur ein Untertitel. Ich habe Zeit, es mir genau zu überlegen, denn ich habe noch nicht angefangen zu schreiben.

Die meisten Leute, die in unserem Viertel leben, haben gar keine Träume. Ich habe extra gefragt. Und die Träume der wenigen, die welche haben, sind so kläglich, dass ich an deren Stelle lieber gar keine hätte.

Annas Traum zum Beispiel ist, reich zu heiraten. Er soll Richter sein und Mitte dreißig und, wenn es geht, nicht ganz so hässlich.

Anna ist siebzehn, genau wie ich, und sie sagt, sie würde so einen sofort heiraten, wenn er käme. Dann könnte sie endlich aus dem Solitär aus- und in das Penthouse des Richters einziehen. Keiner außer mir weiß, dass Anna manchmal mit der Straßenbahn in die Innenstadt fährt und dreizehn Runden um das Landgericht dreht, in der Erwartung, dass der Richter endlich rauskommt, sie entdeckt, ihr eine rote Rose schenkt, sie erst zum Eis und dann in seine Penthouse-Wohnung einlädt.

Sie sagt, man muss für sein Glück kämpfen, sonst zieht es an einem vorbei.

»Weißt du denn, was Solitär eigentlich heißt, du dumme Kuh?« frage ich. »Das ist ein besonders edler Diamant, der einzeln in der Krone sitzt. Das muss dir doch gefallen. Du wirst nie wieder in einem Solitär wohnen, wenn du hier ausziehst.«

»Das hast du dir gerade ausgedacht. Sie hätten nie im Leben diesen Betonklotz nach einem Diamanten benannt«, sagt Anna. »Und überhaupt, wenn man zu viel weiß, wird man schnell alt und runzlig.« Das ist ein russisches Sprichwort.

Da Annas Richter auf sich warten lässt, schläft sie gerade mit Valentin, der auch so einen Traum der Kategorie C hat. Er will einen nagelneuen schneeweißen Mercedes. Vorher muss er seinen Führerschein machen, deswegen trägt er vor der Schule Anzeigenblättchen aus. Da das damit verdiente Geld viel zu langsam zusammen- und viel zu mickrig daherkommt, geht Valentin zweimal die Woche zu einem älteren Ehepaar putzen. Das Ehepaar wohnt am anderen Ende der Stadt, und die Putzstelle hat dem Valentin seine Mutter vermittelt, die bei deren Nachbarn sauber macht. Keiner darf wissen, dass Valentin putzen geht, sonst machen ihn die Jungs fertig, und Anna macht Schluss.

Valentin hat meistens einen Gesichtsausdruck, als hätte ihm jemand einen Kaktus in die Hose gesteckt. Ich denke, das kommt daher, dass er weiß: Selbst wenn er irgendwann genug Kohle für einen Führerschein beisammen hat, für einen weißen Mercedes muss er zwei Leben lang putzen gehen. Im dritten Leben kann er dann vielleicht einsteigen.

Peter der Große dagegen träumt von einer echten Blondine mit dunklen Augen. Er war vorher mit Anna zusammen, sie hat braune Augen, ist aber nicht echt – jedenfalls nicht als Blondine. Jetzt hat er eine andere, aus seiner Klasse. Das ist für ihn aber unpraktischer, weil sie in der Innenstadt wohnt und nicht im Solitär. Er flucht seitdem, dass er sein halbes Leben in der Straßenbahn verbringt. Dort hält er nach weiteren Blondinen Ausschau.

An mir war er noch nie interessiert – mein Haar ist zu dunkel.

Ich heiße Sascha Naimann. Ich bin kein Kerl, auch wenn das hierzulande jeder denkt, der meinen Namen hört. Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft ich das den Leuten schon erklärt habe. Sascha ist eine Kurzform von Alexander UND von Alexandra. Ich bin Alexandra. Mein Rufname ist Sascha, so hat mich meine Mutter immer genannt, und so will ich auch heißen. Wenn ich mit Alexandra angesprochen werde, reagiere ich nicht. Das kam früher öfter vor, als ich in der Schule neu war. Jetzt passiert es eigentlich nur noch, wenn ein neuer Lehrer kommt.

Manchmal denke ich, dass ich nie wieder neue Menschen kennen lernen will, weil ich es satt habe, jedem das Gleiche von vorn zu erklären. Warum ich Sascha heiße und wie lange ich schon in Deutschland lebe und warum ich so gut Deutsch kann, ungefähr elfmal besser als alle anderen Russlanddeutschen zusammen.

Ich kann Deutsch, weil mein Kopf voll ist mit grauer Substanz, die wie eine Walnuss aussieht und makroskopisch viele Windungen hat, mikroskopisch dagegen eine stolze Menge Synapsen. Ich habe vielleicht ein paar Millionen Synapsen mehr als Anna, bestimmt sogar. Außer Deutsch kann ich auch Physik, Chemie, Englisch, Französisch und Latein. Wenn ich mal eine Zwei kriege, kommt der Lehrer zu mir und entschuldigt sich.

Besonders gut kann ich Mathe. Als wir vor sieben Jahren nach Deutschland kamen, war es das einzige Fach, das ich in der fünften Klasse auf Anhieb konnte. Genau genommen hätte ich auch die Aufgaben der achten Klasse lösen können. In Russland war ich auf einem mathematischen Lyzeum.

In Deutschland konnte ich am Anfang zwar kein Deutsch, aber die Zahlen natürlich trotzdem. Ich habe die Gleichungen als Erste gelöst, und immer richtig. Ich war die Einzige in der Klasse, die mit den Worten Algebra und Geometrie etwas anfangen konnte. Meine Mitschüler haben beides für Krankheiten gehalten.

