Leseprobe


Weitbrecht-LeereAugen


Gudrun Weitbrecht

Leere Augen. Stuttgart-Krimi

352 Seiten | Format: 13,5 x 20,5 cm | Broschur

€ 12,95 | ISBN 978-3-7650-8807-0

E-Book: € 2,99 | ISBN 978-3-7650-2107-7

Eine mysteriöse Mordserie schreckt die Bewohner von Stuttgart auf und stellt die Kommissarin Arabella Herzog und ihr Team vor ein Rätsel. Doch was haben ein Unternehmer, ein Fotograf und die anderen Mordopfer gemeinsam, außer, dass ihre Leichen nummeriert sind?

Gekonnt verwebt Gudrun Weitbrecht die Schicksale einer Vielzahl an Figuren, ermöglicht tiefe Einblicke in die Psyche der Protagonisten und legt menschliche Abgründe offen.

Ein Krimi, in dem Täter zu Opfern werden und Opfer zu Tätern.




Als Eric gegen 22 Uhr den Fernseher ausschaltete und seinen Jogginganzug gegen Jeans und T-Shirt tauschte, ahnte er noch nicht, dass er sich heute ein letztes Mal für die Arbeit fertig machen würde.

Irgendetwas beunruhigte ihn. Woher dieses Gefühl kam, wusste er nicht. Es war nicht seine gewohnte Unruhe, ein Kribbeln am ganzen Körper, die Wut, die ihn bisher getrieben hatte, sondern eine neue Empfindlichkeit – so als ob etwas Unbekanntes, nicht Fassbares auf ihn lauerte.

Auf dem Firmenparkplatz lag eine dünne Schneedecke, die nur von seinen Reifenspuren und Fußabdrücken gezeichnet war. Niemand sonst parkte hier, das Unternehmen ordnete über den Jahreswechsel Kurzarbeit an. Die Nachtschicht fiel schon länger aus. Während des Aufschwungs bis nach der Jahrtausendwende hatte das Unternehmen drei Schichten gefahren. Die Konjunktur in der Autobranche lief zwar im Augenblick gut, was sich auch auf die Zulieferer auswirkte. In den letzten Jahren hatte es dennoch Entlassungen gegeben. Vielleicht war es nur eine Frage der Zeit, bis er dran war, falls sie seinen Lebenslauf näher unter die Lupe nahmen. Daran würde auch sein Vater nichts ändern können. Eric mochte nicht daran denken.

Er stieg aus seinem 3er BMW und nahm den Rucksack aus dem Kofferraum. Darin waren sein Vesper und zwei Flaschen Bier.

Als er die 200 Meter zu Fuß zum Fabrikgebäude ging, übermannte ihn wieder das Gefühl verfolgt zu werden. Nachdem er die Straße mit den Industriegleisen überquert hatte, erreichte er die Schranke. Rasch schlüpfte er an ihr vorbei und schaute in die Pförtnerloge. Sie war unbesetzt. Während er die Stechuhr bediente, sah er sich um. Niemand war zu sehen. Er überlegte, seit wann er sich so verhielt. Alles hing miteinander zusammen.

Dass seine Ankunft und das Verlassen des Firmengeländes penibel erfasst wurden, machte ihn nicht zum ersten Mal wütend. Wie er es hasste, beobachtet zu werden. Mit Grausen erinnerte er sich daran, als die in Oliv gekleideten Männer das Guckloch öffneten, um einen Blick auf ihn und den Raum zu werfen. Aber die Zeiten waren Gottseidank vorüber.

Schon bei seinen ersten Rundgängen auf dem Firmengelände hatte er eine lockere Zaunstelle hinter dem Fabrikgebäude entdeckt. Wenn er sie hochschob, war sie gerade groß genug für eine Person. So konnte er unbemerkt das Grundstück betreten und verlassen, zumal es dort keine Überwachungskameras gab.

Von da waren es nur ein paar Schritte bis zum Hintereingang des Haupthauses. Ganz easy war es gewesen, den dazugehörigen Schlüssel nachmachen zu lassen. So konnte er nicht nur unbemerkt von außen das Haus betreten, sondern es auch während seiner Tour verlassen, damit er seine nächtlichen Bierchen trinken und dabei rauchen konnte. Alkohol und Zigaretten verbot die Unternehmensleitung während der Arbeitszeit und in den Hallen strikt.

Nur ein paar Sekunden lang erlag er der Versuchung, den kürzeren Weg durch den Zaun und den Hintereingang zu nehmen. Aber die blöde Zeituhr stand wie ein warnendes Mahnmal da, und so wenig er sich in der Vergangenheit an Regeln gehalten hatte, bemühte er sich jetzt umso mehr, ein normales, unauffälliges Leben zu führen. Nichts sollte seine neue Freiheit stören. Solange er sich im Griff hatte, würde alles so bleiben.

Freigesprochen! Beim Gedanken an das Urteil musste er grinsen. Das sollte ihm mal jemand nachmachen!

„Ich helfe dir ein letztes Mal“, hatte ihm der Alte eingebläut, nachdem er mit ihm das Gerichtsgebäude nach dem Richterspruch verlassen hatte. „Versau es nicht wieder!“

Allerdings konnte Eric die Strafpredigt des Alten nicht ganz ernst nehmen. Bereits nach Abbruch von Schule und Lehre hatte er das Gleiche gebrüllt und ihn dabei verdroschen. Eric hasste ihn. Aber wenigstens ließ der Alte als Betriebsrat seine Kontakte spielen und hatte ihm den Job als Werksschutz besorgt.

Die Fabrik bestand aus mehreren Gebäudekomplexen und befand sich am Rande eines Wohngebiets in Feuerbach mit umliegenden Parkplätzen für Mitarbeiter und Besucher. Die zahlreichen Werksanlagen deckten einen Teil des nordöstlichen Stadtgebiets ab. In den angrenzenden Grundstücken hatten sich früher Betriebe niedergelassen, die inzwischen pleite waren oder aufgehört und die Grundstücke verkauft hatten. In einer ehemaligen Maschinenfabrik residierte neuerdings ein Sozialkaufhaus. Ein anderes Areal besetzten zahlreiche undefi nierbare Kleinbetriebe, unter deren Müllbergen sich Ratten heimisch fühlten. Ein Abbruchunternehmen lieferte Schutt an. Eric hörte dort die ganze Nacht Hunde bellen.

Eigentlich war sein neuer Job kinderleicht: Alle halbe Stunde eine Runde durch diesen Teil der Firma laufen. Fenster und Türen überprüfen. Auf die Bildschirme schauen, ob alle Kameras funktionieren oder ob sich etwas Ungewöhnliches ereignet hat. Neue Videokassetten am Ende seiner Schicht einlegen. Die vorherigen archivieren. Am Morgen das Übergabeprotokoll abhaken.

Eric genoss es, allein zu sein. Es machte ihm nichts aus. Im Gegenteil, es gab ihm das Gefühl, sein eigener Herr zu sein.

