Abschied von der Jugend

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Der Tag war grau, es wollte nicht hell werden. Am Fenster der Schlafstube stand Karl Siebrecht, sah hinaus in den kleinen Garten, dessen kahle Bäume von immer neuen Stößen des Novemberwindes erzitterten, sah über den Garten fort, zu der Rückseite des Wedekindschen Hauses ... Hinter ihm packte Minna Anzüge und Wäsche in einen Reisekorb. Sie hielt eine Hose aus gelblichem geripptem Samt in die Höhe und sagte: »Dann ist da noch Vaters Manchesterhose, die ist noch ganz gut. Wenn du ein bißchen wächst, wird sie dir passen!«

»Pack bloß nicht zuviel ein, Minna!« rief, ohne sich umzuwenden, der Junge ungeduldig. »Was soll ich mit all dem Zeug?«

»Es ist schon nicht zuviel Zeug da, Karl!« antwortete Minna trübe und legte die Hose in den Korb. Sie griff nach einem Stoß Wäsche.

Der Junge hielt in der Handfläche verborgen einen kleinen runden Taschenspiegel. Von der kahlen, leeren Rückwand des Pastorenhauses sah er ungeduldig empor zum vorwinterlichen Himmel, auf dem sich graue, lockere Wolken jagten. Er flehte um eine, um eine halbe Minute Sonnenschein ...

An seinem Stehpult, mit der Ausarbeitung der Sonntagspredigt beschäftigt, stand der Pastor Wedekind – ihm fuhr der im Spiegel gefangene Sonnenstrahl zuerst blitzend ins Auge. »Da ist doch wieder dieser infame Bengel mit seinem Taschenspiegel zugange!« rief er, empört auffahrend. »Und so was am Tage, nachdem wir seinen Vater zur Ruhe geleitet haben!«

Der Sonnenfleck war schon über die Stubendecke fortgetanzt, er glitt, von dem mißbilligenden Blick des Geistlichen verfolgt, am Kachelofen hinab und blieb einen Augenblick auf der Stirn der Frau Pastor ruhen. Sie schlug nach ihm, als sei er eine lästige Fliege. »Erika!« rief der Geistliche entrüstet. »Erika! Sofort gehst du – –«

Den Geistlichen, der zwischen Fenster und Tisch getreten war, traf ein zweites Mal das Licht des Novembertages, diesmal bestrahlte es die fleischige Backe. Er fuhr mit dem Kopf zurück, und der goldene Fleck ließ sich auf der Tischplatte nieder, gerade vor Erikas häkelnden Händen. Er zitterte ein wenig hin und her, schob sich nahe an die Hände heran, berührte, vergoldete, umspielte die Finger – – »Sofort gehst du in das Siebrechtsche Haus und sagst dem infamen Bengel, daß ich mir diesen Unfug verbitte – ein für allemal! Ich sei empört, daß er heute, an einem solchen Tage – ich meine, nach einem solchen Tage – –«

»Jawohl, Papa!« sagte Erika und löste mit einem leichten Bedauern ihre Hände aus dem Lichtgruß. Sie ging zur Tür.

»Aber in zwei Minuten bist du wieder hier!« befahl die nicht ganz so ahnungslose Mutter.

»Jawohl, Mama!«

»Ach nein, laß mich lieber selbst gehen!«

Doch war Erika schon aus der Stube. Leise und eilig lief sie die Treppen hinunter, trat in den winderfüllten Garten, schwang sich, ihre langen Röcke rücksichtslos raffend, über das Mäuerchen, das die beiden Gärten trennte, und lief durch den Siebrechtschen auf den Schuppen zu, in dem sowohl spärliches Gartengerät verwahrt wurde, als auch den Hühnern mit Stangen und Nestern eine Stätte des Verweilens bereitet war.

Nicht nur den Hühnern. Denn als sie in das halbe Dunkel hineinfragte »Karl?«, antwortete er sofort: »Ria!«, und der Freund zog sie an der Hand zu einer Karre. »Setz dich, Ria! Ich habe direkt zu Gott gebetet, um einen Moment Sonne! Ich glaube ja sonst nicht an Gott, aber diesmal –«

»Diesmal hast du Vater schön wütend gemacht! Ich soll dir sagen ...«

»Laß ihn! Es war das letztemal, Ria!« Mit einer gewissen Feierlichkeit wiederholte der Junge: »Es war das letztemal. Ich gehe fort, Ria! Ganz fort!«

»Du, Karl? Warum denn – –? Wer soll mir dann meine Schularbeiten machen?! Ich bleibe bestimmt zu Ostern kleben! Bleib doch hier, Karl, bitte!«

»Ich muß fort, Ria! Ich gehe nach Berlin!«

»Ach, Karl, warum denn? Hier ist es doch auch ganz schön – manchmal –!«

»Ich will was werden, Ria!«

»Und wenn ich dich bitte, Karl?! Bleib hier, Karl! Ich bitte dich!«

»Es geht nicht, Ria, es muß sein!«

Einen Augenblick schwieg sie, auf ihrer Karre hockend. Er, vor ihr stehend, zu ihr niedergebeugt, sah gespannt in ihr dämmriges, doch helles Gesicht. Dann stampfte sie mit dem Fuß auf. »Also geh, geh doch in dein olles Berlin!« rief sie zornig. »Warum gehst du denn nicht? Ich bin froh, wenn du gehst! Du bist genauso ein ekliger Junge wie alle andern!«

»Aber, Ria!« rief er ganz bestürzt. »Sei doch nicht so! Versteh doch, daß ich fort muß! Hier kann ich nie etwas werden!«

»Ich muß gar nichts verstehen! Du willst wohl bloß weg, weil du uns alle über hast, mich auch – und ich habe gedacht, du möchtest mich ein bißchen gern ...« Bei den letzten Worten versagte ihr fast die Stimme. Sie sprang von ihrer Karre auf und zog sich tiefer in das Dunkel des Schuppens zurück, damit er nicht ihre Tränen sehen sollte. Sie scheuchte eine Henne von ihrem Nest auf, die mit lautem Protest gackernd aus der Tür flüchtete.

Karl Siebrecht hatte ihre Hand gefaßt und streichelte sie ungeschickt. »Ach, Ria, Ria«, bat er. »nimm es doch nicht so! Ich muß doch wirklich fort. Hier sollte ich Hausdiener im Hotel Hohenzollern werden.«

»Das tust du nicht, Karl, unter keinen Umständen!«

»Und ich will doch viel werden, und dann komme ich wieder.«

»Dauert es lange, bis du wiederkommst?«

»Es dauert wohl seine Zeit, Ria – ziemlich lange!«

»Und dann, Karl –?«

»Dann frage ich dich vielleicht etwas, Ria ...!«

Pause. Dann sagte das Mädchen leise: »Was willst du mich denn fragen, Karl?«

Er wagte es nicht. »Es ist noch so lange hin, Ria! Erst muß ich etwas geworden sein.«

Und sie, ganz leise flüsternd: »Frag es doch schon jetzt, Karl. Bitte!«

Er zögerte. Dann zog er vorsichtig etwas aus der Innentasche seines Jacketts. »Weißt du, was das ist?«

»Was soll das sein?«

»Das ist eine von den Blumen, Ria«, sagte er feierlich, »die du in Vaters Grab geworfen hast. Ich nehme sie mit nach Berlin und werde sie immer bei mir tragen!«

Der Wind jagte mit Schnee vermischten Regen zur Türöffnung herein. Sie drängte sich enger an ihn, sie flüsterte angstvoll: »Das ist doch eine Totenblume, Karl!«

»Aber ich habe sie von dir, Ria, sie bringt mir bestimmt Glück! Und hier habe ich einen kleinen Ring von meiner Mutter – willst du den nicht tragen, Ria, damit du immer an mich denkst?!«

»Ich darf doch keinen Ring von dir tragen. Vater würde es nie erlauben!«

»Du kannst ihn tragen, wo dein Vater ihn nicht sieht. Ich trage deine Blume auch auf dem Herzen!«

Sie schwiegen eine Weile. Dann flüsterte sie: »Ich danke dir für den Ring, Karl. Ich will ihn immer tragen.«

Und wieder Schweigen. Nahe sahen sie sich in die blassen Gesichter, ihre Herzen klopften sehr. Nach einer Weile flüsterte Siebrecht: »Möchtest du mir wohl einen Kuß zum Abschied geben, Ria?«

Sie sah ihn an. Dann hob sie langsam die Arme und legte sie sachte um seinen Hals. »Ja ...« flüsterte sie.

