Ich möchte hier keineswegs den Eindruck erwecken, als seien die unten angeführten Namen international unbekannt. Sie sind es nicht. Für viele Fachleute zählen sie zu den besten Köpfen ihrer – oder jeder – Zeit. Mir geht es bei diesem Anhang vielmehr darum, noch einmal ein entscheidendes Argument dieses Buches zu veranschaulichen, nämlich, dass es deutsche Denker gibt, die im Ausland weniger bekannt sind, als sie es verdienten, weil zwei Weltkriege unseren Blick auf die Vergangenheit getrübt haben.
Viele der angeführten Wissenschaftler stehen bezüglich ihrer Einflüsse auf unser Leben auf einer Stufe mit beispielsweise Freud, Mendel oder Einstein. Mehrere aufgeführte Philosophen sind, auch wenn sie vielleicht nicht in einem Atemzug mit Hegel, Nietzsche und Schopenhauer genannt werden können, auf Augenhöhe mit Ludwig Wittgenstein, Bertrand Russell, Henri Bergson, William James oder John Dewey – Namen, die jedem Angelsachsen ein Begriff sind. Auch der internationale Bekanntheitsgrad von deutschen Schriftstellern und Mathematikern litt unter solcher Geringschätzung.
Wilhelm von Humboldt (1767–1835)
Im Lauf dieses Buches (vor allem im zehnten Kapitel) wurde aufgezeigt, dass es Wilhelm von Humboldt war, der die moderne Universität konzipierte, der die Idee hatte, Forschung zu institutionalisieren, und der verantwortlich war für so viele Modernisierungsmaßnahmen in den Disziplinen und damit indirekt für die modernen Wissenschaften. Wir sollten ihm endlich die Anerkennung zollen, die ihm als einem der bedeutendsten Schöpfer der Moderne gebührt.
Alexander von Humboldt (1769–1859)
Zu seiner Zeit war er der berühmteste Naturforscher der Welt. Mehr als ein Dutzend geografische Strukturen der Erde (und auf dem Mond) wurden nach ihm benannt. Der Nachruf, den ihm die New York Times 1859 widmete, füllte die gesamte Titelseite. Dennoch wurde er zum »vergessensten« Wissenschaftler aller Zeiten, wie der amerikanische Evolutionsforscher Stephen Jay Gould schrieb. Mit seinen Expeditionen und Feldforschungen begründete er nicht nur ganz neue Forschungsgebiete, sondern inspirierte auch viele jüngere Kollegen. Allein das hebt ihn unter den großen Forschern des heroischen Zeitalters der Entdeckungen im 19. Jahrhundert heraus. Es ist an der Zeit, dass sich das Blatt auch für ihn wendet.
Caspar David Friedrich (1774–1840)
Vielleicht litt er unter dem deutschen Laster, ein zu theoretischer Maler gewesen zu sein, doch technisch war er brillant. Außerdem nahm er viele moderne Bewegungen vorweg, nicht zuletzt den Surrealismus und die große amerikanische Landschaftsmalerei. Er verdient es, ebenso bekannt zu sein wie beispielsweise J. M. W. William Turner, John Constable oder Salvador Dali.
Carl Friedrich Gauß (1777–1859)
Mathematikern und Naturwissenschaftlern ist er natürlich wohlbekannt, doch die gesamte Bandbreite seiner Errungenschaften und seine Erfindung der »sinnreichen Ideenverbindungen«, die ihn zu einem Vorgänger von Einstein machten, sollten wirklich dafür gesorgt haben, dass man ihn im Pantheon der mathematischen Genies auf ein Podest neben Archimedes, Euklid, Kopernikus und Newton stellt.
Karl Friedrich Schinkel (1781–1841)
Er war als Baumeister, Stadtplaner und Maler von nicht minderer Bedeutung als Christopher Wren, Paul Nash, James Barry oder Georges-Eugène Haussmann, wird aber oft als ein »Architekten-Architekt« bezeichnet, obwohl ihm gerade die Öffentlichkeit Anerkennung schuldet. Das Berliner Stadtbild sähe ohne seine Beiträge völlig anders aus.
Ludwig Feuerbach (1804–1872)
Auch er verdient einen größeren Bekanntheitsgrad, und sei es nur wegen des grundlegenden Einflusses, den er auf Männer wie Karl Marx und Richard Wagner ausübte. Sein religionsphilosophisches Werk, darunter die Einsicht, dass Gott vom Menschen erschaffen worden sei wie dieser von Gott, räumt ihm einen Platz in unserer Geistesgeschichte neben solchen Größen wie zum Beispiel Baruch Spinoza oder Giambattista Vico ein.
