Zum Buch

 

Kein thüringischer Landesherr ist so sehr der Vergessenheit anheimgefallen wie Carl Friedrich (1783–1853), der das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach von 1828 bis 1853 regiert hat. Einer Reihe von Zeitgenossen galt er als oberflächlich, sprunghaft, kindlich und nicht ernst zu nehmen – ganz das Gegenteil seines Vaters Carl August, des Goethefreundes, Machtmenschen und energischen Reformers. Die Nachwelt hat Einzelurteile kritiklos als komplexes Verdikt übernommen.

Detlef Jena legt die erste Biografie über Carl Friedrich vor! Auf der Grundlage des reichhaltigen Nachlasses Carl Friedrichs entwirft er spannend und unterhaltsam das schillernde Porträt einer bodenständigen Persönlichkeit, die sich im Spannungsfeld zwischen protestantischem Ideal, realer fürstlicher Machtpolitik und russisch-autokratischer Bevormundung behauptet hat. In der Zeit der deutschen Restauration und des Biedermeier war Carl Friedrich im nachklassischen Weimar als traditionsbewusster Wettiner und zugleich skurriler Schalk mit eigenwilligem Witz der rechte Mann am rechten Platz.

 

 

Zum Autor

 

Detlef Jena,
Prof. Dr. sc. phil., geb. 1940, war von 1985 bis 1991 Professor für Osteuropäische Geschichte in Jena und Gastprofessor an der Universität Paris. Er ist freier Autor und Publizist.

Detlef Jena

 

 

 

Carl Friedrich

(1783–1853)

 

Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag Friedrich Pustet

Regensburg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

 

eISBN 978-3-7917-6006-3 (epub)

© 2013 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

eBook-Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg

Umschlaggestaltung: Heike Jörss, Regensburg

 

Diese Publikation ist auch als Printprodukt erhältlich:

ISBN 978-3-7917-2520-8

 

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Informationen und Bestellungen unter verlag@pustet.de

Zum Geleit

 

 

 

Als die Klassik Stiftung Weimar im Frühjahr 2004 – auch dies liegt, kaum zu glauben, nun schon fast ein Jahrzehnt zurück – eine umfassende Ausstellung über Ihre Kaiserliche Hoheit, die Zarentochter Maria Pawlowna, im Stadtschloss zu Weimar veranstaltete, gehörte Detlef Jena zum Kreis der Autoren des Katalogs. Nichts lag näher als diese Autorschaft. Denn Detlef Jena hatte nicht nur, schon 1999, eine Biografie der Weimarischen Fürstin russischer Herkunft, sondern zudem 2003 ein Buch über ihre Schwester, Königin Katharina Pawlowna von Württemberg, veröffentlicht. Er stand also, wie man so sagt, im Stoff. Und tatsächlich trug er einen profunden vergleichenden Essay über die fürstliche Sozialpolitik in Weimar und Württemberg zum Ausstellungsbuch bei.

Man nimmt diesen Katalog noch immer gern zur Hand. Und doch steht auch dieses Buch aus dem Jahr 2004 in einer langen Reihe von Zeugnissen, die man in ihrer Gesamtheit nur als eine geradezu habituelle Unterlassungsgeschichte beschreiben kann. Einer fehlt. Er fehlt eigentlich immer. Er wird, schon seit seinen Lebzeiten, unentwegt übersehen. Und das, obgleich er als ein hübscher junger Mann, dazu ungewöhnlich groß von Gestalt, um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert das Parkett der Weltbühne betrat; obgleich er ein halbes Jahrhundert in der nächsten Umgebung von Goethe lebte; obgleich er 25 Jahre ein Großherzogtum regierte; obgleich er der Schwiegervater des Deutschen Kaisers Wilhelm I. war.

Was, muss man fragen, ließ diesen Regenten in diesem Maß unsichtbar werden? Hatte er sich etwas zuschulden kommen lassen? War er, aus welchem Grund auch immer, seiner Familie, seinem Stand, seiner Zeit peinlich? Hat er sich die planvoll entworfene damnatio memoriae seiner selbst zur persönlichen Lebensform erkoren? Mied er die Welt, mied die Welt ihn?

Natürlich, ich spreche von Carl Friedrich von Sachsen-Weimar und Eisenach. Heute, im Jahr 2013 und damit 230 Jahre nach seiner Geburt, erscheint seine Biografie. Es ist die erste Biografie dieses Mannes.

Selbst in dem über 800 Seiten starken Katalog zur Ausstellung der Klassik Stiftung aus dem Jahr 2004 kommt er (fast) gar nicht vor, obwohl er doch über annähernd fünfzig Jahre der Ehemann der Kaiserlichen und Königlichen Hoheit Großherzogin Maria Pawlowna gewesen ist. Einer Autorin, Ulrike Müller-Harang, ist das immerhin aufgefallen. Sie widmet diesem Ehegemahl einen Beitrag, und in einer Anmerkung zu demselben, also wirklich ganz am Rande, stellt sie fest, dass eine Biografie dieses großen Unbekannten aus dem Weimar der klassischen Periode ein Desiderat darstelle.

Ein Desiderat. So kann man das nennen. Ein Erwünschtes. Sehr laut wurde der Wunsch nicht vorgetragen, so viel darf um der Wahrheit willen hinzugefügt sein. Aber man weiß das aus der Erfahrung, die das Leben schenkt: Manch laut und gebieterisch geäußerter Wunsch bleibt unerhört; dem dezent nur Geflüsterten hingegen wird am Ende Gehör verschafft – und welch ein Gehör!

Besser konnte Carl Friedrich es wohl kaum treffen. Sein Biograf hat sich wie nur wenige in den vergangenen Jahrzehnten mit der Geschichte der europäischen Dynastien und deren Heirats- und Kabinettpolitik wissenschaftlich auseinandergesetzt.

Gerade das vielschichtige Geflecht der deutsch-russischen Beziehungen hat dabei immer wieder im Zentrum seiner ausgedehnten Studien und Archivrecherchen gestanden. Das hört sich nach Schwarzbrot akademischer Wissenschaft an. Erstaunlicherweise aber verbindet Detlef Jena die grundständige historische Forschung aus den Quellen mit einer Kunst des Erzählens, die allen seinen Veröffentlichungen den Charakter fast populär zu nennender Literatur verleihen. Bis heute war Großherzog Carl Friedrich von Sachsen-Weimar und Eisenach nicht viel mehr als eine Position im Stammbaum der Ernestiner. Er war Sohn, Ehemann und Vater. Ein genealogisches Abstraktum. Jetzt kann ein Kind seiner Zeit, ein historischer Zeuge aus Fleisch und Blut, kurz: kann ein Mensch daraus werden.

Ich freue mich auf diese Lektüre, und ich bin sicher, mit dieser Freude keineswegs allein zu sein. Gelegentlich sagt man auch heute noch, was man früher, als das Wünschen noch geholfen hat, immer sagte, wenn ein Wunsch in Erfüllung gegangen war: Danke!

