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Titelseite

Für Joshua, wie versprochen

Es klingelte an der Tür. Gleich dreimal hintereinander. Energisch.

Ding-Dong, Ding-Dong, Ding-Dong!

»Sie sind da!«, rief Frau Sondervig und strich ihrer zehnjährigen Tochter Emma eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Denk dran: ein offenes Lächeln, ein kräftiger Händedruck und eine laute Stimme! So kommt man gut durchs Leben!«

Emma nickte seufzend. Diesen Spruch hatte sie schon oft gehört. Ihre Eltern legten unglaublich großen Wert darauf, dass man selbstbewusst durchs Leben ging. Die Leute sollten einem ansehen, dass man an sich glaubte und dass man sich nicht herumschubsen ließ. Dann würde auch niemand auf die Idee kommen, es zu versuchen. Blöd nur, wenn man einfach nicht selbstbewusst war. Wenn man noch so sehr versuchte, einen festen Händedruck und eine laute Stimme zu haben, am Ende aber doch immer nur labbrig sein Pfötchen in die Hand der anderen fallen ließ und einem die Stimme in ein hilfloses Kieksen oder ersticktes Flüstern abrutschte.

Emma war nun mal ein schüchternes und stilles Kind. Warum konnten ihre Eltern das nicht einfach akzeptieren?

»Lächle doch mal«, sagte ihr Vater. »Ein offenes Lächeln öffnet die Herzen.«

Noch so ein Spruch! Ihre Eltern hatten einen Riesenvorrat davon. Sie kauften ständig Lebenshilfebücher mit Titeln wie »Vertraue dir selbst« und »Keine falsche Bescheidenheit! Du bist top!«. Sie hörten auch oft gemeinsam sogenannte Motivations-CDs. Eine der Discs, die sie besonders oft in den CD-Player schoben, zeigte ein strahlendes Pärchen an einem tropischen Strand. Hinter dem Pärchen ging die Sonne unter – oder vielleicht auch auf, wer weiß das schon? –, und die beiden lächelten so breit und verkrampft, als würde ihnen jemand mit einem unsichtbaren Gummiband die Mundwinkel in die Länge ziehen. Es sah irgendwie schmerzhaft aus, dieses Lächeln. »Leben wie im Paradies – mit Selbstbewusstsein und Willenskraft alles erreichen!« hieß die CD. Manchmal, wenn Emma abends im Bett lag, dröhnte es aus den Lautsprechern im Wohnzimmer bis in ihr Zimmer hoch. Ein Mann, mit einer Stimme so glatt, als hätte er mit Schmierseife gegurgelt, juchzte Sätze heraus wie: »Die Geschichte der Welt ist eine Geschichte der Sieger!«, und: »Nur wer anderen Menschen fest in die Augen schaut, darf erwarten, dass man auch ihm auf Augenhöhe begegnet!«

Emmas Eltern schienen die ganze Welt für einen Wettkampf zu halten. Und sie waren fest entschlossen, ihn zu gewinnen. Auch Emma sollte eine Siegerin sein. Es konnte schließlich nicht angehen, dass strahlende Eltern mit festem Händedruck und kräftiger Stimme ein Kind hatten, das scheu auf den Boden blickte, wenn man es ansprach. Ein Kind, das rot wurde, wenn es in der Schule ein Referat halten sollte.

Emma hätte es dagegen völlig gereicht, wenn man sie bei diesem großen, anstrengenden Lebenswettkampf in Ruhe auf der Zuschauertribüne sitzen ließe. Sie wollte ja gar nichts gewinnen. Sie wollte nur ihre Ruhe und ein bisschen Glück.

Es klingelte schon wieder.

Ding-Dong!