Meine Mutter hatte darüber gelacht und gesagt, dass ich ihr unheimlich bin. Ich war ihr schon immer unheimlich, weil ich logischer dachte als sie. Sie war zwar nicht dumm, aber viel zu gefühlvoll. Sie hat mindestens ein dickes Buch pro Woche gelesen, spielte Klavier und Gitarre, kannte eine Million Lieder und konnte auch gut mit Sprachen. Hat zum Beispiel ganz schnell Deutsch gelernt und sich vorher in einem passablen Englisch unterhalten.

Aber Mathe, Physik, Chemie, das konnte sie nie. Ebenso wenig wie erkennen, wann es Zeit ist, einen Mann vor die Tür zu setzen. Das sind alles Fähigkeiten, die ich offenbar von meinem Vater habe. Ich weiß von ihm nur, dass er mehrere Doktortitel hatte und einen miesen Charakter. »Den hast du auch schon«, hat meine Mutter gesagt. »Und die Titel werden bestimmt nachkommen.«

Ich bin die Einzige aus unserem Viertel, die auf die Alfred-Delp-Schule geht. Das ist ein privates katholisches Gymnasium, und ich weiß bis heute nicht, warum die mich damals genommen haben – noch weitgehend sprachlos, nicht getauft, im pinkfarbenen Wollpullover Marke Oma, als noch kein Mensch pinkfarbene Pullover trug. An der Hand einer Mutter, die eben nur ihr blumiges Englisch mit einem furchtbaren Akzent sprach, dafür sehr laut, und ihre flammend roten Haare offen trug. Und in der Hand ein Liter Milch in der Aldi-Plastiktüte.

Außer meiner Mutter hatten noch Hunderte deutsch-katholische Architekten, Ärzte und Anwälte ihre Kinder angemeldet. Alles Leute, auf deren Stirn mit großen Buchstaben »Spende gern und großzügig« geschrieben stand.

An der Alfred-Delp-Schule muss man nämlich kein Schulgeld zahlen, aber »Spenden sind willkommen«. Und die Schulsekretärin Frau Weimers, die meine Mutter, mich und die Plastiktüte über ihren Brillenrand beäugt hatte, hatte von der Liquidität (wie wir Elite-Gymnasiasten das nennen) meiner Mutter bestimmt eine schnelle und realistische Vorstellung.

Tatsächlich hat meine Mutter, nachdem ich dann an die Schule kam, im ersten Jahr zwanzig Euro und im zweiten zweiundzwanzig überwiesen, und mehr ging wirklich nicht. Eigentlich gingen auch diese Summen nicht, aber meine Mutter war grundsätzlich großzügig. »Ich hasse nichts so sehr wie das Schmarotzen«, war einer ihrer Lieblingssätze. »Das hasst du nur bei dir«, habe ich immer geantwortet. »Versuch doch mal, das auch bei anderen zu hassen. Bei Vadim zum Beispiel.«

Ich denke inzwischen, die an der Schule haben mich genommen, um ein bisschen Integration zu proben. Viele Ärzte, Anwälte und Architekten haben nämlich für ihre Kinder Absagen bekommen. Am Ende gab es vier proppevolle fünfte Klassen, und in meiner 5c war ich die Einzige »mit Migrationshintergrund«. In der 5a gab es einen Jungen, dessen Vater Amerikaner war, und in der 5b einen mit einer französischen Mutter. In der ganzen Schule habe ich keinen einzigen Schwarzen gesehen und auch niemanden, der annähernd arabisch aussah. Meine Klasse hatte es also mit mir am heftigsten erwischt.

Meine Mitschüler haben mich am ersten Tag angestarrt, als wäre ich gerade aus einem Ufo geklettert. Sie stellten mir Fragen, die ich erst nicht verstehen konnte. Bald konnte ich sie verstehen, aber da dachten inzwischen alle, dass ich nicht ansprechbar bin. Es hat gedauert, bis sie sich umgewöhnt haben.

Da die meisten von ihnen noch nie richtige Ausländer aus der Nähe gesehen hatten, waren sie alle nett zu mir. Einer der ersten Sätze, den ich verstanden habe, war ein Kompliment für meinen Pullover. Wahrscheinlich aus Mitleid. Als ich dann wenig später reden, rechnen und Diktate schreiben konnte und als Einzige alle Kommata richtig setzte, taten die anderen, als würden sie sich für mich freuen. Und vielleicht war es auch so.

Meine Mutter sagte, ich sollte meine Schulfreunde doch mal zu uns nach Hause einladen. Das sagte sie, weil sie keine Ahnung hatte. Sie lud ständig Freunde ein. Ich aber war zwei Mal bei Mädchen aus meiner Klasse zu Hause gewesen, bei Melanie und bei Carla, und konnte mir eine Umkehrung der Situation beim besten Willen nicht vorstellen.

Keine Ahnung, was mich damals mehr erschüttert hat: die Ordnung in Melanies Zimmer oder die nach Politur riechenden Möbel, von denen ich früher gedacht hatte, dass sie nur im Katalog oder in Annas Fantasien vorkommen, oder die Tatsache, dass im Wohnzimmer an einem ovalen Tisch zu Mittag gegessen wurde und nicht in der Küche, oder die Bettwäsche mit Pferden. Ich hatte nie zuvor bunte Bettwäsche gesehen. Bei uns gab es nur weiße oder hellblau gemusterte, auf jeden Fall uralt und verwaschen. Ich fragte mich, wie man auf und unter diesen Pferden einschlafen sollte, ohne Augenflimmern zu bekommen.