 

Weimar, im Juli 2013

Hellmut Th. Seemann

Präsident Klassik Stiftung Weimar

Vorwort

 

 

 

Vor 160 Jahren, in der Nacht vom 7. auf den 8. Juli 1853, ist der Großherzog Carl Friedrich von Sachsen-Weimar-Eisenach nach schier endlos langer Krankheit in seinem Schloss Belvedere gestorben. Er ist 70 Jahre alt geworden, 25 Jahre lang hat er sein kleines Großherzogtum regiert – als milder Herrscher beliebt, streng gläubig, konservativ, zuverlässig, aber auch als kindlich naiv verlacht und nicht immer ernst genommen. Er war kein „Macher“ wie der Vater Carl August. Carl Friedrich regierte auch nicht in den aufgewühlten Jahrzehnten, die der Großen Revolution in Frankreich gefolgt waren. Er besaß als Erbprinz keinen besonders aktiven Part in den Kriegen gegen Napoleon und des Vaters Wunschtraum, als König an der Spitze eines neuen Reichs der Wettiner zu brillieren, stand er als Schwager des russischen Zaren verhalten gegenüber. Seine Frau Maria Pawlowna und die Familie Romanow verhinderten die Erfüllung des väterlichen Traums.

Als Carl Friedrich 1828 die Herrschaft antrat, bestimmten die „Karlsbader Beschlüsse“ das politische Handeln der Fürsten im Deutschen Bund. Carl Friedrich hätte als „Altbursche“ oder „Jakobiner“, so der skandalöse Ruf seines Vaters, noch dazu unter der „liebevollen“ Bevormundung durch die Petersburger Verwandten und Maria Pawlowna, keine Chance zu politischer Großtat besessen. Er blieb der bescheidene Biedermeierfürst, der sich seiner Zeit anpasste, bestand streng auf den Traditionen seiner Dynastie und wehrte sich gegen die Angriffe auf die Integrität seiner unabhängigen Persönlichkeit mit Mitteln der Ironie, des Sarkasmus oder auch einfach der passiven Ignoranz.

Mit dem Biedermeier und der aufbrodelnden deutschen Frage verschwand auch Carl Friedrich nach der Revolution von 1848 aus der Geschichte. In Erinnerung blieb nur das Vorurteil eines zur Regierung wenig geeigneten Monarchen – eifrig geschürt durch Carl Friedrichs Tochter Augusta. Sie verbreitete die Legende, dass das einzige und wahre Glück im Leben ihres Vaters darin bestanden hätte, diese kluge und lebenstüchtige Maria Pawlowna geheiratet zu haben. Das Wort einer Königin von Preußen und Deutschen Kaiserin wog schwer!

Dieses Bild hat sich eingeprägt, ist zum Klischee geworden, hat die wissenschaftliche Forschung und Publizistik seither bestimmt und ist kaum kritisch hinterfragt worden. Niemals hat ein Historiker ernsthaft danach gefragt, wie das Leben Carl Friedrichs im Detail verlaufen ist, welche Probleme mit seiner Erziehung verbunden waren, wie er zur Tradition und Politik seines Hauses stand, welches Verständnis er von der literarischen Klassik besaß, wie die ganze Tragödie seiner Ehe verlaufen ist, welche Ideen er als Herrscher entwickelt hat, wie das Verhältnis zwischen dem Landesherrn und seinen Politikern war usw. usw.

Vor 15 Jahren ist mit der Biografie „Maria Pawlowna – Großherzogin an Weimars Musenhof“ ein neues Fenster zum modernen Verständnis der nachklassischen Zeit Weimars aufgetan worden. Das Buch hat ein außergewöhnlich breites Echo gefunden und sogar die in sich geschlossene akademische Forschung beeindruckt. Die hier vorgelegte Biografie über den Großherzog Carl Friedrich ist weder ein zweiter Band zur Biografie Maria Pawlownas noch ein Korrektiv zur Darstellung über die russische Großfürstin, obgleich eine erstmalige intensive Auseinandersetzung mit Carl Friedrichs Vita zwangsläufig zu manchem Paradigmenwechsel führt und selbstverständlich die bislang überragende Dominanz der Persönlichkeit Maria Pawlownas einer notwendig kritischen Prüfung unterzieht.

Es existiert, abgesehen von den Büchern der Adelheid von Schorn über das nachklassische Weimar aus dem Jahre 1911, keine spezielle biografische Literatur zum Leben Carl Friedrichs. Die Biografie verlangte umfassende Archivstudien, namentlich im Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar und in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek Dresden, um den Nachlass Carl Friedrichs zu erschließen.

Der Autor dankt den Mitarbeitern der Archive für ihre aktive und freundliche Unterstützung, besonders Frau Katja Deinhardt vom Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar. Er dankt Frau Angelika Pöthe, Autorin mehrer Bücher über das Leben und Wirken des Großherzogs Carl Alexander – des Sohnes von Carl Friedrich – für die nie nachlassende Bereitschaft zum Gespräch über das Leben in Weimar im 19. Jahrhundert.

Der besondere Dank des Autors gilt dem Jenaer Historiker Gerhard Müller. Von der Ideenfindung über die Archivstudien bis zum druckfertigen Manuskript – es gab keine Phase, in der sich der Autor nicht auf die hilfreiche und geduldige Kooperation mit Gerhard Müller, dem exzellenten Sachkenner der Geschichte Weimars und Thüringens, verlassen konnte.

Dank gilt dem Pustet Verlag und namentlich der Lektorin Frau Heidi Krinner-Jancsik. Insgesamt sechs Bücher haben Autor und Verlag bislang gemeinsam produziert. Stets hat sie umsichtig und voller Sachkenntnis das Lektorat in der Hand gehalten. Dafür ist ihr der Autor besonders verbunden. Er freut sich, dass der erfolgreiche Weg mit der neuen Lektorin Christiane Abspacher auf glückliche Weise fortgesetzt werden kann.

 

Schkölen/Rockau im Juli 2013

Detlef Jena

Kapitel 1

„Ich habe mich über … das unverdorbene Gefühl des Prinzen gefreut …“

Johann Gottfried Herder an Herzogin Louise im Dezember 1797

Carl Friedrich – Erbprinz mit „sanguinischer Komplexion“

Großherzog Carl Friedrich von Sachsen-Weimar-Eisenach wirkte sein ganzes Leben lang für die monarchischen Traditionen der thüringischen Ernestiner. Seine Eltern, Carl August und Louise von Sachsen-Weimar-Eisenach, fanden nur verhaltenen persönlichen Zugang zu den individuellen Eigenarten ihres Sohnes. Sie betrachteten seine schüchterne Zurückhaltung als hinderlich für die Kontinuität der Herrschaft ihrer Dynastie. Daraus erwachsende Missverständnisse und Fehlurteile haben das Leben Carl Friedrichs belastet und seinen Ruf in der Geschichte beschädigt. Er hat dennoch 25 Jahre über Sachsen-Weimar-Eisenach geherrscht und einen realen, arteigenen Platz in einer unverwechselbaren Etappe der deutschen Geschichte gefunden. Er war der ideale Fürst des Weimarer Biedermeiers: Der rechte Mann zur rechten Zeit am rechten Platz!