Krachend warf der Wind die Tür des Schuppens ins Schloß, gerade vor dem nahenden Pastor Wedekind, der in Sturm, Regen und Schnee seine Tochter suchte. Er rüttelte an der Tür. Mit Mühe öffnete er sie gegen den Winddruck und rief in den dunklen Schuppen. »Bist du hier, Erika?« rief er.

Der Junge, im Dunkeln das Mädchen im Arm, trat mit dem Fuß nach den Nestern. Laut gackernd flatterte eine Henne auf und torkelte gegen den geistlichen Herrn. Eine andere Antwort gab der Schuppen nicht.

 Alles am Ende

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»Wat is denn nu los –?« fragte Rieke Busch fassungslos. Schon eine ganze Weile hatte sie das Poltern auf der Treppe gehört, aber sie hatte nicht darauf geachtet. Sie war damit beschäftigt gewesen, nach der Küche den Vater ein wenig in Ordnung zu bringen. »Wat is denn nu los –?!« fragte sie, als die beiden Jungen wieder mit der Maschine in die Küche hereinkamen.

Karl Siebrecht sagte finster: »Sie nehmen die Maschine nur, wenn wir eine Bescheinigung bringen, daß sie uns auch gehört. Zu deutsch also eine Quittung von Hagedorn.« Er warf sich auf einen Stuhl, streckte die Beine von sich und starrte vor sich hin.

»Das ist 'ne komische Maschine«, sagte Kalli Flau und wärmte über der Herdplatte seine froststarren Hände. »Haben sollt ihr sie nicht, und loswerden könnt ihr sie auch nicht. Unser Käpten von der ›Emma‹ – das ist so 'n Trawler, Rieke – sagt immer: die Fische, die man fängt –«

»Halts Maul, Kalli!« schnauzte Karl Siebrecht.

»Jawohl, Karl ...! Die Fische, die man fängt, sind zu klein, und die großen zerreißen das Netz –«

»Halts Maul, Kalli!«

»Im Moment, Karl. – Wozu fängt man eigentlich Fische?«

»Und wat nu, Karl?« fragte Rieke.

»Ja, wat nu, Rieke?« äffte er ihr nach.

Und dann wurde es endgültig still in der Küche. Lange, lange war es still. Langsam wurde es dämmrig, dann schneller dunkel. Karl Siebrecht saß auf seinem Stuhl und schien vor sich hinzudösen. Kalli Flau hatte sich darangemacht, aus einer alten Kiste Kleinholz zum Feueranmachen zu schnitzeln, Rieke stopfte irgendein Wäschestück. Nur der alte Busch wurde immer unruhiger. Er wollte fort, seine Stunde, zu trinken, war gekommen. Dreimal schon hatte ihn Rieke von der Tür zurückgeholt. »Soll ick den Jas anstecken, Karle?« fragte sie dann. Er antwortete nicht.

»Der is eingepennt, Rieke«, flüsterte Kalli Flau.

»Der soll man schlafen«, flüsterte sie zurück. »Mit uns is doch nischt mehr zu machen.«

»Du, Rieke ...«

»Ja, Kalli?«

»Was ist denn das für ein reicher Knopp, von dem Karl ohne weiteres Geld kriegen kann?«

»Ach, laß doch, Kalli. Der jeht ja doch nich!«

»Gibt der ihm wirklich soviel Geld, wie Karl haben will?«

»Det jloobe ick stark! Der hat sich sogar anjeboten, Karlen studieren zu lassen, uff Baumeesta. Aba Karl will ja nich.«

»Und warum will Karl nicht?«

»Ach, ick weeß nich. Er hat da wat von de Bibel jesagt, det der Herr der Vasucha is – ick vasteh det nich. Würdste Jeld liegenlassen, wat de kriegen kannst – und denn in unsre Lage?«

»Ich nicht, Rieke! Ich bestimmt nicht!«

»Ick ooch nich, Kalli. Aber det is det: Uns, die wir't nehmen, wird nischt anjeboten, und er, der't kriegen kann, der nimmt et nu wieda nich. Komisch is det injerichtet uff de Welt, Kalli.«

»Ich höre alles, was ihr sagt«, rief Karl Siebrecht ganz vergnügt. »Denkt ihr, ich habe geschlafen? Ich habe nicht einen Augenblick geschlafen!«

»Natürlich haste geschlafen, Karl! Ick habe dir doch schnurkeln jehört.«

»Nicht habe ich geschlafen!«

»Doch haste! Von wat haben wa denn jeredet?«

»Ihr habt geredet, warte mal – ach, weißt du, Rieke, vielleicht habe ich doch einen Augenblick geschlafen. Mir war so, als wäre ich wieder in dem Hühnerschuppen von Vaters Garten, weißt du, ich habe dir davon erzählt, wo ich mal mit Ria war –«

»Ick weeß schon, Karl!«

»Aber Ria war nicht bei mir. Siehst du, ich habe doch nicht geschlafen! Ich hörte euch deutlich reden, daß ich nicht zum Rittmeister wollte, um Geld bitten. Aber ich dachte, das brauche ich ja auch gar nicht. Hier sind ja die Hennen, die Eier legen. Und ich fing an, nach den Eiern zu suchen. Es war ganz dunkel, und ich stieß mich an der Gießkanne und an der Karre, aber dann fand ich doch ein Ei. Es war sehr schwer, ich merkte gleich, daß es aus Gold war, und ich dachte, nun haben wir genug Geld für den Hagedorn und für alles.« Er schwieg, völlig zufrieden.

»Und denn, Karle?«

»Dann bin ich eben aufgewacht, und nun bin ich wieder hier bei euch in der Küche. Du bist doch auch da, Kalli –?«

»Bin ich, Karl. Immer zur Stelle, wenn Kalli gebraucht wird.«

»Ja, Karle«, sagte Rieke. »Nu biste wieder bei uns in de Küche! Aba hier findste keene joldenen Eier ins Dustere. Die Uhr is bald sechse, um sieben will der Hagedorn sein Jeld, und zweiundneunzigsiebzehn fehlen uns noch imma!« Sie hatte bitter und erbarmungslos gesprochen, ach, sie war wohl so unglücklich, die kleine Rieke, daß sie ihrem Freund sogar seinen schönen Traum mißgönnte!

