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Titelseite

Für Emily –
die ganz sicher auch drücken würde!

1

Siri seufzte innerlich, als sie das Geschenk auspackte. Es war ja echt nett von Tante Petra, dass sie ihr etwas mitgebracht hatte, einfach so, obwohl weder Weihnachten noch ihr Geburtstag war – aber Siri ahnte, dass ihr dieses Geschenk nicht gefallen würde. Bislang hatte Tante Petra ihr nämlich noch nie irgendetwas geschenkt, womit sie auch nur ansatzweise etwas anfangen konnte.

»Oh. Äh … toll«, sagte Siri wenig überzeugend, als sie den Karton vom Geschenkpapier befreite und sah, dass sie richtig vermutet hatte: Auch dieses Tante-Petra-Präsent war wieder ein Reinfall.

»Das ist ein Glamour-Beauty-Komplettset!« Tante Petras Augen strahlten, als sie Siri anschaute. »Ich wünschte, so etwas hätte es schon gegeben, als ich so alt war wie du. Schau mal, ganz viele verschiedene Lidschatten, und hier, der Lipgloss, ein ganz zarter Ton. Und da – cool, oder? – ein Aufkleber-Tattoo. Das hält bis zu sechs Wochen. Zwei verschlungene Herzen. Süß, oder?«

Siri lächelte verkrampft.

Tante Petra war die Chefin eines eigenen kleinen Nagelstudios, und ihr ganzes Leben drehte sich darum, wie man sich und andere hübscher machen konnte. Tante Petra sah immer aus, als wäre sie gerade von einem Laufsteg geklettert. Ihre Frisur, ihr Make-up, ihre Kleidung – alles immer tipptopp, supermodisch und ein bisschen sexy.

»Da kannst du mal lernen, wie man sich zurechtmacht«, äußerte Tante Petra und lächelte ihre Nichte an. »Jedes weibliche Wesen hat nämlich die Pflicht, das Beste aus seinem Typ zu machen.«

Siri seufzte. Sie hatte nicht vor, sich pastellfarbene Balken auf die Augenlider zu schmieren oder ihre Lippen glänzend anzutünchen. Sie hätte sich viel mehr über einen neuen Fußball gefreut. Den tollen Lederball, den sie sich letzten Monat von ihrem Geburtstagsgeld gekauft hatte, hatte Siri leider über den Zaun zum Nachbarn geschossen. Und prompt hatte sich Rufus daraufgestürzt. Rufus war ein riesiger, immer schlecht gelaunter Rottweiler, der seinen Job als Wachhund extrem ernst nahm. Der Hundekoloss hatte den Fußball, der ihm da vor die Pfoten geflogen war, offenbar für einen kleinwüchsigen, besonders geschickt getarnten Einbrecher gehalten. Keine zehn Sekunden hatte es gedauert, bis der knurrende Rufus den Ball mit seinem eindrucksvollen Gebiss in einen flachen Lederpfannkuchen verwandelt hatte.

Siri liebte Fußball. Und Science-Fiction-Bücher. Und Actionfilme. Ihre Eltern sagten oft, sie hätten sie nicht Sigrid nennen sollen, sondern Sigurd. Schließlich wäre sie ein heimlicher Junge. Siri fand, sie hätten ihr auch ruhig einen ganz anderen Namen geben können. Sigrid klang nämlich total ätzend. Und total altmodisch obendrein. Also taufte sie sich bereits als Siebenjährige in »Siri« um und hörte einfach nicht, wenn jemand sie bei ihrem tatsächlichen Namen rief. Inzwischen war sie elf Jahre alt, und jeder, wirklich jeder, nannte sie Siri.

Tante Petra hatte den halben Inhalt des Beauty-Komplettsets auf dem Tisch ausgebreitet und wühlte nun so begeistert in den Lipgloss-Stiften und Make-up-Kästchen herum, dass Siri beherzt einen Vorstoß wagte: »Äh … Tante Petra. Also, wenn du die Schminksachen so toll findest, kannst du sie ruhig selbst behalten. Also, ich … das wäre schon okay für mich.«

»Ach was, ach was. Sei doch nicht immer so bescheiden, Siri«, antwortete Tante Petra und schwenkte eine Puderquaste. Ehe Siri es verhindern konnte, fuchtelte die Tante ihr auch schon im Gesicht damit herum.

