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Titelei
© Dressler Verlag GmbH, Hamburg 2012
Alle Rechte vorbehalten
Cover von bürosüd°, München
E-Book-Umsetzung: Reemers Publishing Services GmbH, Krefeld 2012
ISBN 978-3-86272-680-6
www.dresslerverlag.de

Für Niklas und Marie

Erster Teil

Wer nicht hören will, muss fühlen.

1 Es war dunkel, vollkommen dunkel.

Sie stand in der Finsternis und rührte sich nicht.

Gonzo hatte noch das Krachen der Stahltür im Ohr, das Knallen der Riegel, das Schlüsselgeräusch. War der Erzieher gegangen? Sie lauschte. Vielleicht stand er vor der Tür und lachte über sie. Lachte über ihre Angst. Und in ein paar Minuten würde er sie hier herausholen. Aus diesem Loch. Würde sie zurückbringen. In ihre Gruppe. Oder ihretwegen auch in eine der Zellen oben. Im Mädchentrakt.

Hier unten war sie noch nie gewesen.

Im Keller. Im schwarzen Nichts.

Und wenn die dich hier verrecken lassen?

Sie schwankte einen Moment. Suchte nach einem Halt.

Fand die Wand, die kalt war und feucht. Oh Gott.

Ihre Finger tasteten nach oben. Die Decke lag dicht über ihr wie ein Sargdeckel.

In ihren Ohren begann es zu rauschen. Nur nicht umkippen, bloß hier nicht zusammenklappen. Sie hörte jemanden atmen. Ganz in ihrer Nähe. Neben ihr …

Sie wollte etwas sagen, etwas fragen, aber sie brachte keinen Ton heraus. Hielt die Luft an. Das Atmen hörte auf.

Nein, Scheiße, sie war allein. Ganz und gar allein.

Etwas stieg aus ihrer Kehle. Ein Schluchzen oder Lachen. Oder beides gleichzeitig. Sie keuchte.

Die Luft schmeckte danach. Nach ihrem Keuchen, nach ihrer Angst.

Das darfst du nicht, dachte sie, dachte etwas in ihr.

Was? Was darf ich nicht?

Nicht verrückt werden. Du darfst hier nicht verrückt werden!

Gonzo nickte. Zwang sich dazu, ruhig zu atmen.

Das ist deine Strafe, sagte sie sich. Sie bestrafen dich. Das ist doch nichts Neues.

Jede Strafe ist auch irgendwann vorbei.

Doch! Es war etwas Neues! So allein hatte sie sich noch nie gefühlt.

So finster war es noch nie gewesen. So schwarz.

Sie schloss die Augen und öffnete sie wieder.

Nichts. Kein Unterschied.

Vorsichtig tastete sie sich an der Wand entlang. Etwas bröckelte unter ihren Fingern.

Dann gaben ihre Beine nach. Ihre Knie knickten weg.

Sie rutschte abwärts, langsam wie in Zeitlupe. Hörte das feine Rieseln von abblätternden Farbresten. Irgendjemand musste die Wand einmal gestrichen haben.

Wozu?

Das Wozu hämmerte in ihren Schläfen, in ihrem Hirn.

Sie hockte auf dem Boden. Umklammerte ihre Knie. So fest sie konnte.

Sie war noch da. Sie lebte noch. Sie spürte ihren Körper. Sie fühlte ihr Herz schlagen.

Das Zittern hörte allmählich auf.

Gonzo schmeckte Salz auf ihren Lippen. Den Schweiß ihrer Angst. Oder waren das Tränen?

Weinte sie etwa? Und wennschon. Hier sah es ja niemand.

Sie konnte heulen, so viel sie wollte. Heulen war besser als nichts.

Aber die Tränen versiegten schon wieder. Als weigerten auch sie sich, ihr Gesellschaft zu leisten.

 

Irgendwann

kommen

sie

und

holen

dich

hier

raus …

Sie schlug mit der Faust den Takt der Worte. Der Boden, auf den sie einhämmerte, war feucht und kalt wie die Wand. Sie fühlte den Dreck und etwas wie winzige Steine. Es war also schmutzig hier. Und irgendwie nass und modrig, als wäre etwas ausgelaufen. Aber sie konnte den Schmutz nicht sehen. Konnte nicht erkennen, warum der Boden sich so feucht anfühlte. Sie hoffte nur, dass es kein Blut war.

In der Zelle roch es eigenartig faulig und verdorben. Vielleicht lag irgendwo ein totes Tier in der Ecke? Der Kadaver von einer Maus oder einer Ratte?

Gonzo schüttelte den Kopf. Nein, da war nichts. Nein, sie würde nicht danach suchen.

Sie musste warten, einfach nur warten. Und irgendwie das Warten überstehen. Aber wie?

Als die Kälte in ihre Glieder kroch, stand sie auf.

Zögernd, in winzigen Schritten schob sie sich vorwärts.

Es knirschte leise unter ihren Schuhen. Die Mauer war porös und mit Rissen durchzogen wie eine narbige Haut. Es gab ein Fenster. Gonzo konnte es erst nicht fassen, als sie es ertastete. Es gab ein Fenster, das keines war. Sie suchte vergeblich nach einem Griff. Natürlich – man konnte es nicht öffnen. Nicht hinausschauen. Es ließ kein Licht zur ihr, als wollte es Gonzo verspotten: Da draußen ist Sommer, aber für dich gibt es keinen Sommer, keine Sonne, kein Licht.

Sie fing an im Kreis zu gehen. Als wäre sie oben in einer der Zellen, in der sie sehen konnte. In der sie die anderen hörte. Die Mädchen, die durch den Gang rannten. Im Laufschritt, immer im Laufschritt. Die Kommandos der Erzieher. Das Klirren des Schlüssels, wenn eine Gittertür auf- und dann wieder zugeschlossen wurde.

Hier hörte sie nichts, sah sie nichts.

Und niemand sah sie, hörte sie.

Sie konnte gegen die Tür schlagen. Sie konnte schreien.

Kein Erzieher würde kommen und sie deshalb anbrüllen.

Sie konnte singen.

Das war verboten – aber niemand würde es merken.

Welches Lied?

Egal. Irgendeins.

Sie lief in winzigen Trippelschritten im Kreis – es war kein Platz für richtige Schritte –, wartete auf eine Melodie. Sie ging erst in die eine Richtung. Dann in die andere. Stoppte kurz, bevor sie kehrtmachte. Als könnte sie mit sich selbst zusammenstoßen.

»Brüder, zur SONNE, zur FREIHEIT,

Brüder, zum LICHTE empor.

HELL aus dem dunklen

Vergangnen leuchtet die ZUKUNFT hervor

Gonzo sang die erste Strophe ein paarmal hintereinander.