Carl Friedrichs Mutter Louise, die 1757 geborene Prinzessin von Hessen-Darmstadt, haderte stets mit ihrem Schicksal. Sie verfügte über eine humanistische Bildung. Ihr dogmatischer Protestantismus machte sie intolerant. Sie litt unter der Zwietracht ihrer Eltern – des hessischen Landgrafen Ludwig IX. und der „Großen Landgräfin“ Caroline. In der Mutter fand sie moralischen Halt. Sie folgte deren Anweisungen und reiste im Mai 1773 mit ihr und den Schwestern Amalie und Wilhelmine nach St. Petersburg. Der russische Thronfolger Paul durfte sich eine Braut erwählen!

Louise atmete auf, sie fiel als Kandidatin durch. Kaiserin Katharina II. hielt das Kind für einen Dickkopf, denn Louise wollte für die vage Aussicht auf den russischen Thron keinesfalls ihre protestantische Religion opfern. Katharina entschied sich deshalb für Wilhelmine. Erleichtert darüber amüsierte sich Louise bei deren Vermählung. Sie knüpfte sogar herzliche Verbindungen zu dem von seiner Mutter verachteten und immer wieder gedemütigten Zarewitsch Paul an.

Im Dezember kehrte Louise mit ihrer Mutter und Schwester Amalie aus der kaiserlichen Pracht in die Darmstädter Heimat zurück und musste schon bald einen schweren Schicksalsschlag ertragen. Im März 1774 starb ihre Mutter. Der Vater löste den Hofstaat auf und schickte Louise zur Schwester Amalia, die er im Januar mit dem Erbprinzen von Baden verheiratet hatte, nach Karlsruhe. Doch Louise wollte selbstständig sein. Der Dichter Lavater bestärkte sie in dem Verlangen, durch eine Ehe aus der Einsamkeit auszubrechen. Arrangeur und heiratswilliger Kandidat fanden sich schnell.

Der kurmainzische Statthalter in Erfurt Carl Theodor von Dalberg kannte den brennenden Heiratswunsch des Weimarer Erbprinzen Carl August. Der ungestüme, selbstbewusste und zielstrebige, 1757 geborene junge Mann, drängte mit aller Gewalt, die Regentschaft seiner Mutter Anna Amalia durch die eigene Herrschaft abzulösen.

Es gab keine Hindernisse für eine standesgemäße Ehe. Präsentation der Brautleute, übereinstimmende Willenserklärungen, notwendige Formalitäten wie den Ehevertrag – die jungen Liebenden absolvierten das ganze Programm professionell, schnörkellos und ohne Zeitverzug. Am 3. Oktober 1775 schlossen sie den Bund fürs Leben und reisten nach Weimar. Louise offenbarte sich lediglich ihrem Schwager Paul in Petersburg: „Et je rends grâce à Dieu, qu’il soit passé“1 und meinte damit nicht nur die Hochzeitsfeierlichkeiten. 

Carl August trat die Herrschaft mit Feuereifer an. Im November kam der Jurist und Dichter Johann Wolfgang Goethe nach Weimar. Nachdem Christoph Martin Wieland seit 1772 in Weimar heimisch geworden war, ging nun mit Goethe ein weiterer Dichterstern über Weimar auf.

Carl August sah mit Wohlwollen, dass die von der Regentschaft zurückgetretene Anna Amalia ihre neue Freiheit für das geistige, literarische und musikalische Leben am Hofe nutzte. Ihre Fähigkeit zur Improvisation kam zur Geltung. Im Mai 1774 war das Residenzschloss abgebrannt. Carl August konnte seine junge Frau daher nicht einmal standesgemäß unterbringen. Not macht erfinderisch: Im Schloss Ettersburg, im Wittumspalais, im Fürstenhaus oder in Privatwohnungen traf sich die kleine kunstbeflissene Gemeinschaft zu Konzerten, Aufführungen des Liebhabertheaters, Lesungen oder Vorträgen und entfaltete eine geistvolle Geselligkeit, an der Wieland und Goethe federführend teilhatten.

Louise mochte weder den robusten Reformeifer ihres Mannes noch die unterhaltsame Geschäftigkeit Anna Amalias. Sie versagte sich der Geselligkeit nicht, setzte aber keine eigenen Akzente. Louise fühlte sich stärker zu der 1776 nach Weimar übergesiedelten Familie Johann Gottfried Herders hingezogen. Dort gab es geistlichen Ernst und fromme Erhebung in vertrauter Atmosphäre.

Im April 1776 starb in Petersburg Louises Schwester Wilhelmine bei der Geburt ihres ersten Kindes. Es kursierten böse Gerüchte über unterlassene Hilfeleistung. Louise schrieb dem Schwager mitfühlende Briefe, tröstete ihn und versuchte sein Selbstwertgefühl zu stärken. Auf Befehl der Kaiserin heiratete Paul im September 1776 die Prinzessin Sophie-Dorothea von Württemberg-Mömpelgard. Sophie trat zum orthodoxen Glauben über, erhielt den Namen Maria Fjodorowna. Sie durchschaute die Feindschaft zwischen Katharina II. und Paul sehr schnell – die Mutter fürchtete, der Sohn werde sie vom Thron stoßen und der Sohn hasste die Mutter, weil sie ihm den Thron verweigerte. Maria Fjodorowna war eine kluge Frau, selber machtbewusst. Sie trat einen langen und komplizierten Weg an, ihrem Mann und sich selbst, eine eigene Machtposition gegenüber der Kaiserin zu errichten, ohne die Ordnungsregeln im Hause Romanow-Holstein-Gottorf zu verletzen. Der wichtigste Schritt bestand in einer zahlreichen und gesunden Nachkommenschaft. Im Dezember 1777 kam mit dem Sohn Alexander der erhoffte Thronfolger zur Welt. Im April 1779 sicherte die Geburt Konstantins die Thronfolge ab. Im Juli 1783 folgte mit Alexandra das erste Mädchen. Kaiserin Katharina II. nahm der jungen Mutter die beiden Söhne sofort weg und ließ sie unter ihrer eigenen Obhut betreuen und erziehen.

Louise in Weimar wurde am 3. Februar 1779 von der Tochter Louise Augusta Amalia entbunden. Das Mädchen gedieh prächtig, aber es blieb eben ein Mädchen. Carl August zeigte seine Enttäuschung noch nicht offen. Die Möglichkeit weiterer Nachkommen bestand ja ungebrochen weiter. Tatsächlich brachte Louise am 3. September 1781 ein zweites Kind zur Welt – wieder ein Mädchen, das allerdings nach wenigen Stunden starb. Carl August reagierte ebenso verärgert wie seine Mutter Anna Amalia. Louise fand bei den Herders Trost. Ihre innere Verbitterung konnten aber auch Herder und dessen Frau Caroline nicht lösen.