Schon bald hatte er herausbekommen, wie man die Überwachungskamera vor der Tür zum Aufenthaltsraum ausschalten konnte. Drinnen gab es keine, dafür aber ein Sofa. Ab ein Uhr würde er es sich darauf gemütlich machen und die restliche Nacht pennen. Für den Hungerlohn riss er sich jedenfalls nicht den Arsch auf. Verbittert dachte er daran, dass er am zwanzigsten des Monats regelmäßig pleite war. Gut, dass ihm seine Mutter dann immer Scheine zusteckte. Heimlich, damit der Alte nichts merkte.

Bei dem Gedanken an seine Mutter kam so etwas wie Dankbarkeit auf, obwohl er sie für einfältig hielt. Aber auf sie konnte er sich verlassen, schließlich hatte sie ihm in der Vergangenheit immer wieder aus der Patsche geholfen. So auch bei der letzten Sache, die dann glimpflich vor Gericht ausging. Nur blöd, dass sie ihm nun dauernd mit ihrer Nörgelei auf den Wecker ging, seitdem er wieder in sein altes Kinderzimmer eingezogen war.

Ansonsten lief zurzeit alles easy. Seinen Klotz am Bein, Sandy, die Bitch mit dem Kind, war er losgeworden. Aufgrund des Bratens in ihrer Röhre hatte er sie heiraten müssen. Nur wegen ihr und dem Unterhalt für das Kind war er jetzt ständig klamm. Trotzdem entspannte sich sein engelhaftes, unschuldig wirkendes Gesicht zu einem Lächeln, wenn er an seinen Sohn dachte. Obwohl … Seit dieser blöden Sache hatte er ihn nicht mehr gesehen.

Bei dem Gedanken an Sandy stieg in ihm die Wut hoch. Immer wieder hatte er ihr gesagt, dass sie in der Schwangerschaft nicht rauchen und trinken solle. Aber sie hatte nur an sich gedacht, sich einen Deut darum geschert und ihn ausgelacht. Wie gerne hätte er damals eine kleine Familie gehabt. Sandy hatte alles versaut. Das Kribbeln, die Unruhe kam wieder, er fühlte seine angestaute Wut. Am liebsten hätte er mit seinen Fäusten etwas zertrümmert oder mit den Füßen zertreten. Hier ging das nicht. Sie würden ihm auf die Schliche kommen, falls er Firmeneigentum zerschlug. Schließlich konnte er nicht alle Kameras ausschalten; das würde auffallen. So musste er bis morgen früh warten. Vielleicht kam ihm irgendein Assi in die Quere, an dem er seinen angestauten Zorn loswerden konnte.

An der Hauswand des Hauptgebäudes stand ein verbeultes Fahrrad. Es gehörte Josef. Josef war die Tagesschicht und ein Ehemaliger, der sich ein Zubrot zur Rente verdiente. Das war das Einzige, was Eric von ihm wusste. Und dass der Penner bei Wind und Wetter sein Fahrrad nahm und es nicht wie vorgeschrieben in den Ständer schob, sondern an die Hauswand lehnte. Fahrradfahrer hielten sich sowieso nie an Regeln und meinten, sie dürften sich im Straßenverkehr alles erlauben. Eric hasste sie.

Er schob seine Chipkarte in den Schlitz neben dem Eingang. Abrupt wurde die Tür von innen geöff net. Der Flur lag in absolutem Schwarz, denn Josef schaltete jedes Mal beim Gehen sämtliche Lichter aus. Schon fertig angezogen, stand sein Kollege bereit und befestigte gerade seine Hosenklammern, die im Dunklen leuchteten. Eric fand es lächerlich. Der Freak konnte sich noch nicht einmal ein Auto leisten. Wie jedes Mal verabschiedete sich Josef mit einem genuschelten: „Keine besonderen Vorkommnisse. Guts Nächtle.“

„Nabend“, brummte Eric und ging demonstrativ schnell an ihm vorbei. Er hatte keine Lust, sich mit dem Alten zu unterhalten – oder gar anzufreunden. Sofort legte er den Schalter für die Neonlampen wieder um. Seit seiner Zeit in Stammheim fürchtete er die Dunkelheit wie der Teufel das Weihwasser.

Der Flur, das Treppenhaus und die Werkshalle wurden in ein grell bläuliches Licht getaucht und ließen sie kalt und trostlos aussehen.

Neben dem Aufenthaltsraum für die Arbeiter befanden sich Spinde. Eric stellte seinen Rucksack hinein, zog Lederjacke, Jeans und die Boots aus, bis er nur in Boxershorts und T-Shirt da stand. Dann schlüpfte er in die bereitgestellte, frischgewaschene, schwarze Baumwollhose, in die dazugehörige Jacke und die klobigen Arbeitsschuhe. Die Kleidung war vorgeschrieben. Zwar fand er die Schuhe ausgesprochen hässlich und unbequem, aber bevor er seine Eigenen durch das Öl beschmutzte, das zum Reinigen der Maschinen benötigt wurde, zog er lieber die Treter an.

Eric kramte seinen Kamm hervor und fuhr damit durch sein blondes Haar. Es ließ ihn wie einen Botticelli-Engel aussehen. Wenigstens waren die Haare wieder nachgewachsen, nachdem er es bei seinem Zwangsaufenthalt aus Angst vor Übergriff en schwuler Mithäftlinge abrasiert hatte, obwohl er ahnte, dass es wahrscheinlich nichts genutzt hätte.

Seinen Ausweis mit der Chipkarte, auf dem ihm sein Foto entgegen lächelte, klemmte er an die Brusttasche. Anschließend nahm er die Tageszeitung mit den Stellenausschreibungen aus seinem Rucksack. Er steckte die Taschenlampe, die er vorsorglich immer bei sich trug, in die rechte Hosentasche der Jacke.

Ihn fröstelte. Die Firma wollte an den Betriebskosten sparen und drehte während der Nacht die Heizung herunter. Eric nahm seine Lederjacke wieder aus dem Spind und zog sie über. Den Rucksack mit dem Bier und den Zigaretten würde er nachher holen, sobald er seine Pause antrat.

Er blickte sich um. Alles war ruhig. Die Maschinen waren abgestellt. In der Luft hing ein eigentümlicher Geruch, ein Gemisch aus Öl, Schweiß und Putzmitteln. Alles schien normal zu sein. Trotzdem spürte er, dass etwas nicht stimmte. Sein Instinkt schickte ein Warnsignal an sein Gehirn. Das Frösteln war mehr als eine Reaktion auf die Temperatur.

Mit angespanntem Körper und auf alles gefasst, ging Eric langsam durch die Halle. Er kontrollierte die Fenster und den Hintereingang. Verschlossen. Ein paar Kisten standen herum. Er schob sie zur Seite, öff nete die Tür nach draußen und trat an die frische Luft. Mit seiner Taschenlampe, den Lichtkegel in der Runde kreisend, leuchtete er den Hof aus. Keine Fußspuren im Schnee zu sehen. Schulterzuckend ging Eric wieder hinein und versuchte das Schloss einschnappen zu lassen. Aber die Tür klemmte. Er legte die Taschenlampe innen auf einem Fenstersims ab und zog mit beiden Händen mit aller Kraft an der Klinke, damit der Ausgang verschlossen war.

