Antisemitismus. 100 Seiten

Cover

Hinweise zur E-Book-Ausgabe

Die E-Books des Reclam Verlags verwenden entsprechend der jeweiligen Buchausgabe Sperrungen zur Hervorhebung von Textpassagen. Diese Textauszeichnung wird nicht von allen Readern unterstützt.

Enthält das E-Book in eckigen Klammern beigefügte Seitenzählungen, so verweisen diese auf die Printausgabe des Werkes.

Der Anschlag auf die Synagoge in Halle am Jom Kippur 2019, dem höchsten jüdischen Feiertag, der zwei Menschen das Leben kostete, markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der Bundesrepublik. Dabei war er keineswegs der erste antisemitische Anschlag mit tödlichen Folgen. So deponierten am 9. November 1969 Mitglieder der linksradikalen Guerillabewegung Tupamaros eine Bombe im Jüdischen Gemeindezentrum Westberlins, so starben am 13. Februar 1970 sieben Mitglieder der Jüdischen Gemeinde München, allesamt Holocaustüberlebende, bei einem Brandanschlag, so wurden am 19. Dezember 1980 in Erlangen der jüdische Verleger Shlomo Lewin und seine Frau Frida Poeschke aus antisemitischen Gründen kaltblütig erschossen. Im Falle des Mörders von Halle kam zusammen, was meist zusammenfällt: Hass auf selbstbewusste Frauen, Hass auf Homosexuelle sowie vernichtender Hass auf das Judentum – auf jüdische Menschen, die jüdische Religion und die jüdische Kultur. Zudem war er getrieben von der Wahnidee, die Juden wollten die »weiße Rasse« vernichten bzw. durch die Förderung von Immigration »umvolken«.

Mich hat der Anschlag von Halle tief erschüttert, aber nicht überrascht, war ich doch in meinem Leben immer wieder von

Auch ich selbst habe immer wieder Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht. Folgende Szenen haben sich mir unauslöschlich eingeprägt:

Im Alter von sechs Jahren hänselte mich ein Klassenkamerad, Sohn eines Versicherungsdirektors, nach einem Streit beim »Mensch-ärgere-Dich-nicht«-Spiel mit »Jude, Jude« und zeigte bei sich zu Hause mit dem Finger auf mich – das war 1953. Das nächste Erlebnis widerfuhr mir bei der Abiturreise nach Rom 1967, nachdem mir beim Fingerspiel mit einer Münze (à la Blow up) ein Hundert-Lire-Stück klingend auf den Boden der römischen Kirche Santa Maria Maggiore gefallen war. Unser Griechischlehrer drehte sich um, fixierte mich und schrie mich an: »Ha, Brumlik, wer hat die Wechsler aus dem Tempel gejagt, wer hat den Herrn ans Kreuz genagelt?«

Zwei Jahre später war ich bei einem Studienkollegen der Philosophie mit einigen anderen Kommilitonen in einer bayerischen Kleinstadt zu Gast, und wir nahmen mit seinen Eltern das Abendessen ein. Nach dem Essen kam der Vater des Hauses auf mich zu und sagte: »Wissen Sie – Sie erinnern mich an etwas – da gab es doch mal diesen Film aus der NS-Zeit, Jud Süß – Sie erinnern mich an die Hauptfigur.« Ich antwortete: »Kein Wunder – ich bin ja auch Jude«, woraufhin der Gastgeber erbleichte und nur noch stammelte: »Oh, oh, entschuldigen Sie bitte, so habe ich das doch nicht gemeint …«

Die nächsten Erlebnisse stammen aus den 1980er Jahren, als ich mich in einer Fernsehsendung als Jude gegen Rassismus geäußert hatte – um zwei Tage später im Briefkasten meiner Privatadresse einen anonymen Brief mit eingeklebter Rasierklinge zu finden, in dem Folgendes stand: »Ich wünsche Dir, dass Deine Frau von einem aidskranken Nigger durchgefickt wird …«

Was also ist »Antisemitismus« – jenes Phänomen, das mein Leben nachhaltig geprägt hat – und sei es nur durch das Leid meiner Eltern in der Nachkriegszeit? Die Wissenschaft gibt darauf verschiedene Antworten:

Unter Antisemitismus werden vielfältige Formen der Judenfeindschaft verstanden, die sich in unbegründeten, spontanen

Zudem neigen Antisemiten immer dazu, den Einfluss, die Macht und die Anzahl von Jüdinnen und Juden systematisch zu überschätzen. Und schließlich schreibt der Antisemitismus Letzteren in projektiver Wunscherfüllung ein Übermaß an Reichtum, sexueller Potenz, intellektueller Zersetzungskraft und innerem Zusammenhalt zu.