Melanies Mutter stammte übrigens aus Ungarn. Ich war sehr überrascht, denn erstens hatte Melanie das nie erwähnt, und zweitens sah das Mädel so bilderbuchmäßig deutsch aus wie kein anderes Mädchen in meiner Klasse. Eben so, wie man sich als Ausländer eine junge Deutsche vorstellt, vor allem, wenn man das Inland noch nie betreten hat.

Sie hatte frisch geschnittenes und ordentlich gekämmtes blondes Haar bis zum Kinn, blaue Augen, rosige Wangen und eine gebügelte Jeansjacke, roch nach Seife und sprach mit piepsiger Stimme Sätze aus überwiegend zweisilbigen Wörtern, die wie Erbsen aus ihrem Mund heraushüpften. Wenn ich sie nicht leibhaftig erlebt hätte, würde ich bis heute nicht glauben, dass es so jemanden wirklich gibt.

Ihre Mama dagegen sprach mit einem Akzent, den ich bei meinem ersten Besuch noch nicht bemerkt hatte. Mein eigener rollte da noch so klappernd daher wie ein rostiges Fahrrad. Beim Mittagessen schaute sie mich mitleidig von der Seite an und stellte mir Fragen über meine Heimatstadt, das Wetter, meine alte Schule und meine Mutter.

Ich erzählte, dass meine Mutter Kunstgeschichte studiert hatte und zu Hause in einer Theatergruppe aufgetreten war, die immer wieder verboten wurde, und dass sie sich hier auch ein kleines Theater zum Mitspielen suchen wollte. Melanies Mutter schluckte und ging zu der Frage über, ob das Leben in unserem Hochhaus nicht zu gefährlich sei. Ich sagte, dass es viel sauberer und gemütlicher ist als das Haus, in dem ich drüben gewohnt hatte. Zu Russland sagte ich immer »drüben«.

Melanie kaute an ihren Quarktaschen und korrigierte die Mutter, wenn diese mal einen falschen Artikel verwendete. Außerdem berichtete Melanie ihrer Mutter, dass wir in der Klasse eine Umfrage gemacht hatten zum Thema Geburtstagswünsche und dass dabei siebenmal der Wunsch nach einer neuen Stereoanlage geäußert worden sei.

»Na und?« fragte die Mutter und kniff die Augen zusammen.

»Weißt du nicht, was das bedeutet?« fragte Melanie und riss ihre blauen Augen ganz weit auf. »Eine NEUE Stereoanlage. Das heißt, sie alle haben bereits eine. Und ich habe noch keine.«

»Du hast doch eine in deinem Zimmer«, mischte ich mich ein, denn ich sprach zwar noch schlecht, aber dafür viel.

»Das ist die, die mein großer Cousin aussortiert hat«, sagte Melanie. »Die kann gar nichts mehr, was eine Stereoanlage heutzutage können muss.«

Nach dem Essen sind wir wieder auf ihr aufgeräumtes Zimmer gegangen. Dort schaltete Melanie die Stereoanlage ein. Ich entdeckte daneben einen Stapel alter »Bravos« und begann zu lesen. Melanie drehte sich unterdessen auf ihrem Bürostuhl und telefonierte mit einer Freundin. Dafür, dass wir uns nichts zu sagen hatten, fand ich die Zeit gut verbracht. Abends fuhr mich Melanies Mutter nach Hause, sah sich aufgeregt um und bestand darauf, mich zur Wohnungstür zu bringen und eine Übergabe an meine Mutter durchzuführen.

Meine Mutter war allerdings nicht zu Hause. Ich hatte einen Schlüssel.

»Besuch uns mal wieder«, sagte Melanies Mutter und tätschelte meine Wange.

»Gut«, sagte ich und dachte mir: Nur, wenn es neue »Bravos« gibt.

Danach sah ich unsere Wohnung mit anderen Augen.

Ich stellte mir vor, wie die saubere Melanie in ihrer Jeansjacke mit mir im Aufzug fährt. Wie sie sich dabei genauso hektisch umsieht wie ihre Mutter. Wie ihr Seifenduft mit den Urindämpfen im Treppenhaus in einen aussichtslosen Kampf tritt – und verliert. Wie sie durch die Tür geht. Unsere Sperrmüll-Couch mit dem kleinen Tisch davor sieht, dessen drittes Bein abbricht, wenn man es schief anguckt. Die Bücher auf dem Boden. Den kleinen Fernseher und den Stapel Videokassetten davor. Schon damals hatte kein Mensch mehr Videokassetten! Den Schrank ohne Tür. Die Socken meines Stiefvaters auf der Heizung. Die Strumpfhose meines Bruders über dem Stuhl. Wir hatten fünf Stühle, und keiner war so wie der andere, denn alle kamen vom Sperrmüll.

Wir aßen immer in der Küche, außer wenn wir mit Gästen feierten und dafür größere Räumungsarbeiten im Wohnzimmer vornehmen mussten, um die bei den Nachbarn ausgeliehenen Stühle unterzubringen. Unser Küchentisch stand normalerweise voll mit Marmeladengläsern, Briefen, Postkarten, halb leeren Flaschen und alten Zeitungen. Wir hatten 20 Teller, und keiner war dem anderen gleich, weil meine Mutter sie alle einzeln auf einem Flohmarkt gekauft hatte.

Wir besaßen damals noch keine Spülmaschine, und oft türmten sich alle unsere 20 Teller in der Spüle, bis meine Mutter heimkam und aufräumte. Manchmal tat ich das, aber eher selten. Vor allem dann nicht, wenn Vadim mich dazu aufforderte, jener Vadim übrigens, der immer seine Pfanne mit den angebrannten Rührei-Resten stehen ließ. Nur wenn er den Namen meiner Mutter drohend in seinen dreckigen Mund nahm, räumte ich ganz schnell auf.

 

Ich hasse Männer.

