cover.jpg

img1.jpg

 

Nr. 3070

 

Die Physik des Friedens

 

Atlan sucht die Kristallprinzessin – auf einer Welt der Asaran

 

Michelle Stern

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

Prolog: Kristallprinzessin

1. Gefangene

2. Mascant

3. Spielstein

4. THORA

5. Zug um Zug

6. Nach Sisden

7. Akademie

8. Unterhändler

9. Sturmruhe

10. Schlag auf Schlag

11. Hinterher

Epilog: Kristallprinzessin

Stellaris 75

Vorwort

»Linearraum-Rhapsodie« von Michael Tinnefeld

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

img2.jpg

 

Mehr als 3000 Jahre in der Zukunft: Längst verstehen sich die Menschen als Terraner, die ihre Erde und das Sonnensystem hinter sich gelassen haben. In der Unendlichkeit des Alls treffen sie auf Außerirdische aller Art. Ihre Nachkommen haben Tausende Welten besiedelt, zahlreiche Raumschiffe fliegen bis zu den entlegensten Sternen.

Perry Rhodan ist der Mensch, der von Anfang an mit den Erdbewohnern ins All vorgestoßen ist. Nun steht er vor seiner vielleicht größten Herausforderung: Er wurde vorwärts durch die Zeit katapultiert und findet sich in einem Umfeld, das nicht nur Terra vergessen zu haben scheint, sondern in dem eine sogenannte Datensintflut fast alle historischen Dokumente entwertet hat.

Nachdem er in der fernen Galaxis Ancaisin einen Weg fand, die sogenannte Zerozone zu betreten und womöglich eine Fährte Terras zu finden, begibt sich sein Raumschiff RAS TSCHUBAI ohne ihn auf den weiten Rückweg in die Milchstraße. Mit sich nimmt die Besatzung die Erkenntnis, dass die Cairaner, die sich als Herrscher der Heimatgalaxis aufspielen, nichts anderes sind als Flüchtlinge vor einer weitaus schrecklicheren Gefahr: den Phersunen und ihrer Schutzmacht, der »Kandidatin Phaatom«.

In der Milchstraße hat Lordadmiral Monkey von der USO derweil einen Agenten der Phersunen ausgeschaltet. Und Atlan sucht seine Enkelin, die in die Hände der Cairaner zu fallen droht. Dabei geht es keineswegs nur um DIE PHYSIK DES FRIEDENS ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Jasmyne da Ariga – Eine Kristallprinzessin wird zum Lockvogel.

Monkey – Der Lordadmiral liefert Beweise.

Atlan – Die arkonidische Legende folgt einer deutlichen Fährte.

Gucky – Der Mausbiber sieht sich als Eingreifreserve.

Prolog

Kristallprinzessin

 

Ich bin Jasmyne da Ariga.

Bin ich damit die Erbin des Kristallthrons?

Viele sehen in mir das Inbild von Arkons Stolz: eine Chance, wieder zur alten Pracht zurückzukommen, an eine Zeit anzuknüpfen, die im Atopischen Tribunal und in den Wirren des Weltenbrands unterging. Sie verbinden den Klang meines Namens mit dem Kristallpalast, Trinkkelchen voll erlesenem Wein und einem Thron, der diese Bezeichnung auch verdient.

Andere dagegen betrachten mich als Bedrohung, als Querulantin, die vor allem das Potenzial hat, das Gefüge der Baronien auseinanderbrechen zu lassen und Arkon damit selbst den letzten Rest seiner einstigen Größe zu nehmen.

Es gibt Gerüchte, die behaupten, ich wäre ein Werkzeug der Cairaner – und die Cairaner verfolgten mit mir das Ziel, das Gefüge der Milchstraße zu destabilisieren.

Ich kenne die Wahrheit nicht. Wenn ich danach greife, flieht sie. Sie flattert davon wie ein launischer Schmetterling, der Besseres zu tun hat, als den Nektar der Erkenntnis zu sammeln.

Wer bin ich? Eine Glanzgestalt? Die Galionsfigur, die einem Schiff vorauseilt, die Wellen teilt und ihren Weg durch das Meer findet?

Oder bin ich Glitter, Traumstaub, eine Illusion? Wie lange halte ich mich versteckt?

