Titelseite

Vorwort

Märchen … seit Jacob Reckless durch die Tür meines Schreibhauses getreten ist, füllen sie dort immer mehr Regale. Antiquarische Ausgaben, die Elinor sehr gefallen würden, Märchen aus Spanien, aus der Schweiz, aus Frankreich, Märchen aus Russland, aus Japan, illustrierte Märchen, Kunstmärchen, Volksmärchen … sie stapeln sich wie die Bücher im Haus von Mo und Meggie, und die Stapel wachsen mit jedem neuen Tag. Jedes Land hat schließlich seine ganz eigenen Märchen. Mein Schreibhaus hallt wider von den verschiedensten Sprachen und Dialekten. Die Hexen in Galicien klingen so anders als die in Madrid …

Es kommt mir so vor, als erkundete ich unsere Welt auf dem Rücken eines fliegenden Teppichs … oder ist es ein fliegender Wolf aus einem russischen Märchen? Ich sammle erzählte Schätze, damit Jacob sie hinter dem Spiegel finden kann, und erforsche so beide Welten, unsere und die Spiegelwelt.

Jacob, wie hast du das angestellt?

Eigentlich mochte ich doch keine Märchen! Auch wenn ich früher stundenlang einer knackenden Langspielplatte lauschte, die mir von Hänsel und Gretel, Aschenputtel und Schneewittchen erzählte. Es ist eben schwer, sich dem rätselhaften Zauber von Märchen zu entziehen. Als deutsches Kind wuchs ich mit den Märchen der Brüder Grimm auf. Die harmlosen Disney-Versionen sah ich erst sehr viel später. Ich lag im Bett und schauderte, wenn ihre Worte mich mitnahmen in dunkle Wälder, wo hungrige Wölfe lauerten, zu bösen Stiefmüttern und Vätern, die ihre Kinder allein im Wald zurückließen. Meine warme Bettdecke machte den Schrecken von tiefen Brunnen und Lebkuchenhäusern gerade noch erträglich. Aber Kinder wollen Geschichten über die Grausamkeit der Welt hören. Denn sie wissen ganz genau, dass es sie gibt.

Was habe ich damals wohl gedacht, als ich zum ersten Mal der kinderfressenden Hexe begegnet bin oder den Tauben, die bösen Stiefschwestern die Augen aushacken? Bestimmt nicht, dass die Brüder Grimm eine fast vergessene Welt von früher in ihren Geschichten festhielten, die sich die Menschen an finsteren, fernsehlosen Abenden erzählten. Aber vielleicht hat es mich als Kind auch eher verzaubert, von einer Welt zu hören, in der die Natur noch so viel mehr Teil des Lebens war, der Tod allgegenwärtig und Tiere nicht nur Haustiere, sondern wild, weise und unberechenbar sein konnten.

Märchen sind wunderbare Zeitmaschinen. Wir reisen zurück in eine Welt, in der die Nächte noch nicht von elektrischem Licht erhellt waren, in der kalte Winter den Hunger brachten, in der Könige über arme Bauern herrschten, und Frauen in endlosen Stunden am Spinnrad davon träumten, statt Garn Gold zu spinnen.

Aber Märchen finden auch unvergessliche Bilder für all das, was das menschliche Leben zu allen Zeiten ausgemacht hat, und sie beschreiben uns Menschen so, wie wir wirklich sind: neidisch, gierig, furchtsam, dumm, grausam, rachsüchtig, aber auch heldenhaft, unschuldig, selbstlos, liebend, aufopfernd, erfindungsreich … All die Pracht und all die Finsternis des Lebens finden sich in Märchen, und in den letzten Jahren hat es mich endlos verzaubert, ihre Schätze neu zu entdecken und mit Jacobs Hilfe hinter dem Spiegel zu finden.

Der gläserne Schuh, Rapunzels Haar, ein Tischlein-Deck-Dich, Feen, Rumpelstilzchen, Blaubärte … sie alle wollte ich Wirklichkeit werden lassen und so greifbar machen, wie sie mir als Kind vorgekommen sind. Ich wollte mich mit meinen Lesern in dunklen Wäldern verlieren, sie an Flüsse führen, die noch keine befestigten Ufer haben, in verwunschene Schlosstürme hinaufsteigen und mit ihnen dort oben eine verlorene Welt ganz neu entdecken.