Ihre Stimme war erst leise, stockend, kaum mehr als ein Flüstern. Doch mit jeder Wiederholung wurde sie ein bisschen lauter.

Ein Lied, das sie in der Schule gelernt und wieder und wieder gesungen hatte.

In ihrer Klasse mochte es niemand.

Aber egal, ihr gefiel es trotzdem.

Wann würde sie die Sonne wieder sehen? Wann ins Licht treten?

Wann würde es endlich hell werden?

Und wann, verdammt noch mal, begann ihre Zukunft?

Ihre Stimme klang heiser, das hörte sie selbst. Ihre Kehle war immer noch wie zugeschnürt. Doch sie sang auch die zweite Strophe:

»Seht, wie der Zug von Millionen

endlos aus Nächtigem quillt,

bis euer Sehnsucht Verlangen

Himmel und Nacht überschwillt

Ihre Sehnsucht, ihr Verlangen, hier rauszukommen, überstieg längst Himmel und Nacht. Überstieg das ganze Universum. Überstieg ihren eigenen Verstand. Aber was nützte ihr das? Sie hockte im Keller, eingesperrt wie eine Ratte in der Falle.

»Brüder, in eins nun die Hände,

Brüder, das Sterben verlacht:

Ewig der Sklaverei ein Ende,

heilig die letzte Schlacht.«

Wenn sie das Sterben verlachte, konnte sie dann überleben?

Aber wie verlachte man das Sterben?

Im Augenblick konnte sie ja nicht einmal weinen.

2 An ihrem ersten Tag im Jugendwerkhof Torgau hatte sie noch Rotz und Wasser geheult. Als sie allein in der Einweisungszelle saß und nicht wusste, was mit ihr geschah und wieso. Als sie nicht wusste, was das alles zu bedeuten hatte. Und ob sie je wieder herauskommen würde.

Pech war sie ja gewohnt, es klebte ihr an den Hacken, solange sie denken konnte, sie war ein Pechvogel. Aber das hier …? Womit hatte sie es verdient, in diesen Kinderknast gesteckt zu werden?

Sie war das schwarze Schaf der Familie. Ihre Mutter hatte sie zur Adoption freigegeben, als sie noch ein Baby war. Vater unbekannt. Ein unerwünschtes Kind, das auch im Heim stets den Schwarzen Peter zog und bis zum Ende des Spiels behielt. Niemand wollte sie. Sie war nicht hübsch genug, nicht angepasst genug, nicht artig genug.

Die Erwachsenen fanden sie trotzig, dickköpfig und bockig. Später, als sie in der Schule statt der Mathearbeit, des Deutschaufsatzes oder der Leistungskontrolle in Staatsbürgerkunde zunehmend leere Blätter abgab und den Lehrern bei jeder Gelegenheit widersprach, wurde sie »renitent« und »rebellisch« genannt. Es hagelte schlechte Noten, aber Gonzo interessierte sich nicht für ihre Zensuren. Sie waren doch nur Zahlen auf einem Stück Papier. Dass sie mit vierzehn zur Umerziehung im Jugendwerkhof landete, verwunderte niemanden, am wenigsten Gonzo selbst. Einmal schwarzes Schaf, immer schwarzes Schaf. Aus der »negativ dekadenten« Jugendlichen sollte ein »brauchbares Mitglied der Gesellschaft« werden. Der Alltag bestand nun nur noch – schlimmer als im Heim – aus Regeln, Normen und engen Grenzen: Erwachsene, die nichts von ihr wussten, bestimmten über jeden ihrer Schritte, über jede Minute – von Bettenbau, Frühsport und Zimmerreinigung am Morgen bis zu Zeitungsschau, Aktueller Kamera und kontrollierter Nachtruhe am Abend. Den Tag über musste sie in der Wäscherei schuften – aus Sicht der Erzieher absolvierte sie eine Teilfacharbeiterausbildung als Wäscherin, ein schäbiger Witz, wie Gonzo fand. Nie im Leben würde sie draußen einen solchen Beruf wählen, aber sie wurde nicht gefragt. Wenn sie etwas falsch machte oder die Norm nicht erfüllte, wurde sie bestraft: Sie durfte nicht mit den anderen ins Kino, ihr wurde der Ausgang gestrichen oder sie bekam kein Taschengeld. Und natürlich landete sie auch im Arrest. Im Bunker. In der Zelle.

Dass sie immer wieder abhaute, war also reine Notwehr, fand Gonzo.

Nach ihrer zwölften Flucht brachte man sie, die »Dauerentweicherin«, schließlich hierher, direkt in die Hölle. »Wer nicht hören will, muss fühlen«, fällte der Direktor des Jugendwerkhofes sein Urteil. »Ich schicke dich zur Umerziehung nach Torgau!«

Gefängnistore, eine vier bis fünf Meter hohe Mauer, Stacheldraht, bellende Schäferhunde, Gitter vor den Fenstern … Ihr neues Zuhause war ein Zuchthaus, aus dem sie nicht mehr entkommen konnte.

Einheitskleidung; Einheitshaarschnitt: kurz, sehr kurz; Sprechverbot: vierundzwanzig Stunden am Tag; acht Stunden Arbeit im Akkord – immer die gleichen Waschmaschinenschalter zusammenfummeln, immer im Stehen –; danach Sport und noch mal Sport, Hunderte Kniebeuge, Liegestütze, Hockstrecksprünge … Wer dachte sich so was bloß aus? Was versprachen sich diese sogenannten Pädagogen davon? Was wollten sie aus den Jugendlichen machen? Marionetten? Roboter? Zombies?

An ihrem ersten Tag in Torgau hatte man ihr das letzte Hab und Gut genommen: ihre Kleidung. Sogar die Unterwäsche und die löchrigen Strümpfe nahm man ihr ab. Aber schlimmer war, dass man ihr die letzte Würde raubte: dass sie nackt vor Fremden stehen musste und ein Erzieher ihren Körper nach verbotenen Gegenständen abtastete. Ein Mann, kräftig, breite Schultern, doppelt so groß wie sie, ein Mann, den sie noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen hatte, drang mit seinem Finger, auf dem ein widerlicher Gummischutz steckte, in ihren Körper ein. Sie wäre am liebsten im Erdboden versunken vor Scham. Sie wäre am liebsten gestorben. Aber sie lebte weiter. Ließ über sich ergehen, dass man ihr später die Haare abschnitt – sie hatte ihr widerspenstiges schulterlanges Haar extra zu Zöpfen gebunden, in der Hoffnung, dass sie ordentlich genug aussah. Aber der Erzieher zeigte kein Erbarmen, redete nicht mit ihr. Schnipp, schnapp und weg. Unter der Dusche zwang man sie dann, sich mit Delitex zu desinfizieren. Diese eklig stinkende Paste aus der blau-weißen Tube kannte sie schon aus dem Kinderheim. Sie sollte Läuse töten – Gonzo hatte natürlich keine, aber das war den Erziehern egal. »Ich bin doch sauber«, brachte sie hervor. »Man weiß nie, wie verlaust ihr seid!«, wurde sie angebrüllt. Sie ließ die höhnischen Bemerkungen über sich ergehen, auch als sie vor Erschöpfung taumelte und den Ärmel nicht gleich fand beim Anziehen. »Stell dich nicht so an, Jugendliche! Bist du ein Baby? Sollen wir dir noch die Windeln wechseln, oder was?!«

Die Anstaltskleidung – Latzhose und Arbeitshemd – war ihr zu groß, und es kam ihr vor, als würde sie das noch kleiner machen. Als würde sie schrumpfen oder das, was sie ausmachte: ihre Seele, ihr Ich. Ihr Ich, das man hier nicht haben, das man kaputt machen wollte. Wozu? Wozu das alles?

