Cover

Karte der Welt Halva

Karte der Welt Halva


Vorschau Band 2


Cover Band 2


Der Drachenzahn

NA-R steht Kopf. Da hat doch diese Viertelelfe Tamalone einen Drachenzahn auf den Markt gebracht, ein fast unbezahlbares magisches Artefakt mächtiger Stärke. Wie hat sie das bloß geschafft?

Plötzlich will jeder ihr Freund sein – und gleichzeitig schießen ihre Feinde wie Pilze aus dem Boden. Ausgerechnet in dieser kritischen Phase scheint es, dass Tamalone sich auch auf ihre beiden Freunde, den Elfen Lufthauch und den Gestaltwandler Pando, nicht mehr verlassen kann. Als ihr Hilfe angeboten wird, greift sie nach dem rettenden Strohhalm, nicht wissend, dass sie sich damit in höchste Gedahr begibt.


Leseprobe


Pando


Pando jagte durch den muffigen Hausflur, dessen Erbauer wohl kaum daran gedacht hatten, genügend Platz für einen getüpfelten Gepard in Tigergröße zu schaffen. Die verschlossene Hintertür durchbrach er mit der Masse seines Schädels und der Kraft von Wut und Verzweiflung. Gegen die Leere eines kleinen Hofes und das Halbdunkel, in dem er sich wiederfand halfen aber weder Kraft noch Wut. Sein Gebrüll erschütterte die Fundamente der Gebäude und brachte manches tapfere Herz zum Erzittern. Doch Tama war bereits außerhalb seiner Reichweite.

Hätten die Götter Pandos Flüche verstanden, hätten sie ihm zuliebe vielleicht dem Schicksal einen anderen Kurs gegeben. Aber Götter hören schlecht, wenn Sterbliche schreien, und so blieb Pando nichts anderes übrig, als sich selbst zu helfen und seine Gestalt zu verändern. Der Gepard verschwand, und an seine Stelle trat ein Tier, dem man die Verwandtschaft mit einem Wolf deutlich ansah. Er verfolgte Tamas Geruchsspur und verlor sie zwei Häuserblocks weiter im Gewimmel fremder Gerüche. Er zwängte sich in die Form eines Ledervogels, flog auf das Dach des nächsten Hauses und von dort zu dem höchsten Punkt des Viertels. Der Balken, auf dem er nun hockte, bog sich, das Holz knarrte und stöhnte seinen Schmerz hinaus. Pando suchte mit scharfen Blicken jede Straße und jeden Hinterhof nach verdächtigen Bewegungen, Gegenständen oder Personen ab. Doch da war nichts, dem nachzugehen es sich lohnte.

Pando wusste, dass jede Stadt ihre Unterwelt besaß und dass es dort Leute gab, die über das entschieden, was sich dem direkten Blick entzog. Nach der Zahl der an dem Überfall beteiligten Personen musste hinter Tamas Entführung ein Schwergewicht stehen. Allein kam er nicht weiter. Jetzt brauchte er jemanden, der die Verhältnisse im Viertel des Handwerks kannte. Dann würde er Tama nach Hause holen, und wehe, es hatte ihr irgendjemand auch nur ein Haar gekrümmt. Er war ein Tier und kein Elf und deshalb auch nicht an den Eid gebunden, Leben und Vernunft zu erhalten. Wenn Tama zu Schaden kam, würde diese Stadt lernen müssen, was es hieß, sich an den falschen Personen zu vergreifen.

Aber das bringt mir Tama auch nicht wieder zurück, dachte Pando in einem kurzen Augenblick der Schwäche.



Lufthauch



Was nun? Lufthauch hatte sich darauf eingestellt, Tamalone aus den Fängen eines Gestaltwandlers zu befreien, musste dann aber erfahren, dass sie ihre Zeit in einer luxuriösen Wohnung verbrachte. Lief denn überhaupt noch etwas nach Plan? Übergabe verpasst, von einem Gestaltwandler geraubt. Wie bei allen Baumgeistern konnte sie sich danach so schnell eine eigene Wohnung besorgen und ein, wie er gehört hatte, sorgenfreies Leben führen? Er war mal wieder einen Schritt zu spät gekommen – und das nicht zum ersten Mal. Nein, Lufthauch hatte schon einmal bessere Laune gehabt.