Johann Evangelist Purkinje (1787–1869, Physiologe), Karl Ernst von Baer (1792–1876, Naturforscher), Friedrich Wöhler (1800–1882, Chemiker), Justus von Liebig (1803–1873, Chemiker), Matthias Jacob Schleiden (1804–1881, Botaniker), Theodor Schwann (1810–1882, Physiologe), Rudolf Virchow (1821–1902, Mediziner), Friedrich August Kékulé von Stradonitz (1829–1896, Chemiker), Robert Koch (1843–1910, Mediziner) und Paul Ehrlich (1845–1915, Mediziner)
Diese Konstellation von Namen stellt das wahrscheinlich größte schwarze Loch in der Geistesgeschichte des Abendlands dar. Obwohl der Fachwelt natürlich jeder dieser Männer vertraut ist, reicht ihr allgemeiner internationaler Bekanntheitsgrad bei Weitem nicht an den von beispielsweise Freud, Mendel oder Einstein heran – Namen, die praktisch jeder auf der Welt kennt. Im Gegenteil, die allgemeine Öffentlichkeit hat von ihren individuellen wie kollektiven Leistungen im Großen und Ganzen keine Ahnung, und doch wirkte jeder von ihnen ebenso grundlegend auf unser Verständnis von und unsere Beziehung zu der Natur ein wie auf unser Wissen von den Stoffen, Strukturen und Prozessen des Lebens selbst oder auf unser Wissen über Seuchen und Krankheiten und wie sich diese behandeln und kontrollieren lassen. Ohne ihre Leistungen wäre unser Leben undenkbar und unerträglich.
Friedrich Engels (1820–1895)
Natürlich kennt jeder, der einmal von Karl Marx gehört hat, auch den Namen Friedrich Engels. Doch als ich diesen Satz in meinen Laptop tippte, erkannte die Rechtschreibprüfung von Microsoft Word zwar das Wort »Marx« und unterstrich es ergo nicht rot, wohingegen sie das Wort »Engels« unterkringelte. So etwas wie einen »Engelsismus« gibt es neben dem Marxismus nicht. Als Koautor des Kommunistischen Manifests und Herausgeber des zweiten und dritten Bandes vom Kapital genießt Engels natürlich noch immer großen Einfluss, doch es sind seine eigenen Werke, die wirklich mehr Aufmerksamkeit verdienten, nicht nur, weil sie umfassender und gelehrter sind als die Marx’schen, sondern auch, weil es einfach mehr Spaß macht, sie zu lesen. Den Errungenschaften dieses »gebildetsten Mannes Europas« gebührt eine wesentlich breitere Anerkennung – nicht zuletzt, weil er so erstaunlich weitblickend war.
Die Physiker Rudolf Clausius (1822–1888), Ludwig Boltzmann (1844–1906), Heinrich Hertz (1857–1894), Hermann von Helmholtz (1821–1894) und Wilhelm Conrad Röntgen (1845–1923)
Auch diese Konstellation bildet ein schwarzes Loch, obwohl die Tradition der theoretischen Physik, eines der großen Abenteuer des 20. Jahrhunderts, auf genau diese deutschen Denker aus dem 19. Jahrhundert zurückreicht. Wie im vorliegenden Buch nachzulesen ist, war dieses Gebiet sehr international besetzt, doch angeführt wurde es von deutschen Physikern. Beide Listen mit den Namen von Naturwissenschaftlern aus dem 19. Jahrhundert, die in »schwarzen Löchern« verschwanden, führen Männer auf, die mit ihren Errungenschaften einen unmittelbareren Einfluss auf unser Leben ausüb(t)en als die wesentlich bekannteren Naturforscher Kepler, Kopernikus, Galilei und Newton, denen die vorangegangenen naturwissenschaftlichen Durchbrüche zu verdanken waren.
Wilhelm Dilthey (1833–1911)
Ein übliches Stereotyp für Deutsche und insbesondere für deutsche Philosophen lautet, dass sie ausgesprochen abstrakt denkende Theoretiker seien und übergreifende allumfassende Systeme liebten. Dilthey straft dieses Vorurteil Lügen, denn er hat aufgezeigt, wie weit man mit gesundem Menschenverstand kommen kann.
Hugo Wolf (1860–1903)
Viele Connaisseurs betrachten Wolf schlicht und ergreifend als den größten Liedkomponisten aller Zeiten. Ihm verdankt das deutsche Lied seinen Höhepunkt. Mit Sicherheit erwartet diesen unglücklichen Rebellen und Bohemien, der während dreier intensiver Jahre in seinem produktiven Leben mehr als zweihundert Lieder schrieb, der Goethe, Keller und andere Dichter vertonte und der sein Leben in einer Nervenheilanstalt beendete, noch die Entdeckung durch einen Hollywoodregisseur, welcher imstande ist, in Wolfs Kunst und seinem Leben den Stoff für eine moderne Tragödie epischen Ausmaßes zu erkennen.
Georg Simmel (1858–1918)
Simmel, der nicht nur bei diversen übel nationalistischen Historikern seiner Tage (Treitschke, Sybel, Droysen), sondern auch bei dem unvoreingenommeneren Helmholtz in die Lehre gegangen war, fand im Ausland (besonders in Russland und Amerika) letztendlich mehr Anerkennung als im eigenen Land, jedenfalls gewiss größere als unter den dortigen antisemitischen Universitätsgrößen. Dabei war er der Erste gewesen, der die neue Ethik erkannt hatte, welche die Modernität erforderte, und der sich mit dem Rätsel befasst hatte, warum der Mensch nun zugleich freier und verantwortlicher geworden war. Simmel sagte als Erster voraus, dass das moderne Leben von »unbeherrschteren Empfindungen« geprägt sein und Menschen von »niedrigerer Geistesausbildung« fördern würde.