Als die Riegel ihrer Einzelzelle an ihrem Einweisungstag hinter ihr zuknallten, hatte sie wie ein Schlosshund geheult. Die Tränen flossen wie ein Strom, den sie nicht stoppen konnte. Sie weinte stundenlang, so kam es ihr vor, und danach fühlte sie sich leer, hohl, ausgebrannt.

Man gab ihr zwei Zettel und verlangte von ihr, die Arrestbelehrung und die Hausordnung auswendig zu lernen und aufzusagen. Aber sie war gar nicht in der Lage dazu. Sie versank in der Leere, im Nichts, in das man sie gepfercht hatte. Am dritten Tag in der Zelle begann sie zu singen. Die Lieder tauchten einfach in ihr auf, sie hätte nicht sagen können, woher und warum. Sie sang erst nur in ihrem Kopf, dann drängten die Strophen über ihre Lippen, sobald der Erzieher sie eingeschlossen hatte und fortgegangen war. Sie konnte einfach nicht damit aufhören. Und irgendwann wollte sie nicht mehr aufhören.

So verbrachte sie wegen ihres »widerständigen Verhaltens« eine ganze Woche in der Einweisungszelle, viel länger als üblich, wie sie später von den Mädchen erfuhr. Im Mädchentrakt war sie die »Kleine mit der großen Klappe«, die »aus dem Heim«, »mit allen Wassern gewaschen«, die sich nichts bieten ließ und »immer einen frechen Spruch auf Lager« hatte. Bewundert und gehasst. Bewundert für ihren Mut, gehasst für ihren Leichtsinn. Denn in Torgau wurde die ganze Gruppe bestraft, wenn eine aus der Reihe tanzte: Strafsport bis zur Erschöpfung, Entengang auf der Treppe, bis die Erste zusammenbrach. Am Anfang versuchten die Mädchen die Widerspenstige in den Griff zu bekommen, aber ihre nächtlichen Schläge schienen an Gonzo abzuprallen und sie wehrte sich, sie schlug zurück. Sie spuckte, kratzte, riss Haare aus, wenn es sein musste. Auch ein paar Judotricks hatte sie auf Lager, und sie scheute sich nicht, sie anzuwenden, wenn sie angegriffen wurde.

Natürlich hatte sie keine Freundinnen in Torgau. Sie war von Feinden umgeben, Frau Feist, Herr Kossack, Herr Nitzschke, die ganzen sogenannten Erzieher … und die Mädchen, ihre Leidensgefährtinnen, die ihr fremd blieben, von denen sie kaum etwas wusste und die nichts von ihr wissen wollten.

Und dann kam Anja nach Torgau.

Anja, die sie im Durchgangsheim in Berlin kennengelernt hatte.

Ihre Freundin. Ihre einzige Freundin.

Wie geschockt sie war, Anja hier zu sehen! Wie es sie gefreut hatte, nicht mehr allein zu sein!

Scheiß auf den Ärger, den sie immer wieder bekam. Scheiß auf die Erzieher, die sie immer wieder anbrüllten, die ihr das Essen verweigerten zur Strafe oder sie in den Arrest steckten.

Aber Anja hier? Es tat ihr weh, sie so zu sehen: mit diesem blassen, hoffnungslosen Gesicht, den kurzen Haaren, dem glasigen Blick.

Und wie froh sie war, dass sie nachts im Schlafsaal mit ihr flüstern konnte, trotz des Verbotes – sie leisteten sich ihre Freundschaft ungeachtet der Gefahr, dafür bestraft zu werden. Der ganze Aufenthalt in diesem Knast war doch eine Strafe! Was konnten sie ihnen also noch antun?

Eine ganze Menge, wie sie inzwischen wusste.

Von Anfang an, schon im Durchgangsheim in Berlin, hatte Gonzo das Gefühl gehabt, Anja schützen zu müssen. So verletzlich, naiv und unerfahren war sie ihr vorgekommen, als sie sich kennenlernten. Sie wusste ja nicht einmal, wie sie ihr Bett bauen musste, um keinen Stress zu bekommen. Ihr fehlte das dicke Fell, das Gonzo sich im Laufe der Jahre, als sie von einem Heim ins andere gesteckt wurde, zugelegt hatte.

Anja kam aus einer Welt, die Gonzo sich kaum vorstellen konnte, in der es ein richtiges Zuhause gab, mit Wohnstube und Kinderzimmer, mit einer Mutter, die ihre Tochter liebte. Nur dass diese Mutter jetzt im Knast saß – wegen eines Ausreiseantrages und irgendwelchem Ärger, den sie mit der Stasi hatte. Gonzo wusste es nicht so genau; Anja hatte nicht oft davon gesprochen.

Die Erzieher nahmen keine Rücksicht auf die Sensiblen und Schwachen. Jede musste sich anpassen, eine Norm erfüllen und die Befehle ausführen.

Wer nicht funktionierte, wurde bestraft. So einfach war das Gesetz, das hier herrschte.

Einmal hatten sie Anja ihr eigenes Erbrochenes aufessen lassen. Irgendeine Pampe von Mittagessen, die ihr wieder hochgekommen war. Sülze? Nein, Milchreis oder Milchnudeln. Anja hasste Milch, soweit Gonzo wusste.

Der Erzieher hatte danebengestanden und zugesehen, wie Anja ihre Kotze fraß.

Und Gonzo konnte ihr nicht helfen. Sie saß mal wieder im Arrest und erfuhr erst davon, als es zu spät war. Aber was hätte sie schon machen können?

Wie sollte sie ihre Freundin vor dieser Willkür behüten, wenn sie nicht einmal sich selbst schützen konnte?

Dann kam der Tag, an dem sie einfach handeln musste.

Und jetzt, mitten im Jahr 1989, hockte sie dafür in einer Kellerzelle. Als lebten sie noch im Mittelalter.

Dunkelarrest. Zur Strafe dafür, dass sie kein seelenloses Monster werden wollte.

