Daan Heerma van Voss

Abels letzter Krieg

Roman

Aus dem Niederländischen
von Gregor Seferens

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Daan Heerma van Voss

Daan Heerma van Voss, geboren 1986, lebt in Amsterdam. In den Niederlanden zählt er zu den wichtigsten Autoren der jüngeren Generation. Er veröffentlichte mehrere Romane und schreibt regelmäßig Beiträge für internationale Zeitungen, darunter ›The New York Times‹, die amerikanische ›Vogue‹ und ›Svenska Dagbladet‹. Zusammen mit seinem Bruder Thomas Heerma van Voss schrieb er den Thriller ›Zeuge des Spiels‹. Daan Heerma van Voss war 2018 Stadtschreiber in der niedersächsischen Stadt Bergen.

 

Gregor Seferens, geboren 1964, übersetzt seit über zwanzig Jahren aus dem Niederländischen, u.a. Werke von Harry Mulisch, Geert Mak, Maarten ’t Hart. Seine Arbeit wurde mit dem Else-Otten-Preis sowie dem James-Brockway-Preis ausgezeichnet.

Über das Buch

Für Abel Kaplan läuft es alles andere als gut. Seine Frau Eva trennt sich von ihm, er verliert seinen Job an der Schule. Vielleicht ist es immerhin die Zeit, endlich das eine ganz große Buch zu schreiben. Als ihm das unbekannte Tagebuch eines Lagerinsassen in die Hände fällt, wittert Abel seine Chance: Er will und kann aus der Vergangenheit Lehren ziehen, er will sich gegen Verfolgung und eine Gesellschaft stemmen, die diese zulässt. Was am Schreibtisch beginnt, setzt sich schnell fort ins Leben. Abel ist bereit, sehr viel zu riskieren, um einen jungen Flüchtling vor der Abschiebung zu bewahren.

Impressum

Die Übersetzung dieses Buches wurde von der niederländischen Stiftung für Literatur gefördert

 

Deutsche Erstausgabe 2018

Die niederländische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel ›De laatste oorlog‹ bei De bezige Bij, Amsterdam/Antwerpen.

© 2016 Daan Heerma van Voss

© der deutschsprachigen Ausgabe:
2018 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

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eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43452-2 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-28968-9

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423434522

Teil eins

»Absolutley wie zinj heir!«

1988

1.

Zwei Menschen, ein Mann und eine Frau, vierundzwanzig und zweiundzwanzig Jahre alt, erstarrt im Blitzlicht. Bis dahin hatte ihr Zusammensein aus Nächten und Morgen bestanden, aus Ausschlafen und Aufwachen, sie lachten und schmusten und küssten sich, die Wiederholung war berauschend. Die klammen, knittrigen Laken hatten etwas von einem Hochgebirge auf einer Landkarte. In der Mitte dieser Karte befand sich ein Tal aus ausgeleierten Sprungfedern, das sie liebevoll die Fickkuhle nannten.

Eines Morgens nahm er seine Kamera und stellte sich aufs Bett. Sie lag, an der Kuppe ihres Daumens nagend, nackt unter ihm, ihre Taille zitterte vor Lachen – das war das Motiv, das er festhalten würde. Im Moment des Blitzes wusste er, dass er dieses Bild vergrößern und einrahmen lassen würde, das Ding musste über ihrem Bett hängen, dann konnte er zumindest sicher sein, dass sie ihn auch in Zukunft ansehen würde. Obwohl er nicht mit abgebildet war, würde er doch jedes Mal, wenn er das Foto betrachtete, auch sich selbst sehen. Dieses Foto war ihr Versprechen an die Welt.

Was sie damals nicht wussten, war, dass ihr Verhältnis zu den mit der Zeit sich verändernden Versionen ihrer selbst immer schwieriger werden würde. Zunächst erkannten sie sich noch darin, und sie stimmten einigermaßen mit ihnen überein. Doch im Laufe der Zeit sollte sich zeigen, dass die Jahre unkomplizierter Perfektion definitiv vorbei waren. Es gelang ihnen nicht mehr, so zu lächeln wie auf dem Foto, die Heiterkeit des eingefangenen Moments wirkte wie ein Kommentar zur stillen Gegenwart: Die Frau auf dem Foto lachte sie beide aus.

Am Ende sollten zwei Fragen übrig bleiben. Welche Leben waren an die Stelle des Versprechens getreten? Und vor allem: Würden der Mann und die Frau ihre letzte Chance, das Versprechen zu erfüllen, ergreifen oder ungenutzt verstreichen lassen?

2013

2.

»Wer ist dieser Fremde?«

Das waren die ersten Worte, die Abel Kaplan an Eva Kaplan richtete, die nur noch dem Namen nach seine Frau war. Das Schweigen hatte ihn unruhig gemacht. Sie durfte nicht vergessen, dass er da war. Noch einmal. »Wer ist dieser Fremde?«

Eva hörte nicht auf zu lächeln, das machte sie wirklich gut, gab Wange-an-Wange-Begrüßungsküsschen, winkte allen zu, glitt durch die Menge und führte ihn in eine ruhige Ecke ihres olympischen Lofts. Um ihn herum Frauen mit auffälligem Schmuck, die ihre Karriere zu ihrem einzigen Kind ausgerufen hatten; grau werdende Männer mit zurechtgestutzten Backenbärten. Ihre Leute. Kaplan und Eva stellten sich neben eine Zimmerpflanze, die sie zweifellos aus Suriname oder Brasilien hatte einfliegen lassen. Aus einer Gläserreihe nahm sie zwei Champagnerkelche.