»Also dann!« sagte Karl Siebrecht. »Dann muß ich also das Geld schaffen.« Er stand auf. »Wo ist denn meine Mütze? Ach, hier! Also dann wartet hier, kurz vor halb sieben bin ich wieder zurück.« Und er ging zur Tür.

»Karle!« rief Rieke und lief ihm nach, hielt ihn fest. »Wohin willste? Jeh nich bei den! Vajiß, wat ick gesagt habe! Wenn de bei den jehst und überwindst dir und holst det Jeld meinetwejen – det vazeihste mir dein janzet Leben nich! Lieba soll der Hagedorn uns alle ins Kittchen stecken!«

»Rieke«, sagte Karl Siebrecht. »Rieke! Du sagst immer, du verstehst mich nicht. Aber dich verstehe ich auch nicht. Nun soll ich wieder nicht zu ihm gehen? Aber wenn ich nicht zu ihm gehe, das verzeihst du mir doch auch nicht? Das vergißt du doch auch in deinem ganzen Leben nicht?«

»Doch, Karle, bestimmt! Jeh nich bei den!«

»Ich gehe ja auch nicht zu ihm. Ich gehe zu ganz jemand anders.«

»Det sagste jetzt bloß so, um mir zu beruhigen, Karle.«

»Nein, Rieke, ich gehe wirklich zu jemand anders. Komisch, ich habe nie an den gedacht, und ich habe auch nicht von ihm geträumt, aber als ich aufwachte, da wußte ich: zu dem mußt du gehen, der gibt dir das Geld! – Und nun muß ich laufen, Rieke, sonst verpasse ich ihn.« Und damit war Karl Siebrecht aus der Stube und lief in einem Trab bis vor das Haus in der Krausenstraße, in dem die Firma Kalubrigkeit ihre Büros hatte. Er kam auch wirklich noch ein paar Minuten vor sechs dort an und sah sie alle, eilig oder langsam, aus dem Flur gehen, seine ehemaligen Kollegen, von dem pickligen Wums an bis zum schmissigen Herrn Feistlein, der eine schöne Zigarre rauchte.

Zuletzt aber kam der Oberingenieur Hartleben, und den sprach Karl Siebrecht an, und es wurde ihm nicht einmal schwer, diesen Mann um Geld zu bitten. Der Oberingenieur freilich war sehr überrascht, und so ohne weiteres sagte er nicht etwa ja, sondern Karl Siebrecht mußte alles Warum und Wieso haarklein berichten, und dann gab es erst eine Menge Tadel, Ermahnungen, Warnungen. So erfuhr Karl Siebrecht gleich, daß, wer Geld borgt, einen ganzen Sack ungebetenen Rat dazubekommt, den er doch mit dem Gelde nicht zurückzahlen darf. »Nun, ich sehe schon, Karl«, sagte der Oberingenieur schließlich, »ich muß dir diesmal das Geld geben. Aber es ist das einzige Mal, daß ich dir Geld leihe, das merke dir. Ich bin auch nicht so gestellt, daß ich das Geld entbehren kann. Du wirst es mir wiedergeben müssen, Karl, und je eher du das tust, um so lieber ist es mir. – Nein, einen Schuldschein will ich nicht, ich borge dir das Geld auf deine Anständigkeit hin.«

Das war schon in der Wohnung des Oberingenieurs, daß diese Rede gehalten wurde. Herr Hartleben trug natürlich eine solche Summe nicht mit sich in der Tasche herum. Sein Lebtag würde Karl Siebrecht nicht das kleine, schlecht erhellte Eßzimmer vergessen, in dem sie beide verhandelten. Der Tisch war schon gedeckt zum frühen Abend- oder späten Mittagessen, und alle Augenblicke steckte ein Kind oder auch die Frau den Kopf durch die Tür, um zu sehen, ob der Vater noch immer nicht mit dem unerwünschten Besucher fertig war. Nun schloß der Oberingenieur ein Seitenfach des häßlichen, grün verglasten, gelben Büfettchens im Jugendstil auf, und da stand auf ein paar Weingläsern eine Zigarrenkiste. Die nahm er heraus. In der Zigarrenkiste lagen ein paar Scheine und Münzen. Der Oberingenieur zählte – er seufzte beim Zählen – und sagte: »Hier sind also fünfundneunzig Mark, Karl!«

»Ich brauche aber nur zweiundneunzig Mark siebzehn!«

»Nun, nimm schon die fünfundneunzig!«

»Ich möchte aber nicht mehr, als ich brauche!«

»Ich sage dir, nimm! Zwei Mark dreiundachtzig sind schon wenig genug, wenn das alles Geld ist, von dem ihr in den nächsten Tagen leben wollt.« Und hastig setzte Herr Hartleben hinzu: »Aber mehr kann ich dir nicht geben, Karl!«

Er brachte den Besucher selbst über den engen Gang zur Wohnungstür, und aus der Küche sahen Frau und Kinder schweigend auf Karl. Ihm kam vor, als sähen alle ihn böse an, und er hatte ein so schlechtes Gewissen, als habe er ihnen ihr Geld und damit ihr Brot fortgenommen. Noch auf der Straße grübelte er, wieso es ihm leichter geworden war, den Oberingenieur Hartleben, dem das Geld knapp war, um Hilfe anzugehen als den Herrn von Senden, der ihm wahrscheinlich einen Hundertmarkschein ohne alles Fragen in die Hand gedrückt hätte. Aber freilich, da lag es wohl: er wollte nichts in die Hand gedrückt haben, ihm sollte nichts geschenkt werden. Jetzt war es schwer entbehrtes Geld, das zurückgegeben werden mußte, mochte es noch so schwer angehen!

Die beiden warteten schon sehr auf ihn, denn die Uhr war schon fast sieben. Er erzählte nur mit ein paar Worten, wie er es nun doch geschafft hatte, gab Rieke die restlichen 2,83 Mark zum Brotkaufen und lief mit Kalli Flau zu Hagedorn. Von dort mußten die beiden sofort zu Felten, der würde schon böse sein, weil sie so spät kamen. Aber da sie zu zweien waren, würden sie die verlorene Zeit schon wieder einbringen. –

Es war spät in der Nacht, als die beiden Jungen müde und hungrig heimwärts schlichen. Sie hatten noch schwer arbeiten müssen, Felten hatte ihnen nichts geschenkt. »Gottlob, Karl«, sagte Kalli Flau. »Heute abend hat Rieke Stullen, nicht bloß Kartoffeln. Kartoffeln halten nicht vor. Hast du auch so 'nen Hunger?«

»Ich könnte auf der Stelle einen Elefanten anbeißen!«

»Morgens auf der ›Emma‹ – das ist –«

»– so 'n Trawler, ich weiß schon, Kalli. Sage mir nun endlich, was ist eigentlich ein Trawler –?«

So halfen sie sich über den Heimweg. Dann rissen sie die Küchentür auf und riefen: »Hunger, Rieke, Stullen! Stullen, Rieke! Stullen!«

»Brot? Ick hab keen Brot, ick hab gar nischt. Ein paar Kartoffeln sind noch da!«

»Aber ...«

»Die zwei Mark dreiundachtzig ...«

»Denkt ihr! Aba Vater hat wieder jetobt, und ick hab ihm Schnaps koofen müssen, det er bloß ruhig war. For det schöne Jeld Schnaps! Und nu stehn wa da ...«