»Ich komme ja schon! Ich komme ja!«, rief Emmas Mutter mit ihrer lauten, kräftigen Gute-Laune-Stimme, während sie durch den Flur eilte. Sie knipste ihr Gewinnerlächeln an, als sie die Tür öffnete … und konnte doch nicht verhindern, dass ihre Kinnlade erstaunt nach unten fiel, als sie sah, wer da vor ihr stand!

Emmas Mutter blickte in die breit grinsenden Gesichter von drei blonden Frauen, die völlig gleich aussahen. Drillinge offenbar. Sie alle trugen bunte japanische Kimonos, die so gar nicht zu ihren hellen Haaren und ihrer auffallend blassen Hautfarbe passten.

»Oh«, war das Einzige, was Emmas Mutter in dem Moment von sich gab. Doch dann sammelte sie sich schnell wieder und streckte entschlossen die Hand aus. »Guten Tag! Schön, dass Sie da sind! Kommen Sie doch herein!«

Die drei Kimonofrauen traten nacheinander ein und Emmas Mutter führte sie ins Wohnzimmer. Dort standen Emma und ihr Vater und schauten die Gäste nicht minder verblüfft an. Was für ein verrückter Anblick! Emmas Vater versuchte, genau wie Mama, nicht erstaunt auszusehen, weil Gewinner sich ja nie aus der Fassung bringen ließen. Er schüttelte allen dreien die Hand und sagte, während er aufs Sofa deutete: »Setzen Sie sich doch, meine Damen!«

Emma dagegen glotzte die drei seltsamen Besucherinnen fassungslos an.

»Huhu!«, winkte eine der drei Frauen Emma zu, nachdem sie auf der Couch Platz genommen hatte. Sie sagte: »Und du musst Emma sein!«

Emma nickte schüchtern.

»Wenn man Emma rückwärts ausspricht, heißt das Amme. Wusstest du das?«, fragte eine der anderen Frauen sie lächelnd.

Natürlich wusste Emma das.

»Amme klingt auch hübsch«, fand eine der Kimonofrauen.

»Wenn man dagegen Sofie-Elisabeth rückwärts ausspricht«, fuhr die Besucherin fort, »klingt das gar nicht schön.«

»Htebasileeifos«, sagte die dritte Frau mit ernster Stimme und nachdenklich den Kopf schüttelnd. »Das ist gar nicht schön. Gar nicht schön.«

Emmas Eltern schauten die drei Frauen verwirrt an. Sie hatten sich die Besucherinnen irgendwie anders vorgestellt.

Jetzt öffnete die dritte Kimonofrau einen kleinen Aktenkoffer, den sie wie aus dem Nichts hervorzuzaubern schien, und holte ein Formular heraus.

»Wir freuen uns so sehr, dass du den Sommer mit uns verbringen wirst, Amme!«, strahlte sie das Mädchen an.

Die Kimonofrau neben ihr kicherte. »Hihi«, grinste sie Emma an. »Sie hat deinen Namen rückwärts ausgesprochen! Hast duʼs gemerkt?!«

Emma musste auch kichern. Sie hatte nicht erwartet, dass die Frauen so lustig sein würden. Vielleicht würden diese Sommerferien doch nicht so schlimm werden, wie sie befürchtet hatte.

Die Kimonodrillinge waren die Abgesandten der Organisation Winning Holidays, eines Ferienklubs, der »Gemeinschaft, Motivation und Power-Fun« versprach. Ihre Eltern hatten diesen Klub ausgesucht, damit Emma Freunde fand. Es war wahrscheinlich das englische Wort Winning, das sie so ansprach. Winning heißt gewinnen. Emma sollte in einer Gruppe Gleichaltriger ihren Sommer verbringen, »soziale Kontakte« knüpfen und »das Miteinander« lernen. Sie sollte, wie Emmas Mutter es ausgedrückt hatte, »endlich aus ihrem Schneckenhaus kriechen«.