Natürlich musste ich mit zwei Brüdern auf die Reise gehen. Schließlich verdanken wir es auch zwei sehr ungewöhnlichen Brüdern, dass uns so viele Geschichten erhalten geblieben sind. Jacob und Wilhelm Grimm … unzertrennlich, ihr ganzes Leben lang. Die Brüder meiner Geschichte sind das ebenfalls, auch wenn sie sich nicht immer einig sind. Ich werde sie auf sehr unterschiedlichen Wegen durch die Märchenwelt schicken. Der eine wird Schätze suchen, der andere wird durch den Fluch einer Fee selbst Teil eines Märchens. Aber schließlich waren auch Jacob und Wilhelm Grimm sehr unterschiedliche Männer.

Die Märchen, die sie für uns aufgeschrieben haben, klingen hinter dem Spiegel natürlich etwas anders, schließlich sind sie dort nicht nur aus Worten gesponnen, sondern aus Gold und Silber, Fell, Fleisch und Blut. Manchmal sind sie gut versteckt (nicht jeder wird im Stilz das Rumpelstilzchen entdecken). Manchmal habe ich, wie bei Dornröschen, »was wäre, wenn …« gespielt oder aus einem harmlosen Schneiderlein den Schrecken des Schwarzen Waldes gemacht. Ich hoffe, das Entdecken und Vergleichen wird Ihnen und Euch ebenso viel Spaß machen wie mir das Schreiben. Wir haben zusätzlich einige meiner grimmschen Lieblingsmärchen aufgenommen, deren Schätze und Figuren sicher auch noch irgendwo hinter dem Spiegel verborgen sind. Vielleicht ermuntern sie ja dazu, die Geschichten auch mal etwas anders zu erzählen und weiterzudichten. Ich bin sicher, den Brüdern Grimm wäre das sehr recht. Denn sie selbst haben die Märchen, die sie sammelten, oft nach eigenem Geschmack verändert. Aber das ist wieder eine ganz andere Geschichte … Was immer der werte Leser an Schätzen zwischen diesen Seiten findet, sie sind hoffentlich ebenso nützlich und bereichernd wie die, die Jacob hinter dem Spiegel findet.

HÄNSEL UND GRETEL

Vor einem großen Walde wohnte ein armer Holzhacker mit seiner Frau und seinen zwei Kindern. Der Junge hieß Hänsel und das Mädchen Gretel. Er war so arm, dass er nicht das tägliche Brot für sie beschaffen konnte. Wie er sich nun abends im Bett Gedanken machte und sich vor Sorgen herumwälzte, seufzte er und sprach zu seiner Frau: »Was soll aus uns werden? Wie können wir die armen Kinder ernähren, da wir für uns selbst nichts mehr haben?«

»Weißt du was, Mann«, antwortete die Frau, »wir wollen morgen die Kinder hinaus in den Wald führen, wo er am dichtesten ist. Da machen wir ihnen ein Feuer an und geben jedem noch ein Stückchen Brot. Dann gehen wir an unsere Arbeit und lassen sie allein. Sie finden den Weg nicht wieder nach Haus und wir sind sie los.«

»Nein, Frau«, sagte der Mann, »das tue ich nicht; wie sollte ich’s übers Herz bringen, meine Kinder im Wald alleinzulassen, die wilden Tiere würden bald kommen und sie zerreißen.«

»O du Narr!«, sagte sie. »Dann müssen wir alle vier hungers sterben, du kannst nur die Bretter für die Särge hobeln«, und sie ließ ihm keine Ruhe, bis er einwilligte.

»Aber die armen Kinder dauern mich doch«, sagte der Mann.

