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Philipp Hager

Liebe unter Einzellern

Roman

Philipp Hager

Liebe unter
Einzellern

Roman

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1. Auflage 2016

Coverfoto: © Shutterstock | Azahara

ISBN E-Book: 978-3-99200-157-6

Bevor wir uns nicht verloren haben,
besteht keine Hoffnung, uns zu finden
.
Henry Miller

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

I

Ich war ein Kind von fünf Jahren und döste auf der Rückbank des Autos, eingelullt von der monotonen Melodie der Straße. Gelegentlich richtete ich mich auf und spähte mit zusammengekniffenen Augen durch die Windschutzscheibe, aber da war nichts als der Mittelstreifen, der sich in weißen Tropfen aus der Dunkelheit löste. Dann ließ ich mich wieder zurücksinken, starrte mit leerem Blick aus dem Seitenfenster, in das schwarze Flackern der Bäume, bis mir die Augen zufielen.

Einmal aber richtete ich mich auf und der Himmel voraus war erfüllt von einem sanften Glimmen. Man gewahrte sie weit vor der eigentlichen Stadt, diese neblige Glocke aus Licht, die sie ausdünstete wie ein luzides Trugbild des Felsendoms. Mit großen Augen klammerte ich mich an die Kopfstütze vor mir. Dann kamen die Laternen. Beidseits der Straße erhoben sie sich, neigten sich einwärts, formten majestätische Tore, die einen aufnahmen und in die Stadt geleiteten.

Der Schein dieser Laternen! Ihr honigwarmes Licht setzte sich zusammen aus geriebenem Bernstein, Kupfer, Äther, geschmolzenen Bronzestatuen, Kreosotum und Goldstaub. Sie überzogen den Asphalt mit schwelender Glut, als führe man auf erst halb verkrusteter Lava. Und egal, wie alt ich werde, dieser einzigartige, warme Farbton wird für mich immer die Farbe des Wunders bleiben, wie das mystische Braun für die barocken Maler. Der Innenhof des Landesgefängnisses schwimmt in ganz ähnlichem Schein. Als ich Jahre später dort in Untersuchungshaft saß und auf die Vorführung zum Richter wartete, stand ich jeden Abend am vergitterten Fenster und schaute hinab, und diese Farbe war mir ein heilsamerer Trost, als jeder Gedanke es hätte sein können.

Die Straßen wurden immer belebter. Inmitten eines Schwarms roter Lichter trieben wir nach Wien hinein. Vor meinen Augen baute sich die Stadt auf wie eine wundervolle Melodie. Ich ahnte weder etwas von der quälenden Unruhe, die ihr zugrunde lag, noch von der Tyrannei der Reklametafeln, noch von den stromlinienförmigen Albträumen, zu denen die Gebete der Verlorenen aufstiegen wie Fledermäuse zu einem Glockenturm. Und gerade das machte es so wunderbar – ich wusste nichts von ihr, rein gar nichts. Ich sah sie nur, die Stadt, und was ich sah, raubte mir den Atem.

Damals war meine Mutter gerade mit uns Kindern nach Wien gezogen, in die Lerchenfelderstraße im achten Bezirk. Aus einer windstillen Eiswüste kommend, wo die Verwandtschaftsverhältnisse ungeklärt und die Türen doppelt, dreifach verriegelt waren, fand ich mich plötzlich inmitten einer Millionenstadt wieder. In den warmen Juninächten stand immer ein Fenster offen und während es in den anderen Zimmern langsam und kehlig atmete, lag ich im Halbdunkel und roch den warmen Duft dieser Stadt, die betörende Mischung aus Staub, Abgasen und erhitztem Beton. Ab und zu stieg das Brummen eines Autos die Hauswände hoch und drang durchs Fenster. Oder eine Straßenbahn rumpelte scheppernd heran, bevor sie sich wieder in unbekannte Weiten entfernte. In diesen Nächten fühlte ich mich geborgen und zugleich wunderbar verloren.