Emma grauste vor diesen Ferien, seit ihre Eltern ihr davon erzählt hatten. Niemand hatte sie gefragt, ob sie das überhaupt wollte. Man hatte sie einfach vor vollendete Tatsachen gestellt. Und Emma war sich ziemlich sicher, dass sie keinen Spaß haben würde, in diesen Winning Holidays. Sie war nicht nur ein stilles, unsicheres Mädchen, sie war auch noch ziemlich pummelig. Sie fühlte sich verkleidet, wenn ihre Eltern sie in irgendwelche modischen Klamotten steckten, die »man jetzt eben trägt«. Das alles machte sie zur Außenseiterin. Und auch wenn Emma oft pfiffige Sachen dachte und ihr flotte Sprüche und schlagfertige Antworten auf der Zunge lagen, so spuckte sie sie doch nie aus. Niemand wusste, wie clever Emma war, weil sie Angst hatte, es zu zeigen.

Das Beste, was ihr in diesem Urlaub passieren konnte, war, dass man sie in Ruhe ließ. Das Schlimmste war, dass man sie mobbte. So wie in der Schule.

»Unterschreiben Sie hier auf der gepunkteten Linie«, sagte die Kimonofrau und schob Emmas Vater das Formular hin. »Es sind übrigens genau 192 kleine Punkte in der gepunkteten Linie. Ich habe sie gezählt.«

Emmas Eltern lachten artig, weil sie dachten, es wäre ein Scherz. Aber Emma ahnte, dass diese komischen Kimonofrauen wohl tatsächlich die Punkte in gepunkteten Linien zählten. Und womöglich noch ganz andere, weitaus verrücktere Dinge taten.

Emma war sich nicht sicher, ob sie Angst vor den Drillingen haben oder sie cool finden sollte. Auf jeden Fall waren sie spannend und geheimnisvoll.

Nachdem Emmas Vater seine Unterschrift auf die 192 Punkte gekritzelt hatte, erhoben sich alle.

Emmas Mutter umarmte ihre Tochter und flüsterte ihr ins Ohr: »Das wird ein Riesenspaß! Wirst schon sehen. Ich hab dich lieb!« Dann wuschelte ihr Vater ihr durchs Haar und sagte: »Viel Spaß, meine kleine Prinzessin! Ganz, ganz viel Spaß!«

Eine der Kimonofrauen nahm den Koffer, der im Flur stand, dann verließen Emma und ihre Begleiterinnen das Haus. Sie gingen zu einem giftgrünen Kleinbus, der an der Straße parkte. Winning Holidays stand darauf in goldener, glitzernder Schrift.

Emmas Eltern blieben im Türrahmen stehen und schauten ihrer Tochter nach, die sich noch einmal umdrehte und ihnen zaghaft zuwinkte. Ihre Eltern bemühten sich um ein aufmunterndes Gewinnerlächeln, doch Emma sah, dass auch ihnen ein wenig mulmig war.

Eine der Kimonofrauen holte den Autoschlüssel hervor und hielt ihn vor Emmas Nase.

»Willst du fahren?«, fragte sie.

Emmas Vater rief von der Tür aus fassungslos: »Was?!? Sie können doch ein zehnjähriges Kind nicht Auto fahren lassen!!«

Die Kimonofrau lächelte und sagte: »Kleiner Scherz. Haha.« Dann – ohne dass ihre Eltern es sehen konnten – zwinkerte sie Emma zu.

Emma war von sich selbst überrascht, als sie zurückzwinkerte.

»Ihr könnt ruhig schon gehen«, sagte Torben zu seinen Eltern. »Die sind bestimmt gleich da.«

Torben stand auf dem Bahnsteig. Vor ihm auf dem Boden lag eine Reisetasche, auf dem Rücken trug er einen Rucksack, aus dem oben die Spitze eines Skateboards herauslugte.

Torben war sich nicht sicher, ob schon andere Kinder dabei sein würden, wenn er gleich abgeholt und in den Zug steigen würde. Wenn ja, hätte er es cooler gefunden, wenn seine Eltern schon verschwunden wären. Er war ja kein Baby mehr. Er war schließlich elf.

