Über Agatha Christie

Agatha Christie begründete den modernen britischen Kriminalroman und avancierte im Laufe ihres Lebens zur bekanntesten Krimiautorin aller Zeiten. Ihren ersten Krimi veröffentlichte sie 1920, zweiundsiebzig weitere folgten. Darüber hinaus erschienen zahlreiche Kurzgeschichten, Theaterstücke, ein Gedichtband und – unter ihrem Pseudonym Mary Westmacott – sechs Romanzen. Ihre beliebten Krimihelden Hercule Poirot und Miss Marple sind – auch durch die Romanverfilmungen – einem Millionenpublikum bekannt. Psychologischer Feinsinn, skurriler Humor und Ironie verleihen ihren Krimis die besondere Note. Sie gilt als die meistgelesene Schriftstellerin überhaupt. 1971 wurde sie in den Adelsstand erhoben. Christie starb im Alter von 85 Jahren am 12. Januar 1976.

Für Mathew Prichard

1

Mrs Van Rydock trat einen Schritt vom Spiegel zurück und seufzte.

»Tja, so müsste es gehen«, murmelte sie. »Was meinst du, Jane?«

Miss Marple fasste die Lanvanelli-Kreation kritisch ins Auge.

»Ich finde, es ist ein wunderschönes Kleid«, sagte sie.

»Gegen das Kleid ist nichts einzuwenden«, sagte Mrs Van Rydock und seufzte erneut.

»Zieh es mir aus, Stephanie«, sagte sie.

Die ältliche Zofe mit den grauen Haaren und dem kleinen, verkniffenen Mund streifte Mrs Van Rydock das Kleid vorsichtig über die hoch gestreckten Arme.

Mrs Van Rydock stand in ihrem pfirsichfarbenen Satinunterkleid vor dem Spiegel. Ihr Körper steckte in einem perfekt sitzenden Korsett. Ihre noch immer ansehnlichen Beine waren von feinsten Nylonstrümpfen umhüllt. Ihr ständig durch Massagen aufgefrischtes, unter einer Kosmetikschicht verborgenes Gesicht wirkte selbst aus geringem Abstand noch fast mädchenhaft. Ihr Haar war nicht eigentlich grau, sondern schimmerte hortensienblau und war tadellos frisiert.

Wenn man Mrs Van Rydock so sah, konnte man sich kaum vorstellen, wie sie wohl im Naturzustand aussah. Alles, was für Geld zu haben war, wurde für ihre Schönheit getan – unterstützt durch Diät, Massagen und regelmäßige gymnastische Übungen.

Ruth Van Rydock sah ihre Freundin spitzbübisch an. »Was meinst du, Jane, würden viele vermuten, dass wir praktisch gleich alt sind, du und ich?«

Miss Marple antwortete loyal. »Aber wo denkst du hin«, sagte sie beruhigend. »Ich allerdings sehe leider auf die Minute so alt aus, wie ich bin!«

Miss Marple war weißhaarig, hatte ein weiches, rosiges, von Fältchen durchzogenes Gesicht und unschuldige porzellanblaue Augen. Sie sah aus wie eine ganz reizende alte Dame. Mrs Van Rydock hätte niemand eine reizende alte Dame genannt.

»Tja, das tust du wohl, Jane«, sagte Mrs Van Rydock. Dann grinste sie plötzlich. »Aber ich auch. Nur nicht auf dieselbe Art. ›Bewundernswert, wie gut sich die alte Schachtel hält‹, sagen sie von mir. Aber sie wissen, dass ich eine alte Schachtel bin! Und bei Gott, ich fühl mich auch so!«

Sie ließ sich in einen satinbezogenen Polstersessel fallen.

»Es ist gut, Stephanie«, sagte sie. »Du kannst gehen.«

Mit dem Kleid auf dem Arm verließ Stephanie das Zimmer.

»Die gute alte Stephanie«, sagte Ruth Van Rydock. »Seit über dreißig Jahren ist sie jetzt bei mir. Sie ist die einzige Frau, die weiß, wie ich wirklich aussehe! Jane, ich möchte mit dir reden.«

Miss Marple beugte sich leicht vor und sah Ruth gespannt an. Irgendwie wirkte sie in dem luxuriösen Schlafzimmer der teuren Hotelsuite fehl am Platz. Sie war in ziemlich tristes Schwarz gekleidet, hatte eine große Einkaufstasche bei sich und war von Kopf bis Fuß eine Dame.

»Ich mache mir Sorgen, Jane. Um Carrie Louise.«

»Carrie Louise?« Miss Marple wiederholte den Namen nachdenklich. Sein Klang versetzte sie weit in die Vergangenheit zurück.

Das Pensionat in Florenz. Sie selbst, das rosig-weiße, im Schatten einer Kathedrale aufgewachsene englische Mädchen. Die beiden Martin-Schwestern, Amerikanerinnen, für die Engländerin aufregend wegen ihrer eigentümlichen Aussprache, ihrer geraden Art und ihrer Lebenslust. Ruth, hoch gewachsen, leicht zu begeistern, immer obenauf; Carrie Louise, klein, zierlich, verträumt.