»Ich hab da gerade Spieße mit nur einer einzigen Garnele gesehen«, sagte Kaplan. »Nur weil du die jetzt nicht essen darfst, heißt das nicht, dass du deine Gäste darunter leiden lässt. Oder gehen die Geschäfte etwa schlecht?«

So leicht ließ sie sich nicht aus der Reserve locken. Nicht mehr. »Ich werde nachfragen, ob jemand drei Garnelen auf einen Spieß stecken kann. Speziell für dich. Hörst du dann auf zu quengeln?«

»Das Wort habe ich lange nicht gehört.«

»Du mit deiner ewigen Sprachnostalgie.« Sie nippte an ihrem Glas, ihr roter Lippenstift hinterließ den Abdruck eines perfekten, schmalen Mundes.

»Wer ist dieser Fremde?«, fragte er erneut.

»Du meinst: der Ausländer? Oder willst du zeitlich noch weiter zurück und sagen: der Neger?«

»Wie immer du es nennen willst.«

»Es?« Sie musste nicht in den Raum schauen. Nur einer entsprach der Beschreibung. »Das ist Herr Trustfull, Schatz. Frank.«

»Herr Trustfull. Frank. Und was macht dieser Herr Trustfull, Frank?«

»Er arbeitet im Ministerium.«

»Das ist aber interessant: Der erste Ausländer, der je zu einer deiner Partys gekommen ist. Ist Herr Trustfull, Frank, vielleicht hier, weil er dein Neuer ist?«

Sie trat näher an ihn heran. Die Narbe unter ihrem rechten Auge, von Make-up verdeckt, warf Schatten. Eine Kriegsverletzung in Friedenszeiten, vor fünfzehn Jahren erlitten, zu Silvester, als sie gemeinsam – einmal und nie wieder – einen Truthahn zubereitet hatten, mit einer Füllung aus wildem Reis und Äpfeln. Sie hatte sich an einem Topf verbrannt, war zurückgewichen und hatte sich dabei an einem Wandschrank gestoßen. Eine Metalldose mit andalusischen Kräutern war heruntergefallen und hatte ihr Gesicht getroffen. »Willst du wissen, ob ich mit ihm schlafe? Ob der Sex mit ihm besser ist? Ob ich mit ihm an meiner Seite besser aufwache?«

Er streckte die gespreizten Finger aus, damit sie schwieg, doch diese Schlacht hatte eindeutig sie gewonnen, sie kannte seinen Abscheu vor Banalitäten. Nun musste er zusehen, sie zu übertreffen, dieser tödlich ermüdenden Dynamik musste Respekt gezollt werden. »Es ist mir egal, ob du dich mit Surinamern abgibst. Ich will nur darüber informiert werden, wenn unsere Vereinbarung endgültig außer Kraft gesetzt wird.«

Etwas Verletzliches schlich sich in ihre Augen, etwas von vor langer Zeit, etwas, das ihn nur noch mehr ausschloss – ihre Verletzlichkeit war nicht mehr seine Sache. »Ach, Abel«, seufzte sie, »noch immer grob, wenn du dich fürchtest. Und nenn es bitte nicht Vereinbarung, denn das ist es nicht.« Er zuckte mit den Schultern, sie kam näher und bückte sich. Sie machte sich daran, seine Schnürsenkel zu binden, wie sie es früher hin und wieder getan hatte. Als sie sich wieder aufrichtete, war ihr Gesicht gerötet.

»Vielen Dank«, sagte er. »Und fürchten tu ich mich schon lange nicht mehr.«

Sie schaute sich um, das Rot verblasste.

»Du siehst übrigens gut aus«, sagte er. Sie nickte. Die Atmosphäre hatte sich auf verstörende Weise beruhigt. »Und?«, fragte Kaplan. »Ist zu befürchten, dass sich alles verändert?«

»Noch nicht. Vielleicht. Anyway, jetzt muss ich wieder zu meinen Gästen. Trink genug, um unauffällig zu bleiben, aber nicht so viel, dass du betrunken wirst.« Ohne auf seine Reaktion zu warten, ging sie. Die zierlichen Waden, das fledermausförmige Muttermal in ihrer rechten Kniekehle. Es war unerträglich, wie weit sie es gebracht und wie wenig sie ihn dafür gebraucht hatte. Der einzige Gradmesser für Liebe, der nie an Gültigkeit verlieren würde, war Verlust. Aber man kann nicht leben und zugleich nichts zerstören, sagte er zu sich selbst.

Im Champagnerglas sah Kaplan seine Gestalt, das mattschwarze Haar, die schmale Nase, die Ringe unter den Augen. Und hinter sich die vielen Lichter der großen Stadt, die niemals älter wurde. Auf zwei großen Plasmabildschirmen lief tonlos ein Ruderwettkampf. San Francisco. Was stimmte nicht mit der lokalen Regattastrecke?

 

Inzwischen standen Dutzende Menschen dichtgedrängt, tuschelnd, plaudernd und einander flüchtig auf die Wange küssend. Komplimente surrten unaufhörlich hin und her. Jemand rief etwas, eine kurze, kaum verständliche Rede ebbte durch den Raum. Überall fanden Männer, die ihm nicht gefielen, und Frauen, die er nicht ansprach, in gleichartigen Gruppen zueinander, wie Seeanemonen, die sich am Gestein festsaugten. Und ein jeder ließ wieder los, trieb dahin im Strom des Getratsches darüber, wer dick geworden war und wer eine Fehlgeburt erlitten hatte, um dann bei einer anderen Gruppe anzudocken.

Früher war seine Rolle eindeutig gewesen. Der Mann an ihrer Seite, des Mittelpunkts der rotierenden Anzüge: Eva Kaplan. Er hatte ihren Nachnamen angenommen und nie wieder hergegeben. Dem Midrasch zufolge hat ein Mensch drei Namen. Den, womit seine Eltern ihn ansprechen, den, den die übrige Welt verwendet, und den, den er sich verdient. Der letzte ist der mit Abstand wichtigste. Seinen ersten Namen hatte er inzwischen fast vergessen. Wie andere ihn nannten, interessierte ihn kaum. Der dritte Name, Kaplan, war wie ein lieb gewonnenes Narbengewebe.