Carl August durfte kein Mitleid zeigen. Die Weimarer Ernestiner brauchten einen Erbprinzen! Mitte des Jahres 1782 begann eine neue Schwangerschaft. Abermals warteten die Familie, der Hof und das Land voller Spannung auf ein positives Ergebnis. Am 1. Februar 1783 schrieb Goethe noch in einem Gute-Nacht-Gruß an Charlotte von Stein: „ … lebe wohl in dem kritischen Augenblicke wo uns Freude oder Sorge bevorsteht.“2 Charlotte sah die bevorstehende Niederkunft praktischer: Gemeinsam mit Caroline Herder verbrachte sie die Nacht bei Louise – die ersten Wehen hatten eingesetzt!

Die Damen leisteten ganze Arbeit. Caroline Herder rechnete es sich als persönliches Verdienst an, dass Weimars Glocken und Kanonen in den frühen Morgenstunden des sonntäglichen 2. Februar 1783 die Ankunft eines Erbprinzen verkünden konnten: „Der Erbprinz, ein halber Riese, der ein Kind der Vorwelt zu sein schien, kam tot zur Welt, und ich weiß, daß er durch meine unermüdete Anhaltsamkeit zum Leben kam, da schon die Umstehenden anfingen zu verzweifeln.“3 Der stolze Vater verzagte nicht, er strahlte und war glücklich, dass Mutter und Kind „leidlich wohl“ sind. Selbstbewusst und stolz verkündete er: „Das Kind heißt Carl Friedrich.“4

Über die Geburt und die Taufe Carl Friedrichs berichtete Herder am 17. Februar und 10. März 1783 in zwei Briefen an den Philosophen und Schriftsteller Johann Georg Haman: „… Sie werden vielleicht schon durch die Zeitungen von der Freude unsers Landes wissen, das den 2. Februar endlich seinen Wunsch u. lange Hoffnung, einen Erbprinzen erhalten. Mittwoch war die Taufe u. ich lege die Taufrede bei … Bei der Geburt ists hart hergegangen u. das Kind, das ungewöhnlich groß u. stark ist, ist im Rande des Lebens gewesen; dafür befindet es sich jetzt desto beßer u. gesunder. Der Herzog ist ungewöhnlich froh, die Herzogin innig erquickt, weil sie Gott ihren langen Wunsch fast ohne Hoffnung (denn sie erwartete wieder ein oder gar 2. Mädchen) hat leben lassen. Meine Frau besucht sie oft u. von der Seite lebt alles hier in Gedichten, Glückwünschungen u. Freude …“5

Die Erleichterung am Hofe und im Lande äußerte sich in einem Jubel, der dem Geist der Zeit entsprechend geradezu hymnische Züge angenommen haben soll. Der gewöhnlich keine Huldigung verachtende Wieland konnte sich eine gutmütige Ironie nicht verkneifen: „Also ganz natürlich hatten wir mit unserem Erbprinzen und mit Papa und Großmama und mit den durchlauchtigsten Paten und dem Taufakt und allerlei anderen Festivitäten, auch mit Fertigung einer großen Kantate auf diesen freudigen Erfolg zu tun. Denn die Musen aller Art haben sich auf alle Weise bemüht, das Fest zu verherrlichen.“6

Nur wahre Dichter zierten sich, in den trivialen Chor einzustimmen. Goethe „stockte“ bei dem erhabenen Anlass zunächst die poetische Feder. Erst zwei Wochen nach der Geburt Carl Friedrichs würdigte er das frohe Ereignis auf einer Festredoute mit Worten, die manche Anwesende für ein geistvolles Aperçu hielten, über das herzlich gelacht werden durfte:

 

„Vor vierzehn Tagen harrten wir

In dieser nächtlichen Stunde,

Noch zweifelhaft auf unser Glück,

Mit zugeschloßnem Munde.

 

Nach vierzehn Tagen kommen wir,

Die Stimme zu erheben,

Zu rufen: Endlich ist er da!

Er lebt, und er wird leben!

 

Nach vierzehn Jahren wollen wir

Dies Ständchen wieder bringen,

Zu seiner ersten Jünglingszeit

Ein Segnungslied zu singen.

 

Nach vierzehnhundert Jahren wird

Zwar mancher von uns fehlen,

Doch soll man dann Karl Friedrichs Glück

Und Güte noch erzählen.“

 

Im Übrigen kümmerte sich Goethe nicht weiter um den kleinen Erbprinzen. Im Jahre 1783 sprach oder korrespondierte er über das Kind weder mit Carl August noch mit Louise und ließ es auch in Briefen an Charlotte von Stein unerwähnt. Vielleicht wollte Goethe nicht mit Reimeschmiedern konkurrieren, die in Weimar zuhauf dichteten und in der Presse mit mehr oder weniger geschmackvollen Vierzeilern glänzten:

 

„Sie hat gebohren! Hallt es vom Palast,

Bis zu Amalias harrenden Ohren fast;

Sie hat gebohren! Liefs von Straß zu Straße,

Wurde der Morgengruß froher Bürger.“8

 

Carl Friedrichs Taufe am 5. Februar 1783 gestaltete der stolze Vater als Veranstaltung mit größtmöglicher Öffentlichkeitswirksamkeit. Anna Amalia, der Fürst Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau und Prinz August von Sachsen-Gotha-Altenburg standen als Taufpaten um den zu einem Altar umfunktionierten Tisch. Carl August hatte den gesamten Hof und die Vertreter der Stände um sich versammelt. Von der Galerie blickten brave Untertanen aus Stadt und Land neugierig auf die Spitzen des ernestiner Adels. Auf einer Estrade wartete die höfische Dienerschaft ungeduldig ab, welchen materiellen Nutzen sie aus dem hehren Anlass ziehen konnte.

Alle, die gekommen waren, den kleinen Erbprinzen hochleben zu lassen, hörten der schwungvollen Taufpredigt des wortgewaltigen Johann Gottfried Herder zu, der den Täufling mit einer anspruchsvollen historischen Hypothek belastete. Der künftige Landesherr sollte einen würdigen Platz als Nachkomme der wettinischen Reformationsfürsten Friedrich der Weise und Johann Friedrich der Großmütige erringen. Carl Friedrich erhielt den protestantischen Auftrag, der Wahrheitssuche des Vaters wie dem goldenen Großmut seiner Mutter nachzueifern. In der Festgemeinde herrschte verbale Einmütigkeit: Herder hat wie ein Gott gesprochen!