Anna sagt, dass es auch gute Männer gibt. Nette, freundliche, die kochen und sauber machen und Geld verdienen und Kinder wollen und Geschenke machen und Urlaub buchen und saubere Kleidung tragen und nicht saufen und vielleicht sogar gut aussehen. Wo gibt es die, frage ich da, auf dem Mond? Anna behauptet, dass es solche Männer gibt, wenn nicht in unserer Stadt, dann vielleicht in Frankfurt. Aber sie selber kennt persönlich auch keinen, höchstens aus dem Fernsehen.

Deswegen wiederhole ich gern das, was meine Mutter immer gesagt hat: Ich bin mir selber ein Mann.

Wobei sie das zwar gesagt, sich aber nie daran gehalten hat.

Seit ich weiß, dass ich Vadim umbringen werde, geht es mir schon viel besser. Ich habe es auch meinem kleinen Bruder Anton versprochen, der neun Jahre alt ist. Ich glaube, seitdem geht es ihm auch besser. Als ich ihm davon erzählt habe, hat er die Augen aufgerissen und atemlos gefragt: »Und wie willst du das machen?«

Ich habe so getan, als hätte ich alles im Griff. »Es gibt tausend Möglichkeiten«, habe ich gesagt. »Ich kann ihn vergiften, erwürgen, erdrosseln, erstechen, vom Balkon werfen, mit einem Auto überfahren.«

»Du hast doch gar kein Auto«, sagte mein Bruder Anton, und natürlich hatte er recht.

»Ich komme im Moment auch nicht an den Vadim ran«, sagte ich da. »Du weißt doch, er sitzt im Gefängnis. Er bleibt doch noch viele Jahre drin.«

»Dann dauert es noch so lange?« fragte Anton.

»Schon«, sagte ich. »Aber das ist auch gut so. Ich kann mich besser vorbereiten. Weißt du, es ist gar nicht so einfach, jemanden umzubringen, wenn man es noch nie gemacht hat.«

»Beim nächsten Mal geht es bestimmt besser«, sagte Anton fachmännisch.

»Ich will erst mal dieses eine Mal über die Bühne bringen«, sagte ich. »Es soll kein Hobby werden.«

Es hat mich erleichtert, dass Anton die Idee gut findet. Schließlich ist Vadim sein Vater. Aber der Kleine hasst ihn genauso wie ich. Wenn nicht noch mehr. Seine Nerven waren bereits vorher im Eimer, weil er im Gegensatz zu mir schon immer Angst vor Vadim hatte.

Jetzt ist Anton immer noch völlig fertig, und es wird nicht besser, und ich frage mich, ob diese ganzen Therapien auch was bringen. Anton stottert, kann sich in der Schule nicht konzentrieren, pisst nachts ins Bett und beginnt zu zittern, wenn jemand mal etwas lauter wird. Dabei behauptet er, dass er sich an nichts erinnern kann. Ich sage dann immer: Sei froh. Ich bin auch froh, dass ich mich an nichts erinnern kann, obwohl ich dabei war.

Über meinen ersten Traum kann ich mit Anton reden. Über den anderen nicht. Denn immer, wenn jemand in seiner Gegenwart das Wort »Mama« ausspricht, wird Anton steif und sitzt so erstarrt und unmenschlich da, als hätte ihn gerade die Schneekönigin geküsst. Das Märchen von der Schneekönigin hatte meine Mutter uns oft vorgelesen, sie liebte Andersen, sie liebte überhaupt alles. Wenn sich jemand fies benahm, sagte meine Mutter, wahrscheinlich habe er gerade ein Stück von dem Spiegel im Auge oder im Herzen, von jenem Spiegel, den ja bekanntlich der böse Troll zerschlagen hat. So war sie eben.

Um Anton nicht zu quälen, haue ich jedem, der in seiner Gegenwart absichtlich das Wort »Mama« sagt, eine runter. Erwachsenen natürlich nicht, die schreie ich einfach nur an. Das wirkt immer ganz gut. Das ist das wenigste, was ich für meinen Bruder tun kann. Außer, dass ich ihn nachts nicht verjage, wenn er heulend in mein Bett kommt, sich an mich drückt und irgendwann, wenn der Wecker klingelt, vor Schreck auf meine Beine pinkelt.

Ich mache mir ein bisschen Sorgen, wie das sein wird, wenn ich mir meinen ersten Traum erfüllt habe und Vadim nicht mehr lebt.

Früher wollte ich natürlich berühmt sein, wie jeder andere Mensch auch. Ich hatte auch nichts dagegen gehabt, eine prominente Mutter zu haben, die aus den Zeitschriften lächelt und über die jeder spricht. Als wir dann aber tatsächlich alle berühmt wurden, hätte ich sie am liebsten erwürgt: die Fotografen und die Kameramänner, die Männer und die Frauen mit Mikrofonen und kleinen Blöcken, die unseren Hauseingang filmten und bei unseren Nachbarn klingelten, um zu fragen, wie laut es denn nun gewesen war an jenem Abend. Wer hat geschrien, und wer hat geweint, und wer ist gerannt, und hat Vadim tatsächlich gesagt: »Hier ist Blut, tritt da nicht rein«, und auch: »Es ist vorbei, hau ab«.

Nur wenn einer von uns rauskam, ich oder Anton, Alissa wurde da noch getragen, dann klappten sie ihre Münder zu und wichen zurück und bildeten eine Gasse und ließen uns durch und verfolgten uns mit ihren Blicken.