Drei Wochen würde er in dem Ferienklub Action Holidays verbringen, mit viel Sport, Games und – wie die Website versprach – jeden Abend Party! Da gab es bestimmt einen Haufen cooler Kids und Torben wollte vor denen auf keinen Fall seinen Einstand als vermeintliches Muttersöhnchen geben. Der erste Eindruck war wichtig. Wer gleich am Anfang wie ein Waschlappen wirkte, konnte leicht drei Wochen lang das Opfer im Camp sein. Es wäre stark, wenn Torben ganz allein auf dem Bahnsteig stünde. Dann würden alle Kinder sehen, dass er erwachsen genug war, um ohne Mama und Papa abgeholt zu werden. Doch Torbens Eltern machten bedauerlicherweise keine Anstalten zu verschwinden.

»Wir wollen schon noch sehen, wer dich da abholt«, sagte Torbens Vater.

»Aber kein Abschiedsküsschen!«, ermahnte Torben seine Mutter.

»Nein, keine Angst«, lächelte Mama.

Eigentlich hatte Torben nichts gegen Küsschen. Aber nur, wenn keiner es sah. Abends zum Beispiel, vor dem Einschlafen, bevor seine Mutter das Nachtlicht einschaltete, sein Zimmer verließ und dabei die Tür zum Flur einen Spaltbreit offen ließ. Da war so ein Küsschen schon okay. Dann fühlte sich Torben kuschelig und beschützt. Er hatte nämlich Angst im Dunkeln. Aber das durfte niemand erfahren. Niemals!

Plötzlich begann Torbens Vater zu lachen und stupste seine Frau an. »Guck mal die da«, sagte er und zeigte den Bahnsteig hinunter, wo drei blonde Frauen in grellbunten Kimonos entlanggetrippelt kamen. »Wie sehen die denn aus?!«

»Vielleicht wollen die zu einem Kostümfest«, mutmaßte Torbens Mutter. Auch sie musste kichern, als das seltsame Trio immer näher kam.

Doch dann erstarb ihr Lächeln. Denn eine der Frauen winkte ihnen begeistert zu. Alle drei kamen direkt auf sie zu. Und Torben und seine Eltern begriffen, dass diese seltsamen Frauen offenbar die Angestellten von Action Holidays waren, die Torben abholten.

»Oh Gott, was sind das denn für komische Trullas?«, konnte Torbens Vater noch stammeln, bevor sie alle drei strahlend vor ihnen standen.

»Hallöchen!«, sagte die eine, »Tagchen!«, die Zweite und »Da sind wir!«, die Dritte.

Torben staunte. Und er wurde ein wenig nervös. Diese Frauen machten einen ziemlich hippiemäßigen Eindruck. Ihre Klamotten waren seltsam und nicht modern, und sie sahen eher so aus, als würden sie Windows-Color-Bastelstunden oder fröhliche Liederabende organisieren als coole Partys und tolle Sport-Wettkämpfe.

»Torben, Torben, na so ein Torben aber auch«, sagte nun eine der Kimonofrauen, zwickte dem Jungen scherzhaft in die Wange und zeigte auf das Skateboard, das aus seinem Rucksack lugte. »Warum hast du denn dein Bügelbrett mitgebracht? In den Ferien soll man doch Spaß haben und nicht seine Klamotten bügeln!«

»Das ist ein Skateboard und kein Bügelbrett«, antwortete Torben. War die Alte beknackt, oder was?

In diesem Moment fuhr der Zug ein.

»Ah, da ist er ja«, sagte Torbens Vater.

»Wo sind denn die anderen Kinder?«, fragte Torbens Mutter.

»Die werden von unseren Schwestern abgeholt«, sagte Kimonofrau Nummer zwei. Oder war es drei? Es war schlichtweg unmöglich, sie auseinanderzuhalten.