Der Prediger nutzte die seltene Gelegenheit, da der Herzog und andere Weimarer Prominente entgegen sonstigen Gewohnheiten gezwungen waren, den Gottesdienst zu besuchen, den Herrschaften mit donnerndem protestantischen Wort die Leviten zu lesen: „Unter den Augen seiner Eltern wird Er (Carl Friedrich – Anm. d. A.) von Kindheit auf die Pest der Fürsten, die Schmeichelei, und den benebelnden, verführerischen Scheindienst hassen lernen. Frühe wird sich sein Ohr an Wahrheit, auch an bittere Wahrheit, gewöhnen, und nur dadurch wird sein Herz gesund, sein Verstand richtig, seine Hand und Tat fest und treu werden. Die erschlaffenden Leitbande menschlicher Verzärtelung, knechtischer Unterwürfigkeit, gemächlicher Zweifelsucht und Modephilosophie und in Sonderheit die entnervenden Lüste der Jugend werden fern, fern von Ihm bleiben; dagegen Wahrheit und Treue Ihn küssen; Religion, Wissenschaft und echte Freundschaft Ihn leiten.“9

Herder setzte bewusst auf christlich-ethische Werte und verdammte die ihm hohl und fragwürdig erscheinende höfische Erziehung. Der Persönlichkeitskonflikt zwischen christlichem Ideal und weltlicher Realität, der Carl Friedrich das ganze Leben lang zu schaffen machen sollte, begann am Tage der Taufe. Herder war klug und doch eitel genug, die Wirkung seiner Kampfansage bei den Adressaten zu erforschen. Er erlauschte einige höchst kapriziöse Dialoge:

 

„Goethe. Was denkst Du zu der Predigt?

Wieland. (wie er wenigstens sagt:) Nun, es war eine wackre Predigt.

Goethe. Er hat doch aber so eine harte Manier, die Sachen zu sagen. Nach solcher Predigt bleibt einem Fürsten nichts übrig, als abzudanken. (Ergreift seinen Hut und geht still aus der Kirche.)

Zweiter Dialogus bei der Herzogin Mutter.

Sie. Was denken Sie von der heutigen Predigt?

(Wieland: ohngefähr wie oben.)

Sie. Mich dünkt aber, daß sie doch vor diesem Tag unerwartet war: beim Regierungsantritt oder solchen Tagen könnte sie wohl gehalten werden.

Wieland. Je nun! weil der Herzog sonst nicht in die Kirche kommt, so hat Herder vermuthlich den Augenblick ergriffen, da er ihn hatte.

Sie. Er soll freilich mehr in die Kirche gehn.

Dritter Dialogus, Abends im großen Saal bei Hofe.

Herzog. Sind Sie heut in der Kirche gewesen.

Wieland. Ja Euer Durchlaucht.

Herzog. Wie hat Ihnen die Predigt gefallen?

Wieland. (wie oben.)

Herzog. Ich weiß doch aber nicht, was die Leute bei einem Kind für erstaunende Hoffnungen haben. Es ist doch nur ein Kind.

Wieland. Aus dem indessen doch Alles werden kann und da hofft jeder, daß das Beste aus ihm werde.

Herzog. Übrigens war die Predigt ganz ohne Piques. (das ist ein Lieblingswort hier)

Wieland. O ganz ohne Piques: sie war dünkt mich so rein wie sie von der Kanzel kommen mußte.

Herzog. Es war eine brave Predigt.“10

 

Da weder der Herzog noch seine Dichter ein ungetrübtes Verhältnis zur Person Herders und dessen religiösen Ansichten besaßen, reagierten sie auf die Schelte höflich, verhalten, aber zugleich unsicher und wandten sich lieber den materiellen Pflichten des großen Tages zu. Weder der Herzog noch Goethe oder Wieland ergriffen für Herders Überzeugungen Partei.

Die Tradition des Hauses Wettin, die Repräsentationspflicht Herzog Carl Augusts und das öffentliche Interesse Weimarer Untertanen verlangten eine handfeste Feier mit gesellschaftlicher Nachhaltigkeit. Sobald Herzogin Louise das Wochenbett verlassen durfte, gaben Fürstenhaus und Obrigkeit zwischen dem 9. und dem 13. März 1783 ein Spektakel, das alle damals üblichen Formen geselliger Unterhaltung einschloss: Empfänge, Bälle, Redouten, Maskenzüge durch die Innenstadt, Gottesdienste, Aufführungen des höfischen Liebhabertheaters – das alles strahlte Glanz und Freude aus, selbst der Herzog schlüpfte in diverse Verkleidungen. Wieland hatte die Verse für eine Kantate geschrieben, Kapellmeister Ernst Wilhelm Wolf die Komposition übernommen.

Der kleine Carl Friedrich gedieh von den Festen unbeeindruckt wie andere Kinder. Er blieb ein starkes und gesundes Baby, das bereits in den ersten Lebensmonaten Charaktereigenschaften an den Tag legte, die Goethe mit dem Begriff einer „sanguinischen Komplexion“ umschrieb. Der Junge war fröhlich, lebendig, unbeschwert, entspannt und reagierte auf jeden Anreiz in seiner Umgebung. Außergewöhnliche Merkmale konnte niemand erkennen, weder in physischer noch in psychischer Hinsicht. Im Frühjahr 1784 brach in Weimar eine Masernepidemie aus und die Eltern brachten den Jungen nach Belvedere. Dort blieb er in den folgenden Monaten in der Obhut der Kinderfrauen, abgeschirmt und unbelastet von allen Ereignissen im familiären Umfeld.

Carl Friedrich konnte Anfang 1784 schon unterscheiden, welche Menschen zu seiner nächsten Umgebung gehörten und Einfluss auf ihn ausübten. Plötzlich aber fehlte einer dieser vertrauten Menschen, der nicht einmal viel größer war als er selbst. Am 24. März 1784 starb seine ältere Schwester Louise Augusta Amalia unerwartet am „Stickfluss“. Der Tod des kräftigen Mädchens erschütterte die Eltern. Wieland, Goethe und Herder nahmen sehr persönlichen Anteil am Schicksal der fürstlichen Familie und halfen, so gut sie konnten. Louise schrieb am 2. April 1784 ohne jede Beschönigung an Lavater: „Mittwoch vor acht Tagen muß ich so unglücklich sein, meine Tochter zu verlieren. Sie starb nachts plötzlich am Schlage. Es tut unbeschreiblich weh, sich seiner schönsten, besten Hoffnungen beraubt zu sehen. Seit Jahren bin ich nach und nach fast von allen Verbindungen losgekommen, fand ein neues festes Band, ein neues Leben in meinen Kindern und auch dieses wird mir zur Hälfte genommen.“11 Sie schaffte es nicht, ihre mütterliche Beziehung zu dem ihr verbliebenen Sohn enger zu gestalten. Der frühe Tod des Mädchens verringerte Louises Fähigkeit, eigene Gefühle zu zeigen und mit den Emotionen anderer Menschen umgehen zu können. Gleichzeitig ließen ihr die Pflicht und die Disziplin im Ringen um den Erhalt der Dynastie keine Chance, selbst zur Ruhe zu kommen und ihrem kleinen Sohn eine besonders liebevolle Mutter zu sein. Das entsprach auch nicht dem Standard höfischer Erziehung: Für die Verwahrung und Pflege der Kinder zeichneten Kinderfrauen, Gouvernanten und später angestellte Erzieher wie Hofmeister oder Gouverneure verantwortlich.