Ich hatte gehofft, dass sie mich oder Anton ansprechen würden, denn dann hätte ich mich moralisch im Recht gefühlt, ihnen die Kameras aus der Hand und vielleicht auch die Zähne aus der Visage zu schlagen. Aber sie schreckten weise zurück, wahrscheinlich strahlte ich wie die Gegend um Tschernobyl. Dann habe ich auch gedacht, vielleicht ist es besser so, dass sie nicht fragen und ich nicht reagiere, denn meine Mutter war immer gegen Gewalt. Schließlich wusste sie genau, wie sich Gewalt anfühlt.

Am nächsten Tag war sie in allen Zeitungen. Ihr Vorname, der erste Buchstabe des Nachnamens, das Geburtsjahr und ein Foto. Es war das Bild, das sie von ihrer Theatergruppe hatten, ein schönes Bild, die roten Haare, das Gesicht nicht ganz so bemalt wie sonst, der Pullover schwarz. In diesen Tagen wurde sie ein Star.

Schau, freust du dich jetzt, habe ich sie gefragt. Hatte ich dich nicht gewarnt? Wie konntest du nur? Warum hast du diesen Arsch geheiratet? Warum durfte er mit nach Deutschland? Warum hast du ihn an diesem verdammten Abend in die Wohnung gelassen?

Warum, verdammt noch mal?

Du bist schon immer eine dumme, dumme, dumme Frau gewesen, habe ich zu ihr gesagt. Wie konntest du mir das nur antun, so blöd gewesen zu sein?

Später habe ich mich bei ihr entschuldigt. Natürlich war es nicht sie, die mir das angetan hat. Sie war bloß, wie sie immer war, und sie konnte nichts dafür. Sie war eben eine Kunstwissenschaftlerin und dazu auch noch Künstlerin. Sie war von der Sorte, die heute nicht mehr hergestellt wird – von allem ein bisschen mehr und ein bisschen besser und ein bisschen feiner. Und das werde ich in meinem Buch schreiben, damit es jeder erfährt. Ich will nicht, dass sie nur berühmt wird, weil sie so elend gestorben ist.

Diese ganzen Zeitungsberichte habe ich von Anfang an gelesen. Ich bin immer zum Kiosk runter und habe alles gekauft, was es dort gab. Die ersten Tage waren wir nicht zu Hause, weil das Jugendamt uns in einer Wohnung untergebracht hatte, die der Stadt gehört. Aber nach zwei Tagen habe ich gesagt, dass wir das nicht aushalten. Die Wohnung war völlig frei von Staub und von Büchern und von Leben. Außerdem stand dort ein Gummibaum aus Plastik. Ich habe gesagt, die Kleinen wollen heim. Das sei vor allem für Alissa wichtig. Sie war ja noch nicht einmal zwei Jahre.

Wir durften nach Hause, wo alles schon komisch aufgeräumt war wie früher nie. Wir wurden rund um die Uhr betreut von mehreren kurzhaarigen Frauen, die alle gleich aussahen und Doppelnamen trugen, und von einem Mann mit langen Haaren und ebenfalls einem Doppelnamen.

Ich kann mich kaum an diese Tage erinnern. Ich weiß nur, dass ich fast ununterbrochen gesprochen und ihnen erklärt habe, wie unser Leben früher organisiert war und dass es jetzt genau so bleiben muss. Dass sie auf keinen Fall anderes Essen einkaufen sollten als das, welches wir gewohnt waren. Aber einmal stand Bio-Butter auf dem Tisch, und da habe ich einen Anfall bekommen.

Ich erinnere mich noch an den Blick, den mir eine der Frauen zuwarf, als ich schreiend auf den Boden fiel, direkt auf die zertretene Butter. In diesem Blick lag Erleichterung. Sie hatten mich tagelang vollgebrummt, ich bräuchte jetzt nicht zu funktionieren. Ich könnte meinen Gefühlen freien Lauf lassen. Ich müsste es sogar.

Ich habe ihnen aber nicht zugehört.

Und dann war plötzlich Maria da. Cousine zweiten Grades, mit drei berstenden Koffern importiert aus Nowosibirsk. Eine Chance für die traumatisierten Kinder, wieder eine Familie zu werden.

Vadims Cousine übrigens.

Ich hatte zugestimmt, dass sie kommt, denn nach der Erfahrung mit der städtischen Wohnung reagierte ich allergisch auf das Wort »Heim«, und es standen auch keine Pflegeeltern Schlange, die drei verstörte russischstämmige Bälger auf einmal aufnehmen wollten. Und schon gar nicht in die Wohnung ziehen, in deren endlich mal richtig gesaugten Ecken sich die Halbwaisen drückten wie verschreckte Kaninchen. Die Wohnung, deren Tür abfotografiert wurde wie Heidi Klum.

Also Maria.

Maria ist Mitte dreißig und sieht aus wie fünfzig. Sie hat in Nowosibirsk in einer Fabrik-Kantine gearbeitet. Maria, das sind schwielige Hände groß wie Spaten, aber mit rot lackierten Nägeln, kurze Haare, blondiert und dauergewellt, dicke Beine mit Krampfadern, die man aber unter Wollstrumpfhosen nicht sieht, ein Dutzend geblümte Kleider, ein Hintern so breit, dass darauf ein Hubschrauber landen könnte, süßliches Parfüm, von dem man niesen muss, rot angemalter großer Mund, dicke Backen, kleine Augen.

Liebe Augen. Überhaupt ist sie lieb, die Maria.

Alissa erlag ihr sofort, wie erschossen. Maria dies, Maria das, Mascha, meine, Ma-Ma-Ma-MAMA! Ich war deswegen nicht etwa sauer auf sie. Sie war einfach noch verdammt klein.