»Wann hast du sie zum letzten Mal gesehen, Jane?«

»Ach, das ist Ewigkeiten her. Mindestens fünfundzwanzig Jahre. Aber wir schreiben uns natürlich noch Weihnachtskarten.«

Freundschaft war schon etwas Merkwürdiges! Sie, die junge Jane Marple, und die beiden Amerikanerinnen. Ihre Wege hatten sich bald getrennt, und doch war die alte Zuneigung lebendig geblieben; gelegentliche Briefe, Grüße zu Weihnachten. Dass sie von den beiden Schwestern die in Amerika lebende Ruth öfter gesehen hatte, war eigenartig. Oder vielleicht auch nicht. Wie die meisten Amerikanerinnen ihrer Gesellschaftsschicht war Ruth Kosmopolitin. Sie war alle ein, zwei Jahre einmal nach Europa gekommen, war von London nach Paris geeilt und weiter an die Riviera, stets darauf bedacht, überall, wo sie war, wenigstens ein paar Minuten mit ihren alten Freundinnen zu verbringen. Es hatte viele solche Treffen gegeben. Im Claridge’s oder im Savoy, im Berkeley, im Dorchester. Ein erlesenes Mahl, lieb gewordene Erinnerungen, dann ein rascher, herzlicher Abschied. Ruth hatte nie Zeit gehabt, nach St. Mary Mead zu kommen, aber das hatte Miss Marple auch nie erwartet. Das Leben eines jeden Menschen hat sein Tempo. Bei Ruth war es ein Presto, Miss Marple begnügte sich mit einem Adagio.

Sie hatte sich also mit der Amerikanerin Ruth recht häufig getroffen, während sie Carrie Louise, die in England lebte, seit über zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte. Seltsam, aber eigentlich ganz logisch, denn mit alten Freundinnen, die im selben Land leben, braucht man keine Treffen zu arrangieren. Man verlässt sich darauf, dass man sie früher oder später auch ohne Regie treffen wird. Nur, das geschieht nie, wenn man sich in verschiedenen Sphären bewegt. Die Wege von Jane Marple und Carrie Louise kreuzten sich nicht. So einfach war das.

»Warum machst du dir Sorgen um Carrie Louise, Ruth?«, fragte Miss Marple.

»Gerade das macht mir ja die meisten Sorgen! Ich weiß es einfach nicht.«

»Sie ist doch nicht krank?«

»Sie ist sehr zart – schon immer gewesen. Ich würde nicht sagen, dass es ihr schlechter ging als sonst, wenn man bedenkt, dass sie ja auch in die Jahre gekommen ist, genau wie wir.«

»Unglücklich?«

»Nein, nein.«

Nein, das kann nicht sein, dachte Miss Marple. Schwer vorstellbar, Carrie Louise könnte unglücklich sein – obwohl es auch in ihrem Leben Zeiten gegeben haben musste, in denen sie unglücklich gewesen war. Nur, es wollte sich kein klares Bild einstellen. Durcheinander – ja, fassungslos – ja, aber gramgebeugt – nein.

Mrs Van Rydocks Antwort kam wie eine Bestätigung ihrer Gedanken. »Carrie Louise«, sagte sie, »hat immer außerhalb dieser Welt gelebt. Sie kennt sie überhaupt nicht. Vielleicht ist es das, was mir so Sorgen macht.«

»Ihre Lebensumstände«, setzte Miss Marple an, doch dann hielt sie inne und schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Nein, es liegt an ihr selbst«, sagte Ruth Van Rydock. »Carrie Louise war immer diejenige von uns, die Ideale hatte. Sicher, in unserer Jugend war es Mode, Ideale zu haben – wir alle hatten welche, das gehörte sich einfach für junge Mädchen. Du wolltest die Aussätzigen pflegen, Jane, und ich wollte Nonne werden. Aus derlei Unsinn wächst man heraus. Die Ehe, so könnte man vielleicht sagen, treibt einem das aus. Wobei ich im Großen und Ganzen mit der Ehe nicht schlecht gefahren bin.«

Das war leicht untertrieben, fand Miss Marple. Ruth war dreimal verheiratet gewesen, jedes Mal mit einem schwerreichen Mann, und die Scheidungen hatten ihr Bankkonto anschwellen lassen, was ihr keineswegs die Laune verdorben hatte.

»Sicher«, sagte Mrs Van Rydock, »ich war immer hart im Nehmen. Mich wirft so schnell nichts um. Ich habe nicht zu viel vom Leben erwartet, schon gar nicht von den Männern, und das hat sich ausgezahlt. Außerdem ging es immer ohne böses Blut ab – Tommy und ich sind heute noch gute Freunde, und Julius holt sich oft geschäftlichen Rat bei mir.« Ihre Miene verdüsterte sich. »Ich glaube, das ist der Grund, weshalb ich mir Sorgen um Carrie Louise mache – sie hat immer dazu geneigt, Spinner zu heiraten, weißt du.«