»Ohne Essen ...«

»Ohne Geld ...«

»Ohne Arbeet ...«

»Na, wieso?« fragte Kalli Flau. »Dann essen wir eben Kartoffeln. Und morgen gehen wir zu den Äppelkähnen an die Spree. Du sollst sehen, da ist was zu machen! Schön warm ist's hier. Und am Sonnabend kriegst du noch zehn Mark von dem Felten, Karl. Die Maschine können wir jetzt auch versetzen, denn nun haben wir die Quittung von Hagedorn. Ich weiß nicht, was ihr wollt. Ich finde, wir stehen eigentlich ganz gut da!«

 Der dritte Tag

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»Da brat mir einer 'nen Storch«, sprach Herr Wagenseil, als Karl Siebrecht an diesem Morgen den Stall betrat. »Was ist denn nun in dich gefahren, Karl?«

»Heute ist es soweit, Franz!« lachte Karl Siebrecht vergnügt und legte seine Sträuße, vier kleine und zwei große, vorsichtig auf eine Futterkiste. »Heute eröffnet die Berliner Gepäckbeförderung ihren Betrieb richtig! Daraufhin bin ich deiner Anregung gefolgt, Franz!«

Franz Wagenseil warf einen Blick durch die offengebliebene Stalltür. »Und dabei regnet's junge Hunde«, sagte er ungnädig. »Hättste nicht besser Wasserlilien und Seerosen gekauft, Karl? Das wäre bei dem Regen das beste. Ich kann dir auch noch ein paar Frösche fangen, zur Garnierung.«

»Nachher, Franz, nachher!« sagte Karl Siebrecht, den die Launen seines Vertragspartners nicht mehr rührten. »Erst möchte ich die Pferde anschirren, ich muß pünktlich auf der Bahn sein. Welche kriege ich denn? Hast du vielleicht was Lahmes oder Halbtotes für mich im Stall?«

»Das würde pyramidal zu dir passen«, sagte der Fuhrherr, der sich beim näheren Anblick des Jungen immer mehr erheiterte. »Dich haben sie ja fein zugerichtet! Seit wann bist du denn verheiratet? Du siehst gerade so aus, als wärst du in der Nacht durchgegangen, und deine Olle hätte dir einen festlichen Empfang bereitet ...«

»Den andern solltest du erst mal sehen, Franz!«

»Welchen andern?«

»Den Dienstmann, der mich so zugerichtet hat! Der kann heute aus keinem Auge sehen!«

»Hast du das von einem Dienstmann?«

»Natürlich. Deine Else habe ich doch mit keinem Auge gesehen, Franz.«

Aber selbst diese Spitze konnte heute den Wagenseil nicht stechen. »Kommt der andere auch auf den Stettiner?« fragte er neugierig.

»Dafür ist gesorgt, der kommt! Der muß jetzt tun, was ich will! Darum geht ja heute der Betrieb los. Welche Pferde kriege ich also? Aber ich verlange deine besten!«

Wagenseil schlug den Jungen auf die Schulter, daß der zuckte. »Du bist doch der richtige!« rief er. »Die beiden Tage jetzt habe ich gedacht, ich habe Mist gemacht, du bist zu fein fürs Geschäft, aber nun bist du doch richtig! Und Blumen hast du auch. Hör nur immer auf das, was der alte Wagenseil sagt! Der hat den richtigen Riecher!«

»Blanke Knöppe ist aber nicht, Wagenseil!«

»Verdirb mir jetzt nicht wieder die Laune! Blanke Knöppe kommen auch noch, darauf fresse ich einen Besen. Du brauchst sie dann ja nicht zu tragen, das können deine Kutscher tun. Nun paß mal auf, diesmal nehmen wir diese Pferde hier. Die sehen prima aus und können traben. Die kriegst du jetzt alle Tage.«

»Ich höre immer alle Tage! Heute abend schmeißt du mich ja doch wieder raus!«

»Du sollst mir nicht die Laune verderben, sage ich dir, dämlicher Bengel!«

»Ich werde dir deine Launen so lange verderben, bis du bei mir keine mehr hast, Franz!«

»Das bringst du nicht fertig. Das hat nicht mal Else geschafft. – So, schirre immer an, ich wichse unterdes die Hufe blank – heute sollst du ein Gespann haben, wie aus dem Marstall!«

»Ja, heute –!«

»Affe! Mich kannst du nicht ärgern –! Wie hast du dir das mit den Sträußen gedacht? Die kleinen an die Scheuklappen, was? Und die großen –?«

»In die Laternenhalter.«

»Richtig, doof bist du nicht, nur manchmal. Ich komme heute mal selber auf den Bahnhof und sehe mir euren Rummel an. Der andere ist doch bestimmt da?«

»Der andere ist bestimmt da!«

Aber ganz sicher war Karl dessen nicht. Die Drohungen und der abgenommene Ausweis mochten noch so stark wirken, vielleicht konnte Kiesow einfach nicht kommen. Kalli Flau hatte sehr derbe Fäuste, und er hatte schonungslos Gebrauch von ihnen gemacht ...

Als er dann aber am Stettiner Bahnhof anfuhr, sah er sofort, Kiesow mußte schon in die Erscheinung getreten sein, wenn er jetzt auch nicht zu erblicken war. Sonst hatten die Dienstmänner beim Anblick des Rollwagens beiseite geschaut, sie hatten ihn nicht grüßen wollen. Heute sahen sie ihm alle gespannt entgegen. Sie hatten also Kiesows Gesicht gesehen und waren nun auf das seines Gegners neugierig.

»Guten Morgen!« grüßte Karl Siebrecht im Vorbeifahren, sah sie an, gönnte ihnen den vollen Anblick seines geschundenen Gesichtes und schnickte vergnügt mit der Peitsche.

»Morjen –!« sagten sie, nicht alle, aber die meisten.

Dann rief einer: »Wat haste aber ooch abjekriegt aus Mutters Lumpensack!«

»Warum denn nicht?« rief Siebrecht lachend über die Schulter zurück. »Einer muß auch nicht alles haben wollen!«

Er hielt, strängte das Sattelpferd ab und hatte das bestimmte Gefühl, heute bekam er sofort Fracht. Er hatte noch keine zwei Minuten so gestanden, da kam einer geschlendert, und ausgerechnet war es der hitzige Kupinski.

Der stellte sich neben den Wagen und musterte stumm den Blumenaufputz. Dann tat er seinen Mund auf und sprach: »Wie zur Hochzeit oder wie zum Begräbnis. Was soll es nun sein?«

»Hochzeit!« antwortete Karl Siebrecht kurz.

»Als wie wieso?«

»Weil's heute richtig losgeht mit dem Gepäckfahren.«

Kupinski überlegte den Fall, spuckte aus und sagte: »Von uns bringt dir keiner was!«

»Doch!« widersprach der Junge.

»Na, wer wohl?«

»Kiesow –!«

»Kiesow! Du lächerst mir! Wo du ihn so zugerichtet hast!«

»Das war in aller Freundschaft. Hinterher haben wir uns ausgesprochen, und er hat eingesehen, es ist nur sein Vorteil.«

»Das lügst du!«

»Es ist aller Vorteil!«

»Das weiß man noch nicht. Aber das mit Kiesow lügst du!«

»Wetten, daß Kiesow Gepäck bringt?«

»Wetten? Um was denn?«

»Wenn Kiesow bringt, bringst du auch!«

»Und was wettest du?«

»Ich –?« Karl Siebrecht überlegte einen Augenblick, dann sagte er kühn: »Alles Geld, was ich in der Tasche habe!«

»Wird nicht viel sein!«

»Laß mal sehen!« Karl Siebrecht zählte. Die Blumen waren abgegangen, auch das Essen gestern. »Elf Mark achtzig«, sagte er.