Sie hat Marias unermesslichen Schoß sofort besetzt. Ich glaube, sie wollte tagelang nicht runter, und Maria war sehr nervös, weil sie mit Alissa auf dem Schoß so schlecht kochen konnte. Als ob irgendjemand von uns essen wollte. Anton und ich, wir haben tagelang nichts gegessen, und irgendwann ist er zusammengeklappt, und ich habe ihn noch zusätzlich zusammengestaucht.

Ich habe ihm erklärt, dass er, wenn er nicht isst, ins Krankenhaus kommt. Und dass Maria dann als unfähig zurück nach Nowosibirsk gekickt wird. Und das bedeutete Heim oder getrennte Pflegefamilien.

Danach hat er gegessen. Ich saß dabei und schaute zu, während er fleißig kaute, die großen runden Augen auf die weiße Wand gerichtet. Maria häufte ihm immer mehr auf seinen Teller. Zweimal hat sich Anton nach dem Essen übergeben, und da habe ich zu Maria gesagt – besser kleine Portionen, dafür öfter. Und nicht so fett. Und trinken.

Sie hat gut gekocht, die Maria. Sie kocht immer noch gut. Viel besser als meine Mutter. Maria kann Borschtsch und andere komplizierte Suppen. In der Wohnung riecht es immer nach Essen. Sie kocht richtige Brühen, aus Huhn oder Rindfleisch, mit Gemüse und Bündeln von Grünzeug. Sie brät formvollendete Frikadellen und Pfannkuchen so dünn wie Spitze. Im russischen Supermarkt um die Ecke hat sie gezuckerte Kondensmilch entdeckt, eine zu Sowjetzeiten mehr als Kaviar begehrte Süßpampe, und da tunkt sie die zusammengelegten Pfannkuchen hinein. Sie legt Gurken ein und kocht Marmelade aus schwarzen Johannisbeeren.

Uns geht es gut, erzähle ich meiner Mutter. Wir werden richtig gemästet. Ich wünschte, du könntest davon probieren. Du hast dich immer für alles interessiert, was lecker, schön oder ungewöhnlich war.

In den Zeitungsartikeln war Maria »die einzige lebende Verwandte, die bereit war, sich um die drei zurückgebliebenen Geschwister zu kümmern«.

Wir sind nicht »zurückgeblieben«, habe ich da gemurmelt. Und Maria ist nicht gekommen, um uns ihr wertes Leben vor die Füße zu werfen. Wenn man in einer Kantine in Nowosibirsk arbeitet und gefragt wird, ob man nach Deutschland kommt, um für ein paar Kinder Suppe zu kochen, dann ist es zwar ein bisschen weniger als ein halbes Königreich, aber viel mehr als ein Sechser im Lotto.

Zumal Maria nur irgendwann in ihrer Jugend verheiratet und schnell wieder geschieden war. Vielleicht auch zweimal. Kinder und Haustiere hat sie nicht, und so hat sie gedacht, dass sie nichts an ihre Einzimmerwohnung und an ihre Kantine bindet. Das hat sich inzwischen als falsch herausgestellt, und das hätte ich ihr auch gleich sagen können. Denn in Nowosibirsk konnte sie mit jedem schwätzen und hat es auch getan, und hier ist sie meist zum Stummsein verdammt.

Maria kann nach fast zwei Jahren ungefähr zwanzig deutsche Wörter, solche wie Bus, Kartoffel, Butter, Müll, kochen, waschen, fick dich (für die schwarz gelockten Heranwachsenden, die ihr manchmal auf der Straße hinterherpfeifen und beängstigende Gesten machen). Diese Vokabeln gruppiert sie gelegentlich zu Sätzen. Meistens geht das schief.

Wenn sie nicht gerade im russischen Supermarkt einkauft, muss sie mit dem Finger zeigen und die Zahlen aufschreiben. Zu diesem Zweck trägt sie immer einen Notizblock bei sich. Nach jedem Einkauf beim Aldi ist sie schweißgebadet. Wenn sie auf der Straße angesprochen wird, wimmert sie und kriegt rote Flecken im Gesicht. Den Satz »Ich spreche nur Russisch« habe ich zwei Wochen mit ihr geübt. Den trägt sie auf einem Papierchen in ihrem Portemonnaie, transkribiert in kyrillische Buchstaben.

Wir bekommen regelmäßig Besuch von den Doppelnamen vom Jugendamt. Maria kriegt jedes Mal Panik, und ich muss sie vorher und hinterher lange trösten, dass sie ihre Sache gut macht und nicht zurück an ihre Kantinentöpfe muss.

Denn, so kreuzunglücklich sie sich im Solitär auch fühlt, nach Nowosibirsk will sie auf keinen Fall, schon gar nicht mit Zwang. Sie träumt zwar davon, irgendwann zurückzukehren, später, mit einer Taille, dezent geschminkt, mit einem Koffer voller schicker Klamotten und idealerweise untergehakt bei einem Deutschen mit akkuratem Schnurrbart. Nett und reich soll er sein und vor allem Russisch können, denn dieses Deutsch, sagt Maria, ist schlimmer als Chinesisch (als ob sie das könnte).

Wenn ich Hausaufgaben mache, seufzt sie manchmal hinter meinem Rücken und kommentiert: »Lernen ist wichtig, lernen ist gut. Ich habe früher nie gelernt und immer gearbeitet. Schon als Kind. Und jetzt guck mich mal an. Hat sich die Plackerei gelohnt?«

»Lies was, Spätzchen«, sage ich. »Muss ja nicht gleich ›Krieg und Frieden‹ sein. Versuch’s doch mal mit einem Krimi.«

»Ich bin abends immer so müde, meine Sonne«, sagt sie. »Wenn ich ein bisschen gelesen habe, vergesse ich sofort, was drinsteht, und muss von vorn anfangen. Das strengt mich so an.«

Deswegen liest sie jeden Tag ein Blatt vom Abreißkalender »Für die orthodoxe Hausfrau«, wo mal ein Rezept draufsteht und mal ein Tipp zum schnelleren Abnehmen und gelegentlich ein Witz, und das genügt ihr. Da verdrehe ich die Augen, aber so, dass sie das nicht sieht. Denn sie kann wirklich nichts dafür, dass sie von Anfang an zu wenig Synapsen abgekriegt hat und zwei Drittel davon noch in ihrer Fabrikkantine verloren gingen.