Eines aber hatte er gelernt. Die Idee, Tamalone aus der Ferne zu überwachen, musste einem kindlichen Wunschdenken entsprungen sein. Der Erste Berater des Elfenrates hatte die junge Frau völlig falsch eingeschätzt und deshalb auch falsche Anweisungen gegeben. Vater, dachte er, wie konnte dir das passieren? Und wenn du dich so in einem Menschen irrst, kannst du dann wenigstens uns Elfen richtig einschätzen? Was, wenn deine Zuversicht in meine Fähigkeiten auch nicht mehr als Wunschdenken ist?

Lufthauch schüttelte sich. Falsche Gedanken. Oder richtige Gedanken zum falschen Zeitpunkt. Er selbst hing jetzt in NeuAllerdamm-Rot herum und musste nicht nur irgendwie dafür sorgen, dass Tamalone ihren Auftrag erledigte, sondern auch noch, dass niemand etwas davon mitbekam. Nur darum ging es. Aber wie sollte das bei einer Frau gelingen, über die sich bereits die ganze Stadt das Maul zerriss? Wenn die Wehrhüter jedes Unternehmen so dilettantisch angingen wie dieses, durften sie sich nicht wundern, wenn sie den Krieg verloren. Ihm fiel gerade noch rechtzeitig ein, dass Tamalone und ihr Auftrag nichts mit den Wehrhütern zu tun hatten und beides eine Privatangelegenheit seines Vaters und damit auch die seine war, aber das änderte nicht viel an seiner Einschätzung. Er saß mitten drin in dem Unglück.

Einleitung

Unerwartet tauchen auf der Welt Halva Gestaltwandler auf. Dem Aussehen nach wilde Tiere, doch mit Vernunft gesegnet und der entsetzlichen Fähigkeit, biologische Grenzen zu durchbrechen und sich mit anderen Arten fortzupflanzen. Bereits ihre bloße Gegenwart bringt in den anderen vernunftbegabten Arten, den Drachen, Elfen und Menschen, die finstersten Seiten zum Vorschein. Die Elfen versuchen deshalb, die Gestaltwandler und ihre Mischlings-Nachkommen einzufangen und wegzusperren, doch der Keim des Zerfalls breitet sich unaufhaltsam aus. Unter den Elfen droht ein Bürgerkrieg, die Menschen dringen in den Siedlungsraum der Elfen ein und die Drachen scheinen unschöne Geheimnisse zu haben. Am Ende beginnt sogar Halva, sich selbst zu zerstören.

In dieser Welt macht sich die Viertelelfe Tamalone auf, ihre Ziehmutter wiederzufinden und die Rätsel ihrer Herkunft zu lösen. Niemand rechnet mit dem, was ihre Suche auslösen wird – sie selbst am wenigsten.

Personae dramatis


KRIECHER: Drache mit einem gelähmten Flügel

TAMALONE: Eine junge Frau gemischten Blutes, die bei den Menschen lebt

„MUTTER“ oder „die Unaussprechliche“: Eine rätselhafte Frau unklarer Abstammung


Waldelfen


SUMPFWASSER: Erster Berater der Waldelfen und Tamalones Auftragsgeber

LUFTHAUCH: Waldläufer

BORK, Truppführerin der Waldelfen

LIND und MAITRIEB, zwei ihrer Jäger

IMMERGRÜN: Ein Diener zweier Herren


Stadtelfen


TREIBGUT, Magier der Komposits und Artefaktentwickler

KÖNIG NACHTNEBEL, Artefakthändler und Treibguts Partner

STEINDORN, Stadtkommandant

GEFLECKTER GELBZAHN, sein Sohn und Ratsmitglied

SCHWIMMENDES SCHWERT, Leiterin der Bürgerwehr und Ratsmitglied

ZAUBERTÄSCHL, Ratsmitglied verantwortlich für Handel und das Viertel des Handwerks