Bei Tag wagte ich mich selten mehr als einen Steinwurf weit die Straße rauf und runter. Die natürlichen Grenzen meiner Welt waren der Eissalon an der Ecke Lerchengasse und in der Gegenrichtung der Spielzeugladen am Anfang der Strozzigasse. Die Längsseite eines Häuserblocks. Aber wenn ich die Wohnung verließ und in der steinernen Kühle des Treppenhauses hinabtrippelte, den Griff der schweren Haustür packte und mich mit ganzem Gewicht reinhängte, um sie Zentimeter für Zentimeter aufzuziehen, bis durch den wachsenden Spalt das Sonnenlicht einfiel, dann bebte jede Zelle in mir. Dieser Streifen Straße war für mich die Nabe, wo die Speichen des Kosmos zusammenliefen. Ich trat hinaus auf den Gehsteig, ins Strömen der Menschen, ins Lärmen des Verkehrs, und ich fand mich im Mittelpunkt einer Welt wieder, die größer, chaotischer und lebendiger war, als ich sie mir jemals vorgestellt hatte.

Dann, eines Tages, brach meine Mutter auf offener Straße zusammen. Ich erinnere mich an den Nachmittag, als sie aus dem Krankenhaus heimkam. Die Tür ging leise auf und da stand sie, wie eine weiße Feder, gekrümmt und schwerelos, gegen Richards Arm gesunken. Tagelang kam sie nicht aus dem Bett. Kreidebleich und unbelebt lag ihr Gesicht im Kissen, eine Totenmaske, die jemand vor vielen Jahrhunderten hier vergessen hatte. Das Fieber zehrte sie auf, Kilo für Kilo, bis man glaubte, der Daunendecke beim Absinken zusehen zu können. In ihrer Brust schlug noch das Herz, es wollte die alte Gewohnheit nicht lassen, der Rest von ihr war aber schon weit fortgeschritten auf dem Weg, eine Erinnerung zu werden. Was uns andere betraf, wir bestanden nur noch aus Angst. Wir atmeten Angst, dachten Angst, pinkelten Angst. Wie schlaflose Gespenster trieben wir um meine Mutter herum, unsichtbar füreinander, Staubschwaden, die von einem Zimmer ins andere geweht wurden.

Ich war der Erste, der zurück in die Eiswüste geschickt wurde, zu meinen Großeltern, als Entlastung. Nach einer Weile kam mein Bruder nach. Und als meine Mutter hinreichend genesen war, folgte auch sie uns. Mit einem Mal war keine Rede mehr von Wien. Irgendwo zwischen den Fieberschüben war es verloren gegangen. Wir nahmen den Faden dort wieder auf, wo wir ihn fallen gelassen hatten. Aber der Bruch blieb. Ich war infiziert. Die Tage in Wien kullerten in meinem Schädel umher wie Quecksilbertröpfchen, ein Gift, das ich fortan in mir trug.

Mit achtzehn strandete ich wieder in dieser Stadt. Aber diesmal war alles anders. Diesmal bedeutete Wien das Messingschild der Barmherzigen Brüder und die fröstelnde Kälte in den U-Bahn-Stationen; die endlos hingeworfene Frage: Dürfte ich die Dreistigkeit besitzen, Sie um etwas Kleingeld zu bitten?, wie ein Stoßgebet, tausendfach, endloser als jeder Rosenkranz jedes Fanatikers; und das überhebliche, wohlgenährte Lächeln, das dann für gewöhnlich aufblitzte, die amüsiert gewölbte Braue, das heimliche Ergötzen an der Unterwürfigkeit; manchmal eine Hand, die in die Manteltasche gleitet und tastet, die Gottähnlichkeit in diesem Moment bis zur Neige auskostend. Alles in allem, diesmal war Wien, ganz wie mein Leben, eine Ruine, alt geworden vor ihrer Zeit.

Das heißt, bis ich Maria traf. In dieser Nacht wendeten sich die Dinge. Mir wurde klar, dass ich schon Wochen und Monate auf der Suche gewesen war, nach irgendetwas, das mich aus meinem Leben herausholt. Als ich in der Dunkelheit an sie geschmiegt lag und der lärmenden Unruhe der Stadt lauschte, fühlte ich deutlich die Veränderung. Zuletzt war mir jedes Geräusch, jedes Autobrummen, jede Stimme feindlich erschienen; kleine Psychose nach Monaten des Ausnahmezustands. Jetzt sank das alles in eine dunkle Vergangenheit. Mit jedem Atemzug, den ich in ihren Nacken hauchte, schoben sich Jahre zwischen mich und dieses Leben, bis mir die Ereignisse, die mich hierhergeführt hatten, so fern schienen wie die Geschichte der Burenkriege. Es gab nichts mehr außer dieser Nacht, diesem schwarzen Ozean, der mit jedem gehauchten Atemzug weiter über die Ufer trat, und in seinem innersten Kern eine Eizelle und darin dieser schlafwarme Körper und ich, der an ihm lag. Das nächtliche Rumoren der Stadt, das gedämpft durchs Fenster drang, klang harmlos und flüchtig in meinen Ohren wie eine ferne Brandung.