Ich mache mir nur ein bisschen Sorgen wegen Alissa. Zwar ist Maria meiner knapp vierjährigen Schwester intellektuell noch etwas überlegen, aber das wird sich in absehbarer Zeit ändern. Ich habe Vorlesestunden als Pflichttermin in Marias Tagesplan eingeführt. »Ich hab nicht gewusst«, hat Maria nach dem ersten Bilderbuch gestaunt, »dass es so interessante Bücher gibt.«

Sie liebt Alissa aufs Zärtlichste. So sehr, dass sie dagegen war, die Kleine mit drei Jahren in den Kindergarten zu geben, wo es Kinderkrankheiten und Tiefkühlessen gibt, und ich mit dem Jugendamt drohen musste, um ihren Widerstand zu brechen. Ständig knutscht und streichelt Maria meine Schwester und verkneift sich nur unter vielen runtergeschluckten Tränen das von mir streng verbotene jämmerliche: »Mein armes Waisenkindchen.« Wenn Alissa nicht gerade auf Marias Schoß sitzt, steht sie auf einem Schemel in der Küche und schaut den Buletten beim Brutzeln zu. Rezepte kann sie inzwischen auswendig. Neulich hat sie mir erklärt, wie frischer Koriander aussieht und vor allem riecht – »so, dass man sofort kotzen muss«.

Marias Angst, zurück nach Nowosibirsk zu müssen, hat auch mit Alissa zu tun. Eine Trennung würde nicht nur meiner Schwester, sondern auch Maria das Herz brechen. »Wenn Alilein mal groß ist, dann fühle ich mich wieder frei«, sagt Maria. »Ich will sie großziehen, dass sie glücklich und gesund wird (meinarmeswaisenkindchen).«

An anderen Tagen sagt Maria, dass sie sich erst frei fühlen wird, wenn Alissa einen anständigen Mann zum Heiraten gefunden hat.

»Du bist keine Leibeigene«, sage ich. »Und es kann sein, dass Alissa erst mit Ende dreißig einen anständigen Mann findet. Wenn sie Glück hat.«

Maria seufzt. »Wenn Alilein ein Diplom hat«, sagt sie schließlich, »dann bin ich auch schon mal ganz glücklich.«

»Diplom« ist für sie ein magisches Wort – wie Kapitalertragssteuer oder Paracetamol.

Für Alissa würde sie sterben. Das bedeutet nicht, dass sie etwas gegen Anton hat. Sie versucht regelmäßig, auch dieses Waisenkindchen zu kosen, aber Anton lässt keine Berührungen zu. Er geht dann einfach einen Schritt zurück, so lange, bis er die Wand im Rücken hat. Dann kapiert auch Maria, dass sie die Hände von ihm lassen soll. Vor ein paar Monaten habe ich allerdings beobachtet, wie er Maria in der Küche von der Schule erzählte. Maria saß am Tisch, stützte das Kinn auf die Hand und wackelte staunend mit dem Kopf.

Vor mir hat Maria Angst, und das hat seine Vorteile.

Maria sieht viele Gründe, mich zu verehren. Ich kann nicht nur Latein und Französisch, was für sie ebenso lebensnah ist wie das ABC der Marsianer, sondern auch, völlig real, die Sprache dieses verflixten Landes. Ich erkläre ihr die hiesige Welt und begleite sie zu Einkäufen, bei denen ein Dolmetscher notwendig ist. Ich weiß, wie man Sozialhilfe beantragt und wie Kindergeld. Meistens bin ich dabei, wenn das Jugendamt auf Visite geht. Ich lobe Maria immer in den höchsten Tönen. Wenn ich eine Frage an sie übersetzen muss, überlege ich mir auch gleich die Antwort dazu.

Maria hat panische Angst vor allem, was mit Behörden zu tun hat. Vor jedem, der staatliche Autorität ausstrahlt, fühlt sie sich klein wie eine Ameise. Selbst den Fahrkartenautomaten siezt sie, und wenn im Bus tatsächlich kontrolliert wird, zerrt sie die Karte mit einem demütigen Lächeln so hastig aus ihrer Handtasche, dass ihr Lippenstift und ihre Tampons wie Geschosse durch die Gegend fliegen.

»Immer mit der Ruhe, Maria«, zische ich, wenn ich zufällig dabei bin, und krieche auf dem Fußboden herum, um die Utensilien einzusammeln, während die gelähmte Maria dem Kontrolleur in den Rücken strahlt.

»Ich hätte nie gedacht, dass das einer ist«, flüstert sie ehrfürchtig. »Mit langen Haaren und einem Ohrring wie so ein Beatles. Wie sie hier rumlaufen dürfen. Was hat er da aus dem Ohr hängen?«

»Einen mp3-Player«, erkläre ich.

»Was?«

»Musik.«

»Ich glaube, du wirst mal wie deine Mutter«, sagt Maria einmal in einem solchen Moment.

»Was?!«

Sie schlägt sich die Hände vor den Mund. Sie beginnt zu zittern, unter der geblümten Bluse bebt ihr aufgedunsener Körper, in den Augen steht der Schreck, über die Wangen rollen zwei Tränen, oder ist das der Schweiß?