ZWEI-ARTEN-GRAU, Ratsmitglied verantwortlich für Fragen der Magie

ESPOS, versorgt Lufthauch mit dem Allernötigsten


Sonstige Personen in NA-R


SASS, Wachmann

UGLAS, Doppelagent

SCHLANGENAUGE, Führer der Unterwelt




Kriecher


„Verteilt euch, Männer, aber bleibt mir ja in Sichtweite. Habt ihr mich verstanden?“

Lufthauch hob denn Kopf, als Borks heisere Stimme ihn aus seinen Gedanken riss. Er gehörte nicht zu ihren Männern, begleitete die Patrouille nur als Waldläufer und freier Kundschafter und sah keinen Grund seinen Status jemals zu ändern. Befehl und Gehorsam waren nicht seins. Er bevorzugte kurze Aufträge, schnelle Entlohnung, keinerlei Verpflichtungen, die über die Erledigung der Aufträge hinausgingen, und liebte die Freiheit, jederzeit dorthin zu gehen, wohin es ihn zog.

„He, genießt noch einmal die Heimat, bevor es anstrengend wird“, rief Bork und ließ ihren Worten ein keckerndes Lachen folgen.

Auch wenn ihre Männer es vor niemandem zugeben würden, waren sie doch recht froh darüber, unter dem Kommando dieser kurzbeinigen, breitschultrigen Frau zu stehen. Auf fremdem Territorium entschied oft genug allein die Erfahrung darüber, ob man am Leben blieb oder nicht. Und anstrengend würde es ganz sicher werden. Das wusste Lufthauch aus eigener Erfahrung. Bevor sie sich in den Drachenbergen frei bewegen konnten, mussten sie erst einen dichten Streifen übermannshoher Büsche bezwingen, der die Drachenberge vom Elfenwald trennte. Mit Pech würden sie sich ihren Weg hindurchhacken müssen. Eine Arbeit, die Blasen an die Hände brachte, weil sich mit Magie nicht viel gegen Pflanzen ausrichten ließ, die ihr Leben lang im Drachenhauch gebadet hatten. Aber all dem war er schon mehrmals begegnet. Nichts davon hatte ihn beunruhigen können. Heute jedoch war alles anders. „Totholz, Blitz und Asche!“, fluchte er leise und biss die Zähne so fest aufeinander, dass seine Kiefer knackten. Er zitterte wie ein Reh auf der Flucht, dabei war er doch der Jäger.

Lufthauch atmete lang und tief ein und rief seinen Verstand zur Hilfe. Wir befinden uns in der Halle der Baumriesen. Dieses Stück Wald ist älter als die Zeit und besitzt eine besondere Magie, die alles beschützt, was sich zwischen den Stämmen und unter dem Blätterdach aufhält. Niemand wird uns hier etwas antun können. Die Wurzeln der Bäume reichen tief, bis ins Erdinnere, und ihre Magie ist der der Drachen ebenbürtig. Warum also zog sich ihm das Herz zusammen?

Ein bisschen Staub, der in einem einzelnen Sonnenstrahl schwebte, gab ihm die Antwort. Es ist der Wind! Es muss der Wind sein. Ich spüre ihn nicht. Um diese Tageszeit müsste sich die Luft aus dem Wald hinaus in das offene Gelände der Drachenberge bewegen. Tut sie aber nicht, verhält sich still, als hätte sie vor etwas Angst, das draußen auf sie wartet. Auch die Vögel sind verstummt. Die lärmenden Wächter in den Büschen, Sträuchern und Krummhölzern der Drachenberge. Sie hörte man immer bis weit in den Wald hinein. Aber heute sind sie still. Lufthauch war, als würde die Halle der Baumriesen belagert.

Was für ein Unsinn. Wer soll denn die Halle der Baumriesen belagern? Lufthauch wischte sich über die Stirn. Sie war nass von kaltem Schweiß, obwohl die Pirsch noch gar nicht richtig begonnen hatte. Vielleicht haben wir Glück und finden einen Wildwechsel. Dass wir endlich hier wegkommen. Als wäre seine Bitte erhört worden, erklang plötzlich ein Ruf. Dann ging alles schneller als erwartet. „Durchgang hier!“, rief eine Stimme, und der Trupp setzte sich in Bewegung.