Ein neues Leben tat sich mir auf. Gemeinsam mit Maria taumelte ich plötzlich wieder hinein in solche Augenblicke, wie ich sie als Fünfjähriger in dieser Stadt erlebt hatte – wenn mit einem Mal die Zahnräder aushaken und die Pfauen schreien, wenn das große Pochen einsetzt und der Äquator in sanften Wellenlinien nordwärts wandert. Wenn jede Sekunde zerstäubt wie Blütenpollen und man sie tief in die Lunge atmet, wie ein Fabrikarbeiter den feinen Graphitstaub, der sich in seinen Eingeweiden festsetzt. Wenn die Worte so nah an die Sonne kommen, dass ihre Flügel zu schmelzen beginnen, weshalb man es vorzieht, den Mund zu halten, denn wenn man sich ein Herz fassen und alles aussprechen würde, was einem in einem solchen Moment durch den Kopf geht, dann stünde man einsamer und gemiedener da als ein Bettler mit nassen Hosenbeinen.

II

„Du musst sicher schon pinkeln, oder?“, flüsterte ich in Marias Haare.

Sie brummte verschlafen.

„Wenn du gehst, könntest du nämlich …“

„Ich muss nicht“, murmelte sie schwerfällig.

„Wenn du drüber nachdenkst, kommst du sicher drauf, dass du doch musst.“

„Lass mich … ich muss nicht“, raunte sie und rollte sich in die Decke. Ich beugte mich an ihr Ohr und ahmte leises Wasserrauschen nach, um sie vom Gegenteil zu überzeugen.

„Duuu!“, mahnte sie mich heiter.

„Du musst doch, oder?“, flüsterte ich grinsend.

„Na warte!“

Sie tastete mit ihrer Hand unter der Decke umher und bevor ich mir der Gefahr bewusst wurde, bohrte sie ihre Finger mit einem kräftigen Stoß in meine Blase.

„Zu Hilfe! Shit, shit … ich geh schon!“, sagte ich, sprang auf und trabte durch die Eiseskälte los. Plötzlich wurde mir schwarz vor Augen. Ich stützte mich am Türrahmen ab.

„Alles in Ordnung?“, fragte sie hinter mir.

„Ja ja, alles bestens.“

Ein paar Sekunden, dann hatte ich mich wieder gefangen. Dafür machte sich jetzt ein fürchterlicher Kater bemerkbar. Ich stieß mich vom Türrahmen ab und schlurfte weiter zum Thermostat. Mit einem Knopfdruck warf ich die Heizung an. Auf der Toilette zitterte ich, es gelang mir kaum, den Strahl gerade zu halten. Abschließend machte ich einen Umweg durch die Küche, zog die Kühlschranktür auf und nahm vier Bierdosen heraus.

Zurück im Zimmer saß Maria bereits mit dem Rücken gegen den Heizkörper, die Decke fest um sich geschlungen. Sie hatte Musik aufgelegt, kratzig, melancholisch, von einer überalterten Schönheit wie Ajourstickerei; als würden sich die Schallwellen kilometerweit durch Staub graben, bevor sie aus dem Lautsprecher kamen. Barfuß stieg ich über den Teppichboden, durch das zerbrechliche Auf und Ab der Musik, und eine Stimmung ergriff von mir Besitz, als durchschritte ich einen vergessenen Atombunker. Alles passte dazu. Die glühenden Schlitze in den Jalousien wie eine sparsame Hightech-Beleuchtung, die abgestandene Luft, die im Hals kratzte, die lose Matratze mit ihren Brandlöchern, die Stapel von Videokassetten, von denen sich bereits die Etiketten rollten, die bekritzelten Wände, übersät mit Hieroglyphen, düsteren Durchhalteparolen und Fetzen von Albträumen, die schlafwandelnd festgehalten worden waren … und Maria, wie sie dahockte, rücklings an die Heizung gelehnt, von der Außenwelt durch mehr als bloß eine Mauer getrennt.