»Die wettest du?«

»Die wette ich!«

»Gemacht!« Und Kupinski hielt ihm seine Hand hin. Sofort schlug Siebrecht ein.

»Gemacht!«

»Junge, die verlierst du!« sagte Kupinski noch.

»In zehn Minuten werden wir es wissen!« meinte Siebrecht siegesgewiß.

Er sah Kupinski zu den andern gehen, reden, ein aufgeregtes Gespräch entstand, immer wieder wurde zu ihm und zu seinem Wagen hingesehen. Die Unterredung wurde so hitzig, daß sie darüber wieder einmal die Zeit vergaßen.

In der Pforte erschien Kalli Flau mit Koffern und schrie: »Der Schwedenzug ist da! Los!«

Aber er wurde zur Seite gestoßen von dem Dienstmann Kiesow. Schwankend unter seiner Last lief er auf den Wagen zu, warf sein Gepäck darauf und schrie: »Ich habe als erster mein Gepäck darauf gesetzt, ich kriege den Taler! Her damit! Siebrecht!«

»Hast du das gesehen, Kupinski?!« schrie Karl Siebrecht wild vor Freude zu den völlig verblüfften Dienstmännern hinüber. »Los! Gepäck ranschaffen! Die Wette ist für mich gewonnen!« Und hingerissen fing er an, auf dem Wagen herumzuspringen und zu schreien: »Hierher! Hierher mit dem Gepäck! Hier wird Gepäck am billigsten in ganz Berlin gefahren! Hier fährt die Berliner Gepäckbeförderung! Von und zu den Bahnhöfen, pünktlich! Gewissenhaft! Billig! Hierher!«

Aus zwei blaugeschlagenen Augen glotzte Kiesow trübe zu ihm hinauf. Er flüsterte: »Mein Taler!«

Kalli Flau setzte seine Koffer auf den Wagen, faßte Karl Siebrecht am Bein und sagte: »Du bist wohl verrückt geworden, Karl?! Was sollen denn die Leute von dir denken! Ich denke, du bist ein solider Geschäftsmann, kein Hanswurst!«

»Du hast ja so recht, Kalli!« rief Siebrecht. »Aber ich kann nicht anders! Ich bin so glücklich! Komm, Kalli! Soll ich dir eine Blume schenken? Ich liebe dich – ich will dir einen Kuß geben!«

Und dabei hatte Siebrecht fünf ganze Koffer auf seinem Rollwagen!

»Halte bloß jetzt die Schnauze, Karl«, flüsterte Kalli Flau. »Da kommt Beese – bei dem mußt du dich vernünftig benehmen. Der nimmt es einem direkt übel, wenn man vergnügt ist.«

Und Karl Siebrecht benahm sich auf der Stelle vernünftig, als er den Gepäckträger Beese wirklich auf seinen Wagen zusteuern sah. Er gab Kiesow seinen Taler: »Hau ab, Kiesow, verdient hast gerade du ihn nicht, aber ich will nicht so sein. Was war, ist von jetzt an vergessen. Sieh, daß du noch ein paar Koffer kriegst, geh in die Halle und jage die Haifische!«

Und zu dem Gepäckträger: »Guten Morgen, Herr Beese! Also wollen Sie es doch mit mir versuchen, das ist nett von Ihnen.«

»Die Blumen«, sagte Herr Beese und schüttelte seinen langen traurigen Pfeifenkopf. »Wenn ich die Blumen vorher gesehen hätte, ich wäre nicht gekommen.«

»Aber Blumen sind doch nichts Schlechtes, Herr Beese!«

»Blumen«, sprach der und kopfschüttelte weiter, »Blumen sind überall, wo man reinfällt. Bei der Taufe und bei der Hochzeit und bei's Begräbnis. Aber bei der Scheidung, da sind keine Blumen, so ist das. Na, nun nimm mal die Koffer, wo ich schon einmal da bin. Wenn du um zwölf wieder hier bist, werden die Blumen ja hoffentlich verregnet sein.«

Und er sah hoffnungsvoll auf das Gepladder.

Aber der Nachmittag verlief noch besser als der Vormittag, und die Abendfuhre füllte den großen Rollwagen fast ganz. Den Haifisch Tischendorf aber nahm Karl nicht mit. Der hatte wohl nach seiner rattenhaften Art den ganzen Tag gestöbert, gewittert, gerochen – und nun kam er an, mit drei Koffern.

»Da, Haifisch!« sagte er.

»Runter mit den Koffern von meinem Wagen!« befahl Karl Siebrecht.

»Was –? Wir haben doch ausgemacht ...«

»Nichts haben wir ausgemacht! Gestern hast du deine Chance gehabt, heute nicht mehr. Ich fahre nur für Gepäckträger und Dienstmänner, nicht für Haifische!«

Es war Karl Siebrecht sehr klar, daß er gestern anderes zu Tischendorf gesagt hatte. Aber ebenso klar war ihm, daß, wie die Sache sich jetzt entwickelt hatte, Hans Tischendorf und sein Anhang nur eine Gefahr für ihn bedeuteten. Er lernte sein Geschäft. Bindendes hatte er mit Tischendorf nicht vereinbart.

»Und du warst selbst noch vor drei Tagen Haifisch!« sagte Hans Tischendorf und nahm seine Koffer vom Wagen. »Na warte, das sollst du bereuen!«

»Willst du mir drohen?« rief Siebrecht und sprang mit beiden Beinen vom Wagen. »Komm her, Tischendorf, warte doch!«

Hans Tischendorf lief schon. Er lief mit seinen drei Koffern, lief, so schnell er nur laufen konnte, um den Bahnhof herum.

Karl Siebrecht aber sah ihm nach und sagte: »Weg mit Schaden!«

Nach dem Sieg

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Ja, da hielt das Wagenseilsche Gespann, und Karl Siebrecht betrachtete es mit Anerkennung und Wehmut. Wenn er nur einmal, wenn er nur ein einziges Mal mit einem solchen Gespann vor dem Bahnhof hätte halten können! Da fehlte aber auch gar nichts! Die neuen Geschirre glänzten nur so von Lack und Neusilber, die hellen Mähnen der leichten Belgier waren in viele Zöpfchen geflochten, und ihre Hufe waren so spiegelnd geputzt wie höchstens die Lackstiefel eines Offiziers vom Gardekürassier-Regiment. Der Rollwagen war frisch überholt, über ihm hing ein großes Schild: »Einzige Bahnhofs-Gepäckbeförderung. Inh. Franz Wagenseil.«

Karl Siebrecht wandte sich an seinen Beifahrer: »So hätten wir es einmal haben sollen, was, Jahnke?«

»Das können Sie wohl sagen, Herr Siebrecht! Aber nicht einen Koffer haben die auf dem Wagen!«

»Der Beifahrer wird drinnen im Bahnhof sein. Zu Anfang werden die wohl noch Gepäck kriegen, aber wir hängen sie schon ab! Jetzt sind wir die Schnelleren.« Und zu dem noch unerfahrenen Chauffeur: »Am besten reden Sie mit den Leuten von dem Gespann vor uns gar nicht! Die sind nämlich Konkurrenz!«

Worauf der Chauffeur voll Verachtung erwiderte: »Ick und mit Pferdekutschern reden? So 'ne Leute seh ick übahaupt nich! Mit so 'ne Leute mach ick mir doch nich jemein!«

Karl Siebrecht kam mit Jahnke an die Gepäckausgabe, und wer stand dort, eifrig, hitzig redend, fast schon schimpfend? Mit schwarzledernen Gamaschenbeinen der Herr Franz Wagenseil selbst! Auf einen Ruck verstummte er, als er Karl Siebrecht sah. »Ich möchte Gepäck holen!« sagte Karl Siebrecht und sah den Franz Wagenseil gar nicht.

»Mit was holen Sie denn heute?« wurde er vorsichtig gefragt. »Wieder bloß mit dem Handwagen?«

Karl Siebrecht lächelte. »Mit 'nem Kanalljenvogel!« platzte Jahnke los. »Bloß, wat een Kanalljenvogel uff dem Schwanz wegträgt!« Alle platzten los.

»Ich fahre von nun an nur mit Autos!« sagte Karl Siebrecht, als sie sich ein wenig beruhigt hatten.

»Also denn ran mit den Karren! Und sehen Sie, daß wir heute ein bißchen Luft kriegen, es ist wirklich so kein Arbeiten mehr!«

»Heute kriegen Sie soviel Luft, wie Sie nur brauchen!« antwortete Siebrecht, und sie fingen an, die Karren vollzupacken.

Franz Wagenseil war verschwunden. Und er blieb auch verschwunden, eine ganze Weile lang. Er erkundigte sich wohl bei dem Chauffeur des gelben Wagens nach allem Näheren, das der auch nicht kannte.

Sie waren gerade dabei, die ersten Gepäckkarren zum Auto zu stoßen, als Wagenseil wieder angestürzt kam. Er war blaß, seine Hände zuckten. »Das dürfen Sie nicht!« schrie er schon von weitem. »Wenn Sie mir kein Gepäck geben wollen, dürfen Sie dem erst recht keines geben. Der ist ja noch minderjährig, der ist ja bloß ein Rotzjunge! Der darf ja noch gar keine Firma haben –!«

»Das müssen Sie mit der Eisenbahndirektion ausmachen!« wurde ihm geantwortet. »Wir haben Anweisung, nur an die Firma Siebrecht & Flau auszuhändigen.«

»Aber seit wann denn? Früher hat doch jeder fahren dürfen! So etwas gibt es ja gar nicht!«

»Seit wann? Vor einer Stunde ist hier angerufen worden. Ja, Herr Wagenseil, da sind Sie eben ein bißchen zu spät aufgestanden. Hätten Sie den Mist mit den halbtoten Pferden nicht gemacht! – Obacht! Obacht! Sie!« Der »Sie« war Franz Wagenseil. Er stand so bestürzt da, daß er sich beinahe hätte umfahren lassen. Zum erstenmal sah Karl Siebrecht seinen ehemaligen Fuhrherrn ohne ein Wort. Einmal in seinem Leben wußte Franz Wagenseil nichts zu antworten. Der Findige, der Schlaue, der Beschlagene, der Bedenkenlose – nun standen einmal seine eigenen Taten gegen ihn auf. Er wußte nichts zu sagen, er konnte nichts tun. Als sie wieder in den Bahnhof zurückkamen, war er verschwunden. Und als sie wieder aus dem Bahnhof herauskamen, war sein Gespann fortgefahren. Es war ein leichter Sieg gewesen, ohne Kampf erfochten, man hatte keine Ursache, auf dieses Schlußgefecht besonders stolz zu sein! So viele hatten zu diesem Siege geholfen, zum Schluß noch am meisten der Herr Regierungsrat Kunze! Mit Dankbarkeit dachte Karl an diesen verstaubten Mann im dunklen Büro am Schöneberger Ufer.

Sie fuhren und fuhren an diesem herrlichen Maitag, sie beförderten Koffergebirge. Und während sie so dahinfuhren in der Maisonne, heiß vom Verladen und gekühlt vom Fahrwind, grübelte Karl Siebrecht schon über Autos mit größeren Pritschen. Er mußte sich auch eine andere Sorte Chauffeure heranziehen als diese Herren, die zu fein waren, einen Koffer anzufassen, die nur fahren wollten. Sie wurden viel zu teuer. Karl Siebrecht war gerade in solchen Gedanken, als er von einer Mädchenstimme angesprochen wurde: »Würden Sie wohl meine Handtasche zum Stettiner Bahnhof befördern?«

Rot werdend, starrte er in das lockenumrahmte Gesicht von Fräulein Ilse Gollmer!

Boshaft fuhr sie fort: »Sie sind doch Spezialist in Handtaschen, nicht wahr?«

»Ach Gott, Fräulein Gollmer!« rief er glücklich. »Das ist aber nett von Ihnen, daß Sie mich auch besuchen!«

»Ich Sie besuchen? Na, wissen Sie! Ich kam hier gerade vorbei und sah dies komische gelbe Auto, und da habe ich –« Jetzt wurde auch sie rot: »Sie haben ja eine dolle Schürze um, Sie sehen beinahe so schön aus wie als Gärtner! Ich finde aber, Sie können Ihre Schürze mal waschen lassen!«

»Leder kann man doch nicht waschen, Fräulein Gollmer«, entschuldigte er sich.

»Dann kratzen Sie es wenigstens mal mit einem Messer ab!« Sie musterte ihn kritisch: »Ihr Scheitel ist auch nicht in Ordnung, und Sie haben nicht einmal einen Schlips um!«

Nachdem sie ihn so völlig zerschmettert hatte, nickte sie gnädig: »Adieu, Herr Siebrecht, übrigens soll ich Sie von Vater daran erinnern, daß Sie ihm einen Distelstecher versprochen haben!« Sie ging, und Karl Siebrecht fiel erst drei Minuten später ein, daß sie ihn also doch extra aufgesucht hatte, sonst hätte sie ihm ja keine Bestellung des Vaters ausrichten können! Sie war ein großartiges Mädchen!

Sie fuhren immer weiter an diesem schönen Maientage, Karl Siebrecht war leicht und froh zumute – aber noch waren nicht alle Schatten der Vergangenheit verschwunden! Da war nun dieser Pferdehändler Engelbrecht – Karl Siebrecht hatte den Mann dann und wann auf dem Fuhrhof gesehen, einen schweren, schlaffen Mann mit einem talgigen Gesicht und merkwürdig kleinen Augen –, auch er suchte Karl Siebrecht auf, einen jungen Menschen, dessen Gruß er früher kaum erwidert hatte.

Karl Siebrecht fuhr auf dem Auto. Er stand ungeduldig neben der vollbeladenen Pritsche – was hatte all diese Rederei für einen Zweck? Begriffen diese Menschen nie, daß Schluß wirklich Schluß hieß? »Es hat gar keinen Zweck, Herr Engelbrecht!« sagte er ungeduldig. »Ich fahre jetzt mit Autos, weil Autos wirtschaftlicher sind. Der Franz kann schicken, wen er will: er kommt doch nie mehr in Frage!«

»Ach, der Franz!« Der Viehhändler machte eine wegwerfende Bewegung. »Der hat sich seine eigene Grube gegraben. Ich rede doch nicht für den Franz. Ich will Ihnen ein Geschäft vorschlagen. Ich habe ein vollstreckbares Urteil gegen die Wagenseils: heute nachmittag noch laß ich ihnen den ganzen Fuhrhof mit Rupps und Stupps pfänden. Ich kann die Stallungen gut für meinen Betrieb brauchen. – Sie haben ja wohl auch eine Stange Gold von denen zu kriegen?«

»Vielleicht.«

»Na, Sie werden Ihr Geld auch nie wieder zu sehen bekommen – Sie nicht und der Ziegenbrink auch nicht. Der hat ihn jetzt in der Zange, aber es fällt nichts mehr raus bei dem Franz. Und bei ihr auch nicht. Gerade noch das Zeug, das sie auf dem Leibe tragen, so alle sind sie –! Ich habe besser aufgepaßt, ich bin jedenfalls zu meinem Geld gekommen.« Er reckte sich schläfrig, aber nur schwach. »Nun wollte ich Ihnen vorschlagen, daß ich als Kompagnon in Ihre Firma eintrete. Ich habe immer Pferde zu stehen, denen ein paar Tage Arbeit nur guttun. Die eiligen kleinen Fuhren machen Sie mit Autos, die schweren mit Pferden.«

»Nein, danke schön, Herr Engelbrecht.«

»Nicht so schnell! Man kann ja ein Wort darüber reden, nicht wahr? Ich bin nicht der Franz, ich bringe nicht nur die Pferde ein, ich würde mich auch mit Geld beteiligen. Ich habe nun mal das Gefühl, mit Ihnen ist Geld zu machen. Was meinen Sie zu einer Beteiligung mit zwanzigtausend Mark –?«

»Und die Wagenseils haben wirklich nichts mehr?«

»Nichts! Nicht mal mehr ein Zimmer. Nicht mal mehr ein Bett, aber die Leute haben es ja nicht anders gewollt. – Nun, wie ist es mit uns beiden? Wir machen einen anständigen Vertrag vor anständigen Anwälten.«

»Nein, danke wirklich, Herr Engelbrecht.«

Es war schwer, diesen langsamen, zähen Mann loszuwerden. Vielleicht war es auch nicht einmal richtig. Siebrecht konnte schon Betriebskapital gebrauchen. Aber er wollte mit all diesen Leuten nichts mehr zu tun haben. Von nun an würde er nur noch mit Menschen wie Gollmer oder Frenz arbeiten. – Saubere Geschäfte! Nichts mehr vom Schlage Wagenseil!

Und während er weiterfuhr und verlud, mußte er an diesen Mann denken, den er einmal auf eine gewisse Art gerne gemocht hatte, auf dessen Fuhrhof er aus und ein gegangen war, den er bei hundert Verrichtungen gesehen hatte, übereifrig, eifrig, dann immer lässiger werdend. Das leichte Geldverdienen hatte ihn verdorben. Weil Karl Siebrecht ihm ein gutes Geschäft gebracht hatte, war er zugrunde gegangen. Was den einen gehoben hatte, hatte den anderen in den Schmutz gedrückt. Karl Siebrecht sah diesen Mann, wie er heute losgefahren war mit seinem funkelnden Gespann: die Pferde waren geborgt, die Geschirre waren geliehen, alles Funkeln war unecht, das Silber war nur Neusilber! Er aber glaubte, alle Trümpfe in der Hand zu haben, siegesgewiß fuhr er zum Bahnhof. Dann fielen alle Karten gegen ihn, seine Trümpfe stachen nicht, der Spieler begriff, daß er alles verspielt hatte, nichts blieb ihm. Doch ja, eines: ein Weib, das ihn haßte, das er haßte – die schwarze Treffdame, seine Unglückskarte, die blieb ihm!

Es war spät, als Karl Siebrecht in die Eichendorffstraße zurückkam. Es war noch später, als er sein Abendbrot aß. Rieke war allein bei ihm in der Stube. Sie war unruhig, sie war bedrückt. Immer wieder ging sie an das Fenster und spähte durch die Gardinen.

»Ist da etwas? Wonach siehst du?«

»Ach nischt!« Sie kam an den Tisch zurück, sah schweigend seinem Essen zu. Dann ging sie wieder zum Fenster.

»Da ist doch was! Wonach siehst du denn?«

»Ach nischt! Bloß, die beiden stehen noch immer da!«

»Welche beiden?« Aber er wußte schon die Antwort.

»Na, die Wagenseils doch! Franz und Else!«

»So!« sagte er. Trotzdem er die Antwort gewußt hatte, war er jetzt verwirrt. »Stehen sie schon lange da?«

»Doch, der Herr Frenz hat ihnen doch det Haus verboten!«

»Was wollten sie denn?«

»Na, mit dir sprechen doch, Karle!«

Er machte sich härter als er war. »Nein«, sagte er, »ich habe mit denen nichts mehr zu sprechen.«

Sie schwiegen eine Weile. Dann fragte sie: »Haben die jar nischt mehr?«

»Ich weiß nicht, Rieke. Ich glaube nicht. Nein.«

»Nicht mal 'ne Bleibe for de Nacht?«

»Ich weiß nicht, wahrscheinlich nicht.«

Sie schwieg lange. Dann sagte sie halblaut: »Und die Else hat ihr schwarzet Seidenkleid an, und denn nich wissen, wo schlafen ...«

»Machst du mir einen Vorwurf, Rieke?« fragte er plötzlich. »Wenn die nun gesiegt hätten, und ich stünde draußen, glaubst du, ihm wäre das Herz schwer gewesen? Gelacht hätte er über mich! Mir ist das Herz schwer, Rieke!«

»Ick weeß ja, Karle! Ick mache dir ja ooch keenen Vorwurf, ick habe Wagenseils nie jemocht. Bloß, det se so da draußen stehen! Kannste denn nischt for se tun?«

»Ich will nichts für sie tun.« Er besann sich: »Das ist alles schon einmal passiert, Rieke. Mit kleinen Vorschüssen fing es an, und sie wurden immer größer. Aber da hatte er schon ein Recht auf Vorschüsse, und als ich sie ihm verweigerte, ging er hin und spielte mir gemeine Streiche. Nein, ich will nicht wieder mit ihm anfangen.«

»Kannste ihm keene Arbeit geben?«

»Er würde mich bei jeder Abrechnung betrügen!«

»Denn mach ihn doch zum Kutscher! Mit Pferden weeß er Bescheid!«

»Ich brauche keine Kutscher mehr, ich habe Chauffeure!«

»Du willst ihm eben nich helfen!«

»Richtig, ich will nicht!«

Sie spähte durch die Gardinen. »Jetzt streiten se sich«, flüsterte sie.

»Warum sollen sie sich nicht streiten? Sie haben sich ihr ganzes Leben lang gestritten!« Und plötzlich: »Hier, Rieke, bring jedem zwanzig Mark. Aber sage, daß es von dir kommt, sage nichts von mir! Versprich mir das!«

»Ick wer doch nich tun, wat du nich willst, Karle! Bist janz ruhig!«

Jetzt stand er hinter der Gardine. Er sah Rieke über die Straße gehen, der Streit zwischen den beiden Eheleuten brach ab. Sie redeten alle drei miteinander. Franz wurde immer hitziger. Wahrhaftig, er schrie und schimpfte. Er drohte mit der Faust gegen den Laden. Dann beruhigte er sich langsam, jetzt gab ihnen Rieke das Geld. Überraschend schnell trennten sie sich. Rieke kam ins Haus zurück. Langsam ging Frau Else Wagenseil in ihrem schwarzen Seidenkleid die Eichendorffstraße hinunter, tiefer in die übelbeleumundeten Straßen hinein. Der Franz stand noch am längsten da. Dann überquerte er den Fahrdamm, ging in der Richtung auf den Stettiner Bahnhof. Karl konnte leicht erraten, wohin Franz ging: in die Großdestillation an der Ecke, wo Mut und Erfolg in kleinen Groschengläsern verkauft werden.

»Soll ick abräumen, Karle?« fragte Rieke in seinem Rücken. »Biste satt?«

»Ja, ich bin satt, Rieke«, antwortete er.

 Das Silberherz

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Im Zuge redeten die Leute nur davon, daß es Krieg geben würde. Sie sprachen von dem Mord an dem österreichischen Thronfolger, von dem Ultimatum an Serbien, von den Rüstungen Rußlands. Er hörte nichts davon. Er hielt in der Tasche das kleine Silberherz. Plötzlich hatte dies kleine Geschenk eine große Bedeutung für ihn bekommen! Wem sollte er es geben? Hatte er jemand, dem er es schenken konnte? Wußte er wirklich niemanden? Da war Rieke! Aber Rieke war mehr eine Schwester, Schwestern schenkt man keine Herzen! Und da war Fräulein Ilse Gollmer – aber das war ein reiches Mädchen, was sollte sie mit einem so armen Ding? Sie würde ihn nur auslachen, sie würde die Locken zurückwerfen und ihn auslachen. Außerdem war da jenes Bild von dem schmissigen jungen Mann ...

Aber er wußte eine Brücke, der Zug fuhr über die Havel, und als er so weit gekommen war, öffnete Karl das Abteilfenster und warf das Herz über die Brücke fort in den Fluß. Schluß mit alledem! Er hatte keine Zeit für so was! Er mußte vorwärts! Da hatte er es wieder gesehen, daß Träume nichts taugten! Wozu hatte er nun eigentlich diese Reise gemacht? Sinnlos vertanes Geld, nutzlos vergeudete Zeit!

Und je mehr sich die Landschaft veränderte, aus dem Ländlichen ins Städtische hinüberglitt, um so stärker dachte er der Stadt Berlin entgegen. Morgen würde er mit Kalli und Rieke seinen einundzwanzigsten Geburtstag feiern, die würden sich freuen, wenn sie ihn so überraschend früh wiederkommen sahen. Dann fiel ihm ein, daß er Herrn Gollmer noch immer nicht seinen Distelstecher gebracht hatte. Das konnte er vielleicht noch morgen erledigen, er konnte am Nachmittag in den Grunewald hinausfahren. Nein, um die Mittagsstunde herum, dann waren Vater und Tochter bestimmt zu Haus!

Heb sie doch auf!

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Wie einstens stand er wieder unter der Laterne, ein Heimkehrer mit einem Pappkarton unter dem Arm, und sah lange nach dem erleuchteten Fenster hinüber. Aber die Tür tat sich nicht wie einstens von selber auf, nicht wie damals kam eine leichte Gestalt über den Fahrdamm in seine Arme gelaufen. Schritt für Schritt mußte er dem Fenster näher gehen, und jeder Schritt war schwerer als der vorangegangene, und wäre nicht der Dumala gewesen, er hätte vielleicht doch noch einmal kehrtgemacht, er, der sonst wirklich nicht feige war.

So aber ging er Schritt um Schritt dem matt erhellten Rechteck näher. Nun stand er davor, jetzt hob er die Hand und klopfte, leise, einmal, leise, zum zweiten Male, leise, leise ein drittes Mal ... Dann stand er da und wartete. Aber die Zeit rückte nicht vor, es ging alles so langsam. Ein Mädchen, ein Mädchen der Eichendorffstraße, strich an ihm vorbei und sah sich nach ihm um und lächelte ihn an, aus ihrem verdorbenen, gedunsenen Gesicht –: da hob er die Hand ein viertes Mal und klopfte rasch und hart.

Das Mädchen ging mit bösem Kichern weiter, und sofort tat das Fenster sich auf, ein Kopf erschien, und Rieke fragte: »Ja? Wer is denn da?«

»Karl«, antwortete er leise. »Kann ich dich einen Augenblick sprechen?«

Still, ohne Antwort verharrte der Kopf im Fenster. Er konnte gegen das Zimmerlicht das Gesicht nicht erkennen, aber sein Gesicht war im Licht der Straße. Dann schloß sich das Fenster wieder, die Gardine glitt vor, im matt erhellten Rechteck war kein Schatten zu sehen.

Das Mädchen hatte oben an der Ecke beim Stettiner Bahnhof kehrtgemacht und kam wieder auf ihn zu. Als sie ihn immer noch stehen und warten sah, setzte sie die Füße herausfordernder, wippte mit den Hüften, ließ die Handtasche pendeln und warf den Kopf in den Nacken. Sie war bei ihm angekommen, sie blieb vor ihm stehen, sie sagte: »Na, Kleener, will se nich? Von die laß man die Finger, die hat schon zweie, eenen for tags und eenen for die Nacht ...« Dann erkannte sie ihn, an der unwilligen, zornigen Gebärde erkannte sie den Nachbarn, den sie so oft gesehen, und sagte: »Ach Jott, entschuldjen Sie bloß, Herr Siebrecht, Sie haben mir so oft in Ihrem Taxi jefahren ...« Sie versuchte zu lachen. »Spaß muß sin bei der Leiche«, sagte sie, »sonst kommt keener mit.«

Er schob sie ungeduldig beiseite, die Ladentür hatte sich eben geöffnet.

Schweigend ließ ihn Rieke an sich vorbeigehen, schweigend schloß sie wieder die Ladentür, schweigend legte er seinen Karton auf den Schneidertisch. Sie machte keinen Versuch, ihn in die Wohnung zu führen, und auch er machte keinen Versuch, hineinzugehen, schweigend sahen die Eheleute einander lange an. Sie sahen einander in die weiß gewordenen Gesichter. Das der Frau war härter geworden, die Lippen, die Jugend und Liebe voll und rot gemacht hatten, waren jetzt schmal und scharf. Scharf lag der Blick der Augen auf ihm. Noch zarter schien die Gestalt, aber es war nicht mehr die Zartheit der Jugend, diese Glieder waren dünn geworden von vielen Nachtwachen, diese Gelenke sahen so zerbrechlich aus, weil sie nichts hatten halten können. Auch ihn hatte seine Krankheit verändert. Sein Gesicht war weicher, die Haare, die sonst so widerspenstig gewesen waren, hingen nun sanft in die Stirn. Er hielt den Kopf ein wenig vornüber geneigt, seine Hand spielte mit der Uhrkette des Vaters auf der Weste. So sahen sie sich lange an, ohne ein Lächeln, ohne eine Frage, nur musternd, prüfend ...

»Ja!« sagte Rieke dann plötzlich mit einer scharfen bösen Stimme. »Da biste also wieda, mit 'nem Pappkarton unterm Arm, genau wie damals. Heimkehr in die Heimat! Wird nu wieda jeheiratet? Welche is denn nu dran?«

»Rieke«, sagte er. »Du kannst es mir glauben: ich bin wirklich mit dem Auto verunglückt. Ich habe wirklich nicht eher kommen können!«

»Natürlich!« höhnte sie. »Und bis jestern biste so krank jewesen, det de ooch nich eene Zeile an deine Frau schreiben konntest! Ick kann nich richtig Deutsch, aba darum kannste mir noch lange nich for dußlig koofen!«

»Man kann von solchen Dingen schlecht schreiben, Rieke!«