Ein paar letzte Schritte, dann waren sie aus dem Wald heraus. Lufthauch schloss die Augen, als ihn das grelle Licht blendete, und hielt für einen Moment die Luft an. Ab hier begann eine andere Welt. Sonnenschein, wo vorher Dämmerlicht herrschte. Ein brausender Wind, der so hartnäckig aus einer einzigen Richtung blies, dass man den Kopf ständig bewegen musste, wenn man auf beiden Ohren hören wollte. Und unter den Füßen eine neue Härte, die dem Wanderer einen anderen Schritt abverlangte. Ich sollte mich wohl besser an die Spitze des Trupps setzen, dachte er. Aber irgendetwas hielt ihn zurück, und die Unruhe in seinem Herzen wollte sich nicht legen.

„Wir sind zu weit“, hörte er Lind in einer Lautstärke trompeten, der sich niemand entziehen konnte. Lind war neu in der Gruppe. Der junge Wehrhüter, bei dem das Mundwerk schneller war als der Verstand, war heute gerade erst auf seinem zweiten Patrouillengang. Aber dieses Ungestüm würde Bork ihm schon austreiben.

„Sag mir, Lind, was ist nah, was ist weit und was ist zu weit.“

Na also. Bork legte schon los. Lind stellte die Sicherung seines Gewehrs mit der großen Revolvertrommel von schwergängig auf Sperrung und legte es sich über die Schulter. „Zu weit ist, wenn wir Elfenland verlassen haben. Was da vor uns liegt, gehört schon zum Gebiet der Drachen, Truppführerin.“

„Weißt du, warum wir hier sind, Klugscheißer Lind?“

„Wir sollen in den Drachenbergen Gestaltwandler und Mischblüter fangen, Truppführerin.“

„Richtig, Lind. In den Drachenbergen. Und der Befehl dazu erging direkt vom Elfenrat. Stimmt doch, Immergrün, oder sollte ich da falsch unterrichtet worden sein?“

Lufthauch schaute unwillkürlich von Lind zu Immergrün und grinste. Das musste man Bork lassen. Sie wusste, wie es ging. Erst stauchte sie Lind zusammen und dann nahm sie ihn aus der Schusslinie, indem sie die Aufmerksamkeit auf Immergrün lenkte. Auch diesen Mann sah er heute zum ersten Mal. Er wusste über ihn nur, dass der Elfenrat ihn als Beobachter abgestellt hatte. Ihn mitnehmen zu müssen, passte Bork gar nicht, aber sie war klug genug, sich nichts anmerken zu lassen. Dieser Immergrün lief in einem grob gewirkten Nesselanzug herum, mit dem er überall hängen blieb und so ständig für kleinere Verzögerungen sorgte. Immerhin war er klug genug gewesen, sich ein Paar vernünftiger Schuhe anzuziehen. Bork gab ihm jetzt die Aufmerksamkeit, auf die er gern verzichtet hätte. Wer sich bei ihr für besonders hielt, wurde schnell ins Bein gebissen.

„Vom Elfenrat oder von seinem Ersten Berater, was auf dasselbe hinausläuft“, beantwortete Immergrün Borks Frage, und Lufthauchs Grinsen wurde noch breiter.

„Zufrieden, Lind?“, bellte Truppführerin Bork.

„Ja, aber …“

„Kein aber, Lind. Schluss jetzt. Und Lufthauch, solltet Ihr nicht besser an die Spitze gehen?“

Lufthauch straffte sich. Recht hatte sie. Da gehörte er eigentlich hin. Aber heute war ein verquerer Tag. Das fing schon mit dem Sonnenlicht an, das seine Augen ungewohnt reizte. Und trotz der Sonne war ihm kalt geworden. Die Bergluft schnitt ihm bei jedem Atemzug in die Lungen. Der reiche Duft des Waldes war der Reinheit der Höhe gewichen und roch nach – er sog die Luft ein und staunte – sie roch nach nichts. Wie war es möglich, dass man sich so voller Leben fühlte und gleichzeitig innen so leer war? Er legte die Hand auf seine Brust. Sein Herz schlug ruhig und kräftig. Er horchte tiefer in sich hinein. Es war nicht er selbst, der zu zittern begonnen hatte. Es war die Erde. Sie schüttelte die Büsche durch und rumpelte in der Tiefe, als ob sie Verdauungsstörungen hätte. Aus dem Zittern wurde ein Rütteln, und Lufthauch verlor sein Gleichgewicht endgültig. Er wankte, ging in die Knie und hielt sich an einem Busch fest. Keine gute Idee. Der Busch gab nach und Lufthauch fiel auf die Seite.