»Spinner?«

»Männer mit Idealen. Carrie Louise fand Ideale immer unwiderstehlich. Siebzehn war sie und bildhübsch, siebzehn erst, und hörte mit Augen so groß wie Untertassen zu, wie der alte Gulbrandsen von seinen Plänen für die Menschheit schwärmt. Er war über fünfzig, und sie hat ihn geheiratet, einen Witwer mit erwachsenen Kindern, nur wegen seiner philanthropischen Ideen. Sie hat dagesessen und ihm wie gebannt zugehört. Genau wie Desdemona und Othello. Nur dass zum Glück kein Jago da war, der alles kaputtgemacht hätte – und Gulbrandsen war natürlich auch kein Mohr. Er war Schwede oder Norweger oder so was.«

Miss Marple nickte nachdenklich. Gulbrandsen war weltbekannt. Ein Mann, der mit genialem Geschäftssinn und unbedingter Redlichkeit ein so gigantisches Vermögen angehäuft hatte, dass Philanthropie die einzige Möglichkeit war, es wieder loszuwerden. Der Name hatte noch immer einen guten Klang. Der Gulbrandsen-Trust, die Gulbrandsen-Forschungsstipendien, die Gulbrandsen-Armenhäuser und vor allem das riesige College für Arbeitersöhne.

»Sie hat ihn nicht wegen seines Geldes geheiratet, weißt du«, sagte Ruth. »Für mich wäre das der einzige Grund gewesen, wenn ich ihn überhaupt geheiratet hätte. Aber bei Carrie Louise war es anders. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn er nicht gestorben wäre, als sie zweiunddreißig war. Zweiunddreißig ist ein ideales Alter für eine Witwe. Sie hat Erfahrung, kann sich aber noch anpassen.«

Ihre altjüngferliche Zuhörerin nickte sanft. Im Geist ging sie die Witwen durch, die sie in St. Mary Mead kannte oder gekannt hatte.

»Das beste Gefühl hatte ich eigentlich, als Carrie Louise Johnnie Restarick geheiratet hat. Natürlich hat er sie wegen ihres Geldes geheiratet – zumindest hätte er sie nicht geheiratet, wenn sie keins gehabt hätte. Johnnie war ein egoistischer, vergnügungssüchtiger, fauler Luftikus, aber bei so einem ist man viel besser aufgehoben als bei einem Spinner. Johnnie war nur auf ein angenehmes Leben aus. Er wollte, dass Carrie Louise zu den besten Couturiers ging, sich Jachten und teure Autos zulegte und sich mit ihm zusammen amüsierte. Auf so einen Mann ist hundertprozentig Verlass. Gib ihm Komfort und Luxus, und er schnurrt wie ein Kater und ist ausgesprochen charmant zu dir. Seine Bühnenbildnerei und den ganzen Theaterkram hab ich nie besonders ernst genommen. Aber Carrie Louise war davon fasziniert, hielt das alles für wahre Kunst und zwang ihn, in dieses Milieu zurückzukehren. Und dann hat ihn sich diese unsägliche Jugoslawin geschnappt und ist mit ihm auf und davon. Er wollte eigentlich gar nicht mit. Wenn Carrie Louise vernünftig gewesen wäre und ein bisschen Geduld gehabt hätte, wäre er zu ihr zurückgekommen.«

»Ist es ihr sehr nahe gegangen?«, wollte Miss Marple wissen.

»Das ist ja das Komische. Ich glaube es eigentlich nicht. Sie hat sich in der Sache großartig verhalten – aber das liegt in ihrer Natur. Sie ist nun mal ein freundlicher Mensch. Sie konnte es kaum erwarten, sich von ihm scheiden zu lassen, damit er diese Person heiraten konnte. Hat ihm sogar angeboten, seine zwei Söhne aus erster Ehe bei sich zu behalten, weil sie es bei ihr besser hätten. Und der arme Johnnie – er hat doch tatsächlich diese Frau geheiratet, und sie hat ihn ein furchtbares halbes Jahr lang an der Nase herumgeführt und ihn dann in einem Wutanfall mit dem Auto in einen Abgrund gefahren. Ein Unfall angeblich, aber ich glaube, sie hat’s aus Wut auf ihn getan!«

Mrs Van Rydock hielt inne, nahm einen Spiegel und betrachtete forschend ihr Gesicht. Mit einer Pinzette zupfte sie sich ein Augenbrauenhärchen aus.

»Und was macht Carrie Louise als Nächstes? Sie geht hin und heiratet diesen Lewis Serrocold. Wieder ein Spinner! Wieder ein Mann mit Idealen! Ich sage nicht, dass er ihr nicht treu ergeben ist. Aber auch er hat den Spleen, den Menschen zu einem besseren Leben verhelfen zu wollen. Und das kann nur jeder für sich selbst tun.«

»Na, ich weiß nicht«, sagte Miss Marple.

»Allerdings gibt es auch da Modeerscheinungen, genau wie bei den Kleidern. (Apropos, meine Liebe, hast du gesehen, was wir, wenn es nach Christian Dior geht, demnächst für Röcke tragen werden?) Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, Mode. Tja, also auch die Philanthropie hat ihre Moden. Zu Gulbrandsens Zeit war es die Bildung. Aber das ist überholt. Der Staat ist auf den Plan getreten. Heute meinen alle, sie hätten ein Recht auf Bildung – und wenn man sie ihnen anbietet, wollen sie auf einmal nichts mehr davon wissen! Jugendkriminalität – das ist der letzte Schrei. Diese vielen jungen Kriminellen und potentiellen Kriminellen. Alle haben einen Narren an ihnen gefressen. Du solltest mal Lewis Serrocolds Augen hinter seinen dicken Brillengläsern funkeln sehen. Außer sich vor Begeisterung! Er ist einer dieser Männer mit enormer Willenskraft, die sich von einer Banane und einer Scheibe Toast am Tag ernähren und ihre ganze Energie einer Sache widmen. Und Carrie Louise fällt drauf rein – wie immer. Aber mir ist da nicht wohl dabei, Jane. Die haben mit den Treuhändern verhandelt, und das ganze Anwesen wurde dieser neuen Idee geweiht. Es ist jetzt eine Ausbildungsstätte für jugendliche Kriminelle, ausgestattet mit Psychiatern und Psychologen und allem, was dazugehört. Dort leben Lewis und Carrie Louise, inmitten dieser jungen Kerle – die womöglich nicht mal ganz richtig im Kopf sind. Es wimmelt dort von Beschäftigungstherapeuten und Lehrern und Enthusiasten, und jeder Zweite von denen ist selber verrückt. Spinner, alle zusammen, und meine kleine Carrie Louise mittendrin!«

Sie machte eine Pause und sah Miss Marple hilflos an.

Leicht perplex sagte Miss Marple: »Aber du hast mir immer noch nicht gesagt, Ruth, wovor du nun wirklich Angst hast.«

»Ich sage doch, ich weiß es nicht! Und das beunruhigt mich. Ich war neulich dort – auf Stippvisite. Und ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass da was nicht stimmt. Mit der Atmosphäre, mit dem Haus. Ich weiß, dass ich mich nicht irre. Ich hatte schon immer ein Gespür für Stimmungen. Hab ich dir mal erzählt, wie ich Julius gedrängt habe, seine Amalgamated-Cereals-Aktien abzustoßen, und dann kam der Börsencrash? Hatte ich da vielleicht nicht den richtigen Riecher? Nein, nein, irgendetwas ist dort nicht in Ordnung. Aber ich weiß nicht, was oder warum, ob es diese schrecklichen jungen Straftäter sind oder ob es mehr mit ihnen selbst zu tun hat. Ich kann einfach nicht sagen, was es ist. Lewis lebt nur seinen Ideen und nimmt nichts anderes wahr, und Carrie Louise, Gott schütze sie, sieht und hört und denkt nichts, es sei denn, es ist ein schöner Anblick, ein schöner Klang oder ein schöner Gedanke. Sehr liebenswert, aber weltfremd. Es gibt auch das so genannte Böse. Jane, ich möchte, dass du möglichst bald hinfährst und rauskriegst, was da eigentlich los ist.«

»Ich?«, rief Miss Marple. »Wieso ich?«

»Weil du für so was eine Nase hast. Von jeher. Du warst schon immer ein liebenswertes, unschuldig wirkendes Geschöpf, Jane, aber unter dieser Oberfläche wunderst du dich über gar nichts mehr und rechnest immer mit dem Schlimmsten.«

»Leider ist das Schlimmste oft wahr«, murmelte Miss Marple.

»Ich weiß gar nicht, warum du so eine schlechte Meinung von der menschlichen Natur hast, in deinem netten, friedlichen Dorf da, wo alles so altertümlich und unverdorben ist.«

»Du hast nie auf dem Dorf gelebt, Ruth. Du würdest dich wundern, was sich in einem unverdorbenen friedlichen Dorf so alles tut.«

»Schon möglich. Aber ich rede ja davon, dass du dich nie wunderst. Du fährst doch nach Stonygates und versuchst rauszukriegen, was da nicht stimmt, nicht wahr?«

»Aber liebste Ruth, das dürfte höchst schwierig zu bewerkstelligen sein.«

»Nein, durchaus nicht. Ich hab mir alles genau überlegt. Ich hoffe, du bist mir nicht böse, aber ich habe schon die nötigen Hebel in Bewegung gesetzt.« Mrs Van Rydock hielt inne, warf Miss Marple einen nervösen Blick zu, zündete sich eine Zigarette an und stürzte sich in eine Erklärung. »Du wirst doch sicher zugeben, dass es hierzulande manche Leute seit dem Krieg nicht leicht haben, Leute mit einem eher kärglichen Einkommen – ich meine damit Leute wie dich, Jane.«

»Allerdings. Ohne die gütigen, die überaus gütigen Zuwendungen meines Neffen Raymond wüsste ich wirklich nicht, wie ich zurechtkommen sollte.«

»Lassen wir deinen Neffen aus dem Spiel«, sagte Mrs Van Rydock. »Carrie Louise weiß nichts von deinem Neffen, oder wenn doch, dann kennt sie ihn als Schriftsteller und hat keine Ahnung, dass er dein Neffe ist. Der springende Punkt, habe ich zu Carrie Louise gesagt, der springende Punkt ist, dass einem die liebe Jane wirklich leidtun kann. Sie hat manchmal buchstäblich nicht genug zu beißen und ist natürlich viel zu stolz, um sich jemals an gute alte Freunde zu wenden. Geld, sagte ich, kann man ihr auf keinen Fall anbieten – aber vielleicht einen längeren, geruhsamen Aufenthalt in einer hübschen Umgebung, bei einer alten Freundin, wo sie gut und reichlich verpflegt wird.« Ruth Van Rydock machte eine Pause und fuhr dann trotzig fort: »So. Jetzt kannst du böse auf mich sein, wenn du unbedingt willst.«

Miss Marple riss in gelindem Erstaunen ihre porzellanblauen Augen auf. »Aber warum sollte ich böse auf dich sein, Ruth? Ein sehr geschickter, plausibler Vorschlag. Bestimmt ist Carrie Louise darauf eingegangen.«

»Sie wollte dir schreiben. Du wirst den Brief zu Hause vorfinden. Mal ehrlich, Jane, du findest wirklich nicht, dass ich mir eine unverzeihliche Freiheit herausgenommen habe? Du hast nichts gegen –«

Sie zögerte, und Miss Marple fasste ihre Gedanken geschickt in Worte.

»– einen Aufenthalt in Stonygates als Objekt der Nächstenliebe, mehr oder weniger unter falschen Voraussetzungen? Aber nicht das Geringste – wenn es notwendig ist. Deiner Meinung nach ist es notwendig, und ich bin geneigt, dir zuzustimmen.«

Mrs Van Rydock starrte sie an. »Nanu? Hast du was gehört?«

»Nein, ich habe nichts gehört. Aber du bist dir deiner Sache so sicher. Und Gespenster zu sehen ist einfach nicht deine Art.«

»Nein, aber ich habe auch nichts Konkretes in der Hand.«

»Das erinnert mich«, sagte Miss Marple nachdenklich, »an einen Sonntagmorgen in der Kirche, es war der zweite Adventssonntag. Ich saß hinter Grace Lamble, und ich machte mir Sorgen um sie, ein Gefühl, das immer stärker wurde. Weißt du, ich war mir ganz sicher, dass etwas nicht stimmte, aber ich hätte nicht zu sagen gewusst, was. Es war ein zutiefst beunruhigendes Gefühl, und sehr, sehr deutlich.«

»Und, hat es sich bewahrheitet?«

»O ja. Ihr Vater, der alte Admiral, war schon seit einiger Zeit sehr wunderlich gewesen, und buchstäblich am nächsten Tag ging er mit einer Kohlenschaufel auf sie los und schrie sie an, sie sei der Antichrist in Gestalt seiner Tochter. Um ein Haar hätte er sie umgebracht. Er kam in die Heilanstalt, und sie hat sich nach einem monatelangen Krankenhausaufenthalt wieder erholt – aber es war knapp.«

»Und du hattest an dem Tag in der Kirche tatsächlich eine Vorahnung?«

»Vorahnung würde ich es nicht nennen. Es beruhte auf einem Faktum – das ist fast immer so, nur erkennt man es nicht immer gleich. Sie hatte sich ihren Sonntagshut verkehrt herum aufgesetzt. Wirklich bemerkenswert, denn Grace Lamble war in allem sehr penibel, überhaupt nicht nachlässig oder zerstreut, und man konnte sich kaum vorstellen, sie könnte es einmal nicht merken, dass sie den Hut für den Kirchgang falsch herum trug. Wie sich herausstellte, hatte ihr Vater einen marmornen Briefbeschwerer nach ihr geworfen und damit den Spiegel zertrümmert. Sie hatte nur rasch den Hut geschnappt und war aus dem Haus gelaufen, nur darauf bedacht, den Schein zu wahren und zu verhindern, dass die Dienstboten etwas mitbekamen. Sie selbst führte sein Verhalten auf ›Papas Seemannstemperament‹ zurück, sie erkannte nicht, dass er definitiv nicht mehr ganz bei sich war. Obwohl sie es längst hätte erkennen müssen. Er beklagte sich ständig bei ihr, dass man ihm nachspioniere und seine Feinde ihm nach dem Leben trachteten – die üblichen Symptome eigentlich.«

Mrs Van Rydock sah ihre Freundin respektvoll an. »Womöglich ist dein St. Mary Mead«, sagte sie, »doch nicht die verschlafene Idylle, die ich mir immer vorgestellt habe, Jane.«

»Die menschliche Natur, meine Liebe, ist überall mehr oder weniger die gleiche. Nur ist es in der Großstadt nicht so gut zu beobachten, das ist alles.«

»Du willst also wirklich nach Stonygates fahren?«

»Ich fahre nach Stonygates. Obwohl es vielleicht ein bisschen unfair gegenüber meinem Neffen Raymond ist. Den Eindruck zu erwecken, dass er mich nicht unterstützt, meine ich. Allerdings ist der gute Junge für ein halbes Jahr in Mexiko, und bis dahin dürfte wohl alles vorbei sein.«

»Was soll bis dahin vorbei sein?«

»Carrie Louises Einladung wird sicher nicht für unbegrenzte Zeit gelten. Drei Wochen, vielleicht einen Monat. Das müsste mir reichen.«

»Um herauszufinden, was dort im Argen liegt?«

»Um herauszufinden, was dort im Argen liegt.«

»Also Jane«, sagte Mrs Van Rydock, »du hast wirklich ein gesundes Selbstvertrauen!«

»Du hast Vertrauen zu mir, Ruth«, erwiderte Miss Marple leicht verschnupft. »Ich kann dir nur versichern, dass ich mir Mühe geben werde, dein Vertrauen nicht zu enttäuschen.«

2

Bevor sie mit dem Zug nach St. Mary Mead zurückfuhr (verbilligte Mittwochs-Rückfahrkarte), sammelte Miss Marple methodisch und gewissenhaft noch bestimmte Fakten.

»Man könnte sagen, Carrie Louise und ich korrespondieren noch miteinander, aber das beschränkt sich weitgehend auf Weihnachtskarten und Kalender. Mir kommt es nur auf die Fakten an, liebste Ruth. Und auf ein paar Hinweise, wen ich alles in Stonygates antreffen werde.«

»Nun, du weißt von Carrie Louises Ehe mit Gulbrandsen. Sie blieb kinderlos, und Carrie Louise nahm sich das sehr zu Herzen. Gulbrandsen war Witwer und hatte drei erwachsene Söhne. Schließlich adoptierten sie dann ein Kind. Pippa nannten sie es – ein entzückendes kleines Geschöpf. Sie war gerade zwei Jahre alt, als sie sie bekamen.«

»Woher kam sie? Aus was für einem Milieu?«

»Also wirklich, Jane, das weiß ich nicht mehr – wenn ich es überhaupt jemals gewusst habe. Vielleicht hatten sie das Mädchen über eine Vermittlung bekommen. Ein unerwünschtes Kind, von dem Gulbrandsen irgendwie gehört hatte. Warum? Meinst du, das ist wichtig?«

»Nun, man möchte immer über die Hintergründe Bescheid wissen. Aber bitte, sprich weiter.«

»Nicht lange danach wurde Carrie Louise doch schwanger. Von Ärzten weiß ich, dass das gar nicht so selten ist.«

Miss Marple nickte. »Ja, das stimmt wohl.«

»Bei ihr war es jedenfalls so. Und eigenartigerweise war Carrie Louise beinahe bestürzt darüber, wenn du verstehst, was ich meine. Zu einem früheren Zeitpunkt wäre sie natürlich überglücklich gewesen. Nun aber war sie Pippa in so grenzenloser Liebe zugetan, dass sie Gewissensbisse hatte, weil sie ihr sozusagen einen üblen Streich gespielt hatte. Obendrein war Mildred, als sie dann zur Welt kam, ein durch und durch unattraktives Kind. Sie schlug den Gulbrandsens nach, die handfest und rechtschaffen waren, aber alles andere als gut aussehend. Carrie Louise gab sich so große Mühe, keinen Unterschied zwischen dem Adoptivkind und ihrer eigenen Tochter zu machen, dass sie wahrscheinlich dazu neigte, Pippa zu verziehen und Mildred zurückzusetzen. Manchmal glaube ich, Mildred hat ihr das übel genommen. Allerdings habe ich sie und die Kinder nicht oft gesehen. Pippa wuchs zu einer Schönheit heran, Mildred zu einem Mauerblümchen. Eric Gulbrandsen starb, als Mildred fünfzehn und Pippa achtzehn war. Mit zwanzig heiratete Pippa einen Italiener, den Marchese di San Severiano – doch, doch, er war ein waschechter Marchese, nicht etwa ein Abenteurer oder dergleichen. Und sie war ja so etwas wie eine reiche Erbin (sonst hätte San Severiano sie wohl auch kaum geheiratet, du kennst ja die Italiener). Gulbrandsen hinterließ seiner eigenen und seiner Adoptivtochter jeweils die gleiche Summe als Treuhandvermögen. Mildred heiratete einen Domherrn Strete – ein netter Mensch, der aber zu Erkältungen neigte. Etwa zehn bis fünfzehn Jahre älter als sie. Eine recht glückliche Ehe, glaube ich.

Er ist vor einem Jahr gestorben, und Mildred lebt jetzt wieder in Stonygates bei ihrer Mutter. Aber ich greife vor, ich habe die eine oder andere Heirat übersprungen. Ich komme noch darauf zurück. Pippa heiratete ihren Italiener. Carrie Louise war recht glücklich über die Verbindung. Guido hatte exzellente Manieren und sah blendend aus, und er war ein guter Sportler. Ein Jahr später bekam Pippa eine Tochter und starb bei der Geburt. Es war eine schreckliche Tragödie, und Guido San Severiano war ein gebrochener Mann. Carrie Louise fuhr ziemlich oft zwischen Italien und England hin und her, und in Rom lernte sie Johnnie Restarick kennen und heiratete ihn. Der Marchese heiratete wieder und hatte nichts dagegen einzuwenden, dass seine kleine Tochter in England von ihrer äußerst wohlhabenden Großmutter aufgezogen wurde. Also ließen sie sich alle zusammen in Stonygates nieder, Johnnie Restarick und Carrie Louise, Johnnies zwei Söhne Alexis und Stephen (Johnnies erste Frau war Russin) und die kleine Gina. Mildred heiratete bald darauf ihren Domherrn. Dann kam die Geschichte mit Johnnie und der Jugoslawin und der Scheidung. Die Jungen kamen nach wie vor in den Ferien nach Stonygates, und sie vergötterten Carrie Louise, und dann, ich glaube 1938, heiratete Carrie Louise Lewis.«

Mrs Van Rydock legte eine Verschnaufpause ein.

»Du hast Lewis nicht kennengelernt?«

Miss Marple schüttelte den Kopf.

»Nein, ich glaube, ich habe Carrie Louise 1928 zum letzten Mal gesehen. Sie hat mich reizenderweise nach Covent Garden ausgeführt, in die Oper.«

»Ah ja. Also, Lewis war der ideale Ehemann für sie. Er war Chef einer sehr renommierten Wirtschaftsprüfungskanzlei. Wenn ich mich nicht irre, haben sich die beiden bei irgendwelchen Besprechungen über die Finanzierung des Gulbrandsen-Trusts und des College kennengelernt. Er war gut situiert, etwa in ihrem Alter und ein Mann mit einem absolut honorigen Lebenslauf. Und trotzdem war er ein Spinner. Er war absolut radikal, was die Frage der Rehabilitation jugendlicher Straftäter anging.«

Ruth Van Rydock seufzte. »Wie ich vorhin schon sagte, Jane, auch die Philanthropie hat ihre Moden. Zu Gulbrandsens Zeit war es Bildung. Davor waren es Suppenküchen –«

Miss Marple nickte. »Ich weiß. Sülze und Kalbsbrühe, die den Kranken ins Haus gebracht wurde. Meine Mutter hat da auch mitgemacht.«

»Ganz recht. Die Sorge um das leibliche Wohl wurde von der Sorge um die Geistesbildung abgelöst. Alle waren auf einmal ganz wild drauf, der Unterschicht eine gute Schulbildung angedeihen zu lassen. Aber auch das ist vorbei. Womöglich kommt es demnächst in Mode, die Kinder nicht mehr zur Schule zu schicken und sorgsam ihr Analphabetentum zu bewahren, bis sie achtzehn sind. Aber wie auch immer, der Gulbrandsen-Trust und der Bildungsfonds bekamen gewisse Schwierigkeiten, weil der Staat ihre Funktionen übernahm. Dann trat Lewis auf den Plan, mit seiner Passion für die Umerziehung jugendlicher Straftäter. Auf das Problem war er durch seine berufliche Tätigkeit aufmerksam geworden – er hatte die Bücher von Firmen geprüft, in denen einfallsreiche junge Männer Betrügereien begangen hatten. Er kam immer mehr zu der Überzeugung, dass jugendliche Straftäter keineswegs hoffnungslose Fälle, sondern vielmehr hochgradig intelligent und begabt sind und nur auf den richtigen Weg gebracht werden müssen.«

»Da ist was dran«, sagte Miss Marple. »Aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Ich denke da an –« Sie brach ab und schaute auf die Uhr. »Ach, du meine Güte – ich darf den Zug um halb sieben nicht verpassen.«

»Und du fährst auch wirklich nach Stonygates?«, fragte Ruth Van Rydock sie noch einmal.

Miss Marple nahm ihre Einkaufstasche und ihren Regenschirm an sich und sagte: »Wenn Carrie Louise mich einlädt, sehe ich –«

»Sie wird dich einladen. Und du fährst hin? Versprichst du’s, Jane?«

Jane Marple versprach es.

3

Miss Marple stieg in Market Kindle aus. Ein freundlicher Mitreisender reichte ihr den Koffer aus dem Waggon, und Miss Marple, die ein Einkaufsnetz, eine verblichene Lederhandtasche und diverse Mäntel und Jacken an sich drückte, zwitscherte ihm ihren Dank zu. »Wirklich sehr freundlich von Ihnen – gibt ja heutzutage kaum noch einen Dienstmann – immer so aufgeregt, wenn ich verreise.«

Ihr Gezwitscher ging in der dröhnenden Ansage des Bahnhofssprechers unter, der ebenso laut wie unverständlich verkündete, dass der Dreiuhrachtzehnzug auf Bahnsteig eins zum Einsteigen bereitstehe und in Kürze nach verschiedenen unverständlichen Orten abfahren werde.

Market Kindle war ein großer, leerer, windiger Bahnhof, auf dem kaum Reisende oder Eisenbahner zu sehen waren. Er zeichnete sich dadurch aus, dass er sechs Bahnsteige und ein Abstellgleis hatte, auf dem ein Zug, der nur aus der Lokomotive und einem einzigen Wagen bestand, wichtigtuerisch vor sich hin paffte.

Miss Marple, wesentlich schäbiger gekleidet als sonst (ein Glück, dass sie das alte Getüpfelte nicht weggegeben hatte), schaute sich unsicher um, als ein junger Mann auf sie zukam.

»Miss Marple?«, fragte er. Es klang seltsam dramatisch, wie die ersten Worte eines Laienspiels. »Ich komme von Stonygates und soll Sie abholen.«

Miss Marple sah ihn dankbar an, eine reizende, hilflos wirkende alte Dame mit, wenn er das bemerkt hätte, sehr klugen blauen Augen. Die Erscheinung des jungen Mannes konnte mit seiner Stimme nicht mithalten. Sie war weniger eindrucksvoll, fast hätte man sagen können belanglos. Seine Augenlider flatterten nervös.

»Oh, danke sehr«, sagte Miss Marple. »Nur dieser Koffer.«

Der junge Mann nahm den Koffer nicht selbst. Er schnippte mit dem Finger nach einem Träger, der auf einem Handwagen ein paar Kisten vorbeikarrte.

»Bringen Sie den bitte hinaus«, sagte er, und gewichtig fügte er hinzu: »Der geht nach Stonygates.«

»Aber klar doch, Chef«, sagte der Dienstmann fröhlich. »Wird prompt erledigt.«

Miss Marple meinte zu bemerken, dass das ihrem neuen Bekannten gegen den Strich ging. Es war, als wäre der Buckingham-Palast auf eine Stufe mit einer x-beliebigen Londoner Adresse gestellt worden.

Er sagte: »Die Eisenbahn wird auch von Tag zu Tag unmöglicher.«

Auf dem Weg zum Bahnhofsausgang stellte er sich vor: »Ich bin Edgar Lawson. Mrs Serrocold hat mich gebeten, Sie abzuholen. Ich assistiere Mr Serrocold bei seiner Arbeit.«

Wieder diese leise Andeutung, dass ein viel beschäftigter, wichtiger Mann galanterweise seine wichtigen Geschäfte aus Ritterlichkeit gegenüber der Frau seines Arbeitgebers hintangesetzt hatte. Und auch diesmal war der Eindruck nicht gänzlich überzeugend – er hatte etwas Theatralisches.

Miss Marple fing an, sich über Edgar Lawson Gedanken zu machen.

Sie traten aus dem Bahnhof, und Edgar geleitete die alte Dame zu einem recht betagten Ford V8.

»Möchten Sie vorne neben mir sitzen, oder würden Sie den Fond vorziehen?«, fragte er gerade, doch da wurden sie abgelenkt.

Ein nagelneuer zweisitziger Rolls Bentley kam schnurrend auf den Bahnhofsvorplatz gefahren und hielt genau vor dem Ford. Eine hinreißend schöne junge Frau sprang heraus und kam auf sie zu. Dass sie schmutzige Cordhosen und eine einfache, am Hals offene Hemdbluse trug, unterstrich irgendwie noch die Tatsache, dass sie nicht nur schön, sondern auch kostspielig war.

»Da bist du ja, Edgar. Ich dachte schon, ich würde es nicht mehr rechtzeitig schaffen. Wie ich sehe, hast du Miss Marple gefunden. Ich bin gekommen, um sie abzuholen.« Sie strahlte Miss Marple an, und man sah zwei Reihen vollkommener Zähne in einem sonnengebräunten südländischen Gesicht. »Ich bin Gina«, sagte sie. »Carrie Louises Enkelin. Wie war die Reise? Schlimm? Was für ein hübsches Einkaufsnetz. Ich liebe Einkaufsnetze. Warten Sie, ich nehme das Netz und die Mäntel, dann können Sie besser einsteigen.«

Edgars Gesicht rötete sich. Er protestierte: »Moment mal, Gina, ich habe Miss Marple abgeholt. Das war so ausgemacht …«

Wieder blitzten in dem breiten, trägen Lächeln Zähne auf. »Ich weiß, Edgar, aber ich hab mir plötzlich gedacht, es wäre doch nett, wenn ich auch käme. Ich nehme sie mit, und du kannst warten und ihr Gepäck nachbringen.«

Sie schlug die Tür auf Miss Marples Seite zu, lief um den Wagen herum, sprang in den Fahrersitz, und sie fuhren mit surrendem Motor rasch davon.

Miss Marple blickte zurück und sah Edgar Lawsons Gesicht. »Ich glaube nicht, meine Liebe«, sagte sie, »dass Mr Lawson sehr erbaut ist.«

Gina lachte. »Edgar ist ein furchtbarer Idiot«, sagte sie. »Er spielt sich immer so auf. Als ob ihn irgendjemand ernst nehmen würde!«

»Das ist also nicht der Fall?«, fragte Miss Marple.

»Edgar?« Ginas verächtliches Lachen hatte einen unbewusst grausamen Unterton. »Ach, der ist doch bekloppt.«

»Bekloppt?«

»Die sind alle bekloppt auf Stonygates«, sagte Gina. »Ausgenommen Lewis und Grandam und ich und die Jungen – und natürlich auch Miss Bellever. Aber sonst alle. Manchmal hab ich