Das Gebäude war außer ihm menschenleer. Weder drinnen noch draußen gab es Hinweise, dass sich jemand Unbefugtes Zutritt verschaff t hatte. Trotzdem verstärkte sich das Gefühl des Beobachtetseins.

»Vielleicht bin ich in letzter Zeit zu viel allein gewesen und meine Nerven liegen blank«, dachte Eric.

Das Buch


Sucht nicht nach mir! Das war die letzte Nachricht, die Alexandra von ihrem Sohn Falko bekommen hat, seit er kurz nach seinem achtzehnten Geburtstag verschwunden war. Falkos Bitte zum Trotz setzt Alexandra alles daran, ihn ausfindig zu machen. Leider ohne Erfolg. Mühsam und nur ganz langsam gelingt es ihr, mit der neuen Familiensituation zurechtzukommen. Fast fünf Jahre später geschieht das Unfassbare: Falkos Leiche wird ganz in der Nähe seines Elternhauses im Waldgebiet bei Zuffenhausen gefunden und die Zeichen stehen eindeutig auf Mord. Zutiefst verzweifelt erfährt Alexandra Halt von ihrer Familie und ihrer Freundin Judith, die sie dabei unterstützt, die verlorenen Jahre ihres Sohnes zu rekonstruieren. Was hat ihn damals bewegt, spurlos zu verschwinden und wo war er all die Jahre? Vor allem aber will Alexandra dem Menschen auf die Spur kommen, der die Schuld an Falkos Tod trägt. Doch damit stößt sie zunehmend auf Unverständnis bei ihrem Mann und ihrer Tochter. Im Gegensatz zu früher gibt Alexandra dieses Mal jedoch nicht nach und setzt ihre Suche fort. Sie entdeckt Dinge, die sie lieber nicht erfahren sollte und Stück für Stück bricht ihre bisherige Welt zusammen. Wem kann sie überhaupt noch vertrauen?

Die Autorin


Marion Henneberg (*1966) ist als Betriebswirtin in einem gemeinnützigen Unternehmen in Stuttgart angestellt und bereits seit 2008 als erfolgreiche Autorin tätig. Bisher veröffentlichte sie bei Ullstein die historischen Romane »Die Entscheidung der Magd« (2008), »Die Tochter des Münzmeisters« (2009), »Das Amulett der Wölfin« (2011) und zuletzt »Schwert und Lilie« (2014).

»Der achte Rabe« ist ihr erster Kriminalroman. Mit diesem komplexen Familiendrama zeigt sie anhand der Protagonistin, wieviel ein Mensch an Leid erfahren kann, sich auch teilweise selbst schuldig fühlt, fast daran zerbricht und am Ende doch wieder Hoffnung und Lebensmut verspüren kann.

Marion Henneberg lebt mit ihrer Familie in Marbach.


www.marion-henneberg.de


MARION HENNEBERG

der achte rabe


STUTTGART-KRIMI



Anmerkung der Autorin: 

Handlung und Personen in dieser Geschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit real existierenden oder auch bereits verstorbenen Personen sind daher rein zufällig.



Impressum


Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.


© 2016 Der Kleine Buch Verlag | Lauinger Verlag, Karlsruhe

Projektmanagement und Lektorat: Julia Barisic

Korrektorat: Anja Winckler

Umschlaggestaltung: Sonia Lauinger

Umschlagabbildung: CUTWORLD | fotolia.com

Satz: Beatrice Hildebrand


Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes (auch Fotokopien, Mikroverfilmung und Übersetzung) ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt auch ausdrücklich für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen jeder Art und von jedem Betreiber.


ISBN: 978-3-7650-2137-4

Dieser Titel ist auch als Printausgabe erschienen:

ISBN: 978-3-7650-8814-8


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Für Sina und Sven – dieses Mal anders herum,

aber immer für mich an erster Stelle …

Und wie der siebente Rabe auf den Grund des Bechers kam, rollte ihm das Ringlein entgegen. Da sah er es an und erkannte, dass es ein Ring von Vater und Mutter war, und sprach: »Gott gebe, unser Schwesterlein wäre da, so wären wir erlöst.« Wie das Mädchen, das hinter der Türe stand und lauschte, den Wunsch hörte, so trat es hervor, und da bekamen alle die Raben ihre menschliche Gestalt wieder. Und sie herzten und küssten einander, und zogen fröhlich heim.


Die sieben Raben

Ein Märchen der Brüder Grimm

prolog


Freitag, 30. Oktober

Der Schmerz zerriss ihm fast den Schädel. Er hatte dem Angriff nicht mehr ausweichen können, als der dicke Ast völlig unerwartet von der Seite auf ihn zugeflogen war. Die Wucht, mit der seine Schläfe getroffen wurde, riss ihn für den Bruchteil eines Augenblicks von den Füßen, bevor er am Rand des hartgefrorenen Waldwegs aufschlug. Sein Handy, das er kurz davor noch in der Hand gehalten hatte, landete im trockenen, halb gefrorenen Laub.

Die abgestorbene, knochenharte Wurzel direkt unter seiner Hüfte nahm er dabei kaum wahr, die explosionsartigen Wellen, die aus seinem Kopf auszubrechen versuchten, überdeckten jegliche Empfindungen. Für einen kurzen Augenblick wurde ihm schwarz vor Augen und er ließ sich in die tiefe Dunkelheit fallen. Versprach sie doch Erlösung von den Qualen.

Ein dumpfer Knall löste ihn aus seinem Wegdämmern heraus und nur widerwillig öffnete der schwer verletzte Mann die Augen.

Mühsam und unter großer Anstrengung erfasste sein Gehirn, dass der Ast unweit von ihm auf den Boden gefallen war. Sein Blick war dabei seltsam verschwommen. Schlierig. Es dämmerte ihm schließlich, dass das von dem Blut kommen musste, das ihm über das linke Auge tropfte.

Äußerst schwerfällig versuchte er seine Gedanken zu sortieren, aber das Hämmern in seinem Kopf nahm an Stärke zu, schwoll an bis zu einem schier unerträglichen Maß. Nicht mehr lange und seine Schädeldecke würde nachgeben, aufbrechen und die Qualen hätten ein Ende, dachte er. Seltsamerweise machte ihm dieser Gedanke keine Angst.

Die Lippen des jungen Mannes formten ein Wort, aber er brachte nicht einmal mehr ein Flüstern zustande: »Hilfe.«

Schnelle Schritte, die leiser wurden und bald darauf ganz verschwanden.

Der Mann wusste in diesem Moment, dass er verloren hatte. Alles hatte er sich ausgemalt, jede denkbar mögliche Wendung vorher gründlich durchgespielt. Aber das hatte er nicht bedacht. Darauf wäre er in seinen schlimmsten Träumen nicht gekommen.

Aus, dachte er, aus und vorbei.

Doch inmitten des Schmerzes tauchte ein Gedanke auf und automatisch versuchte er zu grinsen, was ihm allerdings misslang. Sein blutiges Gesicht bekam mit einem Mal einen entspannten Ausdruck. Vielleicht war doch nicht alles umsonst gewesen.

Wieder baute sich das tiefe schwarze Loch vor ihm auf. Es wurde größer, gleichwie das Hämmern in seinem Kopf an Stärke gewann. Als der Schmerz seine Schädeldecke durchbrach, verschlang er den Sterbenden und erlöste ihn endlich von seinen Qualen.

eins


Unvermittelt schreckte Alexandra hoch. Ruhe herrschte um sie herum. Neil Diamond war verstummt und das Teelicht in dem schönen Glas, das sie von ihrem Bretagne-Urlaub mitgebracht hatten, war verloschen. Sie musste eingeschlafen sein, doch was hatte sie so abrupt aufgeweckt?

Alexandras laut pochendes Herz beruhigte sich, als sie hörte, wie die Haustür aufgeschlossen wurde.

Steffen!

Ein schneller Blick zur Uhr zeigte der Zweiundvierzigjährigen, dass sie fast zwei Stunden geschlafen hatte. Dabei hatte sie sich eigentlich auf einen gemütlichen Abend mit einem Glas Wein und ihrem Lieblingsautor auf der Couch gefreut. Immer noch ziemlich verschlafen setzte sich Alexandra auf und betrachtete verschämt das Buch, das in der letzten Stunde unbeachtet auf dem Boden unter dem Wohnzimmertisch gelegen hatte.

»Du bist ja noch wach!« Ihr Mann trat zu ihr und küsste sie leicht auf den Mund. Dann lachte er leise auf und strich seiner Frau mit dem Zeigefinger über die rechte Wange. »Oder sollte ich eher sagen: wieder wach? Dein Gesicht sieht ganz zerknittert aus!«

»Ich war eben ziemlich müde«, antwortete Alexandra noch immer verschlafen, rieb sich die Augen und fuhr dabei unbewusst übers Gesicht. Tatsächlich konnte sie einen langen Streifen ertasten, der sich von der Schläfe bis zum Mundwinkel zog. »Du kommst spät«, fügte sie leise hinzu und rümpfte fast gleichzeitig die Nase. »In welchem Imbiss habt ihr euch denn getroffen? Du riechst, als hättest du in altem Frittierfett gebadet.«

Steffen ließ sich neben seiner Frau aufs Sofa fallen und schnüffelte an seinem Hemd, während Alexandra ihre Beine unter der warmen Fleecedecke ein Stück hochzog, um ihrem Mann mehr Platz zu lassen.

»Du hast recht, ich werde gleich noch unter die Dusche springen. Ist mir vorhin gar nicht aufgefallen.« Er griff nach dem Glas, das auf dem Tisch stand, und leerte den Rest Rosé in einem Zug. »Außerdem ist es doch noch gar nicht so spät. Allerdings muss ich zugeben, dass der Abend sich ewig hingezogen hat. Man bin ich froh, dass diese Essen nicht so oft stattfinden.«

Liebevoll strich Alexandra ihrem Mann über den Arm, dann über die Schläfe. Seine kurzen, dunkelblonden Haare waren von grauen Strähnen durchzogen. Während Alexandra mit regelmäßigen Färbungen gegen ihre grauen Haare ankämpfte, verliehen sie ihrem Mann einen gewissen Reiz, den er als junger Mann nicht besessen hatte.

Steffen arbeitete als Staatsanwalt in Stuttgart und hatte gerade eines seiner Essen im Kollegenkreis hinter sich. Alexandra kannte die Abneigung ihres Mannes gegenüber diesen Terminen, denn eigentlich war er ein richtiger Familienmensch und ging, wenn überhaupt, am liebsten nur mit seiner Frau und seiner Tochter essen. Und obwohl er ihr manchmal deswegen fast ein wenig leid tat, amüsierte sie sich immer schon im Stillen, wenn Steffen ihr einen neuen Termin nannte,

»Kommst du auch gleich nach?«

Alexandra wandte sich zu ihrem Mann um, der sich von seinem Platz erhoben hatte und bereits an der Tür zum Flur stand. Für den Bruchteil eines Augenblicks hatte sie das Gefühl, als quälte ihn etwas. Doch der Eindruck verschwand sofort wieder, als Steffen seiner Frau ein warmes Lächeln schenkte, bevor er aus ihrem Blickfeld verschwand. Gleich drauf hörte Alexandra das gewohnte Pfeifen, das ihn fast überall begleitete. Mit einem Seufzen schlug sie die Decke zurück und stand auf. Sie fing an zu frösteln und schüttelte sich leicht. Dann löschte sie das Licht der Stehlampe und warf erneut einen Blick zur Uhr. Kurz nach elf! Sie hatte sich doch tatsächlich vorhin um eine ganze Stunde vertan! Ihr Mann hatte recht. Es war wirklich noch nicht so spät.

Samstag, 31. Oktober

Hauptkommissar Körschner fluchte verhalten. Die Ausbuchtung am Ende der engen Straße, die kurz vor dem Waldstück endete, war mit Autos dermaßen vollgestellt, dass er entnervt aufgab, den Rückwärtsgang einlegte und sich mit seinem Golf in eine Lücke am anderen Ende der Reihe quetschte. Vorwiegend waren es Fahrzeuge der Polizei, die hier im absoluten Parkverbot standen.

»Müssen wir eben den restlichen Weg zu Fuß zurücklegen«, brummte er, während er den Schlüssel herauszog und die Tür öffnete.

Beate Friesing schmunzelte. Sie arbeitete erst seit einigen Monaten mit Gerhard Körschner zusammen und war darüber sehr glücklich. Auf den ersten Blick wirkte er mürrisch, aber wie so oft im Leben täuschte der Eindruck. Körschner war sicher nicht gerade der Gesprächigste, aber genau diese Eigenschaft gefiel seiner jüngeren Kollegin. Schließlich war sie selbst ebenfalls eher wortkarg.

»Ist doch kein Problem bei dem herrlichen Wetter«, gab sie zurück und erhielt als Antwort das erwartete Brummen, das sie nun so oder so deuten konnte. Es hatte zwar empfindlich abgekühlt und gab schon seit ein paar Tagen Nachtfrost aber der heutige Sonnenschein entschädigte die sommerverliebte Beate für die bevorstehende kalte Jahreszeit.

Körschner hatte den Wagen so dicht neben einem der Bäume geparkt, die sich zwischen dem Waldheim und dem Weg befanden, dass seine Kollegin Mühe hatte, aus dem Auto zu steigen. Zum Glück hatte sie nicht nur einen sehr schlanken, sondern auch sportlichen Körper. Trotzdem entschlüpfte ihr ein leichtes Ächzen, als sie sich aus dem Wageninneren nach draußen schob und die Tür hinter sich zuschlug. Während sie die Tennisplätze linker Hand passierte, folgte sie den leicht schlurfenden Schritten ihres älteren Kollegen. Gleich darauf hatte sie ihn eingeholt.

»Martens und Brenniger können sicher nichts dafür, dass sie mit Magen- und Darmgrippe im Bett liegen. Außerdem sind wir schon zu schlimmeren Uhrzeiten gerufen worden.«

Am Wochenende waren eigentlich die Kollegen vom Kriminaldauerdienst zuständig, aber da aufgrund einer ungewöhnlich hohen Zahl von Erkrankungen Personalmangel herrschte, waren Beate und ihr Kollege zum Tatort gerufen worden. Körschner nickte einem entgegenkommenden Kollegen zu, der in der Hand eine Rolle Absperrband hielt und fragte ihn nach der Entfernung, die vor ihnen lag.

»Noch ungefähr fünfhundert Meter«, gab der Streifenbeamte zurück und zeigte dabei mit seiner freien Hand auf den Weg, der sich vor ihnen in den Wald fraß.

Körschner bedankte sich und sie setzten ihren morgendlichen Gang fort.

»Natürlich ist es nicht ihre Schuld. Aber mussten die beiden auch zusammen Muscheln essen gehen? So hätte wenigstens nur einer von uns heute hier raus gemusst«, antwortete er noch immer leicht verärgert.

Beate grinste und zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. Sie sah den unglücklichen Zustand, dass ihre beiden Kollegen wegen der gleichen Ursache ausfielen, sodass sie ihren Dienst übernehmen mussten, relativ locker. Was vielleicht aber auch daran lag, dass sie noch nicht so viele Dienstjahre hinter sich hatte wie ihr Kollege, der die Fünfzig bereits deutlich überschritten hatte.

»Was wissen wir denn bereits?«, erkundigte sie sich und blinzelte kurz, als ein Sonnenstrahl den Weg durch die Baumwipfel direkt in ihre Augen fand.

»Männliche Leiche. Wurde gegen sieben Uhr von einem Jogger gefunden. Ist wohl fast darüber gestolpert«, informierte Körschner sie, wobei Beate erfreut feststellte, dass sein Tonfall langsam wieder freundlicher wurde. Ein Blick zur Uhr zeigte ihr, dass sie gut in der Zeit lagen, denn seit dem Auffinden des Toten war noch keine Stunde vergangen.

Den restlichen Weg legten sie schweigend zurück.

Dass der Ausdruck des Stolperns wörtlich gemeint war, erkannte die Oberkommissarin sofort, als sie den abgesperrten Tatort erreichten. Die Spurensicherung war bereits an der Arbeit, daher hielten die beiden den nötigen Abstand, bis die Kollegen ihnen grünes Licht geben würden. Der Tote lag seitlich am Wegrand, wobei sein Oberkörper auf den vertrockneten Blättern lag und seine Beine in den Weg ragten und somit eine tückische Stolperfalle darstellten. Zumindest für einen gedankenverlorenen Jogger.

Der rechte Arm des Toten lag seltsam verdreht halb unter seinem Körper und an der linken Schläfe war eine hässliche Wunde zu sehen, deren Blut nicht nur die Gesichtshälfte grotesk verschmiert, sondern auch die halblangen, brauen Haare verklebt hatte.

»Kümmerst du dich um den Jogger?«, fragte Körschner seine Kollegin und nickte in Richtung des Mannes, der ein Stück abseits auf einem Baumstumpf saß und ziemlich blass aussah.

»Könnt ihr schon etwas zur Todesursache sagen?«

Während Beate Friesing zu dem vor sich hinstarrenden Sportler ging, wandte sich Körschner an seinen Kollegen Ernst Molltner von der Spurensicherung. Die beiden kannten sich schon gefühlte zwanzig Jahre, wobei die tatsächliche Zeit gar nicht so weit davon entfernt war.

»Klar! Dieses Mal hat es uns der Täter einfach gemacht! Ein paar Meter von der Leiche entfernt fanden wir einen dicken Ast, den ich für die Tatwaffe halte. An dem einen Ende ist ein kleiner Fleck, der allerdings noch genau untersucht werden muss. Ich verwette jedoch mein Weihnachtsgeld, dass es sich dabei um Blut handelt.«

Körschner schmunzelte, was seinem faltigen Gesicht einen großväterlichen Ausdruck verlieh. Weihnachtsgeld erhielten sie schon seit Jahren nur noch in stark gekürzter Form!

»Er wurde also erschlagen. Habt ihr sonst noch was für mich?«, hakte Körschner nach.

»Nun sei mal zufrieden damit und warte einfach unsere Ergebnisse ab«, wies Molltner ihn zurecht. Wie Körschner gehofft hatte, schob er trotzdem gleich darauf noch weitere Informationen nach. »Der Boden ist sautrocken und teilweise sogar schon gefroren. Wir haben daher keine halbwegs brauchbaren Schuhabdrücke gefunden. Wegen möglicher Fingerabdrücke würde ich mir auch keine großen Hoffnungen machen. Bei der Kälte tragen die meisten Handschuhe. Aber vielleicht haben wir ja doch Glück.«

Körschner ließ seinen Blick über den Ort des Geschehens schweifen. Dabei versuchte er, sich jede noch so unbedeutende Kleinigkeit zu merken, denn oft waren es gerade Nebensächlichkeiten, die zum Täter führten. Zu dieser Erkenntnis war Körschner in den vielen Jahren seiner Tätigkeit beim Dezernat für Kapitaldelikte nicht nur einmal gekommen.

»Wo habt ihr den Ast gefunden?«

Molltner, der sich bereits wieder seiner Arbeit zugewandt hatte, sah kurz auf und wies mit der Hand auf eine markierte Stelle, ungefähr zwei Meter von der Leiche entfernt.

Wieso hast du die Mordwaffe nicht weiter weg geworfen? Bei den vielen Ästen hier war die Chance nicht gering, dass gerade dieser Ast übersehen worden wäre! Warst du in Panik? War es eine Tat im Affekt, sodass du total kopflos davongelaufen bist?

Mit der Antwort auf die nächste Frage, die er Molltner stellte, konnte Gerhard Körschner seine Gedanken gleich wieder neu sortieren.

»Nein, wir haben keinerlei Papiere bei dem Opfer gefunden. Außer einem Schlüsselbund und einem Blatt Papier, auf dem sich eine seltsame Zeichnung befindet, trug er nichts bei sich. Auch kein Handy, falls das eine weitere Frage gewesen wäre.«

Körschner klappte seinen Mund wieder zu, nahm das in Folie verpackte Papier entgegen und runzelte die Stirn. Das Blatt war eigentlich mehr ein Fetzen und stammte vermutlich aus einem Heft, denn die lange Abrisskante war sehr ungleichmäßig. So, als hätte es jemand in großer Eile herausgerissen. Der große schwarze Rabe, der anscheinend auf einen deutlich kleineren Mann wartete, dessen Gesicht im Profil nicht zu erkennen war, war hervorragend skizziert. Leider hatte Gerhard Körschner nicht die geringste Ahnung, was er damit anfangen sollte.

Mittwoch, 04. November

Alexandra verpasste der Eingangstür einen leichten Tritt, sodass diese mit einem dumpfen Ton hinter ihr ins Schloss fiel. Anschließend entledigte sie sich ihrer Pumps, die in der Ecke des Flures landeten.

»Tut das gut!«, stöhnte sie erleichtert auf und rieb sich die Zehen ihres linken Fußes. »Nie wieder ziehe ich neue Schuhe an, wenn ich einen langen Tag vor mir habe!«

Ihre eigene Ermahnung verhallte ungehört, ganz offensichtlich befand sie sich allein in ihrem Haus. Verwundert war sie darüber nicht. Seit ihre Tochter Carolin in Tübingen Jura studierte, verbrachte Alexandra ihre Zeit bis zum Abend oft allein. Steffen kam in der Regel nicht vor sieben Uhr nach Hause.

Mit einem wohligen Seufzer ließ sie ihre Tasche auf den Boden gleiten und schlüpfte aus ihrem Trenchcoat, um ihn anschließend über die Garderobenstange zu werfen. Dabei streifte ihr Blick den Anrufbeantworter, dessen Lämpchen hektisch blinkte. Ein kurzer Tastendruck entlockte dem Gerät seine Nachricht. Wie erwartet stammte sie von ihrem Mann. Obwohl seine langen Arbeitszeiten seit vielen Jahren zum Alltag ihres Ehelebens gehörten, rief er meistens am späten Nachmittag an, um wenigstens ein paar Worte mit Alexandra zu wechseln.

»Hallo Alex, Carolin hat mich im Büro überrascht und wir zwei gehen jetzt noch eine Kleinigkeit essen. Ich schätze, ich bin so gegen acht zu Hause. Kuss und bis später!«

Die Empfängerin der Nachricht trocknete sich ihre Hände ab, als der Piepton das Ende des Anrufs ankündigte. Alex, kaum jemand nannte sie bei ihrem vollständigen Vornamen, erledigte gern mehrere Dinge gleichzeitig, obwohl sie im Grunde genommen kein rastloser Mensch war, dem die Zeit davonlief. Im Gegenteil. Seit Carolin dem Kindesalter entwachsen war, verfügte sie manchmal sogar über zu viel Zeit. Vor gut vier Jahren, als sich Alexandras Selbstwertgefühl gegen null geschoben hatte, suchte sie sich einen Vierhundert-Euro-Job und nahm mehrere Ehrenämter an. So gelang es ihr nicht nur, die Entwicklung zu einer unsicheren, von Minderwertigkeitsgefühlen geplagten Frau eines erfolgreichen Staatsanwaltes, aufzuhalten, sondern ihn sogar ins Gegenteil zu kehren. Hätte sie sich damals entschlossen, nicht zu dem Vorstellungsgespräch mit der bekannten Künstlerin Judith Felsmann zu gehen, wäre sie sicher an dem furchtbaren Ereignis, das ihre Familie so unerwartet getroffen hatte, zerbrochen. So aber hatte Alexandra sich in die Arbeit gestürzt und die Tatsache, dass ihr Sohn Falko einfach von einem Tag auf den anderen verschwunden war, erfolgreich verdrängt.

Verdrängt, nicht verwunden.

»Na dann, viel Spaß«, murmelte sie leise und ging in die Küche.

Die Scheibe Brot, die bereits seit zwei Tagen in der Frischhaltetüte lag, sah nicht gerade verlockend aus. Sicher lassen es sich die beiden gerade bei Luigi schmecken, Steffens Lieblingsitaliener, der sich in der Nähe der Stuttgarter Staatsanwaltschaft befand. Plötzlich, ohne dass Alexandra sich dessen bewusst wurde, machte sich ein Gefühl in ihr bemerkbar, das immer mal wieder auftauchte, wenn es um Steffen und Carolin ging. Neid. Wie so oft fühlte sich Alexandra aus dem Leben ihres Mannes und ihrer Tochter ausgeschlossen. Das war nicht immer so gewesen, obwohl die Beziehung der beiden von Anfang an sehr eng gewesen war. Früher hatte Alexandra keine Probleme damit gehabt, dass Carolin mehr an ihrem Vater hing und er ihr großes Vorbild, ja, fast schon Idol war. Aber damals konnte Alexandra ihre Liebe über Falko ausschütten, der mit Steffen ständig aneinandergeriet.

Seit Falko nicht mehr bei ihnen lebte, fühlte sich Alexandra oft einsam.

Entschieden verdrängte Alexandra das aufkommende Gefühl. Eigentlich kann ich froh sein, dass sich Carolin so gut mit ihrem Vater versteht, dachte sie, während sie das kleine Bild ihres Sohnes anschaute. Seit Jahren hing das Passfoto nun schon an der Pinnwand. Das Lächeln des damals Vierzehnjährigen versetzte seiner Mutter noch immer einen Stich, auch wenn der Schmerz mit den Jahren nachgelassen hatte.

»Ach, was soll’s! Was ihr könnt, kann ich schon lange!«

Alexandra öffnete die Tür des Gefrierschranks und entnahm ihm mit knurrendem Magen eine Thunfischpizza. Nachdem sie den Backofen vorgeheizt und die Pizza auf das Blech gelegt hatte, ging sie in den Keller und kehrte gleich darauf mit einer Flasche Wein zurück. Alexandra sog genussvoll den Geruch ein, der ihr in der Küche aus dem Backofen entgegenströmte.

Die schmerzhaften Gedanken hatte sie wie gewöhnlich erfolgreich verdrängt.

Kommissar Körschner setzte den Blinker und scherte langsam auf die Überholspur aus. Normalerweise hielt er sich an die angegebenen Geschwindigkeitsbegrenzungen, aber der Fahrer des Opel Rekords gehörte offensichtlich zu der Gruppe Autofahrer, die lieber auf Nummer sicher gingen und knapp darunter blieben. Körschner wollte ganz einfach nicht länger hinter dem Wagen hertuckern. Selbst im Vorbeifahren erkannte Beate die angespannte Haltung des Rekord-Fahrers, der förmlich an der Windschutzscheibe klebte. Kopfschüttelnd wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Kollegen zu.

»Was wissen wir über diesen Falko Thalinger?«

Kurz bevor Beate sich bei ihrem Kollegen in den Feierabend verabschieden wollte, waren die neuesten Erkenntnisse zur Identität des Toten hereingeflattert. Ein Serverausfall am Samstag mit anschließenden längerfristigen Wartungsarbeiten hatte eine Datenbankabfrage erst am Montagabend möglich gemacht. Der Abgleich mit den Fingerabdrücken und der Vermisstendatei fiel dann aber leider negativ aus. Eine polizeiinterne Veröffentlichung eines der Fotos, die von dem Toten angefertigt wurden, brachte dann den Durchbruch. So sparten sie sich glücklicherweise eine Veröffentlichung in der örtlichen Zeitung. Ein Kollege des Drogendezernats, Walter Supfinger, hatte den Mann wiedererkannt, auch wenn er sich nicht mehr genau an den Zeitpunkt erinnern konnte, wann er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Er wusste nur noch, dass es mit den Kontrollen bei einigen Junkies zusammenhing und wohl auch bei ihm selbst einmal Joints gefunden wurden.

Da Beate und er in der Datenbank nicht fündig geworden waren, musste es mehr als drei Jahre zurückliegen. Der Name war bei Supfinger hängengeblieben, weil sie zum einen nach der Überprüfung der Personalien ziemlich schnell darauf gestoßen waren, dass es sich um den Sohn eines Stuttgarter Staatsanwalts handelte. Zum anderen hatte Supfinger seinerzeit ein paar Portraitzeichnungen des Toten bewundert. Er fand sie sensationell.

»Wäre er nicht ermordet worden, könnte er in der nächsten Woche seinen 23. Geburtstag feiern«, erwiderte Körschner, der keinen Hehl daraus gemacht hatte, wie froh er über Beates Begleitung war. Seine Abneigung gegen das Überbringen von Todesnachrichten war im Kollegenkreis bekannt, ebenso wie sein Pflichtgefühl, diese Aufgabe trotzdem zu übernehmen und nicht an jüngere Beamte abzuschieben.

Obwohl Beate sich die Antwort eigentlich schon denken konnte, erkundigte sie sich bei ihrem Partner, warum nicht die Kollegen vom Ludwigsburger Revier diese Aufgabe übernehmen sollten.

»Der Mord liegt nun schon einige Tage zurück. Durch die erschwerte Identifizierung haben wir wertvolle Zeit verloren«, erklärte Körschner und runzelte die Stirn, als der Radiosprecher von den neuesten Entwicklungen beim umstrittenen Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 berichtete.

»Wenn ich die Eltern des Toten erst zur Befragung einbestellt hätte, hätte das einen weiteren Zeitverlust von mindestens ein bis zwei Tagen bedeutet.«

»Na, dann warten wir mal ab, welche Informationen wir noch von seinen Eltern erhalten«, sagte Beate und stellte das Radio ab. Sie war das Thema Stuttgart 21 so unendlich leid.

Beate Friesing rieb sich ihre Hände, die trotz der warmen Luft, die aus der Lüftung ins Wageninnere strömte, immer noch eisig kalt waren. Kein Wunder bei dem miesen Wetter, dachte sie grimmig und starrte hinaus in den dunklen Novemberabend. Es nieselte leicht und die Anzeige auf dem Display warnte vor Glatteis. Ihr Kollege hatte die Scheibenwischer auf Intervall eingestellt und jedes Mal, wenn die Wischer sich ihren Weg über die Scheibe bahnten, quietschten sie leise – fast so, als würden sie sich ebenfalls über das nasskalte Wetter beklagen, das ihren Einsatz erforderlich machte.

»Ist er eigentlich noch unter der Adresse der Eltern gemeldet?«, fragte Beate und gab den Versuch auf, ihren Händen einen Hauch von Wärme zuzuführen. Sie würde sich nachher zu Hause in die Badewanne legen.

»Nein. Hausermann hat in aller Schnelle herausgefunden, dass Falko Thalinger seit vier Jahren in Berlin registriert war. Ich habe bereits veranlasst, dass sich die Kollegen dort in seiner Wohnung umsehen sollen.«

Beate rümpfte die Nase. Hausermann war zwei Jahre älter als sie und machte keinen Hehl daraus, dass er sie nicht leiden konnte. Wann seine Abneigung gegen sie begonnen hatte, wusste Beate nicht zu sagen. Zumindest aber konnte sie den genauen Zeitpunkt nennen, ab wann dieses Gefühl von ihr erwidert wurde.

Michael Hausermann hatte kurz nach seinem zweiwöchigen Urlaub auf Mallorca im Mai ein paar unschöne Witze über Lesben gerissen. Anscheinend hatte es an seinem Nachbartisch im hoteleigenen Restaurant ein verliebtes gleichgeschlechtliches Pärchen gegeben, das seine Fantasie in diesem Urlaub ordentlich angeregt hatte. Beate war aus verständlichen Gründen nicht in das schallende Gelächter der Kollegen eingefallen und hatte kurz danach den Raum verlassen. Später hatte Maren, die andere Kollegin in der Abteilung, ihr berichtet, dass Hausermanns Gesicht eine knallrote Färbung angenommen hatte, nachdem er erfahren hatte, dass Beate mit ihrer Lebensgefährtin zusammenwohnte. Entschuldigt hatte er sich jedoch nicht.

»Die Spuren auf der Mordwaffe helfen uns auch nicht sonderlich weiter. Es wurden kleinste Partikel gefunden, die auf dunkle Fleecehandschuhe schließen lassen«, unterbrach Körschner ihre Gedanken. Beate riss sich zusammen und schüttelte die Erinnerung an Hausermann ab. »Falko Thalinger hat sich nicht gewehrt. Dr. Krieger hat keinerlei Hinweise bei ihm entdeckt, die darauf schließen lassen. Entweder wurde er von dem Täter überrascht oder er kannte seinen Mörder und hat deshalb nicht rechtzeitig reagiert«, mutmaßte Körschner mit einem verstohlenen Seitenblick auf Beate, die ihm jetzt aber wieder hoch konzentriert zuhörte.

»Tja, leider kann er es uns nicht mehr erzählen. Bis jetzt wissen wir nicht viel über den Toten. Mal sehen, was die Eltern sagen«, meinte Beate nachdenklich und betrachtete im Vorbeifahren das Wüstenrot-Hochhaus. Gleich darauf rauschte das Ortschild an ihnen vorbei und Körschner bremste ab, als die Ampel vor ihnen auf Gelb umschaltete.

Die Kriminalkommissarin kannte Ludwigsburg nicht besonders gut. Außer einem Sommerausflug ins Blühende Barock, dem Schloss mit seinen herrlichen Gartenanlagen, brachte sie damit nichts in Verbindung.

Kurze Zeit später hielten sie vor einem älteren Einfamilienhaus. In einem der Zimmer brannte Licht, der Rest des Hauses lag im Dunkeln. Die beiden stiegen aus und gingen auf den Eingang zu, der augenblicklich von einer Außenlampe erhellt wurde.

»Es gibt Pizza«, sagte Körschner und drückte auf den Klingelknopf. Durch das gekippte Fenster drang das Geräusch eines scheppernden Blechs zu ihnen, dem ein leiser Fluch folgte, bevor das Rauschen von Wasser zu hören war.

Beate nickte stumm. Höchstwahrscheinlich wird diese Pizza nicht gegessen werden, dachte sie und schlang die Arme um sich.

Alexandra stöhnte leise auf, als das kalte Leitungswasser über ihre Hand lief und langsam seine Wirkung zeigte. Als es an der Tür geklingelt hatte, war sie erschrocken zusammengezuckt und hatte sich mit ihrer Handkante am Backblech verbrannt. Die Klingel ertönte ein zweites Mal. Mit einer ruckartigen Handbewegung drückte sie den Wasserhahn zu und ging zur Tür. Sie erwartete niemanden. Vielleicht hatte Carolin mal wieder etwas bei eBay ersteigert, ging es Alexandra durch den Kopf, und vergessen, ihre neue Adresse anzugeben. Allerdings sah das Paar, das ihr beim Öffnen der Eingangstür gegenüber stand, nicht nach dem Hermes-Paketdienst aus.

»Ja bitte?«, fragte Alexandra und hielt sich die verbrannte Stelle ihrer Hand, da der Schmerz sich wieder zurückmeldete.

Der grauhaarige Mann, Alexandra schätzte ihn auf Mitte fünfzig, streckte ihr einen Ausweis entgegen und stellte sich gleichzeitig mit »Körschner, Kripo Stuttgart« vor. Mit einer flüchtigen Handbewegung in Richtung der jüngeren Frau neben ihm übernahm er auch deren Vorstellung und fragte im Anschluss: »Sind Sie Frau Alexandra Thalinger?«

Alexandra wurde blass und ihr Magen krampfte sich zusammen. Sofort war alles wieder da! Die Ängste, die sie ausgestanden hatte, wenn wieder einmal die Polizei wegen ihres Sohnes an der Tür geklingelt hatte, ergriffen von ihr Besitz und nahmen sie in die Zange.

»Ist was mit Falko?«, flüsterte sie, ohne auf seine Frage einzugehen. »Ist meinem Sohn was passiert?«

»Können wir bitte reinkommen, Frau Thalinger?« Die Frau hatte die Antwort übernommen, indem sie Alexandras Frage mit einer Gegenfrage beantwortete und damit schon genug gesagt hatte. Trotz ihrer angenehm dunklen Stimme, die gut zu ihrer interessanten Erscheinung passte, lief es Alexandra eiskalt den Rücken hinunter. Mit einer Hand griff sie zum Türrahmen und starrte die Polizistin wortlos an.

»Bitte Frau Thalinger, können wir das drinnen besprechen?«

Beate Friesing startete einen erneuten Versuch und jetzt endlich gelang es Alexandra, sich aus ihrer Erstarrung zu lösen.

»Ja, na …«, Alexandra räusperte sich, um den Kloß in ihrem Hals loszuwerden. »Natürlich, entschuldigen Sie bitte«, sagte sie und trat zur Seite.

Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, ging sie an den beiden Wartenden vorbei, die drei Stufen hoch und lud sie mit einer Handbewegung ins Wohnzimmer ein. Der Pizzageruch erfüllte mittlerweile auch diesen Raum, da Alexandra vergessen hatte, die gegenüberliegende Küchentür hinter sich zu schließen. Sie hatte sich immer noch nicht wieder völlig im Griff, aber das Gefühl der Schwäche, das sie vor wenigen Minuten unvermittelt überfallen hatte, wich allmählich.

»Bitte setzen Sie sich doch.«

Während sich Alexandra in den Sessel fallen ließ, beobachtete sie ihre Besucher. Beide waren ihr auf Anhieb nicht unsympathisch. Das von tiefen Falten gezeichnete Gesicht des Mannes wirkte besorgt und verstärkte damit Alexandras Vorahnung, dass etwas Schlimmes geschehen sein musste.

»Es tut uns sehr leid, Frau Thalinger«, begann die Frau, deren Namen Alexandra vergessen hatte, »dass wir Ihnen eine traurige Nachricht überbringen müssen. Ihr Sohn Falko wurde am Samstagmorgen tot aufgefunden.«

Reglos, die Hände wie zum Gebet ineinander verschränkt, vernahm Alexandra die schrecklichen Worte, ohne sie wirklich zu verstehen. Ein dumpfer Druck breitete sich in ihrem Inneren aus und schien sämtliche Organe zusammenzudrücken. Mit starrem Blick fixierte sie ihre Besucherin, deren Mund sich immer wieder wie in Zeitlupe öffnete.

Seltsamerweise hörte Alexandra keinen Ton. Als sich eine schwere Hand auf ihre Schulter legte, zuckte Alexandra wie bei einem leichten Stromschlag zusammen, sodass die Last wieder herabrutschte.

»Ist alles in Ordnung, Frau Thalinger? Sollen wir jemanden benachrichtigen? Ihren Mann vielleicht?«

Wenigstens konnte sie ihn hören! Alexandras Kopf ruckte nach rechts. Ihr Gesicht hatte sich zu einer Grimasse verzogen und ihre Unterlippe bebte. Obwohl sie den Polizisten nur verschwommen erkennen konnte, registrierte sie das Mitleid in seiner Miene. Dass ihr unaufhaltsam die Tränen über die Wangen liefen, fiel ihr jedoch ebenso wenig auf, wie das Taschentuch, das er ihr entgegenhielt. Sie hatte mit einem Mal das Gefühl zu ersticken, denn ihre Kehle war wie zugeschnürt. Plötzlich schluchzte Alexandra laut auf.

»Ruf den Notarzt!«

Wie durch dichten Nebel drangen die Worte des Mannes zu ihr und Alexandra begann um sich zu schlagen. Gleich darauf wurde sie an beiden Armen festgehalten. Es war, als ob sie sich selbst dabei beobachtete, wie sie total hysterisch gegen den Kommissar ankämpfte, der mit ruhigen Worten auf sie einredete. Panisch japste Alexandra zwischen den Schluchzern nach Luft.

»Ganz ruhig atmen! Tief einatmen, so ist es gut!«

Endlich verstand Alexandra die monotonen Worte des Mannes und rang nach Atem. Es war kein gleichmäßiges, tiefes Einatmen, sondern ähnelte mehr den panischen Bewegungen eines Fisches, der auf dem Trockenen langsam verendet. Das ruckartige Einsaugen der Luft hatte etwas Beängstigendes an sich, das mindestens ebenso fremd in Alexandras Ohren klang, wie kurz zuvor ihr eigenes, jammervolles Klagen.

»Kripo Stuttgart, Beate Friesing. Wir benötigen dringend einen Notarzt! Salonallee 33 in Ludwigsburg. Schwerer Schock!«

Alexandra hatte das Kämpfen aufgegeben. Kraftlos lehnte sie sich gegen die Brust des Kommissars, der ihren Körper noch immer fest umfangen hielt, während sie lautlos weinte. Der Schmerz, der ihren Körper bis vor Kurzem noch ausgefüllt hatte, war vergangen und hatte einer Leere Platz gemacht, die kaum weniger zu ertragen war. Noch nicht einmal die vertraute Stimme, die in dem Augenblick aus dem Flur zu ihr ins Wohnzimmer drang, vermochte daran etwas zu ändern.

»Hallo Liebes! Ich bin wieder da!«