„Lufthauch, alles in Ordnung mit Euch?“

Der Waldläufer rappelte sich wieder hoch. Das fehlte jetzt noch, dass er sich vor den anderen zum Gespött machte. War er denn der Einzige, der hier litt? Er schaute in die Augen seiner Gefährten und fand nur vorsichtige Neugier und etwas Belustigung. War wohl einfach nicht sein Tag. Die Worte kamen ihm etwas stockend, als er sich um eine Antwort bemühte. „Wird schwierig. Wir sind hier am Ende …“

„… der Welt?“, fragte Bork und lachte.

„Nein, nicht der Welt. Nur des Waldes“, sagte Lufthauch, dem im Augenblick der Sinn für Spaß abhanden gekommen war. Er hatte Mühe seine aufkommende Panik zu zügeln, als er verstand, dass Bork genau das ausgesprochen hatte, was er fürchtete. Das Ende der Welt. Als wenn es morgen all das hier nicht mehr gäbe. Es ist ein Fehler gewesen, das Land der Drachen zu betreten, dachte er und fühlte die Panik in sich wachsen. Hier können wir nicht überleben. Wir hätten den Wald niemals verlassen dürfen. Der Wald ist unsere Heimat. Wir müssen unbedingt …

Äste brachen, Ein Schrei voller Entsetzen und Todesangst. Windteufel zerrissen die Luft, fügten sie wieder zusammen und ließen sie um sich herumwirbeln. Abgerissene Blätter, Dreck, kleine Steine flogen durch die Luft. Lufthauch schlug die Hände vors Gesicht. Dann ein Kreischen, das die Herzen stillstehen und das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ein dumpfer Rhythmus schwer schlagender Flügel. Lufthauch ließ die Arme sinken und sah einen massigen Körper aus den Büschen aufsteigen. Die Sonnenstrahlen brachen sich in dem Schuppenpanzer. Der Hals machte sich lang, das Maul öffnete sich und blies Feuer. Ein Drache! Der erste, den er je aus der Nähe gesehen hatte.

Wie gelähmt vor Angst und Faszination sah Lufthauch dem Drachen hinterher, verfolgte seinen Flug zur Sonne. Für einen Moment erschien es ihm, als würde der glühende Ball im nächsten Moment verschluckt werden, doch dann wurde die Silhouette kleiner, und der Drache glitt in einem weichen Schwung über Bergrücken und Täler, bevor er irgendwo im Dunst verblasste. Lufthauchs Panik verschwand mit ihm. „Danke“, wollte er dem Drachen nachrufen, doch das Einzige, was er zustande brachte, war ein schmalbrüstiger Laut von Trauer und Enttäuschung. Das Tier war fort und hatte seine Magie mitgenommen, zurück blieben Bewunderung und Sehnsucht. Dieses Mal ging es den anderen wie ihm. Er sah sie zusammenrücken. Truppführerin Bork, ihre Jäger Lind und Maitrieb und auch Immergrün, an dem sein Blick sich jetzt festsaugte. Wie hatte Bork sich ausgedrückt? „Ich führe diesen Trupp, aber ich stelle ihn nicht zusammen.“ Vorsichtiger konnte man Vorbehalte kaum ausdrücken. War dieser Immergrün mit ihnen gekommen, um einmal in seinem Leben einen Drachen zu sehen? Lufthauch bezweifelte es stark.

„Wenn ich einen Drachen fliegen sehe, habe ich immer den Eindruck, ich würde Magie atmen. Kein Vogel fliegt so wie ein Drache“, sagte Maitrieb, erster Jäger unter Bork.

„Wie fliegt denn ein Drache?“, wollte Lind wissen.

„Hast du es nicht gesehen? Majestätisch, magisch, überirdisch, in einem Schwall himmlischer Klänge. Such dir etwas aus, mein Junge. Man müsste ein Dichter sein, um es zu beschreiben.“

Lufthauch hörte die Worte. Er hatte nichts davon erlebt. Größe hatte er gesehen. Aber himmlische Klänge? Seine Ohren hatten ihm nur Kriegslärm gemeldet.

„He, was ist los mit dir, Waldläufer?“, rief Bork jetzt schon das zweite Mal. Aber die Antwort konnte Lufthauch sich ersparen, denn Bork hatte kaum gesprochen, als die Zweige der Büsche wie wild um sich schlugen und ein zweiter Drache auftauchte. Er bemühte sich gar nicht erst abzuheben und ließ hinter sich einen Pfad der Zerstörung zurück. Der rechte Flügel musste der Grund für dieses merkwürdige Verhalten sein. Er klebte am Körper fest. Gelähmt oder früher einmal gebrochen und die Knochen falsch zusammengewachsen. Obwohl Lufthauch noch nie gehört hatte, dass Drachenknochen überhaupt brechen konnten. Dieser Drache schien älter zu sein als der erste und größer. Seine Schuppen glänzten matt wie polierter Stahl im Morgennebel mit einem leicht rötlichen Schleier der Morgensonne darüber. Oder wie Flugrost auf einer verlorenen gegangenen Klinge, die zu spät wiedergefunden wurde, dachte Lufthauch. Mit jedem stampfenden Schritt bohrten sich die Krallen in den Boden. Die mächtige Brust und der hängende Bauch blähten sich bei jedem Atemzug auf, und aus dem halbgeöffneten Rachen fegte ein Sturmwind heraus, der Büsche und Bäume zu einer demütigen Verbeugung zwang. Lufthauch war froh, dass der Drache kein Feuer spie. Zwei Drachen. Zwei Kräfte. Zwei unterschiedliche Meinungen. Lufthauch verstand plötzlich seine Panik und den Kriegslärm. Die beiden hatten miteinander gestritten. Da war er sich sicher.

He, konnten Drachen Gedanken lesen? Oder warum war das mächtige Tier plötzlich stehen geblieben, bog nun seinen Hals und schaute ihn an? Aus Drachenaugen, die keinen fremden Willen zuließen. Der Waldläufer wollte dem Drachen zuzuwinken, freundlich tun, aber er konnte die Hand nicht heben und musste tatenlos zuschauen, wie der Drache und zu ihm sprach. Denn ganz offensichtlich tat er das, auch wenn Lufthauch nichts hörte. Und mit jedem Wort, das das Drachenmaul verließ, legte sich eine weitere Schicht Magie über die Landschaft, bis Lufthauch am Ende nicht mehr erkennen konnte, was wirklich und was Illusion war.

„Hoah, schon wieder der Dr-Dr-Drache“, stotterte Lind. „Und jetzt ganz nahe.“

„Das waren zwei Drachen, Lind“, sagte Maitrieb, dessen Blick sich wieder klärte, und legte dem jungen Jäger die Hand auf die Schulter. „Hast du nicht gesehen? Der erste ist weggeflogen und der zweite hatte einen lahmen Flügel. Unser Volk kennt ihn gut. Es gibt viele Geschichten über Kriecher, den Drachen.“

„Kein Drache sollte Kriecher heißen“, sagte Bork. „Auch dann nicht, wenn ein Flügel verkrüppelt ist. Drachen sind Götter.“

Immergrün lächelte verächtlich. „Die Götter sind tot. Wisst Ihr das nicht, Truppführerin Bork?“

Die Trugbilder schwanden mit jedem Schritt des davonstampfenden Drachen, bis er noch einmal stehenblieb und über die Schulter zurückblickte. Lufthauch war sich sicher, dass Kriecher nur seinetwegen stehen blieb. Der Drachenkopf wurde kleiner, runder und zu dem einer jungen Frau. Das Bild blieb verschwommen. Er konnte nicht sagen, ob es das Gesicht einer Elfe oder eines Menschen war. Mit dem Bild kam ein Gefühl, dass es nichts auf der Welt gab, was für ihn wichtiger war als diese Frau. „Noch nie gesehen“, wollte er sagen, bekam aber kein Wort heraus.