Die zwei Kinder hatten vor Hunger auch nicht einschlafen können und hatten gehört, was die Stiefmutter zum Vater gesagt hatte. Gretel weinte bittere Tränen und sprach zu Hänsel: »Nun ist’s um uns geschehen.«

»Still, Gretel«, sprach Hänsel, »gräme dich nicht, ich will uns schon helfen.«

Als die Alten eingeschlafen waren, stand er auf, zog seine Jacke an, machte die Tür auf und schlich sich hinaus. Da schien der Mond ganz hell, und die weißen Kieselsteine, die vor dem Haus lagen, glänzten wie lauter Silber. Hänsel bückte sich und steckte so viele in seine Rocktasche wie nur hineinpassten. Dann ging er wieder zurück, sprach zu Gretel: »Sei getrost, liebes Schwesterchen, und schlaf nur ruhig ein. Gott wird uns nicht verlassen« und legte sich wieder in sein Bett. Als der Tag anbrach, noch ehe die Sonne aufgegangen war, kam schon die Frau und weckte die beiden Kinder.

»Steht auf, ihr Faulenzer, wir wollen in den Wald gehen und Holz holen.«

Dann gab sie jedem ein Stückchen Brot und sprach: »Da habt ihr etwas für den Mittag, aber esst’s nicht vorher auf, weiter kriegt ihr nichts.«

Gretel nahm das Brot unter die Schürze, weil Hänsel die Steine in der Tasche hatte. Danach machten sie sich alle zusammen auf den Weg in den Wald.

Als sie ein Weilchen gegangen waren, stand Hänsel still und guckte nach dem Haus zurück und tat das wieder und immer wieder. Der Vater sprach: »Hänsel, was guckst du da und bleibst zurück, hab Acht und vergiss deine Beine nicht.«

»Ach, Vater«, sagte Hänsel, »ich sehe nach meinem weißen Kätzchen, das sitzt oben auf dem Dach und will mir Ade sagen.«

Die Frau sprach: »Narr, das ist dein Kätzchen nicht, das ist die Morgensonne, die auf den Schornstein scheint.«

Hänsel aber hatte nicht nach dem Kätzchen gesehen, sondern immer einen von den blanken Kieselsteinen aus seiner Tasche auf den Weg geworfen. Als sie mitten in den Wald gekommen waren, sprach der Vater: »Nun sammelt Holz, ihr Kinder, ich will ein Feuer anmachen, damit ihr nicht friert.«

Hänsel und Gretel trugen Reisig zusammen, einen kleinen Berg hoch. Das Reisig wurde angezündet, und als die Flamme recht hoch brannte, sagte die Frau: »Nun legt euch ans Feuer, ihr Kinder, und ruht euch aus, wir gehen in den Wald und hauen Holz. Wenn wir fertig sind, kommen wir wieder und holen euch ab.«

Hänsel und Gretel saßen am Feuer, und als der Mittag kam, aß jedes sein Stückchen Brot. Und weil sie die Schläge der Holzaxt hörten, glaubten sie, ihr Vater wäre in der Nähe. Es war aber nicht die Axt, es war ein Ast, den er an einen dürren Baum gebunden hatte und den der Wind hin und her schlug. Und als sie so lange gesessen hatten, fielen ihnen die Augen vor Müdigkeit zu, und sie schliefen fest ein.

Als sie endlich erwachten, war es schon finstere Nacht. Gretel fing an, zu weinen und sprach: »Wie sollen wir nun aus dem Wald kommen?«

Hänsel aber tröstete sie: »Wart nur ein Weilchen, bis der Mond aufgegangen ist, dann wollen wir den Weg schon finden.«

Und als der volle Mond aufgestiegen war, nahm Hänsel sein Schwesterchen an der Hand und ging den Kieselsteinen nach, die wie Silber schimmerten und ihnen den Weg zeigten.

Sie gingen die ganze Nacht hindurch und kamen bei anbrechendem Tag wieder zu ihres Vaters Haus. Sie klopften an die Tür, und als die Frau aufmachte und sah, dass es Hänsel und Gretel waren, sprach sie: »Ihr bösen Kinder, was habt ihr so lange im Wald geschlafen, wir haben geglaubt, ihr wolltet gar nicht wiederkommen.«

Der Vater aber freute sich, denn es war ihm zu Herzen gegangen, dass er sie so allein zurückgelassen hatte.

Nicht lange danach war wieder Not in allen Ecken, und die Kinder hörten, wie die Mutter nachts im Bett zu dem Vater sprach: »Alles ist wieder aufgegessen, wir haben noch einen halben Laib Brot, mehr nicht. Die Kinder müssen fort, wir wollen sie tiefer in den Wald hineinführen, damit sie den Weg nicht wieder herausfinden. Es gibt sonst keine Rettung für uns.«

Dem Mann wurde das Herz schwer und er dachte: Es wäre besser, dass du den letzten Bissen mit deinen Kindern teiltest.

Aber die Frau hörte auf nichts, was er sagte, schalt ihn und machte ihm Vorwürfe. Wer A sagt, muss auch B sagen, und weil er das erste Mal nachgegeben hatte, so musste er es auch zum zweiten Mal.

Die Kinder waren aber noch wach und hatten das Gespräch mit angehört. Als die Alten schliefen, stand Hänsel wieder auf, wollte hinaus und Kieselsteine auflesen wie das vorige Mal. Aber die Frau hatte die Tür verschlossen und er konnte nicht hinaus.

Aber Hänsel tröstete sein Schwesterchen und sprach: »Weine nicht, Gretel, und schlaf nur ruhig, der liebe Gott wird uns schon helfen.«

Am frühen Morgen kam die Frau und holte die Kinder aus dem Bett. Sie erhielten ihr Stückchen Brot, das war aber noch kleiner als das vorige Mal. Auf dem Weg zum Wald zerbröckelte es Hänsel in der Tasche, stand oft still und warf ein Bröckchen auf die Erde.

»Hänsel, was stehst du da und guckst dich um«, sagte der Vater, »geh deiner Wege.«

»Ich sehe nach meinem Täubchen, das sitzt auf dem Dach und will mir Ade sagen«, antwortete Hänsel.

»Narr«, sagte die Frau, »das ist nicht dein Täubchen, das ist die Morgensonne, die auf den Schornstein oben scheint.«

Hänsel aber warf nach und nach alle Bröckchen auf den Weg.

Die Frau führte die Kinder noch tiefer in den Wald, wo sie noch nie gewesen waren. Da zündeten sie wieder ein großes Feuer an und die Mutter sagte: »Bleibt nur da sitzen, Kinder, und wenn ihr müde seid, könnt ihr ein wenig schlafen. Wir gehen in den Wald und hauen Holz und abends, wenn wir fertig sind, kommen wir und holen euch ab.« Als es Mittag war, teilte Gretel ihr Brot mit Hänsel, der sein Stück auf den Weg gestreut hatte. Dann schliefen sie ein und der Abend verging, aber niemand kam zu den armen Kindern.

Sie erwachten erst in der finsteren Nacht, und Hänsel tröstete sein Schwesterchen und sagte: »Wart nur, Gretel, bis der Mond aufgeht, dann werden wir die Brotbröckchen sehen, die ich ausgestreut habe, die zeigen uns den Weg nach Haus.«

Als der Mond kam, machten sie sich auf, aber sie fanden kein Bröckchen mehr, denn die vielen Vögel, die im Wald und im Feld umherfliegen, hatten sie weggepickt.

Hänsel sagte zu Gretel: »Wir werden den Weg schon finden«, aber sie fanden ihn nicht. Sie gingen die ganze Nacht und einen Tag von Morgen bis Abend, aber sie kamen aus dem Wald nicht heraus und waren so hungrig, denn sie hatten nichts als ein paar Beeren, die auf der Erde wuchsen.

Und weil sie so müde waren, dass die Beine sie nicht mehr tragen wollten, legten sie sich unter einen Baum und schliefen ein. Nun war’s schon der dritte Morgen, dass sie ihres Vaters Haus verlassen hatten. Sie fingen wieder an, zu gehen, aber sie gerieten immer tiefer in den Wald, und wenn nicht bald Hilfe kam, so mussten sie verhungern. Als es Mittag war, sahen sie ein schönes schneeweißes Vöglein auf einem Ast sitzen, das sang so schön, dass sie stehen blieben und ihm zuhörten. Und als es fertig war, schwang es seine Flügel und flog vor ihnen her, und sie gingen ihm nach, bis sie zu einem Häuschen kamen, auf dessen Dach es sich setzte. Als sie ganz nah herankamen, sahen sie, dass das Häuschen aus Brot gebaut war und mit Kuchen gedeckt; aber die Fenster waren von hellem Zucker.

»Da wollen wir uns dranmachen«, sprach Hänsel, »und eine gesegnete Mahlzeit halten. Ich will ein Stück vom Dach essen, Gretel, du kannst vom Fenster essen, das schmeckt süß.«

Hänsel reichte in die Höhe und brach sich ein wenig vom Dach ab, um zu versuchen, wie es schmeckte, und Gretel stellte sich an die Scheiben und knusperte daran. Da rief eine feine Stimme aus der Stube heraus:

»Knusper, knusper, knäuschen,

wer knuspert an meinem Häuschen?«

Die Kinder antworteten:

»Der Wind, der Wind,

das himmlische Kind«

und aßen weiter, ohne sich irremachen zu lassen. Hänsel, dem das Dach sehr gut schmeckte, riss sich ein großes Stück davon heraus, setzte sich nieder und ließ es sich gut schmecken, und Gretel stieß eine ganze runde Fensterscheibe heraus, setzte sich nieder und aß sie.

Da ging auf einmal die Tür auf, und eine steinalte Frau, die sich auf eine Krücke stützte, kam herausgeschlichen. Hänsel und Gretel erschraken so sehr, dass sie fallen ließen, was sie in den Händen hielten. Die Alte aber wackelte mit dem Kopf und sprach: »Ei, ihr lieben Kinder, wer hat euch hierher gebracht? Kommt nur herein und bleibt bei mir, es geschieht euch kein Leid.«

Sie fasste beide an der Hand und führte sie in ihr Häuschen. Da wurde gutes Essen aufgetragen, Milch und Pfannkuchen mit Zucker, Äpfel und Nüsse. Danach wurden zwei schöne Bettlein weiß gedeckt, und Hänsel und Gretel legten sich hinein und meinten, sie wären im Himmel.

Die Alte hatte sich aber nur so freundlich gestellt. Sie war eine böse Hexe, die den Kindern auflauerte, und sie hatte das Brothäuschen bloß gebaut, um sie herbeizulocken. Wenn ein Kind in ihre Gewalt kam, so machte sie es tot, kochte es und aß es, und das war ihr ein Festtag. Die Hexen haben rote Augen und können nicht weit sehen, aber sie haben eine feine Witterung wie Tiere und merken, wenn Menschen herankommen.

Als Hänsel und Gretel in ihre Nähe kamen, da lachte sie boshaft und sprach höhnisch: »Die habe ich, die sollen mir nicht wieder entwischen!«

Frühmorgens, ehe die Kinder erwacht waren, stand sie schon auf, und als sie beide so lieblich ruhen sah, mit den vollen roten Backen, so murmelte sie vor sich hin: »Das wird ein guter Bissen werden.«

Da packte sie Hänsel mit ihrer dürren Hand und trug ihn in einen kleinen Stall und sperrte ihn ein. Hänsel mochte schreien, wie er wollte, es half ihm nichts.

Dann ging sie zur Gretel, rüttelte sie wach und rief: »Steh auf, Faulenzerin, trag Wasser und koch deinem Bruder etwas Gutes. Der sitzt draußen im Stall und soll fett werden. Wenn er fett ist, so will ich ihn essen!«

Gretel fing an, bitterlich zu weinen. Aber es war alles vergeblich, sie musste tun, was die böse Hexe verlangte.

Nun wurde dem armen Hänsel das beste Essen gekocht, aber Gretel bekam nichts als Abfälle.

Jeden Morgen schlich die Alte zu dem Ställchen und rief: »Hänsel, streck deinen Finger heraus, damit ich fühle, ob du bald fett bist.«

Hänsel streckte ihr aber ein Knöchlein heraus, und die Alte, die trübe Augen hatte, konnte es nicht sehen und meinte, es wäre Hänsels Finger, und wunderte sich, dass er gar nicht fett werden wollte.

Als vier Wochen herum waren und Hänsel immer mager blieb, da wurde sie ungeduldig, und sie wollte nicht länger warten.

»Heda, Gretel«, rief sie dem Mädchen zu, »sei flink und trag Wasser! Hänsel mag fett oder mager sein, morgen will ich ihn schlachten und kochen!«

Ach, wie jammerte das arme Schwesterchen, als es das Wasser tragen musste, und wie flossen ihm die Tränen die Backen herunter!

»Lieber Gott, hilf uns doch!«, rief sie aus. »Hätten uns nur die wilden Tiere im Wald gefressen, so wären wir doch zusammen gestorben.«

»Spar nur dein Geplärre«, sagte die Alte, »es hilft dir alles nichts.«

Frühmorgens musste Gretel hinaus, den Kessel mit Wasser aufhängen und Feuer anzünden.

»Erst wollen wir backen«, sagte die Alte, »ich habe den Backofen schon eingeheizt und den Teig geknetet!«

Sie stieß die arme Gretel hinaus zu dem Backofen, aus dem die Flammen schon herausschlugen.

»Kriech hinein«, sagte die Hexe, »und sieh nach, ob gut eingeheizt ist, damit wir das Brot hineinschieben können.«

Und wenn Gretel drin war, wollte sie den Ofen zumachen, und Gretel sollte darin braten, und dann wollte die Hexe sie auch aufessen.

Aber Gretel merkte, was sie im Sinn hatte, und sprach: »Ich weiß nicht, wie ich’s machen soll. Wie komm ich da hinein?«

»Dumme Gans«, sagte die Alte, »die Öffnung ist groß genug, das siehst du wohl, ich könnte selbst hinein.«

Sie krabbelte heran und steckte den Kopf in den Backofen.

Da gab Gretel ihr einen Stoß, dass sie weit hineinfuhr, machte die eiserne Tür zu und schob den Riegel vor. Hu! Da fing sie an, zu heulen, ganz grauselig. Aber Gretel lief fort und die gottlose Hexe musste elendiglich verbrennen.

Gretel aber lief schnurstracks zu Hänsel, öffnete seinen Stall und rief: »Hänsel, wir sind erlöst, die alte Hexe ist tot!«

Da sprang Hänsel heraus wie ein Vogel aus dem Käfig, wenn ihm die Tür aufgemacht wird. Wie haben sie sich gefreut, sind sich um den Hals gefallen, sind herumgesprungen und haben sich geküsst! Und weil sie sich nicht mehr zu fürchten brauchten, gingen sie in das Haus der Hexe hinein.

Da standen in allen Ecken Kästen mit Perlen und Edelsteinen.

»Die sind noch besser als Kieselsteine«, sagte Hänsel und steckte in seine Taschen, was nur hineinpasste, und Gretel sagte: »Ich will auch etwas mit nach Hause bringen« und füllte sich die Schürze voll.

»Aber jetzt wollen wir fort«, sagte Hänsel, »damit wir aus dem Hexenwald herauskommen.«

Als sie ein paar Stunden gegangen waren, gelangten sie an ein großes Wasser.

»Wir können nicht hinüber«, sprach Hänsel, »ich seh keinen Steg und keine Brücke.«

»Hier fährt auch kein Schiff«, antwortete Gretel, »aber da schwimmt eine weiße Ente, wenn ich die bitte, so hilft sie uns hinüber.« Da riefen sie:

»Entchen, Entchen,

da steht Gretel und Hänsel.

Kein Steg und keine Brücke,

nimm uns auf deinen weißen Rücken.«

Das Entchen kam auch heran, und Hänsel setzte sich auf und bat sein Schwesterchen, sich zu ihm zu setzen.

»Nein«, antwortete Gretel, »es wird dem Entchen zu schwer, es soll uns nacheinander hinüberbringen.«

Das tat das gute Tier, und als sie glücklich drüben waren und ein Weilchen fortgingen, da kam ihnen der Wald immer bekannter vor, und endlich erblickten sie von Weitem ihres Vaters Haus. Da fingen sie an, zu laufen, stürzten in die Stube hinein und fielen ihrem Vater um den Hals.

Der Mann hatte keine frohe Stunde gehabt, seitdem er die Kinder im Wald gelassen hatte, die Frau aber war gestorben.

Gretel schüttete ihre Schürze aus, dass die Perlen und Edelsteine in der Stube herumsprangen, und Hänsel warf eine Handvoll nach der anderen aus seiner Tasche dazu. Da hatten alle Sorgen ein Ende und sie lebten in lauter Freude zusammen.

Mein Märchen ist aus, dort läuft eine Maus, wer sie fängt, darf sich eine große, große Pelzkappe daraus machen.

Knusper, Knusper, Knäuschen

Meine Großmutter (mütterlicherseits) besaß ein Wunderding von einem Hexenhaus. Aus Sperrholz gebaut, mit Buntpapier in den Fenstern und Watte im Schornstein. Jedes Jahr zu Weihnachten wurde es mit Süßigkeiten beklebt, bis der Zuckerguss, den wir dafür verwandten, es wie Schnee bedeckte. Vor der Tür wartete die Hexe, manchmal aus Plastik, manchmal aus Marzipan, mit einer schwarzen Katze auf der Schulter, und vor ihr standen Hänsel und Gretel. Knusper, knusper, knäuschen … Ich glaube, ich habe dabei als Kind immer eher an die Weingummis und Schokoladenlinsen gedacht, die ich mit einem stumpfen Buttermesser vom Sperrholzdach stemmen durfte, als an den Ofen und den Käfig. Umso größer war das Vergnügen, das grausige Häuschen für Jacob wachsen zu lassen und betretbar zu machen.

Ich habe in meinem Leben zu viel über Hexen gelernt, um nur die böse Knusperhexe hinter dem Spiegel lebendig werden zu lassen. (Einer meiner Spitznamen war und ist Bruja oder Hexe.) Aber natürlich musste sie vorkommen, also gibt es in der Spiegelwelt Kinderfresserinnen und Heilerinnen. Im zweiten Buch begegnet man beiden. Hänsel und Gretel ist ein gutes Beispiel dafür, wie finster es in Märchen zugeht. Eltern, die ihre Kinder im Wald aussetzen, die böse Mutter (oder Stiefmutter – für viele Märchenforscher ist das dasselbe), der Hunger, der alltägliche Realität war (wie er es auch heute noch in großen Teilen unserer Welt ist), und die Menschenfresserinnen. Von ihnen wimmelt es in Märchen: Menschenfresser, menschenfressende Wölfe … dass wir ebenso zur Mahlzeit werden können wie die Tiere, die wir verspeisen, ist in Märchen noch eine selbstverständliche Wahrheit und wird als eine der ganz großen Ängste deutlich spürbar.

Die andere Angst, die auch im Wald von Hänsel und Gretel lauert, ist die Furcht, von den Menschen, die wir lieben und auf die wir bauen, verraten und im Stich gelassen zu werden.

Märchen finden gewaltige und unvergessliche Bilder für unsere Ängste. Vermutlich sind sie deshalb so unauslöschlich in unseren Köpfen und Herzen verankert.

Knusper, knusper, knäuschen, wer knuspert an meinem Häuschen? Der Wind, der Wind, das himmlische Kind …

ROTKÄPPCHEN

Es war einmal ein kleines liebes Mädchen, das hatte jeder gern, der es nur ansah. Am allerliebsten aber hatte es seine Großmutter, die wusste gar nicht, was sie dem Kind alles geben sollte. Einmal schenkte sie ihm ein Käppchen aus rotem Samt, und weil ihm das so gut stand und es nichts anderes mehr tragen wollte, hieß das Mädchen nur noch Rotkäppchen.

Eines Tages sagte seine Mutter zu ihm: »Komm, Rotkäppchen, da hast du ein Stück Kuchen und eine Flasche Wein, bring das der Großmutter. Sie ist krank und schwach und es wird ihr guttun. Mach dich auf, bevor es heiß wird, und wenn du hinauskommst, so geh nicht vom Weg ab, sonst fällst du und zerbrichst das Glas, und die Großmutter hat nichts. Und wenn du in ihre Stube kommst, so vergiss nicht, Guten Morgen zu sagen, und guck nicht erst in allen Ecken herum.«

»Ich will schon alles gut machen«, sagte Rotkäppchen zur Mutter. Die Großmutter wohnte draußen im Wald, eine halbe Stunde vom Dorf entfernt. Als nun Rotkäppchen in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf. Rotkäppchen aber wusste nicht, was das für ein böses Tier war, und fürchtete sich nicht vor ihm.

»Guten Tag, Rotkäppchen«, sprach er.

»Guten Tag, Wolf.«

»Wohin so früh, Rotkäppchen?«, fragte er.

»Zur Großmutter.«

»Was trägst du da?«

»Kuchen und Wein. Gestern haben wir gebacken, damit soll sich die kranke und schwache Großmutter stärken.«

»Rotkäppchen, wo wohnt deine Großmutter?«

»Noch eine gute Viertelstunde weiter im Wald, unter den drei großen Eichbäumen, da steht ihr Haus. Unten sind die Nusshecken, das wirst du ja wissen«, sagte Rotkäppchen.

Der Wolf dachte: Das junge zarte Ding, das ist ein fetter Bissen, der wird noch besser schmecken als die Alte. Ich muss es listig anfangen, damit ich beide schnappe. Er ging ein Weilchen neben Rotkäppchen her, dann sagte er: »Rotkäppchen, sieh einmal die schönen Blumen, die überall stehen, warum guckst du dich nicht um? Ich glaube, du hörst gar nicht, wie lieblich die Vögel singen? Du gehst ja so dahin, als wenn du zur Schule gingest, und es ist so lustig draußen im Wald.«

Rotkäppchen schlug die Augen auf, und als es sah, wie die Sonnenstrahlen durch die Bäume hin und her tanzten und alles voll schöner Blumen stand, dachte es: Wenn ich der Großmutter einen frischen Strauß mitbringe, wird es ihr Freude machen. Es ist so früh am Tag, dass ich doch noch zur rechten Zeit komme. Es lief vom Weg ab in den Wald hinein und suchte Blumen. Und wenn es eine Blume gepflückt hatte, meinte es, weiter weg stände eine noch schönere, und so geriet es immer tiefer in den Wald hinein. Der Wolf aber ging geradewegs zu dem Haus der Großmutter und klopfte an die Tür.

»Wer ist draußen?«

»Rotkäppchen. Ich bringe dir Kuchen und Wein, mach auf.«

»Drück nur auf die Klinke«, rief die Großmutter, »ich bin zu schwach und kann nicht aufstehen.«

Der Wolf drückte auf die Klinke, die Tür sprang auf, und er ging, ohne ein Wort zu sprechen, zum Bett der Großmutter und verschluckte sie. Dann zog er ihre Kleider an, setzte ihre Haube auf, legte sich in ihr Bett und zog die Vorhänge zu.

Rotkäppchen aber hatte noch lange Blumen gepflückt. Als es so viele waren, dass es keine mehr tragen konnte, fiel ihm die Großmutter wieder ein, und es machte sich auf den Weg zu ihr. Rotkäppchen wunderte sich, dass die Tür offen stand. Und als es in die Stube trat, kam ihm alles so seltsam darin vor, dass es dachte: Ei, du mein Gott, wie ängstlich wird mir’s heut zumute, und ich bin doch sonst so gern bei Großmutter!

Es rief: »Guten Morgen!«

Es bekam aber keine Antwort. Darauf ging Rotkäppchen zum Bett und zog die Vorhänge zurück. Da lag die Großmutter und hatte die Haube tief im Gesicht und sah so merkwürdig aus.

»Ei, Großmutter, was hast du für große Ohren!«

»Damit ich dich besser hören kann.«

»Ei, Großmutter, was hast du für große Augen!«

»Damit ich dich besser sehen kann.«

»Ei, Großmutter, was hast du für große Hände!«

»Damit ich dich besser packen kann.«

»Aber, Großmutter, was hast du für ein entsetzlich großes Maul!«

»Damit ich dich besser fressen kann.«

Kaum hatte der Wolf das gesagt, sprang er aus dem Bett und verschlang das arme Rotkäppchen.

Als der Wolf nun seinen Hunger gestillt hatte, legte er sich wieder ins Bett, schlief ein und fing an, laut zu schnarchen.