»Was hast du gesagt?!«

»Nichts, nichts«, flüstert sie. »Nichts, nichts.«

Ich hebe die Hand. Ich weiß nicht, was ich tun will. Meine Finger schließen sich zur Faust, aber Maria zu schlagen kommt mir ebenso unsinnig vor wie einen Pudding auszupeitschen, und ich lasse die Faust gegen die Fensterscheibe knallen.

Keiner dreht sich nach mir um. Nicht mal der Busfahrer, der sonst jeden anbrüllt, der die Füße auf den Sitz legt.

Das Fenster bleibt heil, aber mir tut es weh, und ich heule.

Dann habe ich meine Nase gegen Marias Busen gedrückt und kriege keine Luft. Sie hält mich mit beiden Armen fest und streichelt gleichzeitig meinen Kopf und meinen Rücken. Die Hände fühlen sich warm und sehr groß an.

Ich schließe die Augen.

»Alles gut«, flüstert Maria, während meine Lungen mit ihrem Parfum volllaufen. »Alles wird gut, alles ist gut, nicht weinen, meine Goldene, mein starkes Mädchen.«

»Halt den Mund«, schreie ich, aber es kommt nur gestöhnt daher, und Maria verstummt.

Danach steigen wir in der Stadtmitte aus und tauschen die Armbanduhr um, die Maria vor zwei Tagen für 4,95 Euro gekauft hat und die seit gestern nicht mehr geht.

Anschließend kaufe ich für Maria eine Fahrkarte für den Rückweg und warte, bis sie in den Bus geklettert ist.

Ich komme nicht mit. Ich steige in die Straßenbahn, ohne Fahrkarte, denn ich habe keine Angst vor Kontrolleuren, und besuche Ingrid und Hans.

Es tut mir weh, ihr Haus zu betreten. Den Grund würde ich ihnen nicht erklären können – beziehungsweise wollen. Es ist ein schönes zweistöckiges Haus inmitten eines verwilderten Gartens, und allein das macht es liebenswürdig.

Der wirkliche Grund ist, dass meine Mutter dieses Haus und diesen Garten so gemocht hat. Sie war mehrmals zu Besuch da gewesen, und als Ingrid und Hans für vier Wochen auf Kur waren, hat sie zusammen mit Harry das Haus gehütet. Das bedeutete, dass wir alle für vier Wochen umzogen – meine Mutter, ich, Anton und Alissa. Und Harry, der in diesen Tagen strahlte wie sonst nie. Wir waren quasi alle bei ihm zu Gast, und das machte ihn stolz.

Natürlich war das nicht mehr sein Zuhause, irgendwann mit Anfang dreißig muss er es geschafft haben, bei seinen Eltern auszuziehen. Also etwa anderthalb Jahre, bevor er meine Mutter kennen gelernt hat. Er hatte von da an eine Einzimmerwohnung im Studentenviertel, im vierten Stock, direkt unterm Dach. Ich war zweimal dort gewesen, es war eine nette kleine Wohnung.

Anstrengend war nur, dass sich Harry die ganze Zeit für alles Mögliche geschämt hatte: Dass in seiner Küche so ein Durcheinander war und dass die Kaffeedose gerade leer war und dass eine Unterhose von ihm auf dem Fußboden lag, Letzteres hat ihn unglaublich belastet. Ich hatte ihm tausendmal gesagt, dass es mir egal ist, dass ich Schlimmeres gewohnt bin, aber es war ihm dennoch furchtbar peinlich. Was es nicht besser gemacht hat, war, dass meine Mutter nicht mehr aufhören konnte zu lachen.

Sie saß auf dem Stuhl und lachte über alles: Dass Harry seine Unterhose hektisch aufsammelte und in irgendeine Schublade stopfte, aus der sofort Papiere rausfielen, dass ich über seine Turnschuhe stolperte, wie er in der Küche Kekse suchte und Flaschen umwarf. Ich fand, sie hätte nicht so laut lachen müssen, denn davon lief der arme Harry rot an und wurde nur noch hilfloser. Ich sagte es ihr auch, auf Russisch, aber sie winkte ab und meinte, ich hätte keine Ahnung. Sie folgte dem hin und her rennenden Harry mit ihrem Blick, und darin lagen Zärtlichkeit und Rührung.

Harry sprach überhaupt nicht mit ihr während dieses Besuchs, er war vollauf damit beschäftigt, mich zufriedenzustellen, obwohl ich nicht kompliziert war. Er schaute konzentriert in mein Gesicht auf der Suche nach Regungen, die vielleicht negative Folgen für ihn haben könnten, und immer wieder drehte er sich zu meiner Mutter um und warf ihr einen Blick zu oder ein schüchternes Lächeln.

Ich saß auf seiner Couch und trank Hagebuttentee, den ich nicht leiden kann, mit durchgeweichten Butterkeksen und möglichst zufriedener Miene, damit Harry endlich zur Ruhe kam. Irgendwann war er so weit, dass er aufhörte zu rennen und sich zu mir setzte und von seinem Studium erzählte und von seinem damaligen Job, der selbstverständlich nicht gut lief.

Er war genauso, wie meine Mutter ihn beschrieben hatte. Am Anfang ein bisschen anstrengend, weil er so unsicher war. Als er mehr Selbstvertrauen gewonnen hatte, war er einfach nur lieb und fürsorglich.

»Und?« fragte meine Mutter, als wir die Wendeltreppe Richtung Ausgang hinunterstiegen.

»Ganz okay«, sagte ich. »Der kann ruhig zu uns kommen.«

»Er ist ein Goldstück von Mensch«, sagte meine Mutter. Sie hatte sich überhaupt keine Sorgen gemacht, wie ich Harry finden könnte. Im Gegensatz zu ihm war sie sich meistens sicher.