»Ach so«, sagte Torbens Vater. »Na, dann … also …«

Er zögerte, dann klopfte er seinem Sohn nur auf die Schulter, anstatt ihn zu umarmen, wie er es eigentlich lieber getan hätte, und sagte: »Dann machʼs mal gut, Kumpel. Hab viel Spaß, ja? Und pass auf, dass du bei den Sportturnieren nicht in die Loser-Mannschaft kommst, haha.«

»Tschüs, mein Wumpi«, sagte nun Torbens Mutter, der der Abschied sichtlich schwerfiel.

»Du sollst mich nicht immer Wumpi nennen«, maulte Torben.

»Entschuldige«, sagte seine Mutter. »Lass es dir gut gehen, Torben. Und ruf mal an, ja? Und …«

»Ooooooh! Anrufen. Tja …«, unterbrach sie eine der Kimonofrauen. »Neineinein. Das geht nicht. Wir haben Handyverbot im Camp.«

»Waaas?!«, rief Torben. »Nee! Ich brauch mein Handy! Da sind doch auch all meine Games drauf. Und ich muss doch die Bundesliga-Ergebnisse googeln und meine Schüler-VZ-Freundschaftsanfragen checken.«

»Sein Handy hat Internet«, erklärte Torbens Vater nicht ohne Stolz.

»Ist wurscht! Wir haben in dem Tal sowieso keinen … wie heißt das noch mal?«, fragte eine der Kimonoschwestern eine andere.

»Gabelstapler?«, schlug die vor.

»Was?«

»Na ja. Wir haben keinen Gabelstapler im Tal.«

»Ja. Das weiß ich. Aber das meine ich nicht.«

»Was sollen wir denn mit einem Gabelstapler?«, fragte die dritte Kimonofrau.

»Keine Ahnung«, sagte die andere. »Gar nichts. Deshalb haben wir ja auch keinen.«

»Unsere Kinder im Camp können ihre Gabeln auch allein stapeln«, erklärte Kimonofrau zwei Torbens völlig verwirrt dreinschauenden Eltern. »Das sind alles sehr clevere Kinder. Und wenn eines mal Probleme mit dem Gabelnstapeln hat, dann helfen ihm alle.«

»Wir halten nämlich alle zusammen bei Winning … äh Action Holidays, wissen Sie?«

»Empfang!«, rief plötzlich eine der Frauen. »Wir haben im Tal keinen Handyempfang! Das meinte ich!«

»Ja, stimmt«, bestätigte eine der anderen Kimonofrauen. »Wir haben da sowieso keinen Empfang.«

»Gib also deinen Eltern dein Handy«, forderte Kimonofrau drei Torben auf, »und dann ab in den Zug!«

Knurrend zog Torben sein teures Internethandy aus der Hosentasche und gab es seiner Mutter.

»Ist vielleicht sogar ganz gut, wenn du mal nicht ständig mit dem Ding hantierst«, sagte seine Mutter.

»Jaja«, maulte Torben. »Tschüs. Bis dann.«

Er schnappte sich die Reisetasche und bestieg den Zug. Er versuchte, so zu wirken, als wäre ihm alles egal. Als würde er mal eben locker wegfahren, ganz allein mit diesen komischen Frauen, und sich darüber überhaupt keine Gedanken machen. Als ob er garantiert kein Heimweh bekäme.

In Wirklichkeit aber war Torben ganz schön mulmig zumute.

»Pass gut auf dich auf!«, rief Torbens Mutter ihm nach.

»Machen Sie sich keine Sorgen«, lächelte eine Kimonofrau Torbens Eltern an. »Wir machen das schließlich zum ersten Mal!«

»Sie meinen, Sie machen das schließlich nicht zum ersten Mal«, korrigierte Torbens Vater sie.

»Nicht?«, wunderte sich die Frau.