»Schau mal, wie schön!«, rief Tante Petra. »Jetzt siehst du nicht mehr so blass aus. Und die kleinen Pickelchen auf der Stirn sind jetzt auch verschwunden.«

»Ich hab doch keine Pickel«, protestierte Siri.

»Doch, doch! So ganz kleine, hier oben …«, ereiferte sich Tante Petra und kleisterte Siris Stirn immer weiter mit Puder zu. »Ein bisschen hier noch und da … Du willst doch ein hübsches Mädchen sein, oder?«

Siri seufzte. Natürlich wollte sie gut aussehen. Jeder wollte das. Aber diese typischen Mädchensachen – Schminken und so –, fand sie grauenhaft. Das war einfach nicht ihr Ding.

Als sie acht Jahre alt war, hatte Siri von ihren Eltern mal eine Barbiepuppe geschenkt bekommen. Es war einer der zahlreichen vergeblichen Versuche von Mama und Papa gewesen, sie mit einer typischen Mädchensache zu erfreuen. Siri hatte das blonde Püppchen ein paar Tage lang ratlos betrachtet, weil ihr partout nicht einfiel, was sie mit ihm anstellen sollte, bis sie dann doch noch eine gute Idee für ein Barbie-Spiel hatte: Sie hatte das Püppchen mit einem Brotmesser aufgeschnitten. Mitten im Barbie-Bauch klaffte ein breiter Schnitt.

»Was machst du denn da?!«, hatte ihre Mutter entsetzt gerufen, als sie in diesem Moment zufällig in ihr Zimmer gekommen war.

»Blinddarmoperation«, hatte Siri geantwortet.

Die Barbiepuppe hatte den medizinischen Eingriff nicht überlebt und war damals im Müll gelandet. Siri hatte sie nicht einen Tag lang vermisst. Doch jetzt wollte sie Tante Petra mit so einem blöden Beautygesichtsanschmiertrallalapüppi-Komplettset selbst in eine Barbie verwandeln.

»Vielen Dank, Tante Petra!«, sagte Siri hastig und kramte alle Sachen zusammen und warf sie hektisch in den Karton zurück, bevor ihre Tante auch noch auf die Idee kam, ihr die Augenbrauen zu zupfen.

»Gern geschehen«, lächelte Tante Petra.

Siri verließ mit ihrem ungeliebten Geschenk in der Hand das Wohnzimmer und überlegte, dass man den Nagellack in dem Set vielleicht dazu benutzen könnte, ihre kleinen Star-Wars-Raumschiffmodelle zu lackieren.

Siri öffnete die Tür ihres Zimmers, pfefferte den Make-up-Karton aufs Bett und ließ sich selbst hinterherfallen. Über ihr an der Wand hing das Poster ihres Lieblings-Fußballvereins. Siri lag mit dem Rücken auf dem Bett, starrte an die Decke und ärgerte sich, dass alle immer wieder irgendwelchen typischen Mädchenkram von ihr erwarteten. Würde das bis zum Ende ihres Lebens so bleiben? Würden die Leute sie erst richtig akzeptieren, wenn sie einmal die Woche in Tante Petras Nagelstudio ging und sich pinkfarbene Krallen an die Finger dübeln ließ?

Siri fand es manchmal unheimlich stressig, dass ihre Eltern und ihre Mitschüler oft etwas von ihr erwarteten, was einfach nicht in ihr steckte. Sie interessierte sich einfach für andere Dinge. Und eigentlich war es doch auch gar keine große Sache, wenn sich ein Mädchen mehr für die Champions League als für Handtaschen begeisterte, fand Siri. Doch ihre Eltern und ihre Mitschülerinnen sahen das leider anders.

Neulich hatte Siri einen Science-Fiction-Roman gelesen von einem Astronauten, der in ein intergalaktisches Paralleluniversum geflogen ist und plötzlich mit ganz vielen unsichtbaren Versionen von sich selbst durch die Gegend lief. Und wann immer er wollte, konnte er eine dieser Persönlichkeiten an- oder ausknipsen. Siri stellte sich vor, wie cool es wäre, wenn sie dazu auch in der Lage wäre. Wenn Tante Petra ihr ein Make-up-Geschenk machte, würde sie sich einfach – Klack! – in eine Siri verwandeln, die auf solche Sachen stand, und konnte sich dann tatsächlich total drüber freuen. Und wenn sie ins Fußballstadion ging, schaltete sie einfach – Klack! – auf eine andere Siri um. Auf eine, die fluchte und jubelte und den Schiedsrichter anpöbelte und sich einen Quark darum kümmern musste, ob sie auch süß und hübsch und mädchenhaft genug war. Das wäre toll!