Robert Musil (1880–1942)
Für so manchen Leser stellt Der Mann ohne Eigenschaften alles in den Schatten, was Thomas Mann oder Hermann Hesse je geschrieben haben. Dieser Roman ist die bemerkenswerteste Reaktion auf die Entwicklungen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf allen nur denkbaren Gebieten stattgefunden hatten: Wenn alles, was wir über uns in Erfahrung bringen können, das ist, was uns die Wissenschaftler erzählen, und wenn ethische Werte bedeutungslos sind – wie sollen wir dann leben? Musil stellte auf brillante Weise das zentrale Dilemma des modernen Lebens bloß.
Der Philosoph Max Scheler (1874–1928) und die Theologen Rudolf Bultmann (1884–1976), Karl Barth (1886–1968) und Dietrich Bonhoeffer (1906–1945)
Die theologische Renaissance, die am Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland stattgefunden hatte, ist das dritte »schwarze Loch«, in dem deutsche Denker verschwanden, die eigentlich mehr Anerkennung verdienen. Nach dem nietzscheanischen »Tod Gottes«, nach der von Max Weber postulierten »Entzauberung« der Welt haben diese Philosophen/ Theologen auf überzeugendere und kohärentere Weise als irgendjemand sonst auf die herrschenden »Krisenbedingungen« reagiert. Die Tatsache, dass zwei Päpste, Johannes Paul II. am Ende des 20. und Benedikt XVI. am Beginn des 21. Jahrhunderts, die Ideen dieser (protestantischen) Denker aufgegriffen haben, beweist, dass sich deren Gedanken in die geistigen Strukturen einpassen lassen, die innerhalb der katholischen Kirche herrschen, während sie außerhalb von ihr immer noch auf ihre Akzeptanz warten müssen.
Lion Feuchtwanger (1884–1958)
Ein Mann, der in beiden Weltkriegen aus Lagern fliehen konnte, muss schon sehr außerwöhnlich und mutig gewesen sein. Das Thema Mut zieht sich denn auch wie ein roter Faden durch sein Meisterwerk, die »Wartesaal«-Trilogie Erfolg, Die Geschwister Oppermann und Exil. In Erfolg nahm er kaum verhüllt Hitler, seine »Bewegung« und die bereitwillig mit ihm kooperierenden Industriellen aufs Korn. Glücklicherweise gelang ihm die Flucht nach Amerika. Wäre er nicht entkommen und wäre auch er umgebracht worden, würden ihn heute wahrscheinlich sehr viel mehr Leser kennen.
Karl Jaspers (1883–1969)
Seine Idee von der »Achsenzeit«, wie er die Zeitspanne zwischen 800 und 200 v. d. Z. nannte, in der sich mehr oder weniger parallel in vier unverbundenen Kulturräumen die Ursprünge moderner Spiritualität entwickelten (Hinduismus und Buddhismus in Indien, Taoismus und Konfuzianismus in China, das talmudische Judentum, der Zoroastrismus im iranischen Raum und die Philosophie des antiken Griechenland), kennzeichnet ihn als einen der großen Entwickler von Synthesen in der Geschichte. Er erklärte unsere Welt auf eine ebenso grundlegende (wenn nicht noch grundlegendere) Weise wie John Dewey oder William James.
Die Chemiker Heinrich Dreser (1860–1924), Arthur Eichengrün (1867 bis 1949) und Felix Hoffmann (1868–1946)
Heute, über ein Jahrhundert nach der Erfindung des Aspirins, werden jährlich mehr als vierzigtausend Tonnen dieser Chemikalie produziert. Daran lässt sich gewiss ermessen, welchen Erfolg das Medikament hat. Nachdem bald schon seine Wirksamkeit als Schmerzmittel gegen Migräne, rheumatoide Arthritis, Fieber, Grippe sowie gegen diverse Tierkrankheiten bewiesen war, begann man es in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auch verstärkt als Blutverdünnungsmittel zur Vorbeugung gegen Angina pectoris, Herzanfälle und Schlaganfälle einzusetzen. Das ist mehr als genug, um zu verdeutlichen, dass die Namen Dreser, Eichengrün und Hoffmann auf jede Ehrenurkunde für Chemie gehören. Mit Sicherheit haben diese drei Männer der Menschheit einen größeren Dienst erwiesen als zum Beispiel der wesentlich berühmtere Carl Gustav Jung, welcher ganz gewiss jede Liste anführen müsste, auf der die Namen der völlig überschätzten deutschsprachigen Denker angeführt wären.
Peter Watson, geboren 1943, studierte an den Universitäten von Durham, London und Rom. Er war stellvertretender Herausgeber von New Science und vier Jahre lang für The Sunday Times tätig. Als Korrespondent in New York arbeitete er für The Times und schrieb für Observer, New York Times, Punch und Spectator. Bis 2007 war er Lehrbeauftragter am McDonald Institute for Archaeological Research der Universität Cambridge. Er lebt in London.