Der Vater verfolgte andere Interessen: Er bemühte sich in den Jahren 1784/85 um eine Führungsrolle im Deutschen Fürstenbund zur Wahrung der Reichsverfassung. Sein Sekretär Karl Ludwig Knebel riet ihm, er sollte keiner Fata Morgana im Reich nachlaufen, sondern sich auf Weimar als Hort der deutschen Kultur konzentrieren und von dort geistig auf die Nation ausstrahlen. Während Carl Friedrich selig im Kinderbett zu Belvedere hoch über Weimar schlief, legte sein Vater macht- und kulturpolitische Grundlagen für das spätere klassische Weimar, dessen Erbe der Sohn einmal werden sollte.

In der gleichen Zeit verbrachte Louise mehrere Monate im Schloss Wilhelmsthal bei Eisenach. Sie fühlte sich in der Einsamkeit und Stille einer ungestörten Landschaft wohl und besaß nur den Wunsch, diesen Ort und diese Ruhe nie verlassen zu müssen. Krämpfe und Koliken zehrten an ihren Kräften. Wilhelmsthal besserte weder ihre physische noch psychische Labilität. Der Herzog begleitete sie auch 1784 zur Kur nach Pyrmont. Ein gesundheitlicher Erfolg trat nicht ein, zumal Carl August ihr keine Ruhe gönnte. Carl Friedrich machte zwar einen kräftigen Eindruck, aber wer konnte sich über dessen Lebensperspektive ein Urteil bilden? So standen dem Kuraufenthalt 1784 zwei Fehlgeburten gegenüber, die zu einer weiteren Schwächung Louises an Leib und Seele führten und die Distanz zum Sohn im Augenblick nur noch vergrößerte.

Am 18. Juli 1786 brachte die Herzogin ein weiteres Kind zur Welt, die Tochter Caroline Louise. Der große Bruder wird es mit seinen drei Lebensjahren und bei anhaltender friedfertiger Freundlichkeit seines Gemüts als beruhigend empfunden haben, dass ein Geschwisterkind die herzogliche Wohnung in der kleinen Weimarer Residenz und im schönen Waldpark von Belvedere bereicherte. Der Vater befasste sich ständig mit Staatsgeschäften oder war auf Reisen und die Mama war oft krank, traurig oder streng. Der gutmütige Onkel Goethe, der Kinder gerne mochte, verschwand überraschend und auf unbestimmte Zeit nach Italien. Nur in der Familie des Pastors Herder fand der kleine Junge immer wieder liebevolle Aufnahme.

Sanfter Träumer oder energischer Realist?

Louise kam ihrer Verantwortung gegenüber den Kindern mit Strenge, Frömmigkeit und Disziplin nach. Sie liebte ihre Kinder sogar, zeigte aber keine gefühlsbetonte oder gar zärtliche Mutterliebe. Louise mochte den kleinen Stammhalter sehr, aber sie brachte nicht das nachsichtige Einfühlungsvermögen auf, ihn so erziehen zu lassen, wie es seinen erkennbaren Anlagen, Möglichkeiten und Neigungen entsprochen hätte.

Die Herders kümmerten sich sehr um den Jungen. Dank der religiösen Bindungen Louises an die Herders hätte das eine glückliche Lösung sein können, denn passend zu dem kleinen Fürstentum mit seiner malerischen Landschaft und seiner mythenreichen Geschichte neigte Carl Friedrich früh zum Träumen in einer verzauberten Welt voller bunter Bilder. Diese Beobachtung machte zumindest Goethe, der den kleinen Erbprinzen immer wieder auf Ausfahrten nach Belvedere oder Wilhelmsthal mitnahm.

Die schwärmerischen und fröhlichen Bemühungen der Großmutter Anna Amalia um einen geselligen „Musenhof“ und die Nähe bedeutender Dichter zum regierenden Haus hätten ebenfalls bestmögliche Voraussetzungen für einen schöngeistig veranlagten kleinen Menschen bieten können, selbst unter Beachtung der Tatsache, dass auch der feingeistigste Erbprinz mit Konsequenz auf den Tag vorbereitet werden musste, an dem er die Verantwortung für das Land, die Untertanen und die Dynastie übernehmen musste.

Generalsuperintendent Herder geriet am Ende der 80er-Jahre in theoretische und praktische Konflikte mit Goethe und dem Herzog. Der Streit berührte grundlegende Fragen über das Wesen der Klassik, der französischen Revolution und der Fürstenherrschaft sowie die praktische Lebensführung Herders, der nie mit den ihm zukommenden finanziellen Mitteln auskam. Ohne das energische Eingreifen Louises mit Geld und Worten wäre es mehrfach zum Bruch mit dem Landesherrn gekommen.

Herder war zugleich ein Theologe der Tat. Er wusste, welche harten Forderungen an den männlichen Erben Carl Augusts gestellt werden würden. Es ärgerte ihn, wenn der Herzog seinen Unmut äußerte, dass der kleine Junge schüchtern, still und in sich gekehrt in einer Welt heranzuwachsen schien, die dem väterlichen Willensmenschen fremd blieb – trotz der engen Freundschaft mit dem doch gewiss phantasiebegabten Goethe.

Als die Zeit heranrückte, den Sohn aus der Obhut seiner Kinderfrauen zu lösen und mit einer systematischen schulischen Ausbildung zu beginnen, beauftragte Louise Herder 1788 mit einer Analyse über den Entwicklungsstand des Jungen. Sie bat ihn um Vorschläge für dessen Ausbildung und Erziehung. Am 4. August 1788 legte Herder nach einem mehrstündigen Gespräch mit dem Erbprinzen seine Ansichten in einem Brief an Louise dar. Er stützte sich auf eigene Beobachtungen und auf die Erfahrungen, die der bisherige Betreuer Carl Friedrichs, der Stiftsprediger und Gymnasiallehrer Johann Christian Schäfer, im Elementarunterricht mit dem Jungen gesammelt hatte. Herder lobte ausdrücklich die an den Lehren Pestalozzis orientierte sanfte Unterrichtsmethodik Schäfers, durch die der Junge außerordentlich viel gelernt habe: „Er liest sehr gut, obwohl hie und dar etwas flüchtig; ich habe aus den Fischer-Idyllen mit lateinischen Buchstaben ihm eine Geschichte lesen lassen, in der die schwersten Worte vorkommen, die er alle sehr zu trennen weiß und immer noch im Verstand des Stückes bleibet.“12

Der Junge konnte den Sinn eines einmal gelesenen Textes erfassen. Er bewies Phantasie und schmückte die Textwiedergaben sogar durch erfundene Ereignisse oder Personen aus. Für einen Jungen von gut fünf Jahren war das eine beachtliche intellektuelle Leistung. Herder riet zu vorsichtiger Disziplinierung des Geistes: „Da seine Einbildungskraft lebhaft und etwas umher schweifend ist, habe ich Schäfern angeraten, künftig kleine Geschichten, Biographien usw. mit ihm zu lesen, und den Prinzen nachher erzählen zulassen, was er gelesen habe.“ Langsam und behutsam sollte der Junge lernen, das Ausufern seiner Phantasie bei der Lektüre literarischer Texte besser zu beherrschen.