»Was?«, fragte Torbens Vater.

»Doch«, strahlte die Kimonofrau. »Wir machen das zum ersten Mal. Ist das nicht aufregend?!«

Bevor Torbens erstaunte Eltern noch reagieren konnten, waren schon alle im Zug verschwunden.

»Tja«, sagte der Vater achselzuckend zu seiner Frau. »Na dann …«

»Ich weiß nicht«, seufzte die Mutter. »Mir ist gar nicht wohl bei der Sache. Am liebsten würde ich unseren Kleinen da wieder rausholen aus dem Zug.«

»Ach was«, sagte der Vater. »Unser Torben ist ein Kämpfer. Der beißt sich schon durch. Du kennst ihn doch.«

Er legte den Arm um seine Frau und gemeinsam gingen sie den Bahnsteig hinunter zum Ausgang.

Eine halbe Minute später stiegen die drei Kimonofrauen und der völlig verwirrte Torben wieder aus dem Zug.

»Hey«, wunderte sich Torben. »Warum müssen wir denn jetzt wieder raus?«

»Na, das ist doch wohl klar!«, sagte eine der Kimonofrauen und schaute Torben dabei an, als ob er ein bisschen blöd wäre. »Wenn wir dringeblieben wären, wäre der Zug ja mit uns losgefahren!«

»Ja und?« Torben kapierte überhaupt nichts mehr. »Wollen wir das denn nicht?«

»Aber nein!«, lachten die drei Kimonofrauen nun einhellig. »Warum sollten wir das denn wollen? Das ist ja eine verrückte Idee. Haha! Komm schon, Torben. Der Parkplatz ist dahinten.«

Torben latschte missmutig und ein wenig ängstlich neben den drei seltsamen Camp-Frauen durch die Bahnhofshalle und ging dann mit ihnen auf einen Parkplatz. Sofort sah er den grünen Kleinbus, auf dessen Seite mit goldener Glitzerschrift Action Winning Holidays stand.

Eine der Kimonofrauen öffnete die Tür und Torben kletterte in den Wagen. Dort saß bereits ein etwas jüngeres, dickliches Mädchen, das scheu zu Boden schaute.

»Hi!«, sagte Torben mit seiner coolsten Actionfilm-Heldenstimme.

»Hallo«, piepste das Mädchen und schaute zögernd auf.

»Ich bin Torben«, sagte er.

»Ich heiße Emma«, flüsterte Emma.

»Ach, wie goldig«, sagte eine der Kimonofrauen, die nun ebenfalls alle in den Wagen gestiegen waren. »Ihr habt schon Freundschaft geschlossen. Freundschaften sind ja so wichtig! Viel wichtiger zum Beispiel als Gabelstapler.«

Sie drehte den Zündschlüssel und fuhr los.

»Dann wollen wir mal das nächste Kind abholen«, sagte sie und strahlte über das ganze Gesicht.

»Wann kommen sie denn endlich? Wann kommen sie denn endlich? Wann kommen sie denn endlich?!?«

Nucki rannte aufgeregt durch die Wohnung. Sie war nicht zu bremsen. Sie konnte es einfach nicht mehr erwarten, bis endlich ihr Urlaub begann. Drei Wochen Traumferien mit Farm Holidays! Ferien in einem Bauernhof-Camp, voll mit Tieren!

Nucki mochte Tiere.

Nucki liebte Tiere.

Nein, mehr als das: Nucki war absolut verrückt nach Tieren!

Katzen, Hunde, Ponys, Pferde, Meerschweinchen, Hamster, Wellensittiche … Nucki liebte sie alle. Sie würde auch einen Schimpansen bei sich aufnehmen, einen Lurch unter ihrem Bett schlafen lassen und einem Pinguin ihre Badewanne überlassen, wenn man sie nur ließe. Doch in dem Hochhaus, in dem sie lebte, waren Haustiere leider verboten. Und ihre Mutter hatte obendrein eine so schlimme Tierhaarallergie, dass Nucki nicht mal fremde Hunde auf der Straße streicheln durfte, geschweige denn Reitstunden nehmen, wovon Nucki schon lange träumte. Allerdings hätte ihre Mutter, die Nucki und ihre große Schwester Sabrina allein aufzog, teure Reitstunden auch gar nicht bezahlen können.

Es war ein grausamer Zufall, dass ausgerechnet Nucki, die die vielleicht größte Tiernärrin der ganzen Stadt war, um alle Tiere, die ein Fell hatten, einen großen Bogen machen musste. Die Haare dieser Tiere würden sonst an ihrer Kleidung hängen bleiben und ihre Mama würde einen ihrer schlimmen Asthmaanfälle bekommen.

Kein Wunder also, dass Nucki vor Glück fast explodierte, als ihre Mutter ihr eines Tages erzählte, dass sie ihren Sommer inmitten von knuddeligen Viechern auf einem Bauernhof verbringen durfte.

Das Ferienangebot von Farm Holidays war so erstaunlich billig gewesen, dass Nuckis Mutter erst einen Haken an der Sache vermutet hatte. Doch da sie trotz gründlichen Studiums des Vertrages und Prospektes keinen Haken fand, hatte sie schließlich unterschrieben und so ihre achtjährige Tochter zum glücklichsten Kind der ganzen Welt gemacht.

Hunde!

Kühe!

Katzen!

Ziegen!

Nucki würde sie alle knuddeln bis zum Gehtnichtmehr! Schon lange hatte sie sich solch einen Urlaub gewünscht, während sie zentnerweise Ponyhof-Bücher gewälzt und ihr Katzenspiel auf dem Nintendo DS gedaddelt hatte. Und nun war es endlich so weit!

Am Ende des Urlaubs würde Nucki nicht gleich nach Hause fahren, sondern vorher noch einen Tag bei ihrer Oma verbringen. Dort würde sie gründlich duschen und mindestens dreimal die Haare waschen, bis auch garantiert das letzte Tierhaar aus ihren langen Haaren verschwunden war. Ihre Großmutter würde außerdem alle Klamotten, die Nucki mit im Urlaub hatte, in die Waschmaschine stecken.

Nucki würde so tierhaarfrei aus den Ferien zurückkommen, als hätte sie ihren Urlaub in der blitzblank geputzten Sanitärabteilung eines Baumarkts verbracht und nicht inmitten von fusseligen Lebewesen.

»Da!«, sagte nun Nuckis Mutter, die aus dem Fenster schaute. »Ich glaube, da sind sie.«

»Wo? Wo?!«, rief Nucki und kletterte eilig auf einen Stuhl, um ebenfalls aus dem Fenster nach unten auf die Straße zu blicken. Sie wohnten im dritten Stock, nicht allzu hoch. Also konnte Nucki die Schrift auf dem kleinen grünen Bus gut lesen, der gerade auf der Straße hielt. Die Schrift glitzerte golden, was Nucki toll fand. Action Winning Farm Holidays stand auf dem Auto. Das Wort Farm sah irgendwie so aus, als wäre es nachträglich dazwischengequetscht worden.

»Yippie!«, schrie Nucki, sprang vom Stuhl, rannte in den Flur und zog ihre Schuhe an.

»Wirst du auch kein Heimweh haben?«, fragte ihre Mutter.

»Quatsch!«, rief Nucki fröhlich. »Glaubst du, die lassen mich mal im Stall schlafen? Wäre das nicht toll: im Stall schlafen!«

Nuckis Mutter würde ihre fröhliche Tochter vermissen. Es war das erste Mal, dass ihr kleiner Schatz so lange nicht zu Hause war. Es würde schrecklich still sein in der Wohnung. Nuckis Schwester war bereits dreizehn Jahre alt und hing die ganze Zeit am Telefon oder chattete im Internet. Nucki dagegen würde nicht mal anrufen können, da im Camp von Farm Holiday striktes Handyverbot herrschte. Heimweh wird erfahrungsgemäß nur noch schlimmer, wenn die Kinder mit ihren Eltern reden, stand im Prospekt. Wir kümmern uns schon darum, dass Ihre lieben Kleinen glücklich sind und dass es ihnen an nichts fehlt. Echt wahr und ungelogen! Schließlich machen wir das nicht zum ersten Mal.

Nuckis Mutter hatte diesen Satz irgendwie seltsam gefunden. Er klang nicht wie ein Satz, der normalerweise in einem Prospekt steht. Obendrein war das Wort nicht nachträglich mit Kugelschreiber reingekritzelt worden. Eine merkwürdige Art, einen Tippfehler zu korrigieren. Doch es war der einzige Anbieter für Bauernhofurlaub, den sich Nuckis Mutter leisten konnte, und sie war fest entschlossen, ihrer kleinen Tochter endlich diesen Traum zu erfüllen.

Nuckis Mama zwang sich zu einem Lächeln, als sie ihre begeistert auf und ab hopsende Tochter umarmte.

»Sei schön artig«, sagte sie. »Und genieße deine Zeit. Ich hab dich ganz, ganz doll lieb, meine kleine Muckelmaus.«

»Ich dich auch, Mamabär«, sagte Nucki und drückte ihrer Mutter einen dicken Schmatzer auf die Wange.

In diesem Moment klingelte es an der Tür. Die Türklingel klingelte eigentlich nicht, sondern machte ihren blöden dröhnenden Möööööp-Ton, den sie immer machte. Aber für Nucki klang es diesmal, als würde eine Kuh muhen. Was für ein wunderbares Geräusch!

Hastig riss Nucki die Tür auf und musste laut lachen, als sie drei Frauen im Flur stehen sah, die alle absolut gleich aussahen. Drillinge! Das war ja lustig! Sie trugen bunte enge Kleider, wie sie die Frauen in Japan trugen. Und dazu hatten alle drei olivgrüne Gummistiefel an.

»Du musst Nucki sein«, sagte die eine Kimonofrau und beugte sich lächelnd zu ihr hinunter.

»Musst du Nucki sein oder willst du es auch sein?«, fragte die zweite.

»Hallo, Nuckis Mutter«, sagte die dritte und schnappte sich die Hand von Nuckis verblüfft dreinschauender Mutter und schüttelte sie herzlich.

»Wollen wir?«, fragte eine Kimonofrau, während sie sich den Koffer krallte, der bereits im Flur stand.

»Jawohl, ja«, sagte eine andere, nahm Nuckis Hand und ging mit ihr in den Flur.

»Machen Sie sich keine Sorgen, Nuckis Mutter«, sagte die andere Kimonofrau und ließ nun die Hand von Nuckis Mutter wieder los. »Alles wird gut!«

Und schon waren sie alle aus der Wohnung heraus und eilten die Treppe hinunter. Nucki drehte sich noch einmal um, winkte ihrer Mama und strahlte dabei über das ganze Gesicht.

»Tschüs, Mami!«, rief sie. »Tschüüüüüs!«

Nuckis Mutter winkte ihrer kleinen Tochter hinterher und ging dann ins Wohnzimmer. Sie sah durch das Fenster, wie Nucki lachend und hopsend auf den Kleinbus zueilte, die Tür öffnete und hineinkletterte. Darin saßen offenbar schon andere Kinder.

Sie sieht so glücklich aus, die Kleine!, dachte Nuckis Mutter und wischte sich dabei eine Träne aus dem Augenwinkel. Ihre Tochter fehlte ihr schon jetzt.

Kinder haben ja keine Ahnung, wie ungern Eltern sie in die Welt hinauslassen!