Siri musste kichern, als sie sich das vorstellte, und fühlte sich gleich nicht mehr ganz so genervt. Sie schnappte sich ihr Handy und wählte die Nummer ihrer besten Freundin Ivana.

Ivana war in der Ukraine geboren und vor sechs Jahren mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen. Sie stammte aus einem richtigen Dorf, hatte auf einem Hof gewohnt, wo es Pferde gab und Ziegen. Den ganzen Tag hatte sie draußen he­rumgetollt. Jetzt wohnte sie mit ihren Eltern und ihren beiden jüngeren Brüdern in einer kleinen Drei-Zimmer-Wohnung im siebten Stock eines Hochhauses. Pferde gab’s hier nicht. Und die einzige Ziege weit und breit war ihre Nachbarin Frau Lugner, die Ivana und ihre Geschwister immer anmeckerte, sie sollen nicht so laut sein, nicht so wild, nicht so frech.

Ivana und Siri waren unzertrennlich. Fast jeden Tag gluckten die beiden zusammen. Zwar spielte Ivana kein Fußball, aber ansonsten war sie das einzige Mädchen in ihrer Klasse, das auf Siris Wellenlänge war: unerschrocken, total geradeaus und ständig voll schräger Einfälle.

»Hallo, Ivi«, sagte Siri, als ihre Freundin sich auf der anderen Seite der Leitung meldete. »Komm rüber, ich hab ein Geschenk für dich.«

»Ein Geschenk für mich?!«, staunte Ivana. Sie hatte einen leichten Akzent. Ivana rollte jedes R, als hätte sie einen kleinen Elektromotor auf der Zunge. »Was denn für ein Geschenk?«, fragte Ivana.

»Schminke«, antwortete Siri.

Für eine Weile war es still auf der anderen Seite der Leitung. Siri konnte sich das Lachen kaum mehr verkneifen.

»Willst du mich verarschen?«, fragte Ivana dann.

»Ja«, prustete Siri los.

Jetzt lachte auch Ivana.

»Willst du trotzdem rüberkommen?«, fragte Siri.

»Bin schon unterwegs«, sagte Ivana.

Siri stand am Fenster und schaute auf die Straße hinunter. Ivana brauchte höchstens zehn Minuten bis zu Siris Haus – fünf, wenn sie ihr Waveboard nahm. Es würde nicht lange dauern und sie würde um die Ecke biegen.

Siri sah im Nachbargarten Rufus aufgeregt auf dem Rasen herumrennen. Der Hund bellte Ole, Jan und Tarik an, die gerade am Grundstück vorbeigingen. Siris Fenster war geöffnet, und sie hörte, dass einer der Jungs Musik aus seinem Handy plärren ließ. Irgendein Hip-Hop-Song schepperte, während die drei Jungs lachend Rufus anbellten.

»Waff! Waff! Waff!«, bellte Tarik und fand es rasend komisch, vor dem Zaum herumzuhüpfen. Seine Freunde lachten. Sie alle alberten knurrend und kläffend am Zaun herum, was Rufus natürlich immer wütender machte. »Ey, der Köter ist so bescheuert!«, lachte Tarik. »Voll der Spackenhund!«

Tariks Freunde feixten und dann gingen die drei Jungs weiter.

Die Jungs wohnten in der Reihenhaussiedlung am Ende der Straße. Jan und Tarik gingen in die siebte Klasse, eine Stufe über Siri. Ole dagegen ging in Siris Klasse. Er war zwar ein Jahr älter als sie, war aber einmal sitzen geblieben. Jan und Tarik konnte Siri nicht ausstehen. Das waren Vollidioten. Mit Ole verhielt es sich jedoch ein wenig anders. Der machte zwar auch total auf cooler Typ und konnte echt nerven mit seinen Macker-Sprüchen, aber Siri hatte irgendwie das Gefühl, dass da trotzdem ein netter Junge unter dem ganzen Gehabe steckte. Sie wusste allerdings nicht, wieso sie diese Vermutung hatte. Die meiste Zeit benahm sich Ole nämlich genau wie seine Kumpels: total bescheuert!