Offensichtlich war er der Einzige, der dieses Trugbild gesehen hatte, denn die anderen redeten einfach weiter, als wäre nichts geschehen. Lind sagte: „Ich habe noch nie in meinem Leben einen Drachen gesehen. Und jetzt gleich zwei.“

Bork traf einen Entschluss. „Kehren wir um Männer. Hier suchen wir nicht weiter. Wir sind Zeugen von etwas wirklich Großartigem geworden. Gehen wir stattdessen den Waldrand entlang und halten die Augen offen. Müsste doch mit den Baumgeistern zugehen, wenn sich dort nicht der eine oder andere dreckige Blutschänder herumtreiben würde. Den nehmen wir dann gleich mit.“

Sie wurden immer mehr, diese Kinder einer unerlaubten Beziehung zwischen Elf und Mensch. Und auch die Erde zitterte immer häufiger. Dazu noch die … Warum musste Lufthauch auf einmal wieder an das Ende der Welt denken?




Lufthauch


„Die Reinheit der Rasse ist heilig.“

„Und heilig das Leben, wenn Vernunft es erfüllt. Setz dich, Lufthauch.“

Lufthauch schaute sich um. Es gab hier nur einen Stuhl. Der befand sich auf der anderen Seite eines Tisches, und Sumpfwasser saß darauf. Keine Hocker, und es fehlten auch von Magie kunstvoll herbeigebogene Äste, die sich als Sitzgelegenheit nutzen ließen. Da hingen nur diese vier geflochtenen Körbe an dünnen Ketten von der Decke herab. Saß man erst einmal in diesen Halbkugeln, kam man nur schwer wieder heraus. Jeder Waldläuferinstinkt musste bei diesem Anblick aufschreien. Als er sich dann tatsächlich setzte, tat er das linkisch und umständlicher, als es seine Art war. Ich muss mir Zeit lassen, darf nichts überstürzen.

Dass die Wehrhüter Lufthauch riefen, war nicht ungewöhnlich. Er hatte schon mehrfach kleinere Aufträge übertragen bekommen. Aber hier saß ihm nicht irgendwer gegenüber, sondern der Erste Berater des Großen Elfenrates. Der stand für alles, womit sich der Rat beschäftigte, und noch Etliches mehr. Er war das Machtzentrum des Elfenvolkes. Wie konnte ein einzelner Mann nur so viel Macht in sich vereinigen? Und, vor allem, was konnte dieser Mann ausgerechnet von ihm wollen? Wie soll ich mich geben? Etwas untertänig, oder besser eifrig? Nein, besser gleichgültig, denn Gleichgültigkeit … Bevor Lufthauch zu einer Entscheidung gelangen konnte, berührten seine Beinkleider bereits die verflochtenen Äste der Korbkugel und er saß. Sumpfwasser hingegen war aufgestanden, hatte ihm den Rücken zugekehrt und schaute über die Wipfel der Bäume. Ein Anblick, den er nur deswegen genießen konnte, weil sich der Arbeitsplatz eines Ersten Beraters selbstverständlich in der höchsten Baumkrone befand. Das wirkte alles nicht richtig hier. Lufthauch drängte es danach, wieder aufzustehen.


Die leisen Geräusche der Korbkugeln verrieten Sumpfwasser das Unbehagen seines Gastes. Betont gelassen kehrte er an seinen Platz zurück. Er schaute durch Lufthauchs Unsicherheit hindurch wie durch ein schlecht geknüpftes Spinnennetz. Unsicherheit führte leicht zu einem unberechenbaren Verhalten. Und nichts konnte er im Augenblick so wenig gebrauchen wie Unberechenbarkeit. Hoffentlich habe ich mich nicht in dir getäuscht, mein Junge, dachte er und versuchte sich an einem Lächeln. Es gelang ihm nur deshalb, weil es sich über eine Andeutung nicht hinaus traute. „Du bist also der, den man den Waldläufer nennt“, sagte er. „Ich habe viel von dir gehört.“

„Ein Name ohne Bedeutung. Sind nicht alle Elfen Waldläufer?“

Angriff, Abwehr, Gegenstoß. Dieser Lufthauch war schnell und gespannt wie ein Jagdbogen vor dem Schuss. Es würde nicht einfach werden, zu dem einzigen Punkt zu kommen, um den es wirklich ging. Für einen Moment herrschte Stille in dem luftigen Wipfel. Die Sonne zeichnete Kringel auf den Anzug des jungen Mannes. Der Wind musste draußen etwas aufgefrischt sein, er brachte jetzt die Luft im Raum ebenfalls in Bewegung. Die Korbkugel unter Lufthauch knarrte, als sich das Gewicht, das sie trug, verlagerte. Für Sumpfwasser war dieses Geräusch immer wieder eine Offenbarung. Kein Knarren glich dem anderen. Unter jedem Gewicht, jeder Körpergröße und -form erklang der Korb anders. Schon manch ein Besucher hatte sich gefragt, warum hier überhaupt Kugeln hingen und es keine anderen Sitzplätze gab, doch niemand hatte es bisher gewagt, diese Frage auszusprechen. Sollte er verraten, dass ihm die Kugeln Geschichten über die Menschen erzählten, die darin saßen? Gleichgültig, worüber gesprochen wurde, am Ende wusste er immer viel und der andere nichts. So würde es auch dieses Mal sein.

„Das sind kluge Worte für einen so jungen Mann“, sagte er schließlich. „Aber bedenke, wenn jeder Elf ein Waldläufer ist, was wäre dann der, den die Leute so nennen?“

Lufthauch dachte nur kurz nach. „Vielleicht jemand, der sich lieber draußen als drinnen aufhält?“

„Gut geantwortet. Es hilft in vielen Situationen, wenn man um das rechte Wort nicht verlegen ist. Aber lass uns zur Sache kommen. Das hier …“, Sumpfwasser machte eine weit ausladende Handbewegung, „… ist nicht ein Ort, an dem du dich gerne aufhältst, und deshalb möchte ich dich auch nicht lange festhalten. Ich habe dich kommen lassen, weil ich nur Gutes über dich gehört habe und weil ich jemanden mit deinen Fähigkeiten brauche, jemanden, der nicht gesehen wird, wenn er nicht gesehen werden will. Ich selbst werde in nicht allzu kurzer Zeit eine Viertelelfe nach NA-R schicken, und ich brauche eine Person von hoher Zuverlässigkeit, der ich vertrauen kann. Du sollst die Frau auf ihrer Fahrt zu unserer Quarantänestation so überwachen, dass sie dich nicht bemerkt. Sie wird einen Frachter der Gesellschaft von der Bergarbeitersiedlung bis hin zur Station nutzen. Dort übernimmt unser Kontakt, und deine Aufgabe ist beendet. Das ist alles. Hast du das soweit verstanden?“

Durch den Baumwipfel kam ein Vogel zu ihnen geflogen, setzte sich auf eine Stange, sang ein kurzes Begrüßungslied und putzte sich das Gefieder. Sumpfwasser erhob sich, ging zu dem Vogel, strich ihm über den Kopf und entfernte etwas von dessen Bein. Dann setzte er sich wieder hin und wartete auf eine Antwort aus dem Hängekorb.


„Sicher. Da gibt es nicht viel zu verstehen. Ganz im Gegenteil. Das ist so einfach, dass ich mich frage, wofür ich überhaupt gebraucht werde.“ Das merkwürdige Unbehagen hatte nicht weichen wollen. Lufthauch war sich sicher, dass er dieses Gefühl schon einmal und vor gar nicht so langer Zeit gehabt hatte, konnte sich aber nicht erinnern, wo und wann das gewesen war. Sumpfwasser ließ ihm auch nicht die Zeit, dieser Gedankenspur nachzugehen.

„Der Viertelelfe darf unter keinen Umständen etwas passieren, hörst du? Sollte doch etwas Unerwartetes geschehen, musst du handeln, selbst auf die Gefahr hin, dass sie dich dann bemerkt. Ihre Sicherheit steht über allem.“

Lufthauch sah winzige Schweißperlen auf der Oberlippe des alten Mannes. „Sie ist ein Dreiviertelmensch“, sagte er.

„Na, na, Viertelelfe klingt doch viel netter. Das macht sie zu einer von uns, was sie in gewisser Weise ja auch ist.“

„Warum lasst Ihr sie nicht einfach durch einen unserer Wehrhüter bewachen?“