Na, wenigstens konnte sie nicht tiefer sinken.

3 Als der Schlüssel rasselte und die Riegel zurückgezogen wurden, sprang Gonzo erschrocken von der Pritsche.

Das Licht kam ihr so grell vor, dass sie einen Schritt zurücktrat. Dann fiel ihr ein, was von ihr erwartet wurde: Haltung annehmen, Hände an die Hosennaht, Meldung machen. »Jugendliche Pätzold …«, brachte sie hervor.

Sie sprach leise und heiser, aber ihre Kehle schmerzte, als hätte sie geschrien.

Verwirrt blinzelte sie in die Helligkeit. Sie nahm die Umrisse eines Mannes wahr. Er schien darauf zu warten, dass sie ihre Meldung korrekt beendete. Doch Gonzo bekam keinen Ton mehr über die Lippen. Wer stand vor ihr? War es Kossack, der sie gestern Abend hier runter gezerrt hatte? Oder Nitzschke mit der Boxervisage? Ohne ein Wort stellte er etwas auf den Boden. Bevor sie den Mann erkennen konnte, krachte die Tür wieder zu.

Gonzo stand stramm und rührte sich nicht. Sicher würde der Erzieher gleich wieder auftauchen. Bestimmt würde er sie hier rausholen. Sie musste nur ihren Fehler korrigieren. Ihr musste nur der Text für die ordentliche Meldung wieder einfallen. Wenn sie genug Reue zeigte … Wenn sie funktionierte, wie sie funktionieren sollte …

Aber die Worte kamen ihr nicht in den Sinn, als hätte das Dunkel sie verschluckt. Und der Mann tauchte nicht mehr auf, als hätte das grelle Licht ihn gefressen.

Erst nach einer Weile nahm sie den Geruch wahr. Ein bekannter muffig-süßer Geruch. Sie kauerte sich auf den Boden und tastete vorsichtig nach dem Gefäß. Eine falsche Bewegung und es würde umkippen. Sie merkte erst jetzt, dass sie Durst hatte. Mit zitternden Fingern hob sie den Plastikbecher an ihre Lippen. Der Tee war süß und widerlich – wie immer. Dann aß sie das Brot, das selbst mit der Scheibe Wurst pappig schmeckte. Sollte das ihr Frühstück sein? Die eine Stulle? Sah ganz danach aus. Wenigstens bekam sie kein rohes Sauerkraut, wie am Tag zuvor. Scheinbar interessierte es niemanden mehr, ob sich die Schrauben, die sie verschluckt hatte, noch in ihrem Körper befanden oder nicht. Ihre Hoffnung, deswegen ins Krankenhaus zu kommen, war ohnehin gering gewesen. Aber eine kleine Hoffnung war besser als keine.

Warum kam der Erzieher nicht zurück? Wieso holte er sie nicht raus? Sie hatte ihre Strafe verbüßt. Eine Nacht genügte doch. Oder? Das durften sie nicht! Das konnte nicht sein, dass sie noch länger in diesem verdammten Loch bleiben musste!

Klar, Gonzo, sie wollen dich fertigmachen, sie wollen dich kleinkriegen. Die Einzelzelle im Mädchentrakt kann dich ja nicht mehr schocken. Da warst du schon zu oft. Na schön, jetzt bist du eben hier unten. Das wirst du auch noch überstehen. Das wirst du auch noch überleben. Und wenn du hier rauskommst, bist du stärker als sie. Ganz einfach, weil du es überlebt hast.

Es war ihre alte Stimme, die so zu ihr sprach. Sie gehörte der Gonzo, die sie gewesen war, bevor sie hierher, in diesen beschissenen Knast, kam. Die Stimme meldete sich nicht mehr oft. Sie redete nicht mehr laut, nur in ihrem Kopf. Aber sie existierte noch.

Du wirst das überstehen, weil du es überstehen musst.

Kommst du rein, kommst du raus. Ganz egal, was sie dir antun.

Irgendwann wirst du rauskommen.

Ganz egal?

Die Stimme in ihrem Kopf verstummte. Ihr altes Ich wusste keine Antwort. Ihr altes Ich zog sich zurück und machte der Leere Platz.

Als sie den Kübel benutzte, der in der Zelle die Toilette ersetzte, kroch ihr die Kälte die Beine hinauf und pflanzte sich in ihren Bauch, als gehörte sie dahin. Draußen war Sommer, aber hier unten hielt sich die Kälte des Winters. Sie musste sie irgendwie vertreiben.

Gonzo begann auf und ab zu laufen, aber in dieser Enge und Finsternis machte sie das nur noch verrückter. Ihr Kerker glich einem Kasten – sie schätzte ihn auf maximal zwei Meter Länge, zwei Meter Breite und nicht einmal zwei Meter Höhe. Sie blieb wieder vor dem Fenster stehen. Bildete sie sich das ein oder war es hier doch ein kleines bisschen heller? Ihre Fingerspitzen tasteten über etwas, das sich anfühlte wie feinmaschiger Draht, der über den dicken Scheiben zu liegen schien. Hatte man das Fenster von außen zugemauert? Oder nur mit irgendetwas abgedeckt? Spielte das eine Rolle? Eine zusätzliche Verdunkelung kostete nun wirklich nicht viel Mühe.

Die Fenster dieses Gebäudes bestanden aus milchigen Glasbausteinen, durch die man die Welt da draußen nicht erkennen konnte – keine Wolke, keinen Vogel, einfach nichts. Die undurchsichtigen Scheiben waren von außen mit massiven Gittern und Sichtblenden versehen, doch immerhin fiel Tageslicht in die Arrestzellen, in die man sie sonst gesperrt hatte, um sie zu bestrafen. Hier unten war auch mit diesem Luxus Schluss.

Gonzo schloss die Augen und dachte an den Himmel. Etwas in ihr fing an zu summen, die Melodie stieg ihr in die Kehle, und als Gonzo sie erkannte, begann sie zu singen: »Alle Vögel sind schon da, alle Vögel, alle …«

Der Himmel, den sie sah, war blau mit weißen Wolken. Die Vögel saßen in den Bäumen und zwitscherten. Amsel, Drossel, Fink und Star … Oder eher Tauben, Krähen und Elstern? Gonzo sang ein Kinderlied nach dem nächsten. »Ein Vogel wollte Hochzeit machen, in dem grünen Wahalde … Fiderallala, fiderallala, fiderallalalala …« Sie holte kaum Luft zwischen den einzelnen Liedern. Wenn sie den Text nicht wusste, summte sie. »Der Kuckuck und der Esel, die hatten einen Streit. Wer wohl am besten sänge «

Als kleines Kind hatte sie sich immer gefragt, wer nun wirklich besser singen konnte, Kuckuck oder Esel. Aber in dem Heim, in dem sie die ersten Jahre aufgewachsen war, interessierte sich niemand für ihre komischen Fragen. Die Erwachsenen interessierten sich bloß dafür, dass Nicole Pätzold sich nicht schmutzig machte, dass sie endlich aufhörte am Daumen zu nuckeln und nachts nicht ins Bett pinkelte, dass Nicole die Rote Bete aß wie alle anderen Kinder und nur noch das tat, was die Erzieher von ihr verlangten.