Judenfeindschaft äußert sich als Vorurteil (»Juden denken immer nur ans Geld«), als Generalisieren von Ressentiments (»ich kannte einen Juden, der mich abschätzig angesehen hat, so sind sie alle …«), aber auch in Form individueller Aggressivität sowie in gezielten Erniedrigungen und Beleidigungen – bis hin zu Mord und Totschlag. Im Rahmen totalitärer, diktatorischer Herrschaft wie im Nationalsozialismus nahm Judenfeindschaft die Form eines Staatsverbrechens an. Das heißt: Jüdinnen und Juden wurden stigmatisiert (durch erzwungenes Tragen des Gelben Sterns, erzwungene zusätzliche Vornamen), entrechtet (durch das Verbot, ihre erlernten Berufe auszuüben, räuberische Besteuerung und durch den als zivilrechtlichen Verkauf getarnten Raub ihres Eigentums – die sogenannte »Arisierung«) und

Auf jeden Fall war das, was heute als »Holocaust« oder mit dem Stichwort »Auschwitz« bezeichnet wird, ein singuläres Menschheitsverbrechen. Die dahinterstehende Ideologie war die eines judenfeindlichen Rassismus. Aber was genau ist Rassismus? Und worin unterscheidet sich religiöser Antijudaismus von rassistischem Antisemitismus? Zunächst ist zu klären, was Antisemitismus ist – nämlich die rassistische Erscheinungsform der Judenfeindschaft. Damit ist er allerdings bei Weitem nicht erschöpfend erklärt. Diese sehr spezielle Variante des Rassismus hat eine Geschichte, die bis weit in die Geschichte unserer westlichen Zivilisation zurückreicht.

Weder ist Antisemitismus ein lediglich auf Juden bezogener Rassismus, noch ist der europäische Rassismus letztlich nur ein Ausfluss des diskriminatorischen Denkens der christlichen oder der aufklärerischen Tradition. Vielmehr müssen beide als einander wechselseitig beeinflussende Diskurse, als ideologische Ausdrucksweisen verstanden werden. Der Rassismus ist im Zuge der europäischen Expansion entstanden, die vom Beginn der Eroberung Amerikas im 15. Jahrhundert über die koloniale Beherrschung Afrikas bis hin zur Neugliederung des vormals zum Osmanischen Reich gehörenden Nahen Osten (Irak, Arabien und Palästina) nach dem Ersten bzw. Zweiten Weltkrieg und der Gründung des Staates Israel 1948 reicht. Damit ist ausdrücklich nicht gesagt, dass andere – nichtwestliche – Kulturen nicht auch ihre ganz eigenen Rassismen entwickelt haben.

Anders als viele, auch jüdische, Forscher postulieren, war und ist Judenfeindschaft jedoch keine gesellschaftliche

Während des Abfassens dieser Zeilen im Sommer und Herbst 2019 treibt eine neue Debatte nicht nur die deutsche Gesellschaft, sondern auch die Studierenden an US-amerikanischen Universitäten um: Es geht um die erklärtermaßen gewaltfreie palästinensische BDS-Bewegung (Boycott, Divestment, Sanctions), die sich offiziell für einen Rückzug Israels aus den 1967 eroberten Gebieten östlich des Jordans einsetzt, aber auch das Rückkehrrecht der 1947/48 vertriebenen palästinensischen Araber fordert. Sollte diese Forderung eins zu eins erfüllt werden, würde das das Ende Israels als eines »jüdischen Staates« bedeuten. Ist das ein Fall von – wie es neuerdings heißt – »israelbezogenem Antisemitismus«? Doch zunächst gilt es, sich die Entstehung und Geschichte des Judenhasses anzuschauen.