Wer bin ich? Wenn ich darüber nachdenke, verschwimmt alles. Doch eines weiß ich: Es ist nicht so wichtig wie das, was ich will. Ich kann mehr als ein Spielstein sein, den andere ziehen. Ich bin vom Blute Atlans da Gonozal – und ich gebe nicht auf.

1.

Gefangene

28. Mai 2046 NGZ

 

Jasmyne da Ariga erwachte. Schwäche breitete sich in ihrem Körper aus. Sie fühlte sich müde und zerschlagen, als hätte sie Nächte durchtanzt. Sie musste in einem Bett liegen, doch es war kein Bett, das sie kannte. Auch die Kleidung, die sie trug, war ihr fremd: ein dünnes, leinenartiges Hemd mit langen Ärmeln, in dem sie sich vorkam wie eine Bittstellerin. Es lag eng an, wärmte leicht.

Vorsichtig betastete sie ihren Kopf. Die Haare waren nach wie vor frisiert, niemand hatte sie angerührt. Zum Glück. Sie liebte ihre langen Haare, hätte sich nicht von ihnen trennen wollen.

Was genau war geschehen? Dunkel erinnerte Jasmyne sich an den großen, breitschultrigen Mann, diesen glatzköpfigen Oxtorner, und seine Begleiterin mit den schockblauen Augen und dann – dann war etwas passiert. Jemand hatte sie getäuscht, sie ... entführt.

Jasmyne wollte sich aufsetzen, doch ihr war übel, und der dunkle Raum drehte sich um sie, als säße sie im Inneren einer hangabwärts rollenden Kugel. Es dauerte mehrere Minuten, bis die Empfindung nachließ und sie es schaffte, sich nach oben zu stemmen.

Dabei dachte sie an Ohm Shanlittar, der sie in den letzten Jahren treu begleitet und ihr den Kristallkuss gegeben hatte, wann immer es notwendig gewesen war. Sie vermisste diese Berührung. Wehmütig erinnerte sie sich an das lieb gewordene Ritual, das ihr Leibarzt und Vertrauter ausgeübt hatte. Nun war sie allein, ihr Ohm tot – wie viel Zeit blieb ihr? Eigentlich wäre es klug gewesen, sich zu schonen, Kräfte zu sparen, doch Jasmyne wollte mehr über ihre Lage herausfinden.

Wo war sie? Wer hatte sie entführt? Und vor allem: Was hatten die Unbekannten mit ihr vor?

Gegenüber dem Bett gab es ein Fenster, das sie anzog wie ein Magnet. Sie schob die Decke fort, stand schwankend auf und tastete sich an der Wand entlang, um sich abzustützen. Ihr Atem ging schwer. Jeder Schritt kostete Kraft, doch es wurde auch mit jedem Schritt ein wenig leichter. Ihr Körper erinnerte sich an Zeiten, in denen es ihr besser gegangen war. Endlich erreichte sie die nachtdunkle Scheibe.

Träumte sie? Der Ausblick ergab keinen Sinn. Sie schaute hinaus in die Finsternis. Es gab weder einen Himmel, noch einen Boden. Hatte man sie auf ein Raumschiff gebracht? Falls ja, wo waren die Sterne geblieben? Befanden sie sich im Innern einer Art Wolke?

Eines immerhin war ihr vertraut: das Hochsicherheitsglassit, aus dem die Scheibe gefertigt war. Irgendwie war dieses Material wie ein Sinnbild für ihr Leben. Es grenzte sie ab, sollte sie angeblich schützen. Jedenfalls früher. Aber nun ...

Sie war eine Gefangene, mehr denn je.

»Deine Biowerte sind grenzwertig«, ertönte eine unbeteiligt klingende Stimme. »Du solltest dich wieder hinlegen.«

Eine Positronik. Jasmyne drehte sich zum Raum um, erkannte jedoch nichts als das schmale Bett und die Umrisse eines schlichten Tischs, vor dem ein Sitzhocker stand. »Wo bin ich?«

»Diese Frage kann ich nicht beantworten.«

»Kannst oder darfst du nicht?«

Eine kurze Pause, als wäre ihr gegenüber ein Arkonide und keine Maschine. »Es verstößt gegen meine Programmierung.«

»Was darfst du mir sagen?«

Wieder diese Pause. »Ich überwache deine Biowerte. Du bist schwach. Wenn du nicht schlafen möchtest, solltest du trinken und essen.« Ein kleines Licht unter der Tischplatte ging an und erleuchtete den Stuhl und den Boden. Auf einer weißen Platte lag Obst. Ein hübscher, geschliffener Kelch schien Wasser zu enthalten.

