Benjamin Cors

Strandgut

Kriminalroman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Benjamin Cors

Benjamin Cors ist politischer Fernsehjournalist und hat viele Jahre für die ARD Tagesschau, die ARD Tagesthemen und den Weltspiegel berichtet. Heute arbeitet er als landespolitischer Korrespondent für den SWR. Er ist Deutsch-Franzose und hat die Sommer seiner Kindheit in der Normandie verbracht.

Über das Buch

»Gut, dann haben wir jetzt einen durchgeknallten Bodyguard, der Leichenteile als Geschenk mitbringt und ganz offensichtlich überhaupt keine Lust hat, hier zu sein. Habe ich das so richtig zusammengefasst?«

»Bis auf den Begriff Bodyguard, ja.«

 

Ein unverzeihlicher Fehler vor den Augen der Weltöffentlichkeit: Versehentlich schlägt der junge Personenschützer Nicolas Guerlain seine eigene Schutzperson nieder, einen Minister der französischen Regierung. Seine Karriere ist ruiniert — Nicolas wird in seine alte Heimat, den Badeort Deauville in der Normandie, strafversetzt. Dort soll er die örtliche Polizei im Vorfeld des bevorstehenden internationalen Gipfels beraten. Auch wenn er von den neuen Kollegen nicht gerade mit offenen Armen empfangen wird, scheint dies doch eine der leichteren Übungen für Nicolas zu werden. Bis sich plötzlich der Verdacht eines auf den Gipfel geplanten Anschlags erhärtet ... Dann wird auch noch eine abgetrennte Hand an den Strand gespült — direkt vor Nicolas' Füße.

Impressum

Ungekürzte Ausgabe 2016

© 2015 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel/punchdesign, München

 

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eBook-Herstellung im Verlag (02)

 

eBook ISBN 978-3-42685-5 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21632-6

 

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ISBN (epub) 9783423426855

 

 

 

 

 

 

 

Es ist ein wenig enttäuschend,
Deauville ohne Trintignant

 

Vincent Delerm, 2002

Ebbe

 

Im Herbst 1967

Antoine Bazin war ein gewissenhafter Mensch. Er war nie voreilig, stets dachte er zuerst nach, bevor er handelte. Weil dies oft eine gewisse Zeit in Anspruch nahm, galt Bazin bei den wenigen Menschen, die ihn wirklich kannten, nicht unbedingt als besonders schnell. Aber eben als sehr gewissenhaft, und er selbst fand, dass dies wesentlich wichtiger war. Denn eine schnelle Entscheidung war selten die richtige. Eine gewissenhafte Entscheidung blieb hingegen, ob richtig oder falsch, doch immer gewissenhaft. So sah er das.

Und daher war er verblüfft, wie sehr er an jenem Abend von sich selbst überrumpelt wurde. Nach mehr als zehn Jahren als Croupier im Casino von Deauville traf er eine Entscheidung, die nicht nur schnell war, sondern auch grundlegend falsch. Und eben überhaupt nicht gewissenhaft. Aber als er das bemerkte, war es bereits zu spät, und am Ende der Nacht war Antoine Bazin tot.

 

Der Mann kam gegen dreiundzwanzig Uhr an seinen Tisch. Er war nicht sehr groß, eher jung als alt, was aber aufgrund seines etwas gedrungenen Körpers schwer einzuschätzen war. Bazin hatte das unbestimmte Gefühl, ihn schon einmal gesehen zu haben. Zwei andere Croupiers saßen mit ihm am Tisch, und

Er hätte wissen müssen, dass sein Fehler nicht unbemerkt blieb. Mit Bécaud war nicht zu spaßen, das galt für Spieler wie für Croupiers.

Bazin hatte dem Mann, der jetzt zwei Stühle neben ihm einen frei gewordenen Platz einnahm, zuerst auf die Hände geschaut. Das tat er immer bei einem neuen Spieler, und aus dem Augenwinkel konnte er sehen, wie die anderen Croupiers den Neuen ebenfalls musterten. Oben auf seinem Sitz beobachtete auch Bécaud in diesem Moment misstrauisch jede Bewegung des Gastes. Der Croupier aber, der dem neuen Spieler am nächsten saß, war nun mal er, Bazin. Erst im Laufe der Nacht würde ihm klar werden, dass der Fehler, den er gemacht hatte, bereits zu diesem frühen Zeitpunkt unvermeidlich gewesen war.

Bazins Tisch stand im linken Teil des großen Saals. Das Licht der Kronleuchter spiegelte sich auf den Gläsern und Zigarettenetuis der acht Spieler und wurde von dort auf den Roulettetisch geworfen. Ein stetes Murmeln schob sich durch den Raum, begleitet vom feinen Klicken der Kugel, die erst zögernd, dann zielsicher auf der 24 landete, gefolgt von den kurzen und präzisen Ansagen des Croupiers.

»24, schwarz, Pair und Passe, gerade und in der zweiten Hälfte des Tisches. Mittleres Dutzend.«

Ein Schieber glitt über den Filz und sammelte die Einsätze ein, während gleichzeitig die Gewinne in fließenden Bewegungen ausgeteilt wurden. Kein Jeton gelangte an eine falsche Stelle.

Die Hände des Mannes lagen auf dem Tisch wie zwei Stücke totes Fleisch.

Hände, die sich wenig bewegten, waren schwer zu lesen.

Und er gab es aus den Händen, jedes Mal.

Aber immerhin, er räumte auf, das gefiel ihm. Nur wenn jemand diese Aufräumarbeiten behinderte, sie ins Stocken gerieten, brachte ihn das aus der Ruhe. Und genau das geschah gegen dreiundzwanzig Uhr, als jener Mann sich an seinen Tisch setzte, beim Kellner einen Wodka bestellte und seine toten Hände auf den grünen Filz legte. Antoine Bazin gab ihm den Namen Schnitzel.

 

Er hasste Unordnung.

Sie verursachte Schmerzen am ganzen Körper, sie ließ ihn

Keine Unordnung.

Erst recht nicht, wenn es um Geld ging.

Unter all den Unmöglichkeiten, die das Leben ihm aufbürden konnte, war demzufolge ein unsortierter Haufen Jetons die größte aller denkbaren Katastrophen. Bazin musste sich zwingen, nicht über den Tisch zu greifen, um die Jetons zu ordnen. Immerhin lag dort ein beträchtlicher Wert, einschließlich mehrerer eckiger blauer Jetons. Das Schnitzel musste zuvor an einem anderen Tisch groß abgeräumt haben.

Bazin schwitzte. Er dachte an die Baustelle in seiner Straße, sein Bus hatte einen Umweg fahren müssen, und er war heute Morgen von der falschen Seite nach Hause gekommen. Links war rechts.

Unordnung. Er hätte ahnen müssen, dass dieser Tag kein guter werden würde.

Die Hände des Mannes waren grobschlächtig, sie sahen aus wie das ausgefranste Ende seiner mittlerweile erkalteten

»Faites vos jeux.«

 

Der Fehler geschah etwa zwei Stunden später. Aus dem Hügel war ein Berg geworden, und Bazin verabschiedete jeden Jeton, den er in Richtung des Mannes werfen musste, mit einem mitleidigen »Au revoir«.

Seine Schicht würde in dreißig Minuten enden.

9, rot, Impair. Manque, dritte Kolonne.

Ein selbstgefälliges Schnaufen von links, und Bazin wusste, wohin er gleich wieder sehr viel Geld würde schieben müssen. Das Schnitzel leerte mit einem Grinsen sein viertes Glas Wodka und wartete auf die Jetons. Er hatte eine Transversale gesetzt, auf 7, 8 und 9. Quote 11:1. Und obwohl Bazin ihm den Stapel fein geordnet hinüberschob, ließ der Mann die Jetons einzeln auf den Haufen fallen. Schließlich schob er seinen Stuhl nach hinten, stand auf und warf Bazin, ohne ihn dabei anzusehen, einen großen blauen Jeton zu. Dann blickte er auf die Uhr und murmelte: »Müsste längst fertig sein, die Schlampe.«

Er war mittlerweile sichtlich angetrunken.

In einer geschmeidigen Bewegung, die man nach mehr als zehn Jahren am Tisch beherrschen musste, hatte Bazin den Jeton mit der rechten Hand aufgegriffen, schob ihn über den Filz in seine linke Hand und ließ ihn von dort in einen für das Trinkgeld vorgesehenen Schlitz in der Tischplatte verschwinden. Er nickte dem Mann zu, der sich aber bereits abgewandt hatte.

Da war er. Der Fehler.

Antoine Bazin hatte an diese Hände denken müssen, an den unsortierten Haufen vor seinen Augen und an sein eigenes Leben, das ohne jede Ordnung wäre, wenn seine Mutter einmal

Das schimmernde blaue Rechteck lag noch immer unter seiner linken Handfläche. Ein kleiner runder Jeton war dafür ungesehen im Schlitz verschwunden. Als er kurz darauf von einem anderen Croupier abgelöst wurde, bemerkte er, dass der Stuhl von Bécaud leer war.

 

Wenig später verließ Antoine Bazin das Casino durch den Personaleingang, draußen regnete es leicht, und die Straßenlaternen standen mit gesenkten Köpfen auf dem Pont des Belges. Ihr mattes Licht reichte kaum hinab zu den dunklen Wassern der Touques. Anfangs ging er noch etwas zaghaft, dann jedoch mit festem und zielgerichtetem Schritt hinüber auf die andere Seite des Flusses, der nicht weit von hier ins Meer mündete. Die Straßen waren menschenleer, der Wind trieb den Nebel von der Mündung herein, vorbei an den Platanen und den Fischerbooten, die an Seilen befestigt auf die Flut warteten. Eine Möwe schaukelte schlafend in der Mitte des Flusses, und Bazin überlegte kurz, ob er nicht doch lieber den Nachtbus nach Blonville hätte nehmen sollen. Linie sieben. Rot, ungerade, in der ersten Hälfte. Erste Kolonne. Aber dann dachte er an das ausgefranste Ende einer erkalteten Zigarre, an fleischige Hände, die ein Wodkaglas erwürgten, und an das Bündel Geld in der Innentasche seines eigenen billigen Mantels.

Bazin hatte die Entscheidung, hinüber nach Trouville zu laufen, sorgsam getroffen. Er hatte sich den blauen Jeton verdient, weil er den Anblick des Mannes ertragen hatte. Ein Stammkunde hatte sich für ihn den Jeton an der Kasse auszahlen lassen. Der Mann war eine treue Seele und ihm außerdem etwas

Er bog rechts ein in die Avenue du Président, ein Wagen tastete sich an ihm vorbei durch die Nacht. Er würde nach Janine fragen. Janine war jünger als er, aber nicht zu jung. Sie roch angeblich gut, sein Bruder war Stammkunde im »Kakadu« und hatte von ihr erzählt. Antoine Bazin war nirgendwo Stammkunde, außer im Zimmer seiner Mutter, die er tagsüber pflegte.

Er würde Janine bestimmt mögen, hatte sein Bruder gemeint und dabei höhnisch gelacht. Rote Haare, weiße Haut. Sollte Janine nicht da sein, würde er wieder gehen. Das hatte er mit sich selbst beim Verlassen des Casinos vereinbart. Sie befand sich nach Angaben seines Bruders altersmäßig ungefähr in der Mitte des dritten Dutzend. Vielleicht zweiunddreißig, Pair und Passe. Quote 35:1. Der nächste Bus nach Blonville fuhr in einer halben Stunde. Noch konnte er ihn erreichen.

 

Als Bazin hinter sich Schritte hörte, blieb er stehen.

Die Touques gluckste zufrieden unterhalb der Brüstung. Der Nebel hatte sich mittlerweile bis auf Höhe des Kopfbahnhofes vorgeschoben, der auf der anderen Seite des Flusses kaum noch zu erkennen war. Er starrte in die Dunkelheit, konnte aber nichts sehen. Dabei hätte er schwören können, dass da Schritte waren. Weiter vorne erahnte er in einiger Entfernung das flackernde Licht über dem Eingang des »Kakadu«. Vor dem Haus konnte er eine Silhouette erkennen. Er räusperte sich, um die Stille zu vertreiben.

Als er sich umdrehte, sah er aber wieder nur die Schatten der Häuser und in der Ferne das schwankende Signallicht eines

»Bazin, behalte deine Finger in der Nähe meiner Augen, dann werden wir beide die besten Freunde«, raunte er ihm immer wieder zu.

Ein blauer Jeton unter der Hand. Ein runder Jeton im Schlitz. Er drehte sich um und ging hastig in Richtung des Lichts, die Nacht verschluckte das Echo seiner Schritte.

Die Silhouette blickte ihn höhnisch an.

»Da hat es aber jemand eilig! Lange nicht mehr zum Zug gekommen, was?« Der Mann schnippte Asche von seiner Jacke. Er stand auf der obersten Stufe, direkt vor dem Eingang, und blickte auf Bazin herab.

»Guten Abend, ich möchte gerne …«

»Schon klar, was du willst. Aber so läuft das hier nicht. Warum sollte ich dich reinlassen?«

Bazin stammelte etwas, er fühlte sich unwohl. Er dachte an Janine. Eine andere wollte er nicht. Der Mann war größer als er, ein gewaltiger Brustkorb zeichnete sich unter der Sportjacke ab. Sein kahlrasierter Kopf glänzte im roten Neonlicht. Er grinste wie das Schnitzel, das soeben mit einer Transversale viel Geld gewonnen hatte.

»Ich kann bezahlen …« Bazin ahnte, dass er das nicht hätte sagen sollen, aber er fror, und der Nebel umhüllte ihn von allen Seiten.

»So, so, der Herr kann bezahlen. Beim Roulette gewonnen, oder was?«

»Ah, das nenne ich mal ein gutes Argument!« Der Mann in der Sportjacke schob sich zur Seite und schlug Bazin lachend auf die Schulter. »Willkommen im ›Kakadu‹, das warme Zuhause für Gewinner und solche, die es gerne wären!« Ein schallendes Lachen begleitete Bazin nach drinnen.

Er nahm den Hut ab und öffnete den schweren Samtvorhang.

 

Janine hieß in Wirklichkeit Isabelle, und ihre echten Haare waren nicht rot, sondern durchzogen von einer aschblonden Müdigkeit. Die Arbeit im »Kakadu« hatte ihre Haut fahl werden lassen, um ihre Augen zeichneten sich die langen Nächte ab. Mittlerweile brauchte sie zwischen zwei Kunden ein paar Minuten länger, um sich aufzuhübschen. Es war daher nicht gerade von Vorteil, dass ihr Gast in ihrem Arm eingeschlafen war. In zwanzig Minuten würde Bruno an die Tür klopfen und sie auffordern, nicht herumzutrödeln.

Sie flüsterte leise Bazins Namen, es war an der Zeit. Außerdem wollte sie sich auf gar keinen Fall dem Gedanken hingeben, wie es wäre, in einem normalen Bett, einem normalen Zimmer, einem normalen Leben. Sie nahm einen Schluck Weißwein, der auf dem Nachttisch stand. Er ist nett, dachte sie. Ein netter, unscheinbarer Mann.

»Allez, Antoine, wachen Sie auf!«

Bazin murmelte etwas, drehte sich schlaftrunken um und griff nach einem Kissen. Janine kniff ihn in die Seite und blickte auf die Uhr. Noch zehn Minuten, verdammt.

»Raus jetzt, Bruno wird stinksauer, wenn ich nicht gleich wieder bereit bin!« Hastig begann sie, sich anzuziehen.

»Los! Hören Sie!«

»Ich habe das Doppelte bezahlt. Wir haben Zeit.« Bazin setzte sich jetzt mühsam auf, tastete nach seiner Brille und lächelte sie verlegen an. »Ich dachte, vielleicht … Also, wir könnten doch einfach liegen bleiben, oder?«

»Sie haben das Doppelte gezahlt? Warum haben Sie das nicht vorher gesagt, ich hätte Ihnen …«

»Nein, nein …«, stotterte er. »Ich wollte nur die Zeit. Einfach nur … die Zeit.«

Sie setzte sich wieder auf die Bettkante und blickte ihn unschlüssig an. Draußen flackerte die Neonanzeige und warf rote Linien auf ihr Gesicht.

»Was meinen Sie mit Zeit?«

»Wir haben noch genau zwei Stunden«, sagte Bazin und dachte an schwarz, Pair, Manque. Gewinnchance 2:1, er und sie. Und an diesen Bruno, der hinter der Bar gestanden und nach seinem Geld gegrabscht hatte. Er stand auf und zog sich an, um ihr zu zeigen, dass er sie nicht nackt wollte. Er hasste seinen schlaffen Körper und fühlte sich angezogen deutlich wohler.

»Und was machen wir jetzt, reden? Karten spielen?« Janine war immer noch verblüfft.

»Was du willst.«

Zwei Stunden. Sie zündete sich eine Zigarette an und ging ans Fenster. Der Nebel war noch dichter geworden, aber es wurde allmählich heller. Der Tag würde bald beginnen, und sie konnte mit einiger Mühe die Umrisse eines kleinen Fischkutters erkennen, der seinen Bug langsam Richtung Flussmündung drehte. Sie öffnete das Fenster einen kleinen Spalt.

Bazin hatte mittlerweile seine Hose und sein Hemd angezogen und setzte sich auf den roten Plüschsessel in der Ecke.

Als er die Augen öffnete, kniete Janine direkt vor ihm. Er merkte, dass sie zitterte.

»Antoine. Sie müssen mir einen Gefallen tun.«

 

Als er das nächste Mal auf die Uhr blickte, blieben ihnen noch siebzehn Minuten. Schwarz. Ungerade. Fast in der Mitte des Tisches, am schwersten mit dem Schieber zu erreichen. Die 17 war keine gute Zahl, aber das war egal, denn dies war ein guter Moment.

Er spürte Janines warme Finger in seiner Hand und einen leichten Salzgeschmack auf den Lippen. Er hörte die Möwen hoch über ihnen und das leise Tuckern eines Bootes, das sich aus dem Hafen hinausschob auf die offene See. Er konnte den Sand zwischen den Zehen spüren und die aufsteigende Unruhe in seinem Innern. Siebzehn Minuten, das war nicht viel. Das Meer lag flach vor ihnen, wie der Spiegel über einem Tisch hinter einem gelben Paravent. Der Horizont hatte sich aufgelöst.

Sie waren durch den Hinterausgang des »Kakadu« geschlichen, wie zwei Diebe in der Nacht. Mit klopfendem Herzen hatte Bazin sie bei der Hand genommen und war mitten hineingelaufen in den Nebel. Die ersten Seeleute waren in den Straßen zu sehen, auf dem Weg zum Hafen. Die Flut kam mit

Meine Dame, dachte Bazin.

»Lassen Sie uns an den Strand gehen«, hatte Janine ihm in ihrem Zimmer zugeflüstert, ihr Atem ging schnell. »Ist es ruhig dort, jetzt um diese Zeit?«, hatte sie gefragt und ihn mit großen Augen angesehen.

»Janine, du weißt, dass du nicht raus …«

»Bitte! Ich will das Meer sehen. Und die Stille.«

Im engen, muffigen Zimmer des »Kakadu« hatte er es noch als seltsam empfunden, dass sie meinte, Stille hören zu können. Hier draußen am Strand verstand er es.

Bruno durfte sie auf keinen Fall sehen, Janine hatte panische Angst vor ihm. Aber offenbar war ihre Sehnsucht nach dem Meer größer.

»Er bringt uns um, wenn er erfährt, dass ich mit Ihnen abgehauen bin«, hatte sie geflüstert, während sie die Treppen hinabstiegen. Seltsamerweise dachte Bazin, dass ihm das egal war. Er hatte nichts zu verlieren in dieser Nacht.

Er hatte das Licht ausgemacht, als sie Janines Zimmer verließen, er machte immer das Licht aus, wenn er einen Raum verließ. Antoine Bazin war gewissenhaft. Dass ein dunkles Zimmer Verdacht erregen konnte, daran hatte er nicht gedacht.

Der Nebel hatte sich etwas gelichtet, als sie in Deauville die Rue Mirabeau entlangliefen. Hinter ihnen entstand noch etwas zögerlich das erste Licht des Tages. Von Bruno keine Spur, offenbar hatte keiner ihren kleinen Ausbruch bemerkt.

 

Und jetzt blieben ihnen nur noch vierzehn Minuten. Pair, Manque, zweites Dutzend. Sie würden rennen müssen, wieder

Sie hatten die hölzernen Planches von Deauville überquert, die berühmte Strandpromenade mit den grünen Türen, und die Schuhe ausgezogen, als sie den Sand erreichten. Janine hatte seine Hand fest umklammert und angefangen zu weinen. Er wusste nicht warum, aber er wollte vor allem, dass sie seine Hand nicht losließ.

Das Wasser hatte sich aus der Dunkelheit herausgeschält. Ein grauer Vorhang, der sich langsam hob. Bazin schaute auf die Uhr. Er räusperte sich leise.

»Janine, wir müssen zurück.«

Sie drehte den Kopf und schaute ihn an. Dann wischte sie sich über die Augen und lächelte.

»Antoine Bazin. Du bist ein guter Mann. Und jetzt los!« Sie lachte hell auf. Dann rannten sie zurück Richtung Promenade.

Bazin keuchte bereits heftig, als sie die Planches erreichten. Aber dass sie ihn geduzt hatte, machte ihn froh.

 

Im Nachhinein wusste er nicht, was er zuerst bemerkt hatte.

Das Geräusch.

Oder die Fußabdrücke.

Aber das Nachhinein war auch nicht besonders lang.

Er wusste nur, dass er auf das beleuchtete Casino geblickt hatte, das immer wieder ein erhabenes Gefühl in ihm auslöste. Das große Casino von Deauville. Es waren nur wenige Schritte von dort bis zur Promenade, auf der sie nun entlanghasteten.

In zwölf Minuten mussten sie zurück sein im »Kakadu«.

Zu dieser frühen Stunde waren nicht einmal Hundebesitzer unterwegs, die grünen Holztüren der Umkleidekabinen waren geschlossen, ein vergessener Sonnenschirm lag einsam in einer Ecke.

Bazin blieb stehen. Da war ein Wimmern. Leise, kaum hörbar. Gerade hatten sie abbiegen wollen, die Planches verlassen, um durch die Straßen der Stadt wieder zurückzulaufen. Bazin rang nach Atem, er war es nicht gewohnt, zu rennen.

Janine hörte es jetzt auch.

Unschlüssig blickte sie zu ihm. Die Fußabdrücke begannen kurz hinter der Umkleidekabine von June Alysson. Der Name der Broadway-Schauspielerin war mit schwarzer Farbe auf das weiße Geländer geschrieben. Links daneben stand der Name Douglas Fairbanks jr. Es folgten Tony Curtis und Jean Nebulesco. Dutzende bekannter Schauspieler und Regisseure waren an den Kabinen verewigt, sie alle hatten das Festival von Deauville besucht. Bazin hatte einige von ihnen im Casino gesehen, aber da er sich nicht fürs Kino interessierte, hatte er die Namen und Gesichter schnell wieder vergessen.

Das Wimmern wurde lauter. Zögernd gingen sie an den Umkleidekabinen entlang, Janine hatte wieder seine Hand genommen. Ihnen war nicht entgangen, dass die Fußabdrücke noch feucht waren. Frisch.

Und dass sie eine rötliche Farbe hatten.

Die Konturen der Fußsohlen waren mit jedem Schritt besser zu erkennen, die Zehen zeichneten sich deutlich auf dem Holz ab. Es waren die Fußspuren einer Frau. Bazin wollte sich räuspern, aber mehr als ein trockenes Schlucken gelang ihm nicht. Es wurde heller um sie herum. Ein neuer, grau melierter Tag hatte begonnen.

Die Frau saß zwischen Rock Hudson und Shelley Winters, und an ihren nackten Beinen trocknete das Blut nur langsam. Sie hatte den Rücken an die grüne Holztür gelehnt und atmete ruhig.

»Mon Dieu!«, flüsterte Janine. Bazin merkte, dass er den Atem anhielt.

»Ist sie tot?«

Bazin hatte noch nie eine Tote gesehen, schon der Anblick von so viel Blut ließ ihn schwindelig werden. Langsam ging er auf die Frau zu, ihre rechte Hand hatte einen blutigen Abdruck auf Rock Hudsons weißem Geländer hinterlassen.

Ihre Lippen bewegten sich unmerklich.

Die Augen waren geschlossen, der Kopf leicht nach links gekippt. Bazin ließ Janine los und beugte sich zu der Frau hinab. Das Blut begann die Holzplanken zu verfärben.

»Da Da Da Dabadabada …«

Es war eine Melodie. Kaum hörbar versuchte die junge Frau, eine Melodie zu flüstern, und für einen kurzen Moment kam Leben zurück in ihren Körper. Sie lächelte.

»Hören Sie mich? Sollen wir Hilfe holen?«

Was für eine idiotische Frage, Bazin verfluchte sich selbst. Janine würde denken, er sei ein Feigling. Er suchte nach einer Handtasche, einem Portemonnaie. Und er ertappte sich dabei, dass er auch nach einer Waffe suchte, bei so viel Blut musste doch …

»Da Da Da Dabadabada …«

Ihre Augen waren noch immer geschlossen, Blut tropfte von ihren Beinen auf das Holz. Bazin fühlte sich hilflos und dachte an das Casino. Das war am nächsten, er würde zum Casino laufen und Hilfe holen.

»Janine, wir müssen Hilfe holen.«

»Ich kenne diese Melodie«, sagte sie leise. »Ich habe sie schon einmal gehört, und ich weiß auch wo.«

Bruno hatte sie vor einigen Monaten mit ins Kino genommen, sie hatte ihn deswegen tagelang angefleht, ihm versprochen, noch mehr zu arbeiten, noch mehr Geld für ihn zu verdienen, wenn er sie nur ein Mal ins Kino gehen ließe. Sie hatte in der letzten Reihe gesessen und leise geweint, während er sich draußen an der Bar ein Bier gönnte. Ein großer samtener Vorhang hatte sich gehoben, das Licht im Saal war erloschen, und sie hatte noch tagelang diese Melodie im Kopf gehabt.

 

Die Stimmen hörten sie beide gleichzeitig. Sie drangen von weit weg leise durch die feuchte Luft und vermischten sich mit dem noch müden Krächzen der Möwen.

»Sie muss doch … irgendwo … Scheiße!«

Bazin wollte aufstehen, um nach Hilfe zu rufen, als jemand seine Hand festhielt. Er spürte eine klebrige Flüssigkeit auf seiner Haut und erschauerte. Die junge Frau hatte ihre Augen weit aufgerissen, und er blickte in ein so tiefes Blau, dass er dachte, darin ertrinken zu müssen, wenn sie ihn weiterhin so anblickte. In ihrem Blick lag nackte Angst.

»Keine Angst, da kommt Hilfe«, flüsterte er. Er wusste nicht, warum er noch immer leise sprach.

»Weg …« Die Frau versuchte sich aufzurichten, sie zitterte, und Bazin bemerkte, wie erschöpft sie aussah.

Entleert.

Die Stimmen kamen näher.

»Bitte … weg.«

Ein leichter Wind war aufgekommen und trug die letzten Fetzen Nebel hinaus aufs Meer, wo dieser sich in vollkommener Stille auflösen würde. Bazin konnte zwei Umrisse erkennen. Breite Umrisse, die die Planches entlangeilten und ab und zu die Tür einer Umkleidekabine aufrissen. Er griff Janine bei der Hand und zerrte sie einige Meter weiter zu einer geöffneten Kabinentür. Auf dem weißen Geländer stand in schwarzer Schrift der Name Rita Hayworth.

Innen war es muffig und feucht, es gab kaum Platz für sie beide. Janine zitterte in seinem Arm, und Bazin dachte, dass sie gerade eine hilflose Frau im Stich gelassen hatten. Aber sein Gefühl sagte ihm, dass sie selbst in Gefahr waren. Er wollte die Tür ganz zuziehen, aber sie klemmte. Durch einen kleinen Spalt fiel mattes Licht herein, und er konnte den Körper der Frau in einigen Metern Entfernung sehen. Sie hatte sich wieder an die grüne Tür gelehnt. Ihr Atem ging schnell.

Nach einigen Sekunden waren sie da.

Bazin hörte ihre Schritte auf dem Holz. Es waren zwei Männer.

»Da ist sie, die verdammte Hure.« Bazin musste Janine den Mund zuhalten, als eine Hand klatschend im Gesicht der verletzten Frau landete.

»Lass gut sein, wir müssen hier weg.«

»Verdammt, sie blutet wie ein Schwein. Was fällt dir ein, du blöde Kuh!«

Bazin konnte die Männer nicht sehen. Er versuchte, den Atem anzuhalten.

Zwei Hände griffen den schlaffen Körper und zerrten ihn hoch. Die Frau wimmerte, aber es war nicht das Wimmern, worauf Bazin achtete. Er sah auch nicht das Blut, das vom Mantel tropfte und für lange Zeit das Holz verfärben würde.

Er starrte stattdessen auf die Hände, die er gehofft hatte, nie wiederzusehen. Hände, die er heute schon einmal hatte erdulden müssen.

Kurz darauf wurde es still draußen.

Sie warteten noch eine Weile, nachdem die Stimmen verklungen und die beiden Männer nicht mehr zu sehen waren. Janine weinte, und auf dem Meer warf ein Kutter seine ersten Netze aus.

Der Strand lag noch immer verlassen vor den Toren der Stadt und wartete auf den Ansturm der letzten Badegäste für diese Saison. Es würde ein schöner Tag werden.

»Sind sie weg?«, flüsterte sie.

»Ich glaube, ja.« Bazin versuchte, in der Dunkelheit der Kabine das Ziffernblatt seiner Armbanduhr zu erkennen. Zweiundzwanzig Minuten über der Zeit. Schwarz, Pair, erste Kolonne.

»Alles wird gut«, flüsterte er und küsste sie auf die Stirn.

In diesem Moment wurde die grüne Tür zu Rita Hayworths Kabine mit einem brutalen Ruck aufgerissen, kalte Luft strömte herein. Gegen das gleißende Licht des frühen Morgens konnte Bazin zuerst nichts erkennen. Er blinzelte, und als er nach draußen gezerrt wurde, sah er zuerst den Totschläger.

»Bruno!«, schrie Janine.

»Halt dein Maul!«

Als der erste Schlag Bazin direkt im Gesicht traf, zersplitterte seine Brille, und er sah verschwommen, wie die Holzplanken auf ihn zurasten. Überall Rot, dachte er. Aus seiner Nase tropfte dickes Blut und vermischte sich mit dem Blut der jungen Frau,

Janines flehende Stimme war verschwunden, vermutlich brachten sie sie zurück. Er dachte an den Nachtbus nach Blonville. Er setzte sich stets in die dritte Reihe, auf der Fahrerseite. Links. Rot. Manque, dritte Kolonne. Impair.

Als ihn jemand hochriss und in die Dunkelheit einer Kabine zerrte, sah er eine kleine Holzkugel, die über die Kanten und Vorsprünge des Kessels sprang, sich drehte und wendete, als würde sie sich umblicken, wohin sie fallen sollte. Es war immer der schönste Moment seiner Arbeit gewesen. Dieser kurze Moment, bevor die Kugel fiel. Dieser Satz, den nur er sagen durfte, der ihm Macht verlieh. Ihm, der nie Macht hatte haben wollen, sondern nur ein ruhiges Leben in Deauville.

 

Rien ne va plus.

Draußen lachte hämisch eine Möwe.

Paris

Im Frühling

Fast fünfzig Jahre später

Nicolas Guerlain saß an einem kleinen Holztisch am Fenster eines Cafés in der Avenue Montaigne und ärgerte sich, dass sein Handy klingelte. Er hatte den Passanten draußen auf dem breiten Bürgersteig hinterhergeblickt und sich vorgestellt, wie es wäre, ihr Leben zu leben. Eine Métro zu nehmen, die ihn dorthin fuhr, wo jemand auf ihn wartete. Ein Taxi zu rufen, das ihn fort von hier brachte, wo jemand wie er an einem kleinen Holztisch saß und trüben Gedanken nachhing. Er warf einen Blick auf die Uhr, es war 19.53 Uhr. Die Vorstellung würde in sieben Minuten beginnen.

Draußen löste sich allmählich der feste Knoten des Feierabendverkehrs, Paris schaltete einen Gang runter. Nicolas wusste, dass das ein Trugschluss war, aber der Gedanke an eine Atempause gefiel ihm. Er fischte zwei Münzen aus der Innentasche seines Anzugs und beobachtete ein junges Paar, das eng umschlungen am Fenster des Cafés vorbeilief. Der Frühling kam, schüchtern noch. Wie ein Schüler, der zum ersten Mal die neue Klasse betrat. Vorsichtig anklopfend.

»Ja?«

Nicolas hatte nicht aufs Display schauen müssen, um zu wissen, dass es Bertrand war. Er war der Einzige aus dem Team, der gerade Zeit hatte zu telefonieren. Gilles Jacombe, ihr Chef,

»Salut, wo steckst du?«

Nicolas blickte hinüber zur anderen Straßenseite, wo die Schlange vor dem imposanten Théâtre des Champs-Élysées jetzt nur noch kurz war. Die Vorstellung war ausverkauft.

»Zuhause«, erwiderte er knapp. Nicolas konnte hören, wie eine Schranktür aufgeschoben wurde, er vernahm das Klappern von Kleiderbügeln.

Er winkte die Bedienung herbei und gab ihr die Münzen, seine Lippen formten ein lautloses »Merci«. Er griff nach seinem Mantel und bemerkte aus den Augenwinkeln, dass sie ihm interessiert hinterherblickte.

Das nächste Mal würde er woanders warten.

»Hast du schon gepackt? Vergiss nicht deine Badehose! Und Sonnencreme, es soll warm werden«, sagte Bertrand. Im Hintergrund war das leise Rauschen der Dusche zu hören. Vermutlich Sabrina. Nicolas glaubte jedenfalls, dass Sabrina gerade der angesagte Name war.

»Bringst du die Frau in der Dusche mit?«, fragte er und hielt einer älteren Dame die Tür auf. Draußen war es mild, er hätte seinen Mantel zuhause lassen können.

»Bist du verrückt«, flüsterte Bertrand. »Wir fahren an die Côte d’Azur! Blaues Meer, Sonne, kleine Wassertropfen auf brauner Haut. Mein kleiner Nicolas, du solltest mal abschalten, wir fahren in Urlaub!«

»Aha.«

»Was ist eigentlich mit dir? Wen bringst du mit?«

»Wen sollte ich mitbringen?« Er drückte auf den Knopf an der Fußgängerampel und hielt seine Hand vor das Handy, damit die Straßengeräusche gedämpft wurden.

»Keine Ahnung, wen du meinst.«

»Ach komm, Nico, entspann dich mal! Sag, stehst du auf dem Balkon, oder was?«

Nicolas blickte auf das große Plakat, das an der weißen Außenwand des Theaters in der Avenue Montaigne befestigt war. Ein Mann rempelte ihn an, ohne sich zu entschuldigen. An einem Kiosk wurden die ersten Ausgaben der Abendzeitung sortiert, zwei Tauben stritten sich um die Krümel, die das Croissant eines kleinen Jungen auf dem abendlichen Trottoir hinterlassen hatte. Das Hupen der Autos wurde nicht leiser.

Er war müde.

»Hör zu, Bertrand, ich muss auflegen. Komm pünktlich morgen, wir fahren um halb sieben los.«

»Und so was nennt man Urlaub«, seufzte Bertrand. »Mitten in der Nacht aufstehen, und das nur, um mit einem schlecht gelaunten Menschen wie dir ans Meer zu fahren.«

»Wir fliegen, Bertrand«, sagte Nicolas. »Und der Minister hat gute Laune. Ganz bestimmt.«

 

Der Vorplatz des Theaters war mittlerweile menschenleer, die Vorstellung würde in zwei Minuten beginnen. Antonín Dvořáks 9. Sinfonie. Er blickte sich um und merkte, dass er der Letzte war, alle anderen Konzertgäste waren bereits drinnen. Eilig hastete er die Stufen hinauf, nickte den beiden Mitarbeitern am Eingang zu, gab seinen Mantel an der Garderobe ab und schaffte es gerade noch durch die große Flügeltür hinein, bevor sie geschlossen wurde.

Im Saal war das Licht bereits gedämpft, und er erntete böse Blicke, als er sich an Beinen und abgestellten Handtaschen vorbeidrängte. Der Platz zu seiner Rechten war unbesetzt, so

›Aus der Neuen Welt‹. E-Moll. Nicolas wollte gerade sein Handy stummschalten, als er sah, dass er eine Nachricht erhalten hatte.

Viel Spaß im Konzert. Gruß von den Mädchen. Manou.

Er musste lächeln, zum ersten Mal an diesem Tag.

Als der erste Geiger sich aufrecht hinsetzte und den Dirigenten erwartungsvoll anschaute, lehnte sich Nicolas zurück und schloss die Augen. Langsam atmete er aus und dachte an den warmen Frühling an der Côte d’Azur. Kurz darauf kletterten zwei Akkorde langsam hinauf, bis unter die Decke des großen Saales, und blickten von dort spöttisch herab. Auf ihn und den leeren Platz an seiner Seite.

Nicolas dachte, dass es von dort oben wohl aussehen musste, als würde eine Taste auf einer Klaviatur fehlen.

Eine weiße Taste.

Normandie

Drei Tage später

Drei Stunden bevor Jean Carasso auf den nassen Planken der Hirondelle de la Mer ausrutschte und beinahe ins tiefe Wasser vor der Côte Fleurie stürzte, schaute er auf die alte Uhr an der Wand und bemerkte, dass er spät dran war. Ihm blieb nicht viel Zeit, wenn er unterwegs noch einen Espresso trinken wollte. Draußen war es noch stockdunkel, aber das leise Schnarchen des Ozeans auf der anderen Seite der Fensterscheibe beruhigte ihn.

Kein Grund zur Sorge, sagte sich der alte Mann. Es war nur einer von vielen Aufträgen. Er hatte in den vergangenen Jahrzehnten hunderte dieser Fahrten gemacht, und nie hatte ihn seine Liebe zum Meer verlassen. Carasso drückte die Stirn gegen das kalte Glas des Panoramafensters und spürte die Vorfreude in sich aufsteigen. Auch wenn er mit allzu hastigen Schritten auf die siebzig zuging, dort draußen war sein Revier.

Etwas umständlich zog er seine regenfeste Jacke an, steckte ein Stück Baguette und eine Flasche Wasser ein und überprüfte ein letztes Mal den Inhalt seiner Fototasche. Die Kamera, zwei Objektive, Ersatzbatterien, eine kleine eingerollte Reflektorleinwand, falls die Sonne im Laufe des Tages doch noch rauskommen würde. Dazu eine ältere Ersatzkamera und ein kleiner Blasebalg, um Schmutz von der Linse zu pusten. Alles war da.

»Verdammtes Alter«, murmelte er und schloss kurz darauf die Haustür der Villa Proust hinter sich ab. Den Schlüssel legte er wie immer unter den linken Blumentopf auf der Fensterbank zum Hof. Bei ihm gab es nichts zu holen, und die andere Wohnung im ersten Stock stand derzeit ohnehin leer. Er trat durch das eiserne Tor hinaus auf die Straße. Weiter unten nahm er die Umrisse des »Roches Noires« wahr, des ehemals besten Hotels an der Küste. Proust und Monet hatten hier gewohnt. Jetzt stand das Gebäude leer.

Carasso begann eine hübsche Melodie zu pfeifen, als er in Richtung der Rue d’Orléans aufbrach, wo im »Café de la Marée« vermutlich in diesem Augenblick das Licht über dem Tresen angeknipst wurde. Ein leichter Wind kam auf, und es schien, als würden sich die Strandhäuser nach ihm umdrehen. Die verzierten Dachgauben blickten ihm hinterher, als seine Schritte durch die Stille drangen.

 

Der Hafen von Trouville war noch nie das Zentrum der Fischerei an der Côte Fleurie gewesen. Und im Laufe der Jahre hatten Le Havre, aber auch Dieppe und Cabourg der Stadt immer mehr den Rang abgelaufen. Und so schaukelte an diesem frühen Morgen gerade einmal ein knappes Dutzend Boote auf dem schwarzen Wasser der Touques, die hier ins Meer mündete und die Trouville von Deauville trennte und die beiden Städte gleichzeitig miteinander verband. Die Flut drückte das Wasser des Ärmelkanals ins Hafenbecken, bald würden die ersten Boote auslaufen können.

André Dumarc saß mit einem Becher Kaffee in der Hand auf ebendieser Kaimauer und blickte auf sein altes Schiff. Er fuhr seit seiner Kindheit zur See, er kannte jedes Geräusch, das die Hirondelle de la Mer von sich gab, wenn sie so wie er ihre steifen Knochen streckte und sich bereit machte für einen weiteren anstrengenden Tag dort draußen. Auf der anderen Seite der Touques-Mündung waren die Schatten zweier großer Kräne zu erkennen, die dunklen Stahl-Giraffen schlummerten am Rande einer Baugrube. Trouville setzte auf seinen Fisch, Deauville auf neue Penthousewohnungen mit Meerblick.

Es würde ein schöner Tag werden, trotz des aufkommenden Windes. Oder womöglich gerade deshalb.

Ein windstiller Tag war vor allem still. Und Stille gab es in Trouville ohnehin mehr, als gut sein konnte, seitdem die großen Zeiten des Fischfangs endgültig vorbei zu sein schienen.

Unten an Deck fluchte einer der Matrosen, die Dumarc heute mit rausnehmen würde.

»Dein Schiff wird alt«, rief der Matrose.

Dumarc kannte ihn seit vielen Jahren und nahm ihm den hämischen Kommentar über seine Hirondelle nicht übel. Er hatte recht, sein Schiff war in einem desolaten Zustand, daran änderte auch der frische grüne Anstrich der Außenwand nichts.

»Du solltest es mal ins Dock nach Le Havre bringen, André«, rief ein anderer Fischer.

»Wenn ihr endlich mal ordentlich fischen würdet, anstatt euch Gedanken über mein Schiff zu machen, dann fahr ich nach Le Havre«, antwortete der Kapitän und stand langsam auf, wobei seine müden Knochen so knirschten wie der Kies unter seinen groben Stiefeln.

»Damit sicher nicht.« Die rostige Kette landete auf den Deckplanken.

»Nehmt das Tau, das geht auch. Und beeilt euch, sobald Jean da ist, legen wir ab.« André Dumarc blickte durch den Nebel hindurch nach Nordwesten, wo jenseits der Bucht Le Havre lag, der große Seehafen mit seinen Kränen, den Verladestationen und den Fährterminals.

Und dem Trockendock.

Zwanzigtausend Euro, so viel kostete die Instandsetzung der Hirondelle de la Mer, er hatte sich erkundigt. Er hatte gestern drüben angerufen und sein Schiff angemeldet. Die Besatzung wusste davon nichts, und er wollte, dass es vorerst auch dabei blieb.

Im Hafen hier glaubten alle zu wissen, dass er sich die Reparatur nicht leisten konnte.

Bislang jedenfalls.

 

Jean Carasso war mittlerweile in die Rue Croix abgebogen und sah die schwache Außenbeleuchtung des »Café de la Marée« vor sich. Die kleinen Gassen von Trouville waren noch unberührt. Die Stadtreinigung würde erst in einer Stunde die Bürgersteige mit Wasser abspritzen, jetzt aber hatten die Restaurants noch trockene Füße, die guten wie die schlechten. Zwei Minuten später stellte ihm die Besitzerin einen Espresso mit etwas Milch auf den Tresen, schaltete das Radio ein und legte ihm die Zeitung hin.

»Und, was liegt heute an?«, fragte sie, während sie die Tische abwischte. Sie kannten sich seit vielen Jahren.

»Mode«, antwortete Carasso. Ein Pariser Label hatte ihn engagiert, um auf dem Meer Aufnahmen für eine neue Kampagne zu machen.

»Und hast du ein heißes Model dabei?«

Der alte Mann lachte. »Nein, nur das Meer. Sie brauchen es als Hintergrund für ihre Plakate.«

»Das Meer ist immer ein guter Hintergrund«, sagte die Besitzerin und blickte ihn an. »Und wenn ich es mir recht überlege: Ein guter Grund ist das Meer auch.«

»Für was?«

»Keine Ahnung.« Sie lachte. »Für alles? Für das Leben. Die Liebe. Und vor allem für den Regen, der heute noch kommen soll.«

Er schaute aus dem Fenster hinaus auf die Straße und dachte an das, was heute vor ihm lag.

Das Meer.

Er hoffte, dass alles gut gehen würde. Und jetzt musste er sich beeilen.

Die Besitzerin des Cafés schaute dem alten Mann nachdenklich hinterher, als er in der kleinen Gasse verschwand, die sich weiter unten zum Hafen hin öffnete.

 

Carasso eilte durch die Rue des Bains, und als er kurz darauf zwischen den Häusern hindurch zum Meer blickte, war die Dunkelheit einem Anflug von Grau gewichen. Er winkte André Dumarc von Weitem zu und merkte, dass er sich freute, trotz allem. Als er an die Kaimauer kam, sah er die Fischer der Hirondelle, wie sie die Seile aufrollten und Plastikschalen stapelten, in denen später Brassen, Makrelen und hoffentlich auch ein paar Langusten landen würden.

»Eh, Jéjé, ein bisschen früh für dein Alter, oder?«, rief ihm einer der beiden zu und wischte seine Hände an der gelben Ölkleidung ab. »Und angeblich soll es draußen Wellen geben, dann müssen wir deinen Rollstuhl wohl an der Reling festbinden!«

Der Ton unter den Fischern war rau, und Carasso dachte, dass er wohl genau deshalb so gerne hier runter kam.

»Ich habe euch Fischstäbchen eingepackt, was anderes fangt ihr ja doch nicht, ihr Freizeitangler«, brummte er.

»Macht mir den alten Herrn nicht verrückt, in ein paar Jahren fahren wir nur noch für Touristen raus. Und für Fotografen.« Der Kapitän der Hirondelle de la Mer umarmte ihn mit einem breiten Lächeln, das makellose Zähne offenbarte, umrahmt von einem Zehntagebart und vielen kleinen Falten. Er schob seine Strickmütze etwas tiefer in die Stirn und schaute in Richtung Hafenausfahrt.

»Es könnte ein bisschen wackelig werden heute, aber du kennst das ja.« Tatsächlich war Carasso schon so oft mit rausgefahren, dass er die Küste mittlerweile nicht weniger gut kannte als die Fischer selbst.