Gab es Judenhass in westlichen, christlichen Gesellschaften schon immer? Oder hat es ihn sogar schon früher gegeben – in den vorchristlichen Kulturen Griechenlands und Roms? In asiatischen Gesellschaften, namentlich Indien, China und Japan, entfiel diese Möglichkeit schon deshalb, weil dort so gut wie keine Juden lebten.

Antike pagane, also heidnische, Schriftsteller, z. B. der römische Historiker Tacitus (58120), hielten die Juden für illoyal und abergläubisch, weil sie nicht nur als Monotheisten den Kaiserkult ablehnten, sondern auch sexuelle Reinheitsgebote sowie Speiseregeln befolgten, die auf die Angehörigen anderer Religionen fremdartig wirkten und vor allem ein gemeinsames Mahl mit Nichtjuden unmöglich machten. Andere antike Autoren, vor allem Apion, ein Griechisch schreibender Autor aus Ägypten, gegen den sich der römisch-jüdische Autor Flavius Josephus (37100) wandte, hielten die Juden für Abkömmlinge einer aus Ägypten geflüchteten Gruppe leprakranker Sklaven, die zudem heimlich einen Esel anbeteten.

Gleichwohl bestreitet inzwischen eine wachsende Anzahl von Altertumsforschern, dass es bereits in der heidnischen Antike eine systematisch verbreitete Judenfeindschaft

Mit dem Ende des erfolgreichen Aufstandes der Makkabäer gegen das judenfeindlich vorgehende Herrscherhaus der Seleukiden entstand im Jahre 175 v. Chr., also in der Zeit des Hellenismus, ein unabhängiger jüdischer Staat, der Staat der Makkabäer – der jedoch nur kurze Zeit seine Unabhängigkeit behielt: Bereits im Jahre 63 v. Chr. eroberten die Römer unter Pompeius (10648 v. Chr.) diesen östlichen Rand des Mittelmeers und errichteten dort einen imperialen Herrschaftsverbund. Die nun »Judäa« genannte Provinz wurde von einem römischen Kurator und teilweise von einem idumäischen Herrscherhaus, den Herodianern, regiert. Nach zwei blutigen Aufständen in den Jahren 6670 sowie noch einmal im Jahre 135 war allerdings das Ende jüdischer Staatlichkeit bis zum Jahre 1948 vorerst besiegelt. Und erst nach dem Scheitern des Aufstandes im Jahre 135 nannten die Römer die Provinz »Palästina«.

Auf jeden Fall war die Zerstörung des Tempels im Jahre 70 durch die Feldherren und Kaiser Vespasian (979) und Titus (3981) eher die Niederschlagung eines antiimperialistischen Aufstandes in einer gefährdeten Provinz denn ein religionsfeindlicher Akt. Von all diesen Ereignissen berichtet die Geschichte des Judäischen Krieges des schon genannten jüdischen Autors Flavius Josephus. Warum die Zerstörung des Tempels kein religionsfeindlicher Akt war? Weil Jüdinnen und Juden im Rest des Römischen Reiches in ihrem religiösen Leben

Das änderte sich spätestens, als Konstantin im frühen 4. Jahrhundert als erster römischer Kaiser – wenn auch erst auf dem Totenbett – zum Christentum übertrat. Schon vorher hatte er das Christentum zur Staatsreligion erhoben. Das Christentum war ebenso wie das rabbinische Judentum im Umfeld unterschiedlicher jüdischer Glaubensrichtungen in der Zeit des Zweiten Tempels entstanden. Unter dem gegen Christen gerichteten Verfolgungsdruck der römischen Kaiser des 1. Jahrhunderts konkurrierte es zunächst mit dem Judentum, um es dann zu beerben und ihm schließlich die historische Berechtigung abzusprechen. Tatsächlich begann die systematische Judenfeindschaft erst mit der Verbreitung der christlichen Religion. In ihr stand der Begriff »Jude« aber noch nicht – wie im modernen Antisemitismus – für eine zu bekämpfende und auszumerzende »Rasse«. Im christlichen Antijudaismus stand »jüdisch« vielmehr für eine Glaubenshaltung, die vor allem durch ihre »Gesetzlichkeit« sowie ihre Ablehnung der durch den Messias Jesus erfahrenen Gnade bestimmt war.

Unter Bezug auf die Evangelien und andere Schriften des Neuen Testaments – zunächst von Juden für andere Juden, dann für Nichtjuden verfasst – wurden die Juden von der