Neulich, als Siri mit ihrer Klasse Fußball gespielt hatte, hatte Ole mit seinen Kumpels am Spielfeldrand gestanden und gelästert. In Siris Jahrgang konnte man im Sportunterricht in der Schule zwischen Fußball, Leichtathletik und Jazztanz wählen. Siri war eines von nur drei Mädchen, die sich für Fußball entschieden hatten. Sie spielte besser als die meisten Jungen, aber trotzdem nahm sie keiner auf dem Spielfeld so richtig ernst. Immer wieder musste sie sich dumme Sprüche anhören. »Dribbeln, nicht trippeln«, hatte Ole zu ihr herübergerufen, und die anderen hatten gelacht. Siri hatte ihm einen wütenden Blick zugeworfen und er hatte sie angegrinst. Es war ein süßes Grinsen irgendwie, ein Grinsen, das Siri gefiel. Aber das durfte sie natürlich nicht zugeben. Sie hatte Ole den Stinkefinger gezeigt und war dann wieder dem Ball hinterhergejagt.

Siri schaute immer noch aus dem Fenster. Rufus hatte sich wieder beruhigt. Der klobige Hund lag auf der Wiese, die Ohren aufgerichtet. Sowie jemand anderes an seinem Grundstück vorbeikäme, würde er wieder pflichtbewusst aufspringen und wütend bellen.

Siri sah nach links, von wo Ivana kommen würde. Noch war sie aber nicht in Sicht. Und dann bemerkte Siri plötzlich etwas Merkwürdiges: Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, stand eine Frau, die Siri noch nie gesehen hatte. Wo war die denn plötzlich hergekommen? Die Frau war auffällig blass und strohblond. Und sie trug einen Kimono! Das japanische Kleid wirkte sehr komisch an ihr, weil diese Art von Kleid ja üblicherweise von dunkelhaarigen Asiatinnen und nicht von bleichen Blondinen getragen wird. Und in der kleinen Stadt, in der Siri lebte, gab es außer der Familie, der das Chinares-taurant am Marktplatz gehörte, keine Asiaten. Der Kimono war knallbunt und mit einem Muster versehen, das an Blumenranken erinnerte. Die Frau sah aus, als würde sie zum Fasching gehen wollen. Doch der war noch ein paar Monate hin.

Siri musste sie ziemlich blöd angeglotzt haben, denn die Frau lachte plötzlich. Sie schaute zu Siris Fenster hoch und sah ihr direkt in die Augen. Dann hob die seltsame Kimonofrau ­einen Arm und winkte Siri strahlend zu.

»Huhu!«, rief sie. »Kleines Mädchen!«

Siri stand immer noch völlig perplex da. Sie bemerkte, dass ihr Mund offen stand und dass sie aussehen musste wie ein geistig verwirrter Karpfen, der nach Luft schnappte. Siri schloss schnell den Mund und hob zaghaft ihre Hand. Zögernd er-widerte sie den Gruß der Kimonofrau.

»Hallo«, sagte sie so leise, dass die Kimonofrau sie vermutlich gar nicht hörte.

»Noch 48 Stunden!«, rief die Kimonofrau strahlend, drehte sich um und trippelte mit ulkigen kleinen Schritten davon.

»Was ist denn in 48 Stunden?«, rief Siri laut aus dem Fenster.

Die Kimonofrau wandte den Kopf, während sie weiterging. »In 48 Stunden ist übermorgen!«, rief sie.

Das wusste Siri auch. War die Frau aus einer Irrenanstalt entlaufen, oder was?

»Und passiert da irgendwas, übermorgen?«, rief Siri.

»Natürlich, kleines Mädchen!«, rief die Kimonofrau. »Und du bist der Grund dafür!«

»Aber was? Was passiert da?«, rief Siri.

Die Kimonofrau lachte, während sie weiterging und sich nicht noch einmal zu Siri umdrehte.

Sie ging jetzt direkt an dem Zaun vorbei, hinter dem Rufus lag.

Der Hund würdigte die Kimonofrau keines Blickes. Er bellte nicht. Er knurrte nicht. Er lag einfach nur da.

2

Als sie vor Oles Haustür ankamen, verabschiedeten sich die drei Freunde voneinander. Ole, Jan und Tarik hatten ein kompliziertes Ritual aus Handschlägen und Gesten, das sie jedes Mal vollführten, wenn sie einander trafen oder auseinandergingen. Ole hatte sich die aufwendige Handshake-Methode in einem Musikvideo seines Lieblingsrappers DJ Brooklyn abgeschaut und sie seinen Kumpels in mühsamer Kleinarbeit beigebracht. Jan hatte eine Ewigkeit gebraucht, bis er endlich kapierte, wann er wo gegenpatschen musste.

Irgendwie sah es cooler aus, wenn zwei große, muskulöse Schwarze mit wütendem Blick und funkelnden Goldkettchen dieses Ritual ausführten, als wenn Ole, Jan und Tarik es taten – aber ein bisschen cool war immer noch besser als uncool.

Ole schloss die Tür auf und trat in die Wohnung.

»Füße abtreten, Ole! Ich hab gerade gesaugt«, rief seine Mutter fröhlich aus der Küche.

Ole zog seine Sneakers aus und ging in die Küche. Seine Mutter goss gerade Spaghetti in ein Sieb.

»Du kommst gerade rechtzeitig«, sagte sie lächelnd.

Ole setzte sich an den Tisch und wartete darauf, dass seine Mutter ihm einen Teller Nudeln vor die Nase stellte.

»Du kannst schon mal etwas zu trinken einschenken«, sagte sie.

Ole verzog das Gesicht, als hätte seine Mutter ihn gerade dazu aufgefordert, mit einem Schlauchboot den stürmischen Atlantik zu durchqueren, in einer von Haien verseuchten Bucht in Südamerika an Land zu gehen und dort im Dickicht des Regenwaldes die vergessene Quelle des heiligen Wassers der Inka zu finden, anstatt einfach nur eine Flasche Apfelsaftschorle aus dem Kühlschrank zu holen.

»Habt ihr schön gespielt?«, fragte seine Mutter, während sie ihm das Essen servierte.

Habt ihr schön gespielt?! Was war das denn für eine Frage? Ole war zwölf Jahre alt. Er spielte nicht mehr. Er hing ab. Er chillte. Dachte seine Mutter wirklich, Jan, Tarik und er würden immer noch mit Plastikpistolen über eine Wiese rennen und »Räuber und Gendarm« oder »Himmel und Hölle« spielen?

»Mmmh«, murrte er nur.

»Es ist immer wieder eine Freude, mit dir zu plaudern«, sagte seine Mutter sarkastisch, während sie mit ihrem eigenen Spaghettiteller am Tisch Platz nahm.

»Hat Papa sich gemeldet?«, fragte Ole.

Seine Mutter schüttelte den Kopf. Wie immer, wenn Ole seinen Vater erwähnte, bekam sie diesen komischen Gesichtsausdruck. Halb traurig, halb wütend.

Ole nickte nur. Es war nichts Neues, dass sein Vater sich ankündigte, aber dann einfach nicht erschien. Seine Eltern waren seit zwei Jahren geschieden. Eigentlich wollte sein Vater heute mit ihm zu der Kartbahn fahren. Das hatte er Ole vor drei Wochen versprochen und Ole hatte sich sehr darauf gefreut.

»Er hat bestimmt einen wichtigen Termin«, sagte seine Mutter.

»Ja, klar«, murmelte Ole. Sein Vater arbeitete in einer Werbeagentur und hatte ständig neue Kunden, mit denen er sich treffen musste. Dazu flog er durch halb Europa. Ole wusste, dass es keine Ausrede war, wenn sein Vater sagte, er hätte ­einen wichtigen Termin. Er saß dann tatsächlich in irgendeinem Büro in Berlin oder in einem Hotel in London. Aber es war Sonntag, verdammt noch mal, und er hatte es versprochen! Andere Väter hatten doch auch mal frei!

»Ich habe keinen Hunger mehr«, sagte Ole und schob den Spaghettiteller von sich fort.

Seine Mutter schaute ihn mitfühlend an, als er aufstand und die Küche verließ. Er zog im Flur seine Schuhe an und ging nach draußen.

Ole schlenderte die Straße hinunter zu dem kleinen Park. Na ja, Park war ein großes Wort für diese Wiese. Es gab ein paar Sitzbänke, einen kleinen Spielplatz und eine Bretterbude, wo im Sommer Eis und während der restlichen Zeit Würstchen, Pizza und Burger verkauft wurden.

Als Ole an zwei kleinen Mädchen vorbeikam, die »Himmel und Hölle« spielten, musste er grinsen. Als er noch im Kindergarten gewesen war, hatte er das auch oft gespielt. Es hatte ihm einen Riesenspaß gemacht, mit den Mädchen aus seiner Spielgruppe einen Hickelkasten auf den Gehweg zu malen und dann munter darin herumzuhopsen. Mit fünf durfte man noch mit den Mädchen spielen. Doch dann kam irgendwann der Punkt, an dem das für jeden Jungen plötzlich zu einer Art Schwerverbrechen wurde. Jan und Tarik würden einen Herzinfarkt kriegen, wenn sie ihren Kumpel bei irgendwelchen Girlie-Sachen erwischten! Wenn die wüssten, dass Ole heimlich jeden Abend Glamour High guckte! Diese total tussige Fernsehserie über eine amerikanische Highschool, wo es nicht darum ging, wer die besten Noten schrieb, sondern wer sich am tollsten zurechtmachen konnte. Rein objektiv gesehen, fand Ole die Serie eigentlich auch ganz schön albern, aber er konnte einfach nicht anders: Er wollte am Ende jeder Folge immer wissen, wie es weiterging. Also schaltete er am nächsten Tag wieder ein.

Ein paarmal hatte Ole sich fast verplappert und seinen Freunden eine Szene aus der Serie erzählt. Erst im allerletzten Moment hatte er seinen Beinahe-Patzer bemerkt und sich auf die Zunge gebissen. Und einmal hatte Tarik bei Ole angerufen, während die Serie gerade im Hintergrund lief.

»Was ist das denn für ein Gekreische da bei dir?«, hatte Tarik gefragt.

»Ach, nur so eine Soap, die meine Mutter guckt«, hatte Ole hastig geantwortet und sofort nach der Fernbedienung gegriffen und den Fernseher auf stumm gestellt.

Ole musste schlucken, als er sich vorstellte, was passieren würde, wenn er seinen Freunden tatsächlich sein TV-Geheimnis beichten würde.

»He, Jungs«, würde Ole eines Tages sagen. »Ich kann heute nicht mit zum Skaten kommen. Heute klärt sich nämlich, ob Tiffany beim Abschlussball eine bessere Frisur hat als die fiese Debbie!«

»Häh?«, würde Jan sagen. »Wer ist denn Debbie?«

»Und Tiffany?«, würde Tarik ergänzen.

»Ach, die sind nur aus so einer Serie, die ich gern gucke: Glamour High«, würde Ole so cool wie möglich antworten.

Und dann würden Jan und Tarik ihre Augen schweinwerfergroß aufreißen, nach Luft schnappen wie zwei Fische, die man gerade mit einem Netz aus dem Wasser gezerrt hat, und nach dem ersten Schock rufen: »Waaaas?! Diesen Weiberkram?!«

Und das wär’s dann! Ole wäre von diesem Moment an erledigt. Jan und Tarik waren schließlich keine Freunde, mit denen man durch dick und dünn ging. Sie waren bloß gute Kumpels, mit denen man Blödsinn machte und Spaß hatte und auf der Skaterbahn herumhing. Die beiden ließen einem einiges durchgehen. Aber wenn sie herausfänden, dass der coole Typ, der ihnen den voll harten DJ-Brooklyn-Rap-Gruß beigebracht hat, abends heimlich gerne eine pastellfarbene Schnuckiputzi-Mädchenserie guckte, dann wäre Feierabend.

Nein, auch wenn es Ole auf den Nägeln brannte, ehrlich zu sein und nicht vierundzwanzig Stunden am Tag den coolen Typen spielen zu müssen – sein Fernsehgeheimnis würde er ganz bestimmt für sich behalten! Es war ja auch nicht so, dass er heimlich gern ein Mädchen wäre. Er fand es nur blöd, dass das alles so streng getrennt und furchtbar kompliziert war. Warum konnte nicht jeder einfach machen und denken und anschauen und sagen, was er wollte?

Ole setzte sich auf die Bank, die ganz hinten an der Wiese unter einer großen Kastanie stand. Das tat er öfter, wenn er wütend war oder wenn er nachdenken musste. Hier hatte er seine Ruhe. Er war immer noch stinkig wegen seines Vaters. Voll gemein, dass er ihn schon wieder versetzt hatte!

Ole hatte sich gerade hingesetzt, als Luzie auf ihn zugelaufen kam. Luzie war eine rot getigerte Katze, die so fett wie freundlich war. Die Katze gehörte dem Mann, der in der Imbissbude arbeitete. Den lieben langen Tag streunte das Tier durch den Park, holte sich hin und wieder bei seinem Herrchen ein Leckerli ab und ging dann erneut auf Wanderschaft.

Luzie strich Ole um die Beine. »Miau!«, machte Luzie, und Ole hob sie hoch.

Er setzte Luzie auf seinen Schoß und kraulte sie. Unverzüglich begann Luzie zu schnurren und streckte auf Oles Schoß alle viere von sich. Oles Laune verbesserte sich schlagartig.

»Die ist kaputt«, sagte plötzlich eine Frauenstimme, und Ole schreckte zusammen. Direkt neben ihm stand eine Frau. Wo war die denn so plötzlich hergekommen? Sie war blass, blond und trug einen Kimono. Sie sah echt seltsam aus.

»Wie bitte?«, fragte Ole.

Die Kimonofrau zeigte auf die Katze. »Die macht Geräusche. Die ist kaputt«, erklärte sie. »Bei meiner Geschirrspülmaschine war es genau dasselbe. Jahrelang spülte sie ganz artig und leise, aber dann fing sie eines Tages an, so komische Geräusche zu machen. Brrrrmmm, brrrrmmmm, brrrrrmmmm. Zuerst habe ich mir nicht viel dabei gedacht. Ich dachte nur, das macht ihr vielleicht einfach Spaß, so vor sich hinzubrrrrrummmmmmen. Aber vier Wochen später war sie dann kaputt und ich musste sie im Garten vergraben. Neben dem Toaster.«

»Witzig«, sagte Ole.

Die Kimonofrau schaute ihn erstaunt an. »Was ist denn witzig an einer kaputten Geschirrspülmaschine?«

»Äh«, sagte Ole. »Ich dachte, Sie haben einen Witz gemacht.«

»Hab ich auch«, sagte die Kimonofrau. »Letzten Dienstag.«

»Was?«

»Letzten Dienstag habe ich einen Witz gemacht«, sagte die Kimonofrau und setzte sich nun neben Ole. »Und vielleicht mache ich demnächst mal wieder einen.«

Ole wurde es mulmig. Die Frau war ihm unheimlich. Was redete die denn da für ein wirres Zeug? Ole machte Anstalten, aufzustehen, doch die Frau strich Luzie über den Kopf, die sich immer noch auf Oles Schoß rekelte, und hielt dadurch auch Ole auf der Bank. »Du solltest sie in Reparatur geben«, sagte sie.

Die Frau machte so ein ernstes Gesicht, während sie das sagte, dass sich Ole wirklich nicht vorstellen konnte, dass sie scherzte. Vielleicht war sie einfach verrückt. Oder sensationell dumm. Oder sie kam aus einem Land, in dem es keine Katzen gibt. Vom Nordpol oder so.

»Katzen schnurren, wenn sie glücklich sind«, sagte Ole zu der Kimonofrau und kam sich total bescheuert vor, dass er allen Ernstes einer erwachsenen Frau etwas erklärte, was selbst Kindergartenkinder schon wussten.

Die Frau ignorierte Oles Erklärung jedoch völlig und erhob sich nun wieder von der Bank.

»Zwei Tage noch«, sagte sie.

»… und dann geht die Katze kaputt?«, scherzte Ole.

»Nein«, sagte die Frau.

»Ich verstehe nicht …«, sagte Ole.

»Macht nichts«, sagte die Kimonofrau.

»Was ist denn übermorgen?«, hakte Ole nach.

Die Kimonofrau lächelte nur und ging.

»He!«, rief Ole ihr hinterher. »Was soll denn der ganze Mist?«

»Ich kann dich nicht hören, deine Katze brummt so laut!«, rief die Kimonofrau, ohne sich dabei umzudrehen, und trippelte davon.

Ole starrte ihr ungläubig hinterher.

Während Ole noch völlig überrumpelt von dieser seltsamen Begegnung auf der Bank saß, kamen Siri und Ivana gerade mit ihren Waveboards an der Eisbude vorbei. Sie wollten auf dem Spielplatz ein paar neue Tricks einüben.

»Da! Das ist sie!«, rief Siri völlig überrascht und zeigte auf die Kimonofrau, die kurz darauf hinter einer Hecke verschwand.

»Wow«, sagte Ivana, die noch einen letzten Blick auf die geheimnisvolle Unbekannte erhascht hatte. »Die sieht ja wirklich schrill aus.«

Ohne zu zögern, sprang Ivana auf ihr Waveboard und raste der Frau hinterher. Als sie jedoch zehn Sekunden später um die Ecke bog, war dort keine Spur mehr von ihr zu entdecken. Die Kimonofrau war wie vom Erdboden verschluckt. Ivana schaute sich erstaunt um. Es war absolut unmöglich, dass sie zu Fuß so schnell verschwinden konnte. Ivana schaute aufgeregt in alle Richtungen. Sie sah sogar nach oben, als hätte die merkwürdige Kimonofrau wegfliegen können.

Nichts.

Atemlos raste sie zu Siri zurück.

»Weg!«, keuchte sie. »Die hat sich einfach in Luft aufgelöst!«

»Vielleicht hat sie sich in einem Gebüsch versteckt«, mutmaßte Siri.

»Warum sollte sich eine erwachsene Frau in einem Gebüsch verstecken?«, fragte Ivana. »Außerdem hätte ich sie mit dem knallbunten Kleid auch im Gestrüpp entdeckt.«

»Ich verstehe das nicht«, seufzte Siri. »Was hat das zu ­bedeuten?«

Den ganzen Weg zum Park hatten die Freundinnen bereits überlegt, was es wohl mit der seltsamen Frau auf sich hatte, die Siri von ihrem Fenster aus entdeckt hatte.

Was war ihr Geheimnis?

Was wollte sie von Siri?

Was würde in 48 Stunden geschehen?

»Vielleicht ist sie eine Terroristin«, meinte Ivana.

»Quatsch«, entgegnete Siri. »Den Klamotten nach zu urteilen, ist sie eher eine Touristin.«

»In unserem Kaff gibt es aber keine Touristen«, wandte Ivana zu Recht ein. »Was sollten die sich denn hier auch schon für Sehenswürdigkeiten angucken? Rudis Frittenbude?«

»Terroristen gibt’s bei uns aber auch nicht«, sagte Siri.

»Oder es ist so eine Werbeaktion!«, schlug Ivana vor. »In 48 Stunden kommt ein neuer Schokoriegel auf den Markt oder eine neue Fischsuppenkonserve oder die neue CD von Lady Bubu, und die Tante da will uns schon mal drauf aufmerksam machen«, überlegte Ivana.

»Tolle Werbung«, spottete Siri, »wo sie einem nicht verraten, worum es geht. Kaufen Sie! Aber was Sie kaufen sollen, sagen wir nicht!«

»Okay, ja …«, gab Ivana zu. »Die Theorie ist nicht besonders gut.«

Plötzlich hielt Siri inne.

»Oh«, sagte sie. »Da ist Ole.« Sie zeigte auf den Kastanienbaum, in dessen Schatten Ole auf der Bank saß, die fette Luzie immer noch auf seinem Schoß.

»He, Ole!«, rief Ivana und winkte Ole zu, bevor Siri sie daran hindern konnte. »Hallo!«

Ole schaute zu ihnen herüber und Siri wurde rot. Warum wurde sie eigentlich rot? Sie sah Ole doch jeden Tag in der Schule. Es gab überhaupt keinen Grund, rot zu werden.

Ivana war einfach zu Ole hinübergelaufen, und so blieb Siri nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.

»Hast du auch die komische Frau in dem Kimono gesehen?«, fragte Ivana Ole gerade, als Siri dazutrat.

»Und ob«, sagte Ole. »Sie hat mir von ihrer Geschirrspülmaschine erzählt. Und dass übermorgen irgendetwas passiert.«

»Was?!«, riefen Siri und Ivana gleichzeitig.

Ole kraulte die Katze und zuckte bloß cool mit der Schulter. »Ach, die labert einfach irgendwelchen Blödsinn«, sagte er und tat so, als würde ihn das alles kaltlassen. Was nicht stimmte.

»Mir hat sie auch erzählt, dass in 48 Stunden irgendetwas passiert«, berichtete Siri. »Das ist total gruselig.«

»Blödsinn«, wiegelte Ole ab. »Die Mutti hat einfach bloß ’ne Klatsche. Das Licht in ihrem Kopf ist an, aber es ist niemand zu Hause.«

Ivana und Siri mussten lachen.

»Ich hoffe, du hast recht«, sagte Siri zu Ole.