Jasmyne spürte, wie trocken ihre Kehle war. Sie hätte gerne etwas getrunken. »Sag deinen Herren, dass ich weder essen noch trinken werde, ehe ich nicht Antworten erhalten habe.«

»Ich kann diese Androhung nachvollziehen. Du versuchst Druck auszuüben. Das ist nicht zielführend. Falls du kollabierst, werde ich dich zwangsernähren lassen.«

Eine erschreckende Aussicht. Jasmyne schluckte. Noch war sie nicht bereit, einzuknicken. Sie befürchtete, dass in den dargebotenen Speisen und Getränken Medikamente waren, die sie schläfrig machen würden. »Wer hat mich entführt? Und warum?«

Die Positronik schwieg, doch Jasmyne erinnerte sich an einen weiteren Namen: Atlan da Gonozal – ihr ... Vater? Hatte man sie entführt, um an ihn heranzukommen? Lange Zeit hatte sie sich versteckt, war ihr Aufenthalt auf Arkhamtar ein Geheimnis gewesen. Offensichtlich war dieses Geheimnis mittlerweile gelüftet worden.

Die Erkenntnis schmerzte wie der Biss einer Flugschlange: Sie sollte Atlan an diesen Ort locken! Sicher war das der Grund, der hinter ihrer Entführung steckte. Doch würde der unsterbliche Arkonide überhaupt kommen? Er musste wissen, dass es eine Falle war. Weshalb sollte er hineinspazieren für eine Frau, die ihm als seine Tochter vorgegaukelt wurde und die tatsächlich seine Enkelin war?

Was hätte sie an Atlan da Gonozals Stelle getan? Wäre sie gekommen? Vermutlich nicht. Jasmyne würde sich ihr Tun nicht derart aufzwingen lassen. Wie viel bedeutete ihrem Großvater ihr Leben?

Sie wollte sich an ihn erinnern, sein Bild im Gedächtnis heraufbeschwören – doch da waren nur Holobruchstücke aus Aufzeichnungen, nichts Privates. Das von weißen Haaren eingerahmte Gesicht mit den roten Augen war ihr fremd wie der Raum, in den man sie gesperrt hatte. Wie die Erinnerungen daran, Jasmyne da Ariga, seine Tochter, zu sein. Die Fälschungen.

»Dein Herzschlag hat sich beschleunigt«, informierte die Positronik. »Du überanstrengst dich. Geh zurück ins Bett!«

Jasmyne blieb am Fenster stehen. Sie legte ihre Hand auf das Sicherheitsglassit. Es war kühl. Vielleicht lebte sie gerade ihre letzten Tage. Sie würde sich nicht von einer Positronik vorschreiben lassen, wie sie diese verbrachte.

2.

Mascant

29. Mai 2046 NGZ

 

Das silbrige, bleigraue Schimmern vor der TARTS im Weltraum erstreckte sich wie eine gigantische, unheilvolle Linse, in der sich die Realität brach. Die sogenannte Bleisphäre war eine Zone, wie es meines Wissens keine Zweite in der Milchstraße gab. Vielleicht nicht einmal im uns bekannten Universum.

Was genau hinter diesem Phänomen steckte, wussten wir nach wie vor nicht. Es war eine fünfunddreißig Milliarden Kilometer durchmessende Preisfrage.

Die Sphäre ließ keine Analyse zu. Sie blieb undurchschaubar, erlaubte keinen Einblick, ebenso wenig wie die Raumer der Ladhonen und der Naats, die unsere Schiffe mit hochgefahrenen Schutzschirmen belauerten.

Wir wussten nicht mit Sicherheit, woran wir waren – weder mit dem rätselhaften Phänomen noch mit der Lage vor Ort.