Es war nur natürlich, dass Carl Friedrich in seinem Alter beim Studium von abstrakten Landkarten überfordert war. Dagegen zeigte er sich für die Beobachtung konkreter Gegenstände oder Ereignisse in der Natur sehr empfänglich. Bildliche Darstellungen aus der Geschichte oder verständliche historische Chroniken faszinierten ihn geradezu. Schäfer erhielt von Herder den Auftrag, diese positiven Merkmale des Jungen zu fördern und durch geschickte methodische Eingriffe zur Systematisierung der emotionalen Eindrücke beizutragen. Ganz in diesem Sinne sollte dem Jungen auch die Bibel in Form einzelner plastisch verständlicher Geschichten nahegebracht werden.

Nachdem Herder alle positiven Ansätze analysiert hatte, die für ein bereits relativ hohes geistiges Niveau Carl Friedrichs sprachen, empfahl er eine möglichst umfangreiche praktische Tätigkeit. Carl Friedrichs Fähigkeiten im Schreiben und Zeichnen mussten verbessert werden, „… damit die Phantasie und das Gedächtnis nicht so allein gelassen werden, übrigens wird nichts übertrieben und die Seele des Prinzen nicht beschwert, er muss eher zurückhaltender werden, weil er in allem, wo er was Neues erfährt, und selbst nichts tun darf, unersättlich ist. Allmählich also diese Tätigkeit zu wecken und der Fantasie die Flügel zu beschneiden, scheint mir der Punkt zu seien, worauf alles ankommt: denn Fähigkeit, Gutmütigkeit und Wissbegierde sind und äußern sich bei ihm in höchstem Grade.“13

Gutmütigkeit, Phantasie und Wissbegierde – das waren wahrlich gute Charaktereigenschaften für einen fünfjährigen Jungen am Weimarer Hof. Herder gab praktische Ratschläge für den Umgang mit dem Kind und riet dringend, sich vor allem auf den Lehrer Schäfer zu stützen: „Ich habe also die Ordnung gemacht, daß die Geographie seltener genommen werde, da es hier und überall keines Übereilens bedarf. Aus der Naturgeschichte weiß er recht viel, wie überhaupt allenthalben, wo Bilder und Gegenstände vor ihm liegen, und Geschichte ist: sein Lieblingsbuch unter allem ist die Chronik mit den Bildern, an der er so sehr hängt, daß er nicht davonkommen kann, und immer mehr zu erzählen bittet. Schäfer wird darin fortgehen, weil dem Prinzen die Sache und Methode so sehr vergnüget, und wenn er durch ist, sie sodann in einige Reihe und Ordnung zu bringen versuchen, weil kleinen Köpfchen natürlich noch alles durcheinander gehet.“

Weil der Erbprinz große Freude an mechanischem Spielzeug hatte, sollte Schäfer, daran anknüpfend, Grundlagen der Geometrie vermitteln: „… dem Prinzen ist schlechterdings eine mechanische Arbeit nötig, wo er der Einbildungskraft nicht nachgeben kann, sondern Gesetze lernen und sie selbst mit einiger Genauigkeit befolgen muss.“ Die Lehrer erkannten „Linien, Winkel, Triangel und Zirkel sind sinnliche Spiele für ein Kind, wo sie immer sehen, daß an einer kleinen Veränderung alles liegt …“ In dieser Erkenntnis lag ein wichtiger Ansatzpunkt, die „zwei Feinde“ des Prinzen zu bekämpfen: Carl Friedrich sah und hörte zwar gerne zu, wenn die Lehrer ihren Stoff darboten, war aber schwer zu eigener kreativer Tätigkeit zu überreden. Und er ließ seine Phantasie allzu uferlos ausschweifen. Mit verständnisvoller Milde fügte Herder hinzu: „Übrigens wird nichts übertrieben und die Seele des Prinzen nicht beschwert; er muß eher zurückgehalten werden, weil er in Allem, wo er etwas Neues erfährt und selbst nichts tun darf, unersättlich ist. Allmählich also die Tätigkeit zu wecken und der Fantasie die Flügel zu beschneiden, scheint mir der Punkt zu sein, worauf alles ankommt: denn Fähigkeit, Gutmütigkeit und Wißbegieride sind und äußern sich bei ihm in höchstem Grade.“14

Dementsprechend setzte sich Herder für eine dauerhafte Festanstellung Schäfers ein und drängte darauf, dass dieser vorbildliche Pädagoge nicht durch den agilen und strengen zweiten Lehrer, Cornelius Riedel, gestört würde. Es ging hier um ein sensibles zwischenmenschliches Problem: Man sollte Schäfer doch bitte ein wenig höheren Lohn zahlen und ihn seine Arbeit ungestört leisten lassen, „… welches Goethe am besten veranstalten kann, mit dem ich darüber sprechen werde.“15

Herders Bemühungen, der Sensibilität des Erbprinzen gerecht zu werden und ihn allseitig zu fördern, befriedigten Louise. Sie sah keinen Anlass, den Jungen gegen seine natürlichen Anlagen zu erziehen. In all ihrer Strenge widersetzte sie sich in diesem konkreten Falle jedem Versuch, Carl Friedrich seiner individuellen Fähigkeiten zu berauben. Sie verstand auch, dass sich Herders Engagement gegen Tendenzen am Hofe richtete, den Jungen ohne Rücksicht auf seine persönlichen Möglichkeiten gewaltsam in die Jacke Carl Augusts zu pressen. Zu dieser Sorge gab es berechtigten Anlass.

Am 14. Juni 1786 hatte Goethe in einem Brief an Johann Christian Kestner in Hannover geschrieben: „Euer Docktor Riedel hat mir sehr wohl gefallen, und hat überhaupt hier Beyfall gefunden. Schreibt mir doch etwas näheres über ihn, seine Familie, seinen Charakter, seine Schicksaale und Aussichten, besonders ein näheres von diesen letzten, vielleicht fände sich etwas für ihn in unserer Gegend, sagt aber weder ihm noch sonst jemand davon.“16 Kestner – das war der Ehemann jener berühmten „Lotte“, der Charlotte Buff, in die sich Goethe einst verliebt hatte. „Euer Docktor Riedel“, ebenfalls ein Jurist mit Berufserfahrungen am Reichskammergericht Wetzlar wie Kestner und Goethe, suchte eine feste Arbeitsstelle. Da Riedel zudem mit Anna Buff verheiratet war, einer Schwester der „Lotte“, fühlte sich Goethe offenbar verpflichtet, den alten Kammergerichts- und Liebes-Freunden einen Gefallen zu tun. Vier Wochen später schienen alle Präliminarien geklärt und Carl Augusts sowie Louises Einverständnis erzielt, Dr. Riedel als Prinzenerzieher für Carl Friedrich einzustellen, obwohl Riedel auf pädagogischem Gebiet keinerlei Erfahrungen besaß. Kestner erhielt am 21. Juli 1786 Goethes Information: „Mit der heutigen Post geht ein Antrag an Dr. Riedel ob er sich unserm Erbprinzen wiedmen will, nur im allgemeinen, indeß wird sich nach seiner Antwort das Nähere geben. Sagt noch niemand nichts davon.“17

Goethe besaß ein so intensives Interesse an der Einstellung Riedels, dass er sogar von Italien aus mahnte, die Causa Riedel ja nicht aus den Augen zu verlieren. Als Riedels Bestallung geklärt war, erreichte Charlotte von Stein ein Brief Goethes vom 27. Januar 1787 aus Rom: „Ich empfehle dir den Landkammerrath Riedel, hilf ihm bey seinem Eintritte in die neue Welt, die ihm wunderbar vorkommen wird … Auch sage ihm: er soll mir hierher nur ganz offen schreiben, was ich ihm abwesend nützen kann thu ich gerne.“18

Riedel übernahm in der Folgezeit viele Verwaltungsämter, von denen sich Goethe mit seiner Reise befreien wollte. Mit seiner Berufung zum Prinzenerzieher wurde Riedel zum Landkammerrath mit Sitz und Stimme in der Kammer ernannt. Zwölf Jahre lang wirkte er als Erzieher Carl Friedrichs. Gleichzeitig wurde er Mitglied der Generalpolizeidirection, war Vorstand der Behörde für Chausseebau. 1808, Carl Friedrich war längst verheiratet, wurde Riedel zum Kammerrath erhoben und von 1810 bis 1818 leitete er die 1808 wiederbelebte Weimarer Freimaurerloge als Meister vom Stuhl. Riedel galt als ein geselliger, humorvoller und geistig reger Mensch, beliebt, voller spaßiger Ideen und befähigt, seine Gedanken zur Philosophie, Geschichte und Geografie zu publizieren.

Goethe bemühte sich sofort nach seiner Rückkehr aus Italien wieder um Riedel und um den Erbprinzen. Am 28. September 1788 – sechs Wochen nach dem Brief Herders an Louise – schrieb Goethe an den Herzog Carl August: „Heute war ich mit Ihren Kleinen in Jena, Riedel und Herders August fuhren mit. Der Kleine war gar artig und aufmerksam, er faßt die sinnlichen Gegenstände sehr leicht und richtig und hat für Nahmen ein sehr gute Gedächtniß.“19 Die Nachricht klang vielleicht bewusst so harmonisch, um Eingewöhnungsprobleme Riedels herabzuspielen. Auch gegenüber Kestner betonte Goethe am 10. November 1788 abwiegelnd: „Riedel ist ein sehr guter Mann und findet sich immer besser. Anfangs hatte er in mehr als einem Betracht einen schweren Stand. Es lößt sich aber alles zu seinem besten auf. Das Kind ist froh und gesund.“20

Sowohl die pädagogischen Bemühungen Herders und Schäfers als auch die staatspolitische Karriere Riedels – abgestimmt mit Goethe und dem Herzog – sprechen für die Ernsthaftigkeit der Eltern, der Dichter und Lehrer, Carl Friedrich die bestmögliche Erziehung angedeihen zu lassen und auch davon, dass der kleine Erbprinz den an ihn gestellten Anforderungen entsprechen konnte.

Meinungsverschiedenheiten blieben dennoch nicht aus. Herder warf Riedel vor, die Forderungen an Carl Friedrich zu hoch anzusetzen, sodass dessen Naturell nicht mehr folgen und der Erbprinz die Lust am Lernen und Erkennen verlieren könnte. Charlotte von Stein beklagte sich mehrfach bei Louise über die Persönlichkeit und den Charakter Riedels. Friedrich Schiller und Fritz von Stein wurden als mögliche Nachfolger Riedels genannt. Aber Riedel blieb trotz aller Kritik bis zur Konfirmation Carl Friedrichs im Amt. Er befolgte treu und gewissenhaft die Instruktionen seines Dienstherrn Carl August, den Erbprinzen mit Strenge und Konsequenz auf die fürstlichen Pflichten vorzubereiten. Carl Friedrich widerstand den bisweilen drastischen Erziehungsmethoden Riedels und änderte seine charakterlichen Eigenschaften nicht. Aber gegenüber Riedel empfand er auch eine kindliche Angst. Carl Leberecht Schwabe, der spätere Weimarer Bürgermeister, durfte mit seinem Bruder einige Kinderjahre als Unterrichts- und Spielgefährte Carl Friedrichs in dessen Nähe verbringen. Schwabe hat miterlebt, wie Carl Friedrich von Riedel mit dem Lineal geschlagen wurde, weil er praktische Zählaufgaben nicht schnell genug beherrschte. Der Erbprinz erbettelte sich von Schwabe mehrfach frisches Schwarzbrot und versteckte sich beim Essen vor Riedel – weil ihm die Eltern angeblich nur altbackenes Weißbrot gaben. Zum Dank schrieb der Erbprinz in Schwabes Stammbuch: „E.l.g.f.B.“ – Es lebe gutes frisches Brot!21

Anekdoten aus den Kinderjahren Carl Friedrichs sind selten. Er erregte kein Aufsehen, weder durch besondere Aufsässigkeit wie einst sein Vater noch durch Geistesblitze eines Wunderkinds. Der Knabe lebte still für sich, spielte wie alle Kinder, beschäftigte die Erzieher und genoss in der Öffentlichkeit den Bonus des Erbprinzen, vermischt mit gutmütigem Spott ob seiner Schüchternheit. Dabei hatte er noch nicht einmal das schulpflichtige Alter erreicht! Die Zeugnisse seiner Lehrer sprechen weder von einer übermäßigen Strenge Riedels mit verderblichen Folgen für den Charakter des Kindes noch davon, dass Konflikte über das Klassik-Verständnis oder die Bewertung der Französischen Revolution zwischen Herder und Goethe unmittelbar nachteilige Folgen für die Erziehung besaßen. Goethe weilte von 1786 bis 1788 in Italien und Herder zog es von 1788 bis 1790 nach dem Süden. Keiner verlor jedoch Carl Friedrich aus den Augen. Herder wurde während der Reise sowohl von seiner Frau als auch von den Söhnen August und Emil über Begegnungen mit dem Erbprinzen informiert.22

Am 14. März 1789 kündigte Herder seiner Frau aus Rom2324