Blauer Himmel, weiße Wolken. Schäfchenwolken. Aber die Schafe hinter Gonzos zuckenden Lidern hatten keine Köpfe mehr. Die hatte man ihnen abgeschlagen. Blutrot ging die Sonne unter. Die Vögel verstummten und fielen von den Bäumen. Und dann kam die Nacht. Ohne Mond, ohne Sterne. Einfach nur schwarz.

Schwarz. Rabenschwarz. Kohlrabenschwarz.

Gonzo spürte, dass nach der Kälte auch die Finsternis versuchte in sie hineinzukriechen, sich in ihr einzunisten. Aber das würde sie nicht zulassen. Das durfte sie nicht zulassen. Es ist nicht Nacht, sagte sie sich, es ist früh am Morgen. Der Tag beginnt. Draußen ist es hell.

Doch woher wollte sie das wissen? Wie viele Stunden hatte sie geschlafen? Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie überhaupt eingeschlafen war auf der harten Holzpritsche. Zwar hatte sie sich mittlerweile daran gewöhnt, ohne Matratze und Kissen auszukommen, solchen Komfort gab es in den Einzelzellen des Jugendwerkhofes Torgau nicht, aber die beiden dünnen Wolldecken wärmten sie kaum, und sie war ewig nicht zur Ruhe gekommen.

Vielleicht war ja noch Nacht?

Gonzo schüttelte den Kopf. Nein, ein neuer Tag hatte begonnen. Basta!

Schwarz. Rabenschwarz. Kohlrabenschwarz.

Morgen. Früher Morgen. Heller Morgen – mit Sonne, Gezwitscher und allem Drum und Dran.

»Amsel, Drossel, Fink und Star und die ganze Vogelschar …« Die Lieder schwirrten wirr in ihr herum, als wären sie selbst Vögel. »… wünschen dir ein frohes Jahr, lauter Heil und Segen!« Heil und Segen? Ja, alles wird gut, irgendwann … Alles muss gut werden eines Tages, weil es so nicht bleiben kann. Sie musste nur daran glauben.

Schwarz. Rabenschwarz. Kohlrabenschwarz.

Wenn sie es sich genau überlegte, passte die Farbe zu ihr.

Einmal schwarzes Schaf, immer schwarzes Schaf.

»Gott sprach, es werde Licht, nur fand er den Schalter nicht«, flüsterte Gonzo.

Sie versuchte es mit einem Grinsen. Aber ihre Lippen spielten nicht mit. Sie zitterten bloß ein bisschen.

Schwarz. Rabenschwarz. Kohlrabenschwarz.

4 Betrachte es von der positiven Seite, dachte Gonzo. Es gibt immer eine positive Seite, auch wenn es überhaupt nicht danach aussieht.

Sie hatte noch den Geschmack des Sauerkrauts auf der Zunge, das ihr gebracht worden war. Also doch: Sauerkraut. Wie es aussah, nahm man ihr das »verschluckte Volkseigentum« immer noch übel. Oder, um es positiv auszudrücken: Die Erzieher sorgten sich um sie und kümmerten sich rührend darum, dass ihr Darm vollständig entleert wurde. Das Kraut reinigte ihr schmutziges, verdorbenes Inneres. Ein Wundermittel. Sie sollte dankbar sein.

Auch Frau Feist hatte keinen Ton zu ihr gesagt. Als wäre Gonzo es nicht einmal mehr wert, angebrüllt zu werden. Das Essen war kalt, roh und salzig. Natürlich fehlten die Bratwurst und das Brot, aber während sie aß, hatte sie versucht, an etwas anderes zu denken. Satt wurde sie nicht, doch wenigstens knurrte ihr Magen nicht mehr.

Es von der positiven Seite zu sehen war ein guter Trick, fand Gonzo. Sie hockte im Schneidersitz auf der Pritsche, obwohl das eigentlich verboten war. Außerhalb der Nachtruhe durfte die »Lagerstätte« nicht benutzt werden, so stand es in der Arrestbelehrung. Aber Gonzo scherte sich nicht darum. Der Steinfußboden war einfach zu kalt und zu feucht, um auf Dauer dort zu kauern.

Im Sitzen wiegte sie sich leicht hin und her, wie ein Boot, das auf den Wellen schaukelte. Für eine andere Bewegung blieb in diesem Verlies kaum Platz und das Schaukeln beruhigte sie ein wenig. Sich über das Verbot hinwegzusetzen erschien ihr als relativ gefahrlose Form des Widerstands. Es war stockdunkel – wenn ein Erzieher durch den Türspion blickte, würde er sie nicht erkennen. Selbst wenn er die Riegel so leise aufzog, dass sie es nicht hörte, und plötzlich eintrat, war es unwahrscheinlich, dass er sie sofort entdeckte.

Die positiven Seiten:

1. Es trifft dich und nicht Anja.

2. Du würdest dir nie verzeihen, wenn du Anja nicht beschützt hättest.

3. Du brauchst kein schlechtes Gewissen haben.

4. Du wirst nicht zum Frühsport gezwungen.

5. Du musst nicht arbeiten.

6. Dir bleiben die Torgauer Dreier und der Entengang auf der Treppe erspart.

7. Du wirst nicht ständig überwacht.

8. Du kannst singen, ohne dass es einer merkt.

9. Du wirst nicht dauernd angeschnauzt, wegen nichts und wieder nichts.

10. …

Ein zehntes Argument fiel Gonzo nicht ein.

Du bist allein, dachte sie.

War das etwas Positives?

Abgesehen von Anja vermisste sie niemanden.

Nur mühsam konnte sich Gonzo an den Grund für ihre Strafe erinnern. Sie hatte Schrauben geschluckt – Schrauben, mit denen Anja erwischt worden war. So viel wusste sie noch.

Aber was war davor passiert? Wie war es dazu gekommen?

Anja lief schon seit einigen Wochen mit diesem glasig abwesenden Ausdruck in ihren Augen herum. Sie veränderte sich, das spürte Gonzo. Ihr Körper war nur noch eine Hülle, in dem sich die Seele ganz klein gemacht hatte und irgendwo versteckte. Aus Sicht der Erzieher funktionierte Anja jetzt, wie sie sollte. Sie schaffte die Norm beim Zusammenbauen der Waschmaschinenschalter; sie fiel beim Sport nicht auf; sie versagte nicht, rannte wie ein Roboter nach Vorschrift, ihre Liegestütze wurden von Tag zu Tag exakter. Und sie flüsterte nachts immer seltener mit Gonzo.

An einem Sonntag gab es Torte für die ganze Mädchengruppe als Belobigung für die Bestleistungen im Arbeitsbereich – nur für Gonzo nicht, Gonzo wurde wieder einmal ausgeschlossen und bestraft. Einmal schwarzes Schaf, immer schwarzes Schaf. Es störte sie nicht besonders, aber als Anja mit diesem geistesabwesenden Ausdruck murmelte: »Wenn du im Schlafsaal nicht gesungen hättest …« Sie beendete ihren Satz nicht, schien nicht einmal zu bemerken, was sie da sagte, aber Gonzo empfand einen Stich in ihrer Brust. Ihre Freundin wollte, dass sie sich anpasste? Das war nicht die Anja, die sie kannte. Sie war nicht wütend, nur traurig und ratlos. Sie wollte Anja nicht verlieren, nicht auf ihre Freundschaft verzichten. Es war alles, was sie noch hatte.

Und dann kam es zu diesem Zwischenfall: Sie rannten in der Gruppe die Treppe hinunter, eine nach der anderen, im Laufschritt, wie es vorgeschrieben war. Von einem Absperrgitter zum nächsten. »Kopf runter!«, brüllte der Erzieher, als sie an dem Jungentrakt vorbeiliefen. Anja hielt sich nicht an den Befehl. Sie hob den Kopf und sah einen Jungen an. Und der Junge sah sie an. Und das war’s dann. Gonzo als Kleinste in der Gruppe lief als Letzte. Als der Erzieher anfing zu brüllen, bemerkte sie gerade noch, dass Anja dem Jungen zuwinkte. Tom? War das Tom? Anjas Freund aus dem Durchgangsheim?

Acht Tage Einzelarrest.

Ganze acht Tage blieb Anja verschwunden.

»Unerlaubte Kontaktaufnahme.«

Als sie aus der Zelle zurückkehrte, lächelte Anja so merkwürdig, dass Gonzo Angst bekam. Sie wäre nicht die Erste, die hier durchdrehte.

Gonzo hatte allen Grund, Angst um Anja zu haben.

Und schließlich passierte die Geschichte mit den Schrauben.

Anja musste die Dinger schon eine Weile gesammelt haben. Was wollte sie bloß damit?

Egal, was auch immer, es spielte keine Rolle mehr.

Anja wurde mit den Schrauben erwischt. Sie hatte sie in ihren Schuhen versteckt.

Und als die Feist anfing wie besessen herumzuschreien, wusste Gonzo, dass sie etwas tun musste. Dass sie ihre Freundin retten musste. Weitere acht oder zehn oder zwölf Tage in Einzelarrest würde Anja nicht durchstehen …

Als Gonzo die auf dem Boden verstreuten Schrauben im Handumdrehen aufsammelte und in den Mund steckte, blickte sie Anja direkt in die Augen.

Pass auf dich auf! Der Gedanke war so laut in ihrem Kopf, dass Anja ihn einfach hören musste.

Und sie hörte ihn. Das Glasige verschwand aus ihrem Blick.

Sie schien aus ihrer Trance aufzuwachen.

Anja war wieder Anja.

Gonzo hatte versucht ihre Freundin zu schützen.

Natürlich wusste sie nicht, ob ihr das mit ihrer Aktion geglückt war oder ob Anja nicht trotzdem bestraft wurde.

Sie wollte die Wut von Frau Feist auf sich lenken – und wie es aussah, schien ihr zumindest das gelungen zu sein.

»Jugendliche Pätzold meldet, hab aus Versehen ein paar von den Dingern verschluckt.«

Hatte sie das wirklich gesagt? Musste sie wohl.

Das Geschrei der Erzieherin schallte noch immer in ihren Gehörgängen.

Obwohl das nicht sein konnte. Es war still in der Kellerzelle, vollkommen still. Vielleicht hallten die Beschimpfungen ja deshalb in ihr nach. Weil sie nichts Neues hörte.

Anja hätte das hier nicht durchgehalten.

Diese Dunkelheit, dieses Nichts.

Das Schwarz, das sich in die Seele fraß.

Gonzo besaß etwas, das Anja fehlte: einen Panzer, der ihr Innerstes schützte. Glaubte sie zumindest.

Die Gebote und Verbote, die Demütigungen und Strafen perlten zwar nicht gerade an ihr ab, aber sie erreichten ihr Herz nicht mehr.

Sich nicht verletzen zu lassen war eine Übungssache. Man konnte es trainieren, seine Gefühle im entscheidenden Moment auszuschalten.

Ihr kommt nicht an mich ran! Ihr nicht!

Ich bin, wie ich bin, und das werdet ihr nicht ändern! Niemals!

Aber galt das auch hier unten? War sie wirklich so stark, wie sie glaubte?

Das Fenster kam ihr zunehmend bedrohlich vor. Wenn sie nicht hinaussehen konnte aus ihm, konnte es dann in sie hineinsehen? Sie wusste, dass das verrückt klang. Aber sie fühlte sich beobachtet.

Sie konnte nicht in die Dunkelheit nach draußen schauen, aber vielleicht schaute die Dunkelheit in sie?

Sie musste aufpassen, dass sie den Verstand nicht verlor.

Erst als sie Blut schmeckte, merkte sie, dass sie ihre Unterlippe aufgebissen hatte. Aber der Schmerz besänftigte sie ein bisschen. Er war etwas Normales im Unnormalen, etwas Reales im Irrealen.

5 Gonzo wanderte in der Zelle umher, auf und ab, in kleinen, langsamen Schritten. Eine andere Beschäftigung blieb ihr hier nicht. Sich ein bisschen zu bewegen war besser, als stillzustehen. Etwas zu tun war besser, als nichts zu tun. »Immer an der Wand lang, immer an der Wand lang …«, murmelte sie vor sich hin. Manchmal half es ihr, mit sich selbst zu scherzen. Wenn niemand über ihre Sprüche lachte, versuchte sie das eben selbst zu übernehmen. Aber hier …? Gerade hier, sagte die alte Gonzo in ihrem Kopf.

Ihre Fingerspitzen fuhren über das raue Mauergestein und untersuchten ausgiebig jede unebene Stelle. Ja, es gab sie, die eingeritzten Zeichen. Nicht so viele wie in den Zellen, in denen man sehen konnte, aber mit der Zeit konnte sie Buchstaben, offenbar Initialen von Namen, ertasten. Sie standen kreuz und quer, wie von Schreibanfängern gekritzelt.

Gonzo beschäftigte sich eine Weile damit, mit ihrem Fingernagel ein G in den Putz zu ritzen. Auch sie wollte ein Zeichen setzen für die, die nach ihr kamen. Kopf hoch, du bist nicht die Einzige, irgendwann müssen sie dich gehen lassen …

Das alles wollte sie mit einem Buchstaben sagen. G für Gonzo, nicht N für Nicole. Nicole wurde sie von den Erwachsenen genannt, es war ihr richtiger falscher Name. Gonzo hasste ihn. Auf ihrer ersten Flucht aus dem Kinderheim – da war sie gerade mal acht Jahre alt gewesen – hatte sie sich in der Wohnung einer Verwandten versteckt, eine Cousine ihrer Mutter, die sie als Einzige hin und wieder im Heim besuchte und die ihr Süßigkeiten zum Geburtstag schickte. Und sie hatte den ganzen Tag Westfernsehen gesehen. Bis schließlich die Muppetshow lief und sie sich halb totlachte über diese seltsame Figur namens Gonzo! Was für ein verrücktes Wesen war das bloß? Es schien zu niemandem zu gehören und eine Spezies für sich zu sein – dieses Irgendwas mit der langen Hakennase ließ sich nicht unterkriegen, überstand jeden Schlag und überlebte sogar den Versuch, eine Kanonenkugel zu fangen – wenn auch nicht gerade unbeschadet.

Nicole legte den verhassten Namen ab und nannte sich von da an Gonzo.

Die Cousine ihrer Mutter besuchte sie im Heim, bis sie zehn war, dann kam auch sie nicht mehr. Inzwischen hatte die Frau selbst eine Familie, und Gonzo gab die Hoffnung schließlich auf, doch noch von ihr adoptiert zu werden.

Sie gehörte zu niemandem. Sie war ein Irgendwas. Eine Spezies für sich. Und sie würde sich nicht, nie, niemals unterkriegen lassen.

Es war so still hier unten, dass Gonzo erschrak, als sie ein leises Geräusch hörte, das sie nicht gleich zuordnen konnte. Doch dann begriff sie, dass es nur ihr Magen war, der knurrte. Wie viele Stunden waren vergangen? War es nicht schon längst Abendbrotzeit? Warum kam dann keiner? Sie hatte Hunger, sie hatte Durst. Wieso brachte ihr niemand etwas zu essen und zu trinken?

Hatte man sie vergessen?

Es ist besser, wenn du nicht wartest, sagte die Stimme der Vernunft in ihr. Wenn du wartest, vergeht die Zeit noch langsamer.

Aber was sollte sie tun? Schlafen konnte sie nicht. Der Dämon namens Panik, der neuerdings in ihr zu wohnen schien, hielt sie wach.

Sie verbrachte einige Zeit damit, sich vorzustellen, wie er aussah. Sie setzte ihn Stück für Stück zusammen: Arme, Beine, Kopf, Rumpf …, Mimik, Kleidung. Es entstand ein schmutziger Punk mit hinterhältigem Blick und grünen Haaren, der unentwegt auf seinem Schlagzeug herumhämmerte. Die Rhythmen und Töne, die er produzierte, ließen ihr keine Ruhe und trieben ihren Herzschlag an. Sie sah ihn plötzlich so deutlich vor sich, dass es ihr vorkam, als könnte sie nach ihm greifen. Er grinste auf eine teuflisch böse Art, die ihr wohl sagen sollte, dass sie keine Chance gegen ihn hatte.

»Na, warte, wenn ich dich kriege«, flüsterte sie und wunderte sich über sich selbst. Wie wollte sie jemanden erwischen, der gar nicht da war?

Plötzlich schlug irgendwo da draußen, nicht weit von ihr entfernt, eine Tür zu, und die Erscheinung verschwand. Sie lauschte. Hatte es wirklich geknallt? Oder bildete sie sich das nur ein? Unter ihrer Zellentür nahm sie auf einmal einen fadendünnen Streifen Licht wahr. Angespannt horchte sie in die Dunkelheit hinein. Schritte! Sie kamen schnell näher.

Gonzo sprang auf und stellte sich kerzengerade hin. Sie wollte essen. Sofort. Ihr Magen knurrte laut und deutlich. Die Schritte stoppten vor ihrer Zelle und ein Schlüsselbund rasselte.

6 »Jugendliche Pätzold, im Arrest wegen Sabotage und Diebstahl von Volkseigentum, meldet …« Was gab es hier schon zu melden? »… meldet … keine besonderen Vorkommnisse.«

Gonzo war beinahe stolz darauf, dass sie den Satz diesmal vollständig aus sich herausgequält hatte. Jetzt würde man sie sicher zu den anderen zurückbringen; noch eine Nacht musste sie doch wohl bestimmt nicht hier unten bleiben, oder? Mit ihrer Meldung hatte sie doch gezeigt, dass sie sich unterwarf, dass sie ihren Fehler bereute.

Welchen Fehler?

Sie blinzelte gegen die Helligkeit an, die aus dem Gang in ihre Zelle drang, und versuchte hinter ihren halb geschlossenen Lidern etwas zu erkennen. Der Mann bewegte sich langsam auf sie zu und hielt einen Teller in der Hand. Gonzo betrachtete das Brot, das sich ihr wie von allein zu nähern schien.

»Hast du Hunger?«, hörte sie eine Männerstimme fragen. Es war Nitzschke. Ausgerechnet. Er stand jetzt so dicht vor ihr, dass sie die Narbe auf seiner Wange erkannte.

Gonzo nickte und zwang sich, weiter gerade wie ein Soldat zu stehen. Sie wich keinen Schritt zurück, obwohl sie das Lauern in seiner Stimme ganz genau bemerkte. Sie nahm Haltung an, wie es Vorschrift war. Vielleicht stand sie sogar übertrieben gerade. Sie zuckte jetzt mit keiner Wimper mehr.

»Setz dich doch«, sagte der Mann eine Spur zu freundlich. Und als sie nicht reagierte, befahl er es in einem schärferen Ton: »Setz dich, Jugendliche!«

Gonzo gehorchte automatisch. Sie behielt das Brot dabei im Blick, als könnte es sonst wieder verschwinden.

Der Erzieher ließ sich ächzend neben ihr auf der Pritsche nieder. Der Laut aus seinem Mund klang wie ein Vorwurf, als wollte er sagen: Wegen dir muss ich extra hier runter kommen, dabei habe ich einen anstrengenden Tag hinter mir und eigentlich schon längst Feierabend.

Sie spürte ihn dicht, zu dicht, an ihrer Seite. Er roch nach Zigarettenqualm und Alkohol, und Gonzo versuchte ein Stück von ihm wegzurücken, ohne dass es auffiel. Aber er rutschte einfach wieder an sie heran und hielt ihr das Brot unter die Nase.

»Nun iss schon, worauf wartest du?«

Vielleicht hatte er ja ein schlechtes Gewissen, versuchte sie die aufkommende Unruhe zu dämpfen. Weil er dich in diesem Loch versauern lässt, weil er dir zu spät das Essen bringt, weil er im Grunde weiß, dass du zu Unrecht hier bist.

Sie griff nach dem Brot, hastig wie eine Maus, die den Käse aus der Falle stibitzt.

»Na also«, sagte er und tätschelte ihr väterlich den Rücken.

Der Bissen in Gonzos Mund wurde plötzlich staubtrocken, sodass sie ihn nicht herunterschlucken konnte. »Jugendliche Pätzold … braucht was zu trinken«, brachte sie hervor. Was für ein idiotischer Satz.

Ihre Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt.

»Ja, sicher, der Tee steht schon für dich bereit … Draußen vor der Tür. Da möchtest du doch hin … Hier raus … Nicht wahr?«

Gonzo spürte seinen Atem in ihrem Nacken, hörte sein Schnaufen. Sie drehte sich nicht um. Wollte sein Gesicht nicht von Nahem sehen. Diese Boxervisage.

»Du bist doch ein vernünftiges Mädchen, Nicole. Und noch hübsch dazu …«

Er kannte ihren Vornamen? Wieso nannte er sie so? Sonst hörte sie doch nur ihren Nachnamen – meist dann, wenn sie etwas nicht so tat, wie die Erzieher es wollten. Wenn sie nicht ordentlich, nicht schnell, nicht gut genug war … Pätzold – der Name für Abschaum.

»Du möchtest doch nicht noch länger hierbleiben, oder?«

Sie antwortete nicht. Wieso redete er so mit ihr? Warum tat er so vertraut, als würde er sie kennen? Sie schob das Brot in ihrem Mund mit der Zunge hin und her. Ihr Hals war immer noch dicht. Sie konnte nicht sprechen, nicht schlucken.

»Sieh mal, wir können uns sicherlich einigen, du und ich«, sagte er heiser und nervös. »Du tust dir einen Gefallen, wenn du mir einen tust. Das verstehst du doch?«

Ihr Körper wurde starr, als er seinen Arm um sie legte. Der Schweißgeruch aus seiner Achselhöhle nahm ihr fast den Atem. Dieser Arm war so schwer … Als würde sich das Kellergewölbe auf sie legen.

Du musst was tun, herrschte die alte Stimme in ihrem Kopf sie an. Sofort!

Der Mann schnaufte erregt und drückte sich immer enger an sie. Sie versuchte seinem Griff zu entkommen, aber er war stark, zu stark.

»Stell dich nicht so an, du Flittchen!«

Als er sie an der Taille packte und sie hart zu sich zog, verschluckte sie sich. Gonzo hustete und spuckte Krümel, rang nach Luft und versuchte sich freizukämpfen. »Durst«, keuchte sie.

Diesmal drehte sie sich zu ihm um. Sie würgte und hustete; spuckte ihm das Zeug mitten ins Gesicht.

Er ließ sie nicht sofort los. Starrte sie mit ungläubigem Blick an. Dann verzerrte sich seine Miene vor Wut. Sein Griff lockerte sich einen Moment. Sie wollte aufspringen, die vielleicht einzige Chance nutzen. Aber sie konnte nicht. Konnte ihm nicht entkommen. Wo sollte sie denn hin? Er packte sie wieder, diesmal mit beiden Händen. Sie wollte schreien, aber sie hustete und keuchte, schlug wild um sich, traf ihn einmal … seine Nase? Plötzlich spürte sie, dass sie hochgehoben wurde. Wie eine Puppe, dachte sie kurz. Hörte den Mann etwas brüllen. »Du Miststück! Du Flittchen!« Und im nächsten Moment knallte sie gegen die Wand. Es hagelte Sterne. Sie sah noch, wie er die Zelle verließ. So viele Sterne! Sie hörte die Riegel knallen.

Dann war das Schwarz wieder da.

Und diesmal fraß es sie.

7 Danach kam der grünhaarige Panik-Punk sie immer häufiger besuchen. Er lachte über sie; trat ihr in den Bauch, schlug ihr gegen die Brust. Sie spürte Stiche im Magen und Stiche im Herzen. Aber sie beschwerte sich nicht. Sie sprach nicht mit ihm, auch nicht, wenn er sie etwas fragte. Du weißt, dass du hier nie wieder rauskommst, oder? Sie ignorierte ihn. Sie redete mit niemandem. Sie erstattete auch keine Meldung mehr, wenn die Tür sich öffnete. Statt strammzustehen, verkroch sie sich in die hinterste Ecke.

Herr Kossack beschimpfte sie, Frau Feist keifte herum. Es war ihr egal. Sie kam aus der Ecke einfach nicht hervor.

Mal wurde ihr das Abendbrot, mal das Frühstück vorenthalten zur Strafe, aber Gonzo kümmerte das immer weniger. In dem schwarzen Loch, in dem sie sich befand, verlor sie das Gefühl für die Zeit. Der Unterschied zwischen Tag und Nacht spielte hier unten sowieso keine Rolle. Mittags wurde ihr das rohe Sauerkraut verabreicht, als wäre es nicht nur ein Abführmittel, sondern auch ein Medikament gegen Bockigkeit. Gonzo verlor auch zunehmend das Gefühl für sich selbst. Manchmal kniff sie sich in den Arm, um zu merken, dass sie noch da war.

Einmal schleppte Kossack den Eimer für die Notdurft aus ihrem Kerker und sie erhielt ihn erst am nächsten Tag zurück. Es war ihr peinlich, auf den Boden zu pinkeln, aber was blieb ihr anderes übrig?

Sie fühlte sich immer erbärmlicher, immer schmutziger in ihrer Haut. Vielleicht hatten die Erzieher ja recht, wenn sie sie wie Dreck behandelten?

Wenigstens tauchte Nitzschke nicht wieder auf.

Dabei hatte sie sich überlegt, was sie tun würde, wenn er sie wieder anfasste.

Wie sie ihn anfallen und ihm in den Hals beißen würde. Mit aller Kraft. Wie ein wildes Tier. Sollte er sie doch töten. Der Tod jagte ihr keine Angst mehr ein. Vielleicht war es ja besser zu verschwinden. Ein für alle Mal. Wenn sie nicht mehr da war, konnte niemand ihr wehtun.

Einfach in der Finsternis versinken und für immer dort bleiben …

Kein Hahn würde nach ihr krähen. Kein Schwein würde sie vermissen.

Und erst recht kein Mensch.

Zuletzt kamen die Spinnen. Wenn sie sich auf die Pritsche legte und einfach nur schlafen wollte, kamen sie. Krabbelten auf ihrem Körper herum, über ihr Gesicht. Es mussten Hunderte sein, aber immer, wenn sie nach ihnen griff, schienen sie sich in Luft aufzulösen. Sie waren schneller als sie. Sie erwischte keine einzige.