Die TARTS bewegte sich im Orbit der Bleisphäre, zog ihre Bahn unter den Messgeräten der anderen Parteien. Es war ein kalter Krieg, eine hoch gespannte, explosive Atmosphäre, die keinen Augenblick der Unachtsamkeit erlaubte.

Auf dem Holo zeigten sich sowohl die Schiffe der Ladhonen und Naats als auch die Bleisphäre als bedrohliche, unberechenbare Elemente. Besonders in der Nähe der Grenzschicht wartete das linsenförmige Kraftfeld mit allerlei Überraschungen auf. Es konnte zu Realitätssprüngen kommen. Die Werte waren nach wie vor entweder chaotisch oder nicht anzumessen.

Aktuell erlebten wir die Phase der De-Realisation – erkennbar daran, dass die Hyperortung versagte, sobald wir zu nahe herankamen.

Gucky balancierte neben mir eine getrocknete Möhrenscheibe auf dem Zeigefinger. Er hatte die kurzen Beine in eine automatisch entstandene Mulde auf der Sessellehne gelegt. Trotz seiner legeren Haltung fiel die Scheibe nicht; sie blieb mit gelassener Selbstverständlichkeit liegen. Vermutlich half der Ilt telekinetisch nach. Sein Fell war leicht aufgeplustert, die dunklen Augen starr vor Konzentration. Seine Stimme dagegen klang, als kostete ihn sein Spiel keine besondere Mühe. »Und? Neue Erkenntnisse?«

img3.jpg

Illustration: Swen Papenbrock

»Du weißt genau, dass die Beschaffenheit der Bleisphäre unbekannt ist.«

»Ich meine nicht die Bleisphäre, sondern dich. Was hast du vor, Kristallmascant?«

Für Guckys Verhältnisse war diese Anrede weit weniger spöttisch als üblich – Mascant war ich immerhin tatsächlich, und der Zusatz Kristall sollte mich an meine derzeitige Situation erinnern – an Jasmyne da Ariga, die Kristallprinzessin, von der mir Lordadmiral Monkey berichtet hatte.

Ich kniff die Augen zusammen. »Gar nichts.«

Gucky umschloss die Möhrenscheibe mit der anderen Hand. »Gar nichts? Wirst du auf deine alten Tage lethargisch? Monkey sagt dir, dass die Cairaner es irgendwie geschafft haben, deine Enkelin aufzutreiben, von der du nichts geahnt hast, und sie als Köder namens Jasmyne da Ariga in eine riesige Falle für Arkonidenhäuptlinge zu stecken ... und du tust ... nichts?«

»Wenn die Cairaner wirklich wollen, dass ich Jasmyne da Ariga hinterherjage, werden sie auch dafür sorgen, dass ich ihr auf die Spur komme.«

»Erwartest du, dass sie dir eine Einladung schicken?«

»Etwas in der Art. Der Friedensbund braucht mich.«

»Ich würde ja sagen, da kannst du warten, bis deine Zotteln weiß werden, aber ...« Der Ilt ließ den Satz unvollendet. Seine freie Hand deutete vage in die Richtung meiner silberweißen Haare.

»Was schlägst du vor? Kannst du Jasmyne da Ariga etwa espern? Wir haben keine Ahnung, wo sie sich aufhält, aber die Entführer wissen, wo ich bin. Genau deswegen werde ich mich nicht wegbewegen, bis sie mich kontaktieren.«

»Dein Plan ist verdammt langweilig.«

»Immerhin habe ich einen Plan. Du jammerst, als hätte man dir vergorenen Möhrensaft angedreht. Wenn dir so langweilig ist, recherchier mal über Ilt-Diäten. Ich glaube, du hast in den letzten Wochen ganz schön zugelegt. Nicht, dass du demnächst einen Zweitteleporter brauchst, um dich selbst teleportieren zu können.«

Gucky plusterte sich auf. »Zugelegt? Begleitetes Teleportieren? Wenn du Bully wärst, würde ich dich für diese Frechheit eine Runde fliegen lassen!«

»Mein Glück, dass ich Atlan bin.«

Der Ilt wollte noch mehr sagen, doch ein feines Summen unterbrach unser Gespräch.

Schlagartig kippte die Stimmung in der Zentrale von angespannter Aufmerksamkeit zu Aktivität.

»Ortung!«, stieß Mava da Valgathan hervor. »Ein fremdes Schiff! Schutzschirme aktiv! Kennung unbekannt!«

Die Kommandantin der TARTS war damit Ortungsoffizier da Turonn zuvorgekommen, der derzeit Schicht hatte. Sie wirkte äußerlich gelassen, doch sie beobachtete die Holos schon seit Stunden mit einer beeindruckenden Konzentration.

»Etwas aus der Bleisphäre?«, fragte ich.

»Negativ«, kam es von da Turonn. »Es ist ein Schiff der Asaran, jedenfalls der Bauart nach.«

»Kontaktaufnahme?«, fragte Mava da Valgathan.

»Sie senden eine Botschaft. Sie ist für den Mascanten bestimmt.«

»Laut stellen!«, befahl die Kommandantin.

Eine Stimme auf Interkosmo hallte durch die Zentrale. »Dies ist eine Nachricht für Atlan da Gonozal. Wir haben Jasmyne da Ariga – seine Tochter. Falls ihm an ihr gelegen ist, können wir sie ihm unter gewissen Umständen überlassen. Wir sind bereit, in Verhandlungen zu treten. Treffpunkt ist der Planet Sisden. Wir erwarten da Gonozals Ankunft bis zum dritten Juni.«

Die Nachricht endete.

»Ist das alles?«, fragte Gucky. »Keine Todesdrohung? Nicht mal ein Säbelrasseln? Und nicht mal arkonidische Zeitrechnung? Wo sind die guten alten Zeiten hin?«

Da Turonn machte ein Gesicht, als wäre er schuld am Inhalt der Nachricht. »Mehr haben wir nicht empfangen.«

»Nicht mal die Entführer von heute sind mehr das, was sie mal waren«, grummelte der Ilt.

Auf dem Holo hatten sich die TARTS ebenso wie die Raumer der Ladhonen und Naats in Bewegung gesetzt, um den Asaranraumer zu jagen – doch das fremde Schiff war fort. Es hatte sich direkt nach dem Absetzen der Botschaft aus dem Staub gemacht. Ich war sicher, dass wir im Normalraum keine Spur mehr von ihm finden würden. Ich befahl: »Positronik, zeig uns Sisden!«

Statt der Bleisphäre präsentierte das Holo einen von vierzehn Planeten im Fadrasystem.

»Wer sind die Asaran?«, fragte Mava da Valgathan.

Ich erwartete, dass mein Logiksektor auf die Frage ansprang und mir Daten und Fakten dozierte, doch ich wartete vergeblich. Offensichtlich lagen meiner logischen, besserwisserischen Hälfte in diesem Fall keine Informationen vor, sonst hätte der Extrasinn seine Chance genutzt.

Die Positronik der TARTS sprang ein. »Bei den Asaran handelt es sich um ein vage humanoides, jedoch nicht von Lemurern abstammendes Sternenvolk, das vor etwa dreihundert Jahren auf der galaktischen Bühne aufgetaucht ist und dann von den Cairanern gefördert wurde.«

»Eine Falle«, sagte Gucky. »Was sonst? Sie wollen dich in ein Schlangennest locken. Direkt in cairanisches Einflussgebiet.«

Ich lächelte verkniffen. »Wie Schlangen sehen diese Gesellen eher nicht aus.«

Das Holo zeigte das Bild eines eineinhalb Meter großen, zierlichen Wesens mit überproportional großem Kopf, der auf einem kurzen Hals saß. Das Wesen legte den Kopf zur Seite und demonstrierte die Dehnbarkeit der Muskeln, indem es mit der Wange das Schlüsselbein berührte. Der ockergelbe, mehrfach gefaltete Hörkamm auf der Schädelmitte senkte sich dabei wenige Zentimeter in Richtung der flachen Nase. Unter den Linsenaugen sprang das Kinn prominent hervor. An seinem Ende saß eine von Zierrinnen durchzogene, bronzefarbene Schmuckkappe, die im Licht blitzte.

»Die Asaran sind dreigeschlechtlich«, informierte die Positronik. »Sie behandeln allerdings sämtliche sexuellen Dinge außerordentlich diskret. Ansonsten ist ihr Verhalten eher von Neugier, Unternehmungslust und Weltoffenheit geprägt. Regeln befolgen sie eher widerwillig, allerdings haben sie mit der Lemurischen Allianz einen losen Kooperations- und Beistandspakt geschlossen.«

Das Bild wechselte und zeigte mehrere Asaran, die sich in einem Raumschiffskorridor erstaunlich schnell an schwingenden und gespannten Seilen bewegten. Dafür nutzten sie neben den Händen ihre Fußklauen. Schuhe trug keiner von ihnen, lediglich eine Art offenes Band, das mehrfach um die Fußmitte gewickelt war.

Ich war überrascht, dass ich mich an dieses Volk überhaupt nicht erinnern konnte, trotz vieler Nachrichten und Berichte, die ich seit meiner Ankunft in dieser Zeit verfolgt hatte. Die Asaran mussten im galaktischen Geschehen bisher wirklich sehr untergeordnet gewesen sein.

»Ist Sisden ihr Heimatplanet?«, hakte ich nach. Ob sie es waren, die Jasmyne da Ariga gefangen und versteckt hielten? Als Schützlinge der Cairaner musste ich davon ausgehen, dass sie mit ihnen einen Bund geschlossen hatten.

»Die Asaran stammen ursprünglich vom Sauerstoffplaneten Sasar im Shiringsystem, das an der Grenze zum Halo liegt.«

Das ist weit abgeschieden rund fünftausend Lichtjahre oberhalb der Northside, meldete sich mein Extrasinn, der offenbar seine Stimme wiedergefunden hatte. Die Entfernung zum Solsystem beträgt 30.765 Lichtjahre und ...

... mehr als 15.800 nach M 13, unterbrach ich ihn. Er schwieg verblüfft, was mir wie ein persönlicher Sieg vorkam. Tatsächlich hatte ich die Daten erst vor wenigen Stunden im taktischen Übersichtsholo gelesen, irgendwie musste ich mir die Zeit im Orbit der Bleisphäre ja vertreiben.

»Ich habe schon Asaran gesehen«, sagte Gucky. »Wenn auch eher ... äh ... in Gedankenbildern von ... äh ... Leuten. Sie kamen mir unbekannt vor, deswegen habe ich mal dezent nachgeforscht, während andere Herrschaften anderweitig beschäftigt waren und mir keine adäquaten Herausforderungen anbieten konnten. Aber ich will nicht abschweifen.

Vereinzelt sind Asaran fast überall in der Milchstraße anzutreffen. Die Cairaner protegieren sie angeblich. Soweit ich weiß, bezeichnen sie ihren Staat als Weltenbündel. Sie haben Linearraumtriebwerke – garantiert nicht allein entwickelt. Ihre ersten Experimente mit dem Linearraumantrieb waren eine Katastrophe ...«

Allmählich wurde ich ungeduldig. »Können wir den Geschichtsunterricht abschließen? Ich brauche eine verschlüsselte Hyperfunkverbindung zu Reginald Bull.«

Während ich auf die Verbindung wartete, stellte ich eine Anfrage an den arkonidischen Geheimdienst, um mehr über Sisden und die Asaran zu erfahren.

Es dauerte keine zwei Minuten, bis ich die Verbindung bekam, die ich wollte. Das war ein Vorteil meines Amtes. Mehr dem Glück als meiner aktuellen Stellung zuzuschreiben war hingegen, dass Reginald Bull auch umgehend Zeit fand und die Verbindung fast sofort annahm.

Knapp skizzierte ich Reginald die Lage und kam auf den Punkt, der mir wichtig war: »Mit der TARTS will ich nicht in den Orbit von Sisden einfliegen. Es würde zu viel Aufmerksamkeit erregen. Außerdem wird das Schiff bei der Bleisphäre gebraucht.«

»Du willst nach Sisden«, fasste der Resident der Liga zusammen, »hast aber kein Geld für ein Taxi?«

Ich würde diesen terranischen Humor nie ganz verstehen. Ich beschloss, nicht darauf zu reagieren. »Ich hätte gerne eine kleinere, aber technisch avancierte Einheit, die weniger auffällt.«