Er schloss die Augen. Auf Evas Partys gab es immer klassische Musik. An diesem Abend ein Trio aus ernsthaften Mädchen mit langem glänzendem Haar, die nur allzu bekannte Stücke auf ihren Geigen schluchzen ließen. Früher, als sie noch zusammen waren, hatten sie für einen Zehner Elias Kontrabass vom Leidseplein geholt, um die Gespräche im kleinen Wohnzimmer mit Hintergrundmusik zu versehen – ein Stunden dauernder hymnischer Gassenhauer auf ihre Liebe.

Es war ihr Zuhause gewesen, klein, genau groß genug. Jedes Mal, wenn sie Teewasser aufsetzten, wurde das Licht der Stehlampe eine Spur fahler, es gab nicht genug Strom für mehrere Geräte. Wintermäuse patrouillierten auf der Suche nach herabgefallenen Brotkrumen durch die Wohnung, und nicht nur einmal nagten sie Stücke aus dem Schritt von Evas Slips. Zusammen träumten sie von einem größeren Apartment, von genügend Platz im Schrank, um die sich in den Ecken stapelnden Bücher unterzubringen, von einem Service für echte Diners.

Sie waren 1986 ein Paar geworden. Eva war zwanzig, er zweiundzwanzig, das Alter kam ihm jetzt vollkommen unwirklich vor. Wer war er mit zweiundzwanzig gewesen? Kaplan versuchte, sich daran zu erinnern. Er war entwurzelt. Damals schon. Hatte sich seinen Eltern nie verbunden gefühlt, hatte sich aber immer für die Zeitspanne interessiert, die sie hervorgebracht hatte und die für ihr Schweigen verantwortlich gewesen war. Er hatte zwar schon geschrieben, doch die Beweise dessen versteckt.

Er hatte Geschichte, sie Kunstgeschichte studiert. Sie hatten beide dasselbe Seminar besucht, »Kunstgeschichte des Dritten Reichs«, das von Herrn van Donselaar veranstaltet wurde, einem Mann mit der Ausstrahlung einer Reliquie.

Es war ihr Nacken gewesen, das hochgesteckte Haar, das die Konturen von Kiefer und Hals so betonte, ein Gesicht, das man gleichermaßen als hart wie auch als sanft bezeichnen konnte; das war jemand, der nie einen anderen brauchen würde. Sie war der lebende Beweis dafür, dass es in den Niederlanden sehr wohl noch Klassen gab, will sagen: Unterschiede zwischen denen und dir.

Sie hatte sich zu spät angemeldet.

In den ersten Stunden war er derjenige gewesen, der den Ton angab, Mitstudenten Kommentare zuflüsterte, belesen wirkende Scherze machte. Dann hatte sie den Raum betreten, sich entschuldigend, doch ohne auch nur einen Moment ihre Würde zu verlieren. Sie war an ihm vorübergegangen, er hatte zum ersten Mal das Muttermal in ihrer Kniekehle gesehen und war verstummt. Ihr Selbstvertrauen hatte etwas Aggressives. Plötzlich konnte er sich nichts Befriedigenderes vorstellen, als von ihr angesehen zu werden. Die Jungen stellten Spekulationen über ihren Hals, ihre Brüste, ihr Leben an. Sie spekulierten, folglich wussten sie nichts.

Als eine Vorlesung ausgefallen war, hatten sie eine Studentenkneipe aufgesucht, um etwas zu trinken. Sie brach das Eis, indem sie auf ihr Glas starrte und verträumt sagte, sie liebe Korkkrümel, die im Rotwein schwimmen. Spontan küsste er ihre Hand. Er war nicht sonderlich gut im Hinblick auf Frauen, doch mit ihr würde es anders sein, mit ihr würde er anders sein.

So hatte es angefangen, mit Wein, mit Korkenstückchen. 1986. Kaplan konnte Dinge mit ihrem Körper und ihrem Verstand machen, die er nicht für möglich gehalten hätte, jedenfalls nicht während der ersten Monate, als der Sex mühsam gewesen war und die Gespräche – die sie »echte Gespräche« nannte: über Ziele und Ängste – anstrengend. Doch sie gewöhnten sich aneinander, sie verlernten das Alleinsein. Zeit verstrich beim Im-Bett-Liegen. Am Ende des Tages waren da immer das große Laken, vertrauter Schweißgeruch, Nickerchen auf dem Kissen, das Einander-vor-Kälte-und-Mücken-Beschützen, die Außenwelt, die keine Bedeutung hatte. Und das jahrelang.

1993 heirateten sie. Er neunundzwanzig, sie siebenundzwanzig, ein gutes Alter, um mit dem zu beginnen, was sie damals »das richtige Leben« nannten. Doch unter der Chuppa, dem Hochzeitsbaldachin, dem Symbol für das Dach, unter dem das Paar wohnen wird, wurde Kaplan von einem Gefühl der Schwere überrumpelt. Er konnte den Mund nicht bewegen, seine Augenlider zitterten. Ein Flüstern durchzog ihn, das ihn daran erinnerte, wie sorglos er die vergangenen Jahre gewesen war. Wie unachtsam. Wenn es mit ihnen jemals schiefgehen sollte, dann wäre, so wurde ihm bewusst, seine Trauer größer als ihre. Auf einmal hatte er es in ihren Augen gesehen.

Doch der Anfall von dunkler Melancholie verging rasch wieder, Kaplan lächelte, und sein Blick war klar. Hatte es sich nur um einen Angstspasmus des Geistes gehandelt oder um eine Vorahnung? Wenn es eine Vorahnung gewesen war, wie konnte er ihr entkommen? Vielleicht bedeutete ein erwachsenes Leben ja: nicht länger versuchen zu entkommen. Er zertrat ein Glas, als wäre es der Tempel. Masel tov aus allen Kehlen.

Nun waren wohl alle da. Die Tür wurde zugemacht: Das Portal, durch das noch ein letzter, möglicherweise prominenter Gast zum Vorschein kommen könnte, hatte sich geschlossen. Kaplan machte Anstalten, eine Auster von einem Tablett zu nehmen, doch es dauerte ihm zu lange, bis der Austernmann sie aufgebrochen hatte, und er begab sich erneut zum Tisch mit den Getränken.

Ein Gesprächsfetzen schoss an Schultern vorbei, kreiste umher, taumelte auf ihn herab. Es ging um das social life von irgendwem. Der Begriff ließ sich nicht negieren. Wie viel social life hatte Kaplan noch? Es gab seinen Job in der Schule, Judith lag manchmal neben ihm, küsste ihn. Und Eva war immer noch Teil seines Lebens, an seltenen Abenden war sie die seine.

Sie hatte es so vorgeschlagen.

Einen knappen Monat nach ihrer Trennung hatte sie ihn angerufen. Kaplan erinnerte sich an jedes Wort des Gesprächs. Die verräterische Erleichterung, die er verspürt hatte, als er ihre Stimme hörte: Als würde all der Schleim mit einem Mal aus seiner Kehle gesogen und alle Dumpfheit aus seinem Schädel gepustet.

Sehr bald schon war klar, dass sie ihn nicht zurückhaben wollte, der Schaden sei zu groß, sagte sie. In den vergangenen Wochen habe sie geweint, gefleht, geflucht. Sie habe sehr wohl gelitten, er habe es selbst gesehen. Ihre Zukunft sei passé. Aber ein Get komme nicht in Frage. Der Kernsatz: »Ein Kaplan lässt sich nicht scheiden.« Die Ehe als ewiges Bollwerk, selbst wenn es in Trümmern lag.

Sie habe, ließ sie durchs Telefon verlauten, nun lediglich noch Bedarf an der Person eines Ehemanns, nicht an einem Ehemann als solchem. Es käme nur sporadisch vor, versprach sie. Da war es gerade einmal ein Jahr her, dass sie zu einer der inspirierendsten Frauen der Niederlande nominiert worden war. Sie hatten darüber gelacht, chinesisches Essen bestellt und Fettflecken auf dem Sofa hinterlassen. Doch sehr bald danach war das Lachen endgültig verstummt. Das Streiten begann.

Das Geflüster am Hochzeitstag bewahrheitete sich. Sie ging mit der Trennung tatsächlich viel lockerer um als er. Sie hatte gewonnen. Sein einziger Trost war, dass er ihren Sieg vorausgeahnt hatte. Sie sagte, sie sei bereit für ein neues Leben. Diesen tödlichen Ernst, diese Grimmigkeit hatte er nicht in ihr vermutet. Seine jahrelange Zufriedenheit hatte die Angst, alles zu verlieren, übertönt. Nach dem Telefonat fasste er den Entschluss, dass Genuss und Leichtsinnigkeit Feinde waren, die ihn sein Leben lang begleiten würden, so wie das Dunkel der Nacht oder der Mond.

Sie huschte, zwei perfekt gefüllte Gläser zwischen Daumen und Zeigefinger haltend, an ihm vorüber. Kurz streckte er seinen Arm nach ihr aus – es war eine unwillkürliche Bewegung, die er in den darauffolgenden Minuten vergeblich zu analysieren versuchte –, doch er spürte nur die Luftbewegung, die sie verursachte.

Noch nicht. Vielleicht.

Das salzsäurehaltige Telefongespräch von vor neun Jahren, das sein heutiges Dasein so sehr geprägt hatte. Es war ein verkaufsoffener Donnerstag gewesen, nasser Schnee und der Mond ein böses Auge. Die Person eines Ehemanns. Er hatte sich mit dem Telefon in der Hand auf die Matratze in ihrer leeren Wohnung fallen lassen. Sie war inzwischen ausgezogen, hatte alles, was ihr gehörte – von einer ziemlich hässlichen gelben Teekanne abgesehen – mitgenommen, und ihm waren noch zwei Wochen geblieben, bis er die Miete nicht mehr zahlen konnte.

»Warum?«, hatte er gefragt.

»Diese Diskussion werden wir ganz bestimmt nicht noch einmal führen«, hatte sie geantwortet. »Kann ich mit dir rechnen oder nicht?«

»Was habe ich davon?«

Einen Moment war es still geworden am anderen Ende der Leitung. Dann hatte sie ihn gefragt: »Was willst du haben?«

»Ich will dich.«

»Das geht nicht mehr.«

»Dann will ich dich ab und zu. Ich will hin und wieder neben dir aufwachen dürfen.«

Wenn er gelegentlich seine frühere Rolle spielen sollte, dann musste sie das auch tun. Insgeheim dachte er: Wenn ich bei ihr im Bett bin, kann ich sie daran erinnern, wie es war, kann sie davon überzeugen, es noch einmal zu versuchen. Natürlich dachte er das.

»Ich glaube, das ist keine gute Idee.«

»Das ist keine Idee, das ist eine Forderung.«

»Wir werden sehen, wie wir es machen«, erwiderte sie schließlich.

Das hatte ihm fürs Erste gereicht.

An den Abenden, an denen ihr Ruf um jeden Preis gewahrt werden musste, bei den wichtigsten Essen und Preisverleihungen, höchstens zwei Abende pro Jahr, stand er an ihrer Seite. In den ersten Jahren tat er es noch lächelnd, der perfekte Gastgeber. Manchmal blieb er tatsächlich über Nacht. Für diese Gelegenheiten ließ sie im ersten Zimmer, das vom Flur abging, extra ein Doppelbett aufstellen. Wenn er die Wohnung betrat, berührte Kaplan jedes Mal kurz die Türklinke, um zu fühlen, ob vielleicht jemand anders im Schlafzimmer gewesen war; möglicherweise steckte aber auch Aberglaube dahinter – das Metall war immer kalt.

Er ging als Erster zu Bett, sie brauchte etwas länger und legte sich dann neben ihn. Beim Sex hielt sie die Augen geschlossen, anders als früher. Verlangen, Nostalgie, Freude oder aber Enttäuschung über den Verlauf des Abends – er kannte ihre Beweggründe nicht. Das war ein Minuspunkt, und das wusste er. Trotzdem hatte er sie als einen Triumph empfunden, diese seltsame, für sie zweifellos schwer erträgliche Vereinbarung, die nicht als Vereinbarung bezeichnet werden durfte. Und ganz selten konnte man beim gemeinsamen Sex noch Spuren von Liebe entdecken, das spürte er.

Natürlich war das Ganze eine heikle Konstruktion, es war nur eine Frage der Zeit, bis sie damit auffliegen würden. Das glaubte er jedenfalls am ersten Abend. Doch trat dieser Fall nicht ein. Entweder spielte er seine Rolle sehr überzeugend, oder aber Eva verstand es, jedes aufkommende Gerücht im Keim zu ersticken.

Die mittleren Jahre ihrer Vereinbarung waren schwierig gewesen. Scham hatte Einzug gehalten, Scham wegen des Schüttelns der vielen fremden Hände. Bei ihr wuchs der Abscheu vor seinem Grinsen, ihm war der Geschmack von in IJmuiden geräuchertem Lachs zuwider, und dazu kam die zunehmende Uneinigkeit hinsichtlich ihrer Vereinbarung. Das Einzige, wovon sie immer stärker überzeugt zu sein schien, war, dass selbst die gelegentliche Nähe seines Körpers unerwünscht war. Zweimal hatte er im hölzernen Doppelbett auf sie gewartet, und sie war nicht gekommen. Er würde sie nicht holen, hatte er sich vorgenommen. Nach einer Stunde hatte er sich wieder angezogen und war zurück in seine Wohnung gefahren.

Kaplan starrte auf Evas Gäste, auf die teuren Schuhe und umklammerte den Stiel seines Glases. Seine Augen fingen natürlich wieder an zu jucken, vorsichtig schob er die Kontaktlinsen hin und her. Ein Parfümhauch zog an ihm vorüber, er ließ den Blick schweifen: Um ihn herum standen so viele gleichartige Frauen, dass er den Duft nicht zuordnen konnte. Er fragte sich, ob er an diesem Abend überhaupt Lust haben würde. Das letzte Mal, vor nun schon zwei Jahren, war enttäuschend gewesen. Die Spannung war nicht mehr vorhanden. Am Morgen danach hatten Eva und er dagelegen wie Rosen vor einem Kriegerdenkmal: feierlich, abgeschnitten, über dieselben Dinge schweigend.

Und nun stand er wieder da, wie sie ihn am liebsten sah: willenlos, ein Maßanzug mit einem schlagenden Herzen, ein Mann ohne Lust.

Ihr Job als Leiterin der Abteilung Mittelbeschaffung beim Concertgebouw, den sie seit drei Jahren hatte, hatte sie selbstbewusst gemacht. Sie war von einem Stolz erfüllt, der ihr lange fremd geblieben war. Alle wollten mit ihr reden, und sei es auch nur für ein paar Minuten. Es war eine Frage der Zeit, bis auch an den beiden Abenden pro Jahr jemand anders neben ihr liegen würde. Sie hatte vorher schon Freunde gehabt, doch diesmal würde es anders sein. Dieser Fremde würde endgültig Zugang zu ihrem richtigen Schlafzimmer erlangen.

Da war sie wieder.

Ihr Gesicht anno 2013: komplett gestylt, ein bisschen auf französisch gemacht, das schwarze Haar in einem Knoten, viel Mascara, um die Augen jung wirken zu lassen. Botox, einst ein Begriff so giftig wie Milzbrand, war mittelfristig nicht mehr auszuschließen. Ihre Abstammung fand schlichtweg keinen Platz mehr in ihrem Auftreten. Es erstaunte ihn, wie tief ihn diese Verleugnung traf, ihn, der auf diesen Schmerz kein Geburtsrecht besaß. Er konnte die minutiae ihres Gesichts noch immer fehlerlos lesen. Sie waren inzwischen weniger subtil. Eva wirkte unzufrieden, gehetzt; sie suchte jemanden, oder vielleicht missfielen ihr die Häppchen. Es war nicht seine Aufgabe, ihr zu helfen. Er ging wieder zum Tisch mit den Getränken, nächste Runde.

 

Eine halbe Stunde später nahm er eine formlose Delikatesse von einem Tablett, besann sich und legte sie auf dem Kaminsims ab. Er sah nach den Champagnergläsern, die auf dem Marmor standen, welches war befingert und welches nicht? Er schwankte zwischen zwei identischen Kelchen und stürzte dann den Inhalt des einen hinunter, wobei der Rand des Glases an seine oberen Schneidezähne stieß.

Während ihrer Ehejahre waren Eva und er wie zwei Bleikügelchen auf einer altmodischen Waage gewesen, in perfektem Gleichgewicht. Bis auf die eine Waagschale ein Finger gelegt wurde. Woher der Finger kam, blieb ein Rätsel, aber er lag da, schwer und drängend. Die Kugeln kamen ins Rollen. Öde kündigte sich an: Die Stunden in ihrem friedlichen Heim wurden immer länger. Sie führten jede Woche dieselben Gespräche. Gemeinsame Angewohnheiten – auf dem Markt Fisch kaufen, beim Italiener Eis holen – verloren ihre Bedeutung. Sie glaubten, es sei jeweils Aufgabe des anderen, als Erster die Initiative zu ergreifen. Und gleichzeitig hatte sie zunehmend Erfolg, während er in Vergessenheit geriet. Wenn ihn jemand nach seinem Beruf fragte, sagte er meist ohne Scham: Schriftsteller. Auf die Frage, ob man damit Geld verdienen könne, erwiderte er: Wenn man gut ist, schon. Als er sieben Jahre nach seinem ersten Roman noch immer kein Konzept für den zweiten vorgelegt hatte, konnte er nicht mehr mit einem neuen Vertrag rechnen. Richtige Schriftsteller schreiben, hatte sein Verleger gesagt.

Kaplan nahm ein großes Glas Wasser, um den Champagner zu verdünnen, und leerte es in großen Zügen. Er schaute sich um. In gewisser Weise war die Trennung unvermeidlich, sagte er sich. In ihrer neuen, glatt polierten Welt war kein Platz für ihn.

»Geht es Ihnen gut?«

In Gedanken versunken, verstand er sie nicht richtig, aber während er um eine Wiederholung ihrer Worte bat, drangen sie dann doch zu ihm durch. Die Frau, die ihn angesprochen hatte, war noch jung, irgendwo in den Zwanzigern, die einzige im Raum in einem roten Kleid. Ihr blondes Haar hing lockig bis auf die Schultern, bei jeder Bewegung wogend, alles glühte vor Leben. Wieso war sie ihm bisher noch nicht aufgefallen? »Sag ruhig du«, erwiderte er. »Mir geht’s prima. Wieso?«

»Du wirkst so abwesend. Und du bist ein bisschen blass.«

Er prüfte ihren Blick. »Hat sie dich gebeten, ein wachsames Auge auf mich zu haben und dafür zu sorgen, dass ich mich nicht danebenbenehme?«

Nach kurzem Nachdenken nickte sie. »Das hat sie tatsächlich. Aber du siehst nicht aus wie jemand, der sich danebenbenimmt.«

»Wie sehe ich denn aus?«

Sie nahm ein Glas von einem Tablett, ihre Gewandtheit verriet ein perfektes Anpassungsvermögen. »Wie jemand, der findet, dass sich die anderen danebenbenehmen.«

Ein kurzes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Hast du das Gefühl, ich verurteile dich?«

»So meine ich das nicht. Du wirkst wie jemand, der viel nachdenkt, der viel weiß. Du bist keiner, auf den man einfach so zugeht.«

»Weißt du, was ich denke? Ich finde, das hier ist ein merkwürdiger Abend. Menschen, die sich nicht ausstehen können, umarmen einander brüderlich. Alle reden, niemand hört zu. Und außerdem: Wie viele Bemerkungen über Ottolenghi kann ein Mensch ertragen?« Irgendwas ist mit ihrem Kleid, dachte er. Gehört es Eva? Er fragte: »Und warum sind wir uns nicht schon früher begegnet?« Es klang, als wollte er flirten, doch so war es nicht gemeint. Aber der Versuch, den Eindruck zu verwischen, würde vermutlich alles nur noch schlimmer machen.

»Ich bin Frau Kaplans neue Assistentin. Nun ja, neu. Aber ich war bis jetzt noch nie bei ihr zu Hause, das stimmt.«

»Bei ihr zu Hause, ist das eine Art Statussymbol im Büro?«

Diese Bemerkung schien ihr das Rot auf die Wangen zu treiben, auch wenn das Licht zu kalt war, um es mit Sicherheit feststellen zu können. Das Gespräch drohte zu verstummen, und sie war es, die es wieder in Gang zu bringen versuchte. »Auf der Einladung stand tenue de ville, und das sagt nichts über die Farbe. Doch hier tragen alle Schwarz, offenbar ist das die Norm. Rot ist jedenfalls, wenn ich die Blicke richtig deute, nicht wirklich okay.«

Die Wortwahl eines Menschen aus einer anderen Generation. Früher hatte er die Menschen nach ihrem Geburtsjahr eingeteilt, und zwei Jahre bedeuteten einen gewaltigen Unterschied. Er hatte dieses System aufgeben müssen, als er Eva kennenlernte. Sie fand es lächerlich und sexistisch zudem, auch wenn er Letzteres nie verstanden hatte.

»Sie sind einfach nur neidisch«, sagte er. »Weil du ein solches Kleid noch tragen kannst. So reich all die Frauen hier auch sein mögen und wie wichtig sie sich auch immer nehmen, sie würden alles geben, um wieder so alt zu sein wie du.«

»Ein dir wohlbekannter Wunsch?«

Sie hatte Talent für das Spiel, Kaplan beschloss, ehrlich zu sein. »Vielleicht, ja.« Sein Blick suchte inmitten der Menschen nach Eva. Was konnte es schon schaden, einmal aufrichtig zu antworten? »Als ich jung war, mit Eva an meiner Seite, da wollte ich vor allem Das Eine Buch schreiben. Später, nachdem sie mich verlassen hatte, als ich allein war und dann alle Zeit der Welt hatte, mich auf Das Eine Buch zu konzentrieren, da war sie zurückzugewinnen das Einzige, was ich wollte.«

»Eva«, lächelte sie, »ein schöner Name. Für mich ist sie Frau Kaplan.«

Einen Moment lang herrschte Schweigen. Sie schien über alle vorangegangenen Sätze nachzudenken und sagte dann: »Moment. Ich dachte, ihr beide seid immer noch zusammen. Du bist doch ihr Ehemann? Wohnt ihr getrennt?« Sie klang nicht nur ein bisschen verwirrt.

Gut, Eva konnte immer schon Geheimnisse besser für sich behalten als er – sie lebte von der Auswahl und Ausschmückung von Information, ihr Privatleben schirmte sie mit einer animalischen Verbissenheit ab, nur selten lud sie Leute zu sich nach Hause ein, nie machte sie beiläufige Bemerkungen, die ihr später leidtun könnten. »Das Ganze ist kompliziert, dabei sollten wir es belassen. Du ahnst nicht einmal ansatzweise, welche Mühe sie sich gibt, Getratsche zu vermeiden.«

»Ich war nur verwundert.« Sie verschränkte die Arme. »Wieso schaust du so wütend?«

»Das ist mein neutraler Blick, ich habe nichts Böses im Sinn.«

»Beweise es. Sag mal etwas Nettes.«

»Ich werde dir was erzählen«, sagte er. »Früher war sie, Frau Kaplan, ein Mädchen. Ein Mädchen, das kein Make-up mochte, das manchmal tagelang nicht duschte. Sie konnte albern sein, über jeden Blödsinn lachen, über komische Namen wie Barry oder Manfred. Das war zu der Zeit, ehe sie in einem Katalog wohnte.« Eva kam vorüber, seine Hand zog eine unsichtbare Linie bis zu ihrem Rücken. »Schau, wie sie geht, so aufrecht. Sie ist immer noch schön, oder? Nicht verraten, dass ich das gesagt habe. Ähm, ich weiß, dass ein Mann eine Frau dies nicht fragen soll, aber wie alt bist du?«

»Fünfundzwanzig. Und du?«

»Neunundvierzig.«

»Das geht doch noch, oder?«

»Wir reden hier von einem halben Jahrhundert.«

»Du bist kein ausgesprochen fröhlicher Mensch, oder?«

Er winkte einem Ober. Als der mit seinem Tablett voller Miniquiches und Heringshappen kam, schickte Kaplan ihn zurück mit dem Auftrag, weitere Getränke zu besorgen.

Die Assoziation kam ihm erst jetzt, aber tatsächlich, daran erinnerte sie ihn: an das Mädchen aus Schindlers Liste. Alles und jeder in Schwarz-Weiß, nur sie nicht. Sie war feuerrot. Die Assoziation hatte eine unüberbrückbare Lücke in ihr Gespräch geschlagen. Wenn sie so jung war, dass sie ihn an ein Mädchen aus den Zeiten des Krieges erinnerte, dann war er schlichtweg alt. Wieder herrschte Schweigen.

»Kannst du dich nicht jetzt hinsetzen und Das Eine Buch schreiben?«, fragte sie.

War er schon so tief gesunken, dass Wildfremde Mitleid mit ihm hatten? »Das mache ich tagtäglich«, erwiderte er. »Auf meine Art.« Ihre Aufgabe – kontrollieren, ob er sich im Zaum hatte – war erledigt.

»Ich geh dann mal wieder. Zu den Leuten«, sagte sie nach einer Weile.

»Mach das. Sei unbesorgt. Ich werde mich benehmen. Wenn du über Herrn und Frau Kaplan den Mund hältst.«

»Einverstanden.« Sie drehte sich um und ging, die schöne junge Frau, die Kriegswaise, die er nicht hatte retten können.

3.

Durch die Musik des Streichertrios hindurch hörte man den Wind um die großen Fensterscheiben der Etage pfeifen. Das Bootsrennen war beendet, auf einem Katamaran wurde gefeiert, die anderen trieben weiter.

Es war halb zwölf, richtig betrunken würde er nicht mehr werden, und gerade mal ein bisschen angeschickert reichte ihm nicht. Gäste machten sich fertig zum Gehen. Innerhalb einer Stunde würde das Zimmer leer sein, die Putzkräfte würden sich ranhalten, den Raum innerhalb einer halben Stunde wieder sauber und vorbildlich aussehen zu lassen.

Früher hatte sie nichts schöner gefunden als eine überraschend verlaufene Nacht, mit lauter lockeren Begegnungen, Drama, Zigaretten und Wein. Früher drückte sie ihre Zigaretten – die sie konsequent Kippen nannte – in herumliegenden Kaffeebechern aus. Frühestens in anderthalb Stunden würden er und seine Ex allein sein.

Jetzt begann der schlimmste Teil des Abends: als Letzter übrig bleiben.

Ein Ehemann geht nicht vor dem letzten Gast. Herumstehen, allen zum Abschied zunicken. Früher hätte es die Hoffnung auf eine Nacht mit ihr gegeben, die das Herunterzählen – noch fünf Gäste, vier, drei – erträglicher gemacht hatte.

Ihm bekannte Gesprächsfetzen trieben vorüber. Seit sie richtig gut verdiente, spendete sie, wie es das jüdische Gesetz vorschreibt, zehn Prozent ihres Einkommens für gute Zwecke. Das war etwas, worüber sie mit ihren Gesprächspartnern reden konnte; Unterhaltungen über die Bedeutung von Traditionen, über Respekt, über Gerechtigkeit. Natürlich hatte er sie nie auf ihre gegenwärtige Großzügigkeit angesprochen, er behielt seine unvermeidliche Schlussfolgerung lieber für sich: Eva war eine Frau, die erst freigiebig wurde, als sie es sich leisten konnte.

Die Vorstellung, dass Frank Trustfull ihr neuer Liebhaber sein könnte, erwies sich im Nachhinein als unsinnig. Sie ärgerte sich ganz offensichtlich über seine Bemerkungen, die er über die Art, wie Trustfull sich bewegte, gemacht hatte: ein wenig hölzern, pseudomännlich. Mindestens zehn Gäste waren jetzt noch da.

Dass er an diesem Abend doch wieder gekommen war, hatte seine Verhandlungsposition natürlich weiter geschwächt. Er griff nach einem neuen Glas, schon längst hatte er aufgehört, sie zu zählen. Er bezweifelte, dass er unter diesen Umständen im Bett noch zu irgendetwas in der Lage sein würde.

Daaaarling, warf der steinerne Fußboden zurück. Er schaute sich zuerst gar nicht um, aus Furcht vor dem, dem diese Begrüßung galt. Während in seinem Rücken geselliges Treiben herrschte, starrte er regungslos nach draußen. An einer der Grachten hatte ein Lastwagen angehalten und verursachte einen Stau und fernes Gehupe.

Wer kam noch um diese Zeit? Und warum bemerkte er bei Eva, die mit offenen Armen an ihm vorbeiging, keine Spur von Irritation angesichts der späten Stunde? Es war noch schlimmer, stellte er nach einigen stechenden Blicken fest. Trotz ihrer Rituale und ihrer Pünktlichkeit schien sie wirklich erfreut, den neuen Gast zu begrüßen.

Das musste er sein. Der neue Finger auf der Waagschale.

Seines Wissens war sie nie fremdgegangen. Dafür fehlte ihr die Kreativität, und vor allem, das musste er ehrlich zugeben, die Verlogenheit. Sie war treu geblieben, auch als sie ihn nicht mehr liebte. Sie brauchten keine Untreue, um einander zu verletzen. Von Widerwillen erfüllt, drehte Kaplan sich um.

Die zehn Anwesenden standen in einem Halbkreis um den späten Gast herum. Kaplan kannte sein Foto aus der Zeitung, aber zum Glück war er ihm noch nie begegnet. Glänzendes blondes Haar, hollywoodgrau an den Schläfen. Wie hieß er doch gleich, Den Duyvel? Duifman? Was machte der Kerl hier?

Es konnte durchaus sein, dass dieser Bursche der neue Liebhaber seiner Frau war. Er war nicht hässlich, besaß jene auffällige Art Charisma, zu der machtbewusste – »ambitionierte« – Frauen sich hingezogen fühlen. Als nach einigen Minuten wieder Ruhe eingekehrt war, ging Kaplan zu Eva. Sie sah ihn kommen und schnitt das Gespräch ab, das sie gerade führte.

»Was gibt’s?«, fragte sie, wobei sie mit dem linken Arm den rechten stützte, wie ein Modell aus den Zwanzigerjahren.

»Ist es Duifman?«

Ihr Gesicht erstarrte augenblicklich. »Ach, lass mich doch in Frieden.«

»Ich werde dir keine Szene machen«, sagte er. »Bitte. Ist es Duifman?«

»Mein Gott«, sagte sie zermürbt. »Nein, wir sind nicht zusammen. Und er heißt Hein. Hein Duyf. Mit einem y.«

»Okay.« Er trank einen Schluck Champagner. »Wie er heißt, ist mir natürlich vollkommen egal, wie du dir denken kannst.«

»Dumm nur, dass er dein neuer Chef ist.«

Als er das hörte, verschluckte Kaplan sich fast. Sofort sah er den Vertrag vor sich, den er seinerzeit unterschrieben hatte, die Strichellinie, der seltsame Anfall von Opportunismus, für den er immer noch nicht bestraft worden war. Er versuchte, an ihrem Gesicht abzulesen, ob ihr sein Erschrecken aufgefallen war; sie ließ sich nichts anmerken. Morgen früh musste er den Vertrag finden, das einzige Exemplar, es durfte auf gar keinen Fall einfach so offen herumliegen. »Darüber bist du also informiert?«, fragte er mit beherrschter Stimme.

»Natürlich. Ich weiß doch, wen ich einlade.«

»Hast du ihn extra deswegen eingeladen, um mich zum Affen zu machen?«

»Don’t flatter yourself. Willst du ihn kennenlernen? Hein ist ein sehr interessanter Mann.« Ein Pärchen machte sich auf den Heimweg, der Mann in einem langen grauen Regenmantel, die Frau mit einer Mütze aus Fuchspelz. Sie winkten, Eva warf ihnen eine Kusshand zu und blinzelte mit einem Auge. Sie sah ihn wieder an. »Willst du?«

»Ich glaube nicht an Menschen, die sich damit großtun, interessant zu sein.«

»Natürlich nicht«, sagte sie matt.

Im Augenwinkel sah Kaplan, dass die junge Frau im roten Kleid sich mit Duyf unterhielt. »Nettes Mädchen«, sagte er. »Aber nicht attraktiv.« Es war wirklich nicht so, dass er nach Eva keine Frau mehr attraktiv finden konnte oder so etwas Pathetisches. Es hatte Frauen gegeben, fleischgewordene Gegenreaktionen, zuerst auf Eva, danach auf die Verflossenen. Kaplan hatte sich auf die merkwürdige Dialektik eingelassen, die guten Eigenschaften der einen Frau in den schlechten einer späteren zu spiegeln und umgekehrt. Eine Frau, die ihrer Vorgängerin in nichts ähnelte, könnte vielleicht in ihm etwas sehen, was den anderen entgangen war. Aber keine blieb lange genug an seiner Seite, um zu bemerken, dass er älter wurde.

In einem der ersten Monate in seinem Einpersonenapartment hatte er seine erste und einzige Asiatin ins Bett gekriegt, eine Frau in den Dreißigern namens Wing. Herr Kuiper, dessen Adern am Hals dick und blau wurden, wenn er sich aufregte, hatte die ganze Nacht mit dem Besen an die Decke gewummert. Auf jede Bewegung Kaplans, auf jedes Quietschen des Bettes folgte das nervende Klopfen des Nachbars von unten. Es hatte seine sämtlichen Anstrengungen in jener Nacht wertlos gemacht.

Im Talmud steht, dass ein Mann, der keine Frau hat, ohne Freude, Segen und Sanftmut lebt. Zurzeit hatte er Judith, die ihn wie keine andere seit zehn Jahren erregen konnte. Aber dennoch: Lust, die alles verschlang und alle Gedanken ausblendete, war äußerst selten geworden. Sein Körper konnte die Lust eines andern absorbieren und zurückwerfen, aber er war nur ganz selten noch selbst ein Quell der Lust.

»Wer?«, fragte Eva.

»Deine Assistentin. Die du beauftragt hast, mich im Auge zu behalten.«

»Macht der Gewohnheit«, sagte sie lächelnd. »Wieso solltest du sie übrigens attraktiv finden?«

»Das wäre nett gewesen«, sagte er. »Aber sie ist noch ein Kind.«

»Immer noch Probleme mit Vaterkomplexen?« