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ÜBER DEN AUTOR

Constantin Seibt, geboren 1966, ist ein Schweizer Journalist und Autor. Zehn Jahre lang verfasste er vor allem Kolumnen, bevor er 1997 Inlandredakteur bei der Wochenzeitung WOZ wurde. Seit 2006 arbeitet er als Reporter für den Tages-Anzeiger in Zürich, zuständig vor allem für die Grauzone zwischen Wirtschaft und Politik. 2007 wählten ihn die Leser der Zeitschrift Schweizer Journalist für seine Serie zum Swissair-Prozess zum Journalisten des Jahres. Seit Mai 2012 schreibt er auf der Website des Tages-Anzeigers den Blog »Deadline« mit dem bescheidenen Untertitel »Journalismus im 21. Jahrhundert«.

ÜBER DAS BUCH

Wie schreibt man mit Stil? Und so, dass jemand dafür zahlt? Die kürzeste Antwort: durch eine Mischung aus Frechheit und Können. Man fesselt sein Publikum, wenn man die richtigen Tricks anwendet. Und trotz aller Tricks aufrichtig bleibt.

Constantin Seibt erklärt anhand von zahlreichen Beispielen die brauchbarsten Strategien für Stil, Schreiben und Karriere – und für eine Zeitung, die tauglich für das 21. Jahrhundert ist.

Ein Buch, so hilfreich und kaltschnäuzig wie ein Lawinenhund.

Tweets zu Deadline:

»Wow – das sollten Leute, die versuchen, gute Texte zu schreiben, wirklich lesen!« Moritz von Uslar

»Tipp für Menschen mit Schreibblockade: Deadline von Constantin Seibt durchlesen.

Wenn das nix hilft, hilft nix mehr.« Sebastian Langer, Nordkurier

Diskutieren Sie mit: http://blog.tagesanzeiger.ch/deadline/

CONSTANTIN SEIBT, Deadline, Kein & Aber

Für Rachel und Lynne, die zwei Zimmer weiter schliefen,
als ich das meiste hiervon schrieb.
Und für alle, die im Büro träumen.

Inhalt

  

Vorwort

Eine Menge Ärger

Die Lage

Fünfzehn Thesen zum Journalismus im 21. Jahrhundert

1 DER ROHSTOFF

1.1 Der Produzent

Journalismus ist ein Existenzialismus

1.2 Das Produkt

Die letzte exklusive Ware: Komprimierte Zeit

1.3 Das Rezept

Wie wäre es, wenn wir es ganz anders machten?

1.4 Das Motto

Sagen, was ist

2 STORYIDEEN

2.1 Die beste Storyidee der Welt

Warum wirklich gute Einfälle selten neu sind

2.2 Fruchtbare und nicht fruchtbare Ideen

Es sind die Fragen, nicht die Gewissheiten, Dummkopf

2.3 Die zwei Richtungen der Recherche

Der Journalist als Detektiv

2.4 Die Entwicklung von Ideen

Wie man das Unbekannte im Bekannten entdeckt

2.5 Der 360-Grad-Blick

Wie Storyideen blind machen

2.6 Ideen ausbauen und sterben lassen

Töten Sie den Tyrannosaurier, aber ziehen Sie Ihr Baby groß!

3 TRICKS UND TECHNIKEN

3.1 Die Ratteninsel, Teil I

Die Theorie

3.2 Die Ratteninsel, Teil II

Die Praxis

3.3 Zwischentitel

Das Problem der Übergänge

3.4 Im Notfall

Werfen Sie Glasperlen vors Volk

3.5 Wie-Vergleiche

Der schärfste Spezialeffekt beim Schreiben

3.6 Zitate, Teil I

Beweis es, du Bisamratte!

3.7 Zitate, Teil II

Das Klassikerzitat als Waffe

3.8 Schwurbel

Eine Frage des Respekts

3.9 Personenbeschreibungen

Jeder Krüppel hat seine eigene Art zu laufen

3.10 Halbdistanz

Schreiben Sie Kino!

3.11 Schlüsse

Der elegante Schwanzbeißer

4 DIE SCHWARZE LISTE

4.1 Scheiß-Detektor, Teil I

Guter Stil

4.2 Scheiß-Detektor, Teil II

Thesen zu Thesen

4.3 Scheiß-Detektor, Teil III

Billige Tricks

4.4 Redigieren, Teil I

Der 2/3-Trick

4.5 Redigieren, Teil II

Töten Sie Ihre Feinde!

5 GENRES

5.1 Die Breitleinwand-Nacherzählung

Der Journalist als Historiker der Gegenwart

5.2 Der Dreispalter

Journalismus aus dem Mittelalter

5.3 Dreispalter vs. Kurzporträt

Die hässliche und die schöne Schwester

5.4 Der CEO-Text

Porträt oder Landschaft?

5.5 Das Königsdrama

Shakespeares Rückkehr

5.6 Der Liveticker

Das letzte große Abenteuer

5.7 Der Ich-Artikel

Die drei schmutzigen Buchstaben

5.8 Der Szenetext

Das Rezept für einen Becher Gift

5.9 Der Maßanzugsartikel, Teil I

Der Journalist als Dandy

5.10 Der Maßanzugsartikel, Teil II

Wie man einen Welterfolg landet

6 THEORIE UND PRAXIS DER KOLUMNE

6.1 Eingekaufte Köpfe

Warum Kolumnen hassenswert sind

6.2 Das Scheitern in Serie

Warum Sie zu uninspiriert sind. Zu langweilig. Und Ihre Meinungen nichts wert

6.3 Der Motor der Kolumne

Wie man Ideen frisiert

6.4 Anatomie einer Kolumne

Die Simulation von Inspiration

6.5 Der Test

Werden Sie durch die Hölle gehen?

6.6 Das Honorar

Verhandle, gottverdammtes Arschloch

7 KARRIERETIPPS

7.1 Verkaufsargumente für Einsteiger

Eifersucht. Jugend. Sex mit der Chefetage

7.2 Frechheiten

Opportunismus für Fortgeschrittene

7.3 In der Redaktion

Wer für seine Zeitung arbeiten will, arbeitet gegen sie

7.4 Die Pflicht zur Größe

Warum man sich nicht in der Provinz hängen lassen sollte

7.5 Mut im Büro

Just give a damn!

7.6 Die Korruption des Geschäftsmodells

Die Frage ist nicht, ob Journalisten bestechlich sind. Sondern, von wem

7.7 Die Korruption privat

Welches ist Ihr Preis?

7.8 Erfolgsrezepte

Was, wenn man Erfolg hat?

7.9 Trost

Drei Geißeln des Journalismus

8 DIE LESER

8.1 Was Leser beim Kaffee erwarten

Warum man in Tageszeitungen schreiben sollte

8.2 Kurze Theorie des Publikums

Alles Bastarde?

8.3 Geliebt werden

Wie verführe ich Menschen?

8.4 Zeit für Rache

Wie Sie einen Journalisten abschießen können

8.5 Blattkritik

Der Ein-Wochen-Chefredakteur

9 DIE ZUKUNFT DER ZEITUNG

9.1 Das Anti-Mainstream-Konzept

Eine Rede vor den Aktionären der Basler Zeitung

9.2 Die Strategie für die Zeitung von morgen, Teil I

Das Modell HBO

9.3 Die Strategie für die Zeitung von morgen, Teil II

Das Wagnis

Nachwort zum Problem der Magie

Warum es beim Schreiben keine Garantie gibt

Dank

Register

Quellenangaben

Vorwort

Eine Menge Ärger

Seit drei Nächten versuche ich, dieses Vorwort hinzukriegen. Bis jetzt vergeblich.

Es ist nicht gerade eine Empfehlung für ein Buch mit Tricks zum Schreiben, wenn der Autor schon bei den ersten Sätzen aus der Kurve fliegt. Aber Scheitern gehört zum Job.

Aus der Ferne ist Schreiben ein eleganter Beruf: Man braucht wenig Material dafür, lediglich einen Computer und etwas Frechheit. Und was zu tun ist, ist einfach: Sieh hin und schreibs auf.

Nur ist es verblüffend schwierig, das Wesentliche zu sehen. Und es hinzuschreiben, auch.

Dieses Buch handelt von allem Ärger, den man als professioneller Schreiber vor dem Computer hat: mit Ideen, Dramaturgie eines Texts, Redigieren und der eigenen Blindheit. Und von allem Ärger, den man als Journalist in seinem Job hat: mit Karriere, Geld, Lesern und der Pressekrise.

Aus der Ferne ist Journalismus ein erfreulicher Beruf. Er besteht aus einer Kette von kleinen Abenteuern. Und die Freiheit ist groß. Wie kaum ein anderer Büroangestellter hat ein Journalist die Kontrolle über sein Produkt. Zwar gibt es in jeder Redaktion eine Menge Chefs, doch mit etwas Erfahrung lassen diese sich austricksen. Die einzige Kompassnadel, die zählt, ist die eigene Nase.

Aber manchmal ist es eine schreckliche Freiheit. Für einen längeren Artikel muss man mehrere Dutzend Entscheidungen treffen. Trifft man zu viele falsch, oder trifft man sie nicht, passiert immer das Schlimmste, was einem als Autor passieren kann: Aus einer lebendigen Geschichte wird ein lebloses Stück Text. Man produziert eine Leiche.

Und wenn das passiert, gibt es keinen anderen Schuldigen als: ihn. Er hat es vermasselt. Kein Wunder, dass sich zuweilen selbst Profis wünschen, sie hätten einen angenehmeren Job gelernt, etwa Kanalreiniger.

Doch das ist nur die Hälfte des Ärgers. Das Internet hat den Journalismus radikal verändert. Traditionelle Nachrichtenorganisationen haben große Teile ihrer Einnahmen ans Netz verloren. Und das Verhältnis zum Publikum hat sich um 180 Grad gedreht. Früher schrieb ein Journalist für abhängige Abonnenten. Heute konkurriert er im Netz mit der weltweiten Unterhaltungsindustrie.

Der verschärfte Kampf um Aufmerksamkeit bedeutet, dass die eingespielte Maschinerie der Tageszeitung neu gedacht werden muss: von den Artikeln bis zur Strategie. Die bisherigen Produkte und Routinen sind nicht mehr zeitgemäß. Sie zielen alle auf das traditionelle Publikum: auf die nun langsam aussterbenden Abonnenten ohne Alternative. Für den Journalismus im 21. Jahrhundert braucht man neue Konzepte.

In der Chefetage findet man dafür kaum Interesse. Die meisten Verlage haben als zentrales Gegenmittel zur Zeitungskrise das Sparen entdeckt. Und wurden süchtig danach. Erst schnitten sie das Fett weg, dann Muskeln und Blutbahnen.

Tatsächlich ist es erstaunlich, wie wenig selbst große Medienkonzerne trotz der Krise über Journalismus nachdenken. Und etwa systematisch Entwicklungsabteilungen ins Leben rufen: für neue Produkte und eine neue Haltung bei den alten. Sie haben für den Journalismus im 21. Jahrhundert nicht nur kein Konzept, sie haben nicht einmal die Melancholie, keins zu haben. Doch damit sind sie nicht allein. Auch die meisten Redaktionen reagieren erstaunlich defensiv: Sie machen lieber das Blatt für morgen früh statt das Konzept für morgen.

Für den einzelnen Journalisten bedeutet das: Auf Hilfe von oben kann man nicht hoffen. Deshalb macht sich dieses Buch nicht nur Überlegungen zum journalistischen Handwerk. Sondern auch zur Frage: Mit welcher Strategie überlebt man als einzelner Journalist im 21. Jahrhundert?

Der Grund, warum die Nachrichtenindustrie so konservativ ist, lässt sich in vier Worten beschreiben: über hundert Jahre Erfolg. Kein Wunder, dass die Branche auch unter Druck wenig nachdenkt. Und das ist auch der Ansatzpunkt für jede zeitgemäße publizistische Strategie. Nach hundert Jahren Erfolg kann man mit einer Menge Kalk im System rechnen: mit erstarrten Routinen, übersät mit blinden Flecken.

Der Konservativismus der eigenen Branche ist die verlässlichste Ressource, die man als Journalist in der Krise hat. Und die Rebellion dagegen ist die vernünftigste Strategie, auf die man setzen kann. Nicht zuletzt, weil man sich in der Aufmerksamkeitsbranche befindet. In dieser wird die Abweichung honoriert, nicht die Norm.

Deshalb lautet die zentrale Frage in diesem Buch: »Wie wäre es, wenn wir es ganz anders machten?« Sie ist die entscheidende Überlegung in jeder Situation: beim Schreiben eines Artikels, beim Nachdenken über die eigene Haltung, bei der Konzeption der gesamten Zeitung.

Wie man das in der Praxis macht, darum dreht sich dieses Buch. Es geht um praktische Tricks beim Schreiben. Um die Haltung zur Welt, zu Texten, zum Publikum, zur Karriere. Und im letzten Kapitel um eine publizistische Strategie, wie die Tageszeitung in der heutigen Zeit zu machen wäre.

Fast alle Kapitel dieses Buchs wurden neben meinem Job als Reporter beim Tages-Anzeiger in Zürich geschrieben, meist nach Mitternacht, wenn das Kindchen schlief. Sie erschienen ursprünglich als Blog auf der Website der Zeitung. Für dieses Buch wurde das Material geordnet, gekürzt, ergänzt, verschlagwortet.

Die meisten dieser Kapitel behandeln meine eigenen sowie die berufsüblichen Katastrophen. Also die Momente, in denen ich beim Schreiben im Sumpf landete und nachdenken musste, was schieflief. Und wie ich mich und den Artikel retten könnte.

Deshalb ist der Journalismus auch ein abenteuerlicher Beruf: Es geht im Kleinen immer darum, dass man überlebt. Und im Großen auch.

Die Lage

Fünfzehn Thesen zum Journalismus im 21. Jahrhundert

Ladies and Gentlemen,

willkommen an Bord der prächtigen, aber sinkenden Galeere des Printjournalismus. Zwar herrscht in Zeitungen seit Jahrhunderten dieselbe Zeit wie auf dem Meer oder im Totenreich: eine ewige Gegenwart. Aber irgendwann findet auch diese ihr Ende.

Jedenfalls ist es fast Selbstmord, in diesem Gewerbe zu arbeiten, ohne über dessen Zukunft nachzudenken. Die Gründe sind bekannt: Das traditionelle Geschäftsmodell zerfällt. Es bestand darin, Zeitungen an die Leser und die Leser an die Werber zu verkaufen. Nun verschwindet die Werbung ins Netz und die jüngeren Leser auch. Printjournalisten sind längst – wie alternde Schlagersänger – zum größten Teil in der Seniorenunterhaltung tätig.

Als die Einnahmen sanken, verfolgten die Galeereneigner – die Verleger – im Kern zwei Strategien. Erstens das Zusammenstreichen und Zusammenlegen von Abteilungen. Zweitens versuchten sie, ihr Produkt irgendwie im Netz zu vermarkten.

Die Sparmaßnahmen hatten einen gewissen Erfolg. Denn das Internet erwischte die Zeitungsbranche 2001 auf ihrem Höhepunkt. In den zehn Jahren davor waren die Zeitungen Gelddruckmaschinen gewesen. Sie waren – ironischerweise gemästet durch die Anzeigen der Internet-Start-up-Unternehmen – fetter denn je: in Sachen Umfang, Redaktion, Etats, Teppichetage, Overhead. Entsprechend orgiastisch konnte gestrichen werden.

Eine Zukunftsstrategie ist die fortgesetzte Synergie- und Streichungsorgie nicht. Außer, man glaubt an eine homöopathische Wirkung: Dass eine Substanz umso stärker wirkt, je stärker sie verdünnt wird.

Ein solider Ersatz für das Geschäftsmodell wurde im Netz bisher nicht gefunden. Zwar wird viel experimentiert. Doch das alte Modell – Werber UND Kunden bezahlen – funktionierte für große Nachrichtentanker bisher nur bei wenigen First-Class-Produkten der Finanzpresse. Hier bezahlen die Kunden. Sonst zahlen sie fast nie. Verglichen mit dem vorherigen Geschäft, verdienen Zeitungsredaktionen im Netz nur Peanuts.

Kurz: Der Sturm in unserer Branche ist noch lange nicht am Ende. Er hat erst begonnen. Dieses Buch befasst sich mit den Konsequenzen der Krise. Leider nicht vorrangig auf der Ebene des Geschäftsmodells. (Hätte ich dazu das todsichere Konzept, würde ich überhaupt nichts mehr schreiben, sondern nur noch gelegentlich schreiben lassen – und zwar ausschließlich Schecks von den Verlagshäusern.)

Neben dem Geschäftsmodell hat die neue Lage im Journalismus auch enorme praktische Konsequenzen für Journalisten, ihre Storys und die Organisation des Zeitungmachens. Darum geht es hier. Der Journalismus muss im 21. Jahrhundert neu erfunden werden.

Dazu folgende fünfzehn Thesen:

1.  Was wir verkauft haben, war eine Gewohnheit. Über Jahrhunderte hielten Journalisten Nachrichten für ihr Kernprodukt. Das stellt sich nun als Irrtum heraus. Das wahre Produkt, das eine abonnierte Tageszeitung verkaufte, war eine Gewohnheit. Die Gewohnheit, sich am Morgen ohne Kaffee, Zigarette und Zeitung schlecht zu fühlen. Nun fällt bei den nachwachsenden Generationen die Zigarette weg. Und das Zeitungsabonnement.

2.  Nachrichten sind keine attraktive Ware mehr. Das ehemalige Kernprodukt, die Nachrichten, ist inflationär geworden. Information dringt 24 Stunden pro Tag aus dem Netz. Das News-Business ist zwar knochenharte Arbeit für Profis: Verlangt wird Genauigkeit bei höchstem Tempo. Doch das Verkaufsargument für das Publikum – Nachrichten möglichst in Echtzeit – garantiert den schnellen Verfall der Ware: Jede neueste Nachricht killt die vorherige. Kein Wunder, dass bei Teilen des Publikums Information längst keine respektierte Ware mehr ist. Sie gleicht eher einer Belästigung. Nicht zuletzt, weil Kopieren so einfach ist. Selbst spektakuläre Scoops, also skandalöse Enthüllungen, sind nur Minuten Eigentum des Mediums, das die Recherchen bezahlt hat. Dann stehen sie auf allen Websites der Konkurrenz.

3.  Die Kanzel ist kaputt. Wir leben in einer Welt, die Verlierer verachtet. Und gehören nun auch dazu. Der ökonomische Rückgang der Presse bedeutet nicht zuletzt: Machtverlust. Publikum wie Machtträger haben deutlich an Respekt verloren. Und an Frechheit gewonnen. (Wers nicht glaubt, lese die Online-Kommentare unter seinem Artikel. Oder trinke einen Kaffee mit den Leuten von Konzernen und Politik.)

4.  Der Journalist kann sich auf nichts mehr verlassen. Der heutige Journalist sitzt somit gleich dreifach in der Klemme: Sein bewährtes Produkt, die Nachricht, ist fast wertlos. Ebenso zerfällt seine Definitionsmacht – die Kanzel ist ihm unter dem Hintern weggeschossen worden. Und für seinen Arbeitgeber ist er ein bald zu streichender Kostenfaktor.

5.  Bravheit und Effizienz sind tödlich. Was also tun? Der Weg, die bewährte Arbeit zu optimieren, also noch besser, schneller, effizienter zu tun, ist Selbstmord. Alle Massenentlassungen der letzten Zeit trafen in ihrer Mehrheit kompetente Leute: Menschen, die seriös, verlässlich, fleißig ihren Job machten. Nichts ist tödlicher, als ein treuer Soldat in einer verlierenden Armee, ein gut funktionierendes Rad in einer veraltenden Maschine zu sein.

6.  Wir erleben eine Zeitmaschine: Tausendfünfhundert Jahre zurück. Die Situation von Zeitungen und jedem einzelnen Journalisten hat sich mit dem Internet um über tausend Jahre verlagert. Quasi vom Mittelalter zurück ins antike Athen: Von der sicheren Abonnementskanzel vor der braven Herde hinunter auf den profanen Marktplatz – in den Nahkampf unter die Eselhändler, Marktschreier, Philosophen, Prediger, Messerverkäufer und Scharlatane. Eins kann sich hier niemand leisten: Unauffälligkeit.

7.  Das Publikum muss immer wieder neu erobert werden. Die wichtigste Qualität, die ein Journalist auf diesem Markt verkauft, heißt zwar immer noch Verlässlichkeit. Aber was bisher Verlässlichkeit bedeutete – regelmäßige Produktivität und seriöse Fakten –, meint dies nur in zweiter Linie. Das eigentliche Produkt ist die verlässliche Erregung von Aufmerksamkeit. Oder präziser und härter gesagt: von Begeisterung. Denn anders als aus Begeisterung zahlt niemand mehr auf dem Markt des 21. Jahrhunderts. Besonders, da die Zeitungspreise weiter steigen werden, weil die Werbung schneller verschwindet als die Leser.

8.  Wir brauchen eine komplett neue Strategie. Begeisterung frei flottierender Leser ist ein anderes Ziel als die Befriedigung eines Abonnementpublikums. Befriedigung heißt im Kern Nicht-Enttäuschung. Und lässt sich deshalb weit leichter durch eine Art Industriestandard abdecken: durch meist verlässliche Fakten, durch eine verlässliche Mischung von harten und weichen Themen, Nachricht und Kommentar, links und rechts, Inland und Ausland, Ernst und Zuckerguss. Also durch das, was wir können. (Mal besser, mal schlechter.) Begeisterung hingegen ist Sache des Lesers und wie jeder Publikumserfolg nicht direkt planbar. Es sind nur die Chancen maximierbar, genügend oft einen Hit zu landen, damit das Publikum in der Hoffnung auf einen weiteren zurückkommt. Und irgendwann Stammgast wird.

9.  Fakten sind Dreck – wie jeder Rohstoff. Die wichtigste handwerkliche Konsequenz für unser Produkt betrifft etwas, was die besseren Journalisten schon immer gewusst haben: Fakten sind Dreck – so wie jeder Rohstoff Dreck ist. Ihre Richtigkeit ist insofern wichtig, wie die Reinheit und Vollständigkeit von Zutaten beim Backen wichtig ist. Aber ein Kuchen sind sie noch nicht. Die Fakten müssen erst zu einer echten Geschichte gebacken werden: zu einer, die auch ohne jede Neuigkeit interessant wäre. Denn nur solche Geschichten reißen Leser mit.

10.  Stil ist eine große, ungenutzte Ressource. Stil ist eines der letzten Tabus und eine der großen unerschlossenen Ressourcen im Journalismus. Dabei ist der Ton einer Geschichte die Hälfte der Botschaft – und der Ton fast aller Zeitungsstorys ist gleich. Er hinterlässt den gleichen monochromen Eindruck – egal, was und worüber der Journalist gerade schreibt. (Es läuft mit den Inhalten dieser Artikel dann sehr ähnlich wie der Witz mit dem Haarschneidehelm, dessen Erfinder man fragte: »Aber sind die Köpfe nicht verschieden groß?« Worauf dieser antwortete: »Ja, aber nur beim ersten Mal.«)

11.  Was Individuen anspricht: Individualität. Der individuelle Ton jeder Story, jedes Journalisten, jeder Zeitung ist ihr bestes Verkaufsargument. Nicht, weil dieser in jedem Fall (vielleicht nicht einmal in der Mehrheit der Fälle) den Geschmack der Leser trifft, sondern weil er, im Gegensatz zum neutralen Industrieton, die Möglichkeit hat, dann und wann Leser wirklich zu berühren oder zu begeistern. Da ein Massenmedium nicht alle seine Kunden persönlich ansprechen kann, muss die Individualität im Produkt stecken.

12.  Die Antwort auf unsere drei Hauptprobleme heißt: Stil. Warum sollte gerade in der Epoche der Sparprogramme Zeit, Geld und Planung in Stil verschwendet werden? Weil Stil ein eleganter, energischer Weg ist, die drei zentralen Probleme im heutigen Journalismus gleichzeitig anzugehen: die angeschlagene Glaubwürdigkeit, die in Routine erstarrten Redaktionsstrukturen, das alternde Publikum. Zunächst zum Problem der Glaubwürdigkeit. Die Welt ist teuflisch komplex geworden. Ideologien aller Farbe haben sich blamiert. Aber nicht nur die Ideen: auch die Autoritäten. Politiker und Manager stürzen in rauen Mengen. Intellektuelle sind fast ausgestorben. Wir leben in einer Zeit der Ratlosigkeit. Das führt Journalisten in ein Dilemma. Man erwartet von ihnen Klarheit, Entschiedenheit, Aufrichtigkeit, Kompetenz. Und das in einer Welt der ramponierten Ideen und ramponierten Köpfe.
    Woher also nehmen und nicht schummeln? Natürlich kann man Ersatzstoffe liefern: Meinung, Behauptung, neutrale Häppchen oder das Jesus-Spiel: die Neuankömmlinge heute bejubeln und morgen kreuzigen. Doch das ist alles billige Ware. Sich der Gegenwart zu stellen, heißt, sich der Komplexität zu stellen. Um die aufs Papier zu bringen, braucht es Stil. Oder genauer: mehrere Stile, je nach Sachlage. Stil ist nie Selbstzweck, er ist ein Maßanzug für die Fakten. Und somit die einzige Methode, komplexe Dinge zu sagen, ohne zu lügen und ohne an Schwung und Klarheit zu verlieren. Ohne raffiniertes Handwerk ist die Welt nicht mehr zu begreifen.
    Zweitens zwingt die Förderung von Stil eine Zeitung zur Diskussion über ihre Erneuerung. Denn Stil ist das Gegenteil von Ornament, Design, Oberfläche. Er ist im Kern: Haltung. Haltung ist, sobald man sie hat, eine hocheffiziente Sache, denn sie zeigt sich in jeder Handlung, jedem Produkt. Das allerdings nur deshalb, weil Stil und Haltung keine einfache Sache sind (sie sehen nur so aus), sondern das Ergebnis von einer Menge Versuchen, Irrtümern und darauf folgenden harten Debatten. Diese müssen geführt werden, zu den uralten Fragen: Wohin wollen wir? Was wollen wir und was nicht? Und wie zur Hölle machen wir das am klügsten? Zeitungen scheuen diese Debatte: Naturgemäß interessiert sie weder Vergangenheit noch Zukunft, sondern nur die nächste Nummer. Doch die Mühe lohnt sich: Nichts verkauft sich besser als das eigentlich Unverkäufliche. Haltung ist auch auf dem Massenmarkt ein extrem gefragtes Produkt (von Johnny Cash bis Apple). Denn ein klarer Stil – also Produkt gewordene Haltung – fasziniert ein Publikum immer. Und das zuverlässig. Er schafft damit das, was wir zum ökonomischen Überleben dringend brauchen: eine überzeugte Gruppe von Lesern, eine zahlende Community.

13.  Autismus können sich nur Sieger leisten. Involvierung der Leser ist die zweite große, ungenutzte Ressource im Journalismus. Dazu gehört zunächst Transparenz: der Blick des Kunden in Küche und Kochbuch. Das Zugeben von Fehlern, Unsicherheiten, leeren Flecken. Das regelmäßige Antworten auf Fragen des Lesers. Und noch wichtiger: dass von Zeit zu Zeit ernsthaft zurückgefragt wird. Denn nichts erobert Menschen leichter als echte Fragen. Und nur mit einer überzeugten Community wird eine Zeitung überleben. Zugegeben, ein kräftiger Schuss Autismus ist die Versuchung für alle Kommunikationsberufe. (Man muss einmal sehen, wie viele Fragen an Werber-, Künstler- oder Journalistenpartys gestellt werden: verdammt wenige.) Aber den Luxus des Autismus können sich eigentlich nur erfolgreiche Branchen leisten.

14.  Die Maschinerie der Zeitung muss umgebaut werden. Neue Produktionsziele wie Transparenz, mehr potenzielle Hits, individuelle Töne, dazu ein untreueres, anspruchsvolleres Publikum – all das bedeutet, dass sich die riesige, seit Jahrzehnten eingespielte Maschinerie der Zeitung fundamental verändern muss. Doch Zeitungen haben den Wendekreis eines Tankers. Sie sind konservativ: Unhinterfragte Routine ist eine ihrer wichtigsten Ressourcen. Das ist kein Wunder, denn sie sind riesige, lange eingeschliffene Entscheidungsmaschinen. Pro Tag werden in einer größeren Redaktion ein paar Tausend kleinere und mittlere Entscheidungen getroffen. Um auf der Höhe der Zeit zu bleiben, müssen nun ein paar Hundert anders getroffen werden. Nur welche? Und wie? Das ist die Herausforderung für die Kapitänsetage: einen Tanker auf hoher See in ein anderes Schiff umzubauen.

15.  Du darfst alles verschwenden. Aber nie eine Krise. Für Journalismus ist der Vertriebskanal letztlich irrelevant – die Gesetze der Aufmerksamkeit gelten für Papier wie für Tablets und sogar Smartphones. Auf die Länge gesehen, sind wir alle Online-Journalisten. Die Frage ist, ob und wie man die Institution einer großen Nachrichtenorganisation ins 21. Jahrhundert retten kann. Möglich, dass die Qualität der Arbeit dabei nur eine untergeordnete Rolle spielt: so wie bei vielen untergegangenen Branchen auch. Klar ist aber, dass sich die Chancen zum Überleben wesentlich verbessern lassen: durch Wachheit, cleveres Handwerk und ein wenig Mut. Dieser Beruf ist nicht bis zum Ende erfunden worden.

Darum, geehrte Damen und Herren, dreht sich also dieses Buch: um die Fragen einer zeitgemäßen Haltung im Journalismus, um effizienteres Handwerk, um Organisationsmodelle und wie immer, wenn es ums Schreiben geht, um die Neuerfindung der Welt.

1

Der Rohstoff

1.1  Der Produzent

Journalismus ist ein Existenzialismus

Teufel und Hölle, nach diesem Titel könnte man das Buch eigentlich schon wieder zuklappen. Denn das Wesentliche ist gesagt.

Das Wesentliche ist: Ein Profi recherchiert immer in zwei Richtungen. Nach außen, was die Fakten sind. Und dann nach innen, ins eigene Herz, was diese Fakten bedeuten.

Die zweite Recherche ist seltsamerweise nicht viel unkomplizierter als die erste. Zu wissen, was man eigentlich gesehen hat, ist oft geradezu lächerlich schwierig. Es ist aber unverzichtbar.

Denn die Frage ist jedes Mal, was der Haufen der zusammenrecherchierten Zahlen, Fakten, Statements eigentlich soll. Der neue Chef der indischen Regierungspartei oder der Großbank XY; der neueste Vorstoß dieser oder jener Partei; der örtliche Kaninchenzüchter mit dem rekordgroßen Hasen: All diese Themen in einer Tageszeitung zu bringen, scheint selbstverständlich.

Ist es auch. Immerhin muss die Informationspflicht erfüllt werden. Und die Zeitung gefüllt. Trotzdem stellt sich dem Leser bei jedem dieser Themen die Frage: Was geht es mich an? Und die Antwort lautet bei fast allen Artikeln für neunundneunzig Prozent der Leser: Eigentlich nichts.

Selbst wenn es ihn etwas angeht, ist kaum jemand in der Lage, aus den Informationen irgendeinen praktischen Nutzen zu ziehen oder etwas an der Sache zu ändern.

Das heißt zum Ersten: Wir sind nur offiziell im Informationsbusiness tätig. In Wahrheit sind wir im Zeitverschwendungsgeschäft. Unsere heilige Pflicht ist dieselbe, die auch verwandte Kaffeehausberufe wie Philosophie oder Literatur kennen: das Leben möglichst aufregend mit der Betrachtung desselben zu verbringen.

In der täglichen Praxis bedeutet das: Obwohl der Auftrag für einen Artikel von der Redaktion schon vergeben ist, der Platz in der Zeitung reserviert, das Gehalt dafür schon fast überwiesen, ist die Frage nach Sinn und Dringlichkeit dieses Artikels noch keinesfalls gelöst. Aber was zur Hölle ist dringlich? Hier gibt es nur eine einzige zweifelhafte Instanz, die das beantworten kann: der Mensch, der schreibt. Nicht die Redaktion, nicht irgendwelche Faustregeln, kein Kodex, kein Chef.

Die Frage muss gelöst werden, wenn man gelesen werden will. Der simple Grund dafür ist, dass Kommunikation eine verblüffend einfache Sache ist: Ein Mensch spricht von etwas, was ihm wichtig ist. Und dann hört der andere fast immer zu. Sonst nicht. Ohne Dringlichkeit regiert nur die Höflichkeit des Small Talks: Jemand tut so, als ob er spricht, und ein anderer, als ob er zuhört.

Gerade deshalb muss der Journalist immer von Neuem herausfinden, was ihn an dem Thema ehrlich etwas angeht. Denn ein Artikel, der auch nur einen Leser bewegen soll, muss zuvor seinen Autor bewegt haben. Daher bezieht sich die Meditation, was zum Teufel einen an der Sache etwas angeht, keineswegs nur auf leichte oder subjektive Genres wie Kommentar, Kolumne oder Porträt. Sondern auf alle. Speziell auf die harten und trockenen Stoffe. Also auf Routinedinge wie Pressekonferenzen, auf Folterthemen wie Renten-Debatten, auf komplexe wie die Finanzkrise.

Der größte Feind jedes Journalisten, der gelesen werden will, ist die Konvention. Sie fängt im Deutschunterricht an, mit der klassischen Aufsatzstruktur: Sage, was du sagen wirst – sag es – sage, was du gesagt hast. Und setzt sich dann in Journalistenschulen und der Redaktion fort. Etwa mit den fünf W-Fragen oder der Magazin-Regel mit dem szenischen Einstieg oder der Tageszeitungsregel, das Aktuelle im ersten Absatz zu bringen. All das sind zwar vernünftige Faustregeln. Aber nur für die Fälle, in denen einem nichts einfällt.

In ihrer automatischen Anwendung sind diese Regeln tödlich. Sie bringen jeden Stoff in dieselbe Form. Und vernichten ihn dadurch. Denn egal, um was es geht, alles klingt gleich. Zwar kann niemand protestieren, nicht der Leser, nicht der Schlussredakteur, da alles saubere Arbeit ist. Nur, man verbreitet Langeweile.

Hört man hingegen auf sein Herz, geht es um zwei Dinge: Erstens um den Grundton des Artikels und zweitens um das Finden des wirklichen Inhalts.

Der Ton ist die wichtigste Entscheidung. Nehmen wir das klassische Beispiel: der Kaninchenzüchter-Artikel. Ein Mann hat – und deshalb wird der Journalist hingeschickt – den größten Rammler des Landes gezüchtet. Sie sprechen mit ihm. Und dann fragen Sie sich Folgendes:

Ist das, was Sie gesehen haben, eine Liebesgeschichte: Ein Mann und ein Rammler, ein Herz und eine Seele? Oder eine Tragödie: Ein Mann lebt ein einsames Leben für die Hasenzucht? Oder ein weiteres Kapitel der Bibel: Und siehe, der Mensch macht sich die Erde untertan? Eine Geschichte des mörderischen Ehrgeizes in der neiderfüllten Hasenzüchterszene? Die Geschichte eines wahr gewordenen Traums: Ein kleiner Junge züchtet Hasen, und heute, mit achtundsiebzig, hat er den größten Rammler? Eine technische Frage: Ein Ingenieur, der die Hasenzucht optimiert?

Komödie, Tragödie, Intrige, Kindheitsgeschichte, oder was immer Sie auch hier entdecken: Dies ist der Ton und der Kern der Story. Nicht Herr X und der XY Kilogramm schwere Hase. Sondern das, was Sie darin gesehen haben.

Das gilt auch für sehr kaninchenferne Themen wie, sagen wir, Finanzderivate. Nehmen wir an, Sie wollen über die wertlosen Hypothekenpapiere schreiben, die als angeblich sichere Anlagen verkauft wurden. Was fasziniert Sie daran? Nun, es kann die Art sein, wie heute Verantwortung funktioniert: Sie wird von Hauskäufer zur Hypothekenbank, zum Derivatspezialisten, zum Verkäufer, zum Kunden weitergereicht wie ein Stück Butter – am Ende haben alle fettige Hände, aber die Butter ist nicht mehr da. Oder, da alle am Ende implodierten Derivate ursprünglich als Versicherungsinstrumente erfunden wurden, die alte Geschichte von dem, der alle Mauern seines Hauses gegen den Tod hochzog, der doch längst in seiner Küche saß? Oder, da Physiker die Instrumente entwarfen, die die Banken in die Luft sprengten, die Geschichte vom gemieteten Zauberlehrling? Oder ist es, da die Top-Banker fast alle dasselbe taten, die Farce von einem Rudel kapitalistischer Wölfe, die in Wahrheit eine Herde kapitalistischer Schafe sind? Oder schlicht eine Geschichte des Betrugs an unwissenden Kunden? Oder eine Art Naturkatastrophe, in der die Fluten von nervösem, gierigem Spargeld wie ein Tsunami über den amerikanischen Häusermarkt hergefallen sind?

Natürlich ist es schon Arbeit genug, die gottverdammten Derivate zu verstehen. Und sie verständlich zu erklären. Eine mitreißende Geschichte ist das noch lange nicht. Aber welche ist es dann? Das müssen Sie entscheiden – Ihr Kopf und Ihr Herz. Die recherchierten Fakten sind dabei nur Ihr Rohstoff.

Also: Seien Sie ein eiskalter Profi, und hören Sie auf Ihr Herz.

1.2  Das Produkt

Die letzte exklusive Ware: Komprimierte Zeit

Was bleibt dem klassischen Journalismus als Marktlücke übrig? Nun, es gibt den Traum jeden Teenagers. Dieser unterhält sich mit einer begehrenswerten Frau, einem begehrenswerten Mann – und geht mit dem schrecklichen Gefühl, versagt zu haben: Keinen geraden Satz gesagt, nur Bruchstücke, Gestammel, peinliche Dummheiten.

Und mitten in seiner Erniedrigung träumt der Teenager von ungleichmäßiger Zeit. Dass er oder sie nach dieser und jener Bemerkung der Gegenseite eine Stunde Zeit gehabt hätte, über die richtige Antwort nachzudenken. Um dann die funkelnde Pointe, die kluge Nebenbemerkung oder den perfekten Anmachsatz zu äußern, die dem Teenager jetzt eingefallen ist. Jetzt, wo es zu spät ist, da er längst einsam nach Hause geht.

Nach dieser kurzen Abschweifung zurück zur Eingangsfrage dieses Kapitels: Was zum Henker verkaufen wir eigentlich noch exklusiv? Oder marketingtechnisch formuliert: Was ist heute noch das Alleinstellungsmerkmal, die unique selling proposition, von Journalismus? Denn längst sind nicht nur die Einnahmequellen – allen voran die lukrative Rubrikenwerbung – ins Internet abgehauen. Sondern auch fast alle Exklusivprodukte: erst die News, dann die Kommentarkanzel sowie – last but not least – das öffentliche Debattenforum, das es einst nur in Kneipen und auf Leserbriefseiten gab. All das gehörte über hundert Jahre lang exklusiv uns.

In nur zehn Jahren sind fast alle Verteidigungslinien der Zeitung gefallen. Anfangs gab es zwar noch Polemiken: Man hörte von der sinnlichen Qualität des Papiers und von kalten Computern, von erfahrenen Redaktionen und der chaotischen Desinformation im Netz. Das sind heute alles Argumente alter Männer. Natürlich gibt es im Netz viel Schrott. Aber auch tonnenweise verlässliche Nachrichten, brillante Faktensammlungen und viel zitierte Expertenblogs. Nicht zu sprechen von Dienstleistungen wie Film-, Literatur- und Gastrokritik, die ebenfalls zunehmend vom Netz übernommen werden. Und so sinnlich Papier raschelt – ein iPad hat auch seinen Reiz.

Tatsache ist, dass der Besitzer eines Computers heute so informiert ist wie vor dreißig Jahren nur der damalige DDR-Geheimdienstchef Erich Mielke. Das größte Problem für jeden Rechercheur ist die gigantische Unübersichtlichkeit. Aber genau so war es im Stasi-Archiv auch.

Im Gegenzug hat das Internet jedem einzelnen Journalisten neben der Konkurrenz auch die Freiheit geschenkt: über jedes mögliche Thema zu schreiben. Etwas, was sich bis etwa 1997 nur Starjournalisten von Großzeitungen leisten konnten – etwa die Reporter des Spiegels mit dessen legendärem Archiv. Das Internet hat uns von der Pflicht, uns zu spezialisieren, erlöst. (Das Resultat ist zwar nicht immer vorteilhaft; doch der Beweis der Freiheit ist ja gerade ihr Missbrauch.)

Aber zurück zum Thema: Was also bleibt Zeitungsredaktionen bei der neuen Konkurrenz als exklusive Ware übrig?

Es ist der Teenagertraum.

Denn die Ware im Journalismus ist komprimierte Zeit.

Um das zu verstehen, hilft ein einfaches Rechenbeispiel: Wenn ich als Journalist die grundsätzlichen Fakten für einen Artikel zusammenhabe, rechne ich mit einem Schreibtempo von 1000 Zeichen die Stunde. Diese 1000 Zeichen lesen Sie in knapp einer Minute weg.

Das heißt: Es ist für mich keine große Kunst, etwas cleverer, informierter, verblüffender zu sein als Sie, denn ich habe 60 Mal mehr Zeit, nachzudenken.

Zu dieser Zeit gehört nicht nur das pure Vorwärtsschreiben, sondern gelegentliches Herumträumen, das Streichen von Dummheiten, das Feilen an Pointen. Und in finsteren Momenten sogar der Service, den Text abstürzen zu lassen. Lieber Schweigen als Unfug.

Das Konzept von komprimierter Zeit ist auch der Grund, warum Leute gern lesen: Sie machen ein blendendes Geschäft. In einer Minute haben sie eine Stunde fremde Denkarbeit gewonnen.

Das ist auch der Grund, warum Journalismus nicht beliebig rationalisierbar ist: Je höher der Output des einzelnen Redakteurs, desto korrupter ist die Qualität der Ware. Zugegeben, es gibt helle Momente, in denen man seine Artikel wie diktiert herunterschreibt. Und oft sind das die besten. Aber Inspiration ist Gnade. Die Regel ist sie nicht. (Und die Recherche ist ebenfalls nicht eingerechnet.)

Als Geschäftsmodell versagt das Sweat-Shop-Schreiben. Je mehr sich die Schreib- der Lesezeit annähert, desto überflüssiger, fehleranfälliger, eintöniger ist das Produkt.

Deshalb – so meine erste Prognose – haben Zeitungen langfristig nur eine Chance: die Flucht in die Qualität, also die Investition in zeitraubende Bereiche wie Recherche und Stil. Es werden eher die Rolls-Royces überleben als die Fiats. Eventuell als dünnere Blätter, als Wochenzeitungen oder als teure Zeitungen für die Elite. Denn das letzte Alleinstellungsmerkmal, das sie anbieten, ist konkurrenzlos. Redaktionen sind Manufakturen für komprimierte Zeit: eine organisierte Gruppe von Profis, die zehn Stunden am Tag für nichts anderes bezahlt werden, als sich mit der Welt zu beschäftigen.

Auch Online-Nachrichtenportale werden – so meine zweite Prognose –, spätestens sobald Kunden bezahlen müssen, nicht vermeiden können, erstens weniger Texte zu veröffentlichen, zweitens einen wesentlichen Anteil ihrer Artikel langsamer zu produzieren. Ihr Lesenutzen bei zu großem Tempo tendiert gegen null. (So gewann etwa das US-Online-Magazin Salon zu seiner eigenen Überraschung Leser nach einem Abbau der Artikelzahl.)

Für Zeitungen, die sich erneuern, für Journalisten, die sich etablieren wollen, heißt das Gesetz der komprimierten Zeit: unverschnittene Ware zu liefern. Die richtige Strategie heißt, im Zweifelsfall weniger und konzentrierter zu schreiben.

Alles andere läuft am Produkt und damit am Markt vorbei.