»Du bist dir auch ganz sicher im Klaren darüber, dass das eine Falle ist, oder? Du klingst nicht unbedingt so.«

»Jepp!«, rief Gucky. »Was ich sage! Genau, was ich sage. Die wollen Atlan einsacken.«

Reginald zog die Augenbrauen zusammen. »Ich bin gegen eine solche Minimallösung. Wenn du wirklich nach Sisden willst, nimm die THORA.«

Die THORA war das Flaggschiff der Liga – einer der wertvollsten Raumer der Gegenwart. Ich hob abwehrend die Hände. »Gerade weil es eine Falle ist, solltest du mir nicht dein kostbarstes Schiff anvertrauen. Es ist meine Enkelin, nicht deine.«

»Es geht nicht nur um dich. Jasmyne da Ariga ist nicht irgendwer. Sie hat zumindest theoretisch Anspruch auf einen Thron – oder könnte zumindest den Anschein erwecken, dass es so wäre. Die Lage in den Baronien ist ohnehin ein Pulverfass mit kurzer Lunte. Wir müssen da Ruhe reinbringen. Ganz davon abgesehen: Wenn es um Shinae ginge, würde ich auch mit keinem anderen Schiff als der THORA losziehen wollen.«

»Wir kennen diese Jasmyne da Ariga nicht einmal, ich habe sie nie gesehen.« Ich klang kalt, unbeteiligt. Tatsächlich fühlte ich etwas anderes, und meine Freunde spürten das auch. Ich hatte keinesfalls vor, sie im Stich zu lassen. Sie war meine Enkelin. Und eine Frau in Not. Und ein eventueller Machtfaktor in einer schwierigen Zeit. Ich konnte nicht anders, persönlich, sozial, politisch. Mein Charakter, mein Herz und mein Verstand ließen das nicht zu. Ich würde Jasmyne da Ariga nicht ohne Not ihrem Schicksal überlassen.

Und genau das wissen auch deine Feinde, kommentierte der Extrasinn. Deswegen wäre es angebracht an dieser Stelle entgegen deinen Überzeugungen zu handeln.

Gucky drehte den Sessel in meine Richtung. »Klar. Wir wissen nicht, was es mit Jasmyne tatsächlich auf sich hat. Vielleicht ist sie ein Geschöpf aus der Retorte, lag Jahrhunderte auf Eis oder ist irgendetwas ganz anderes, das wir uns bisher gar nicht vorstellen können. Aber Monkey war bei ihr. Sie ist zunächst und vor allem eine Arkonidin, die in dem Glauben aufwuchs, dass du ihr Vater wärst und nun erfahren hat, dass euch eine weitere Generation trennt. Sie selbst kann vermutlich am wenigsten für ihre Lage, wie immer sie hineingeraten sein mag.«

»Das sehe ich ähnlich.«

»Du nimmst die THORA«, beharrte Reginald. »Es gibt in Kürze einen Kongress auf Sisden. Das Thema lautet: die Physik des Friedens. Die THORA ist ohnehin in wenigen Tagen in der Northside auf diplomatischer Mission. Sie könnte offiziell Vertreter der Liga zu den Diskussionen in den Akademien von Sisden bringen. Es wäre nicht das erste Mal. Hin und wieder hat die Liga sich an diesem Austausch beteiligt.«

»Du weißt, dass du damit die THORA zur Zielscheibe machst. Jasmynes Entführer werden sich denken können, dass ich an Bord bin.«

Gucky machte eine einladende Geste mit den Armen. »Dann müssen wir eben von Bord teleportieren, ehe wir richtig angekommen sind. Du hast den Retter des Universums an deiner Seite. Nutz das!«

»Das werde ich.« Beiläufig prüfte ich die Anfrage beim arkonidischen Geheimdienst. Die Kralasenen und der diplomatische Dienst der Baronien bestätigten mir, was ich bereits vermutet hatte: Weder Sisden noch die anderen von den Asaran besiedelten und bewohnten Welten waren von militärischem Belang. Eine Gefahr war noch nie von ihnen ausgegangen.

»Dann ist es abgemacht«, sagte Reginald. »Die THORA geht nach Sisden.«

 

 

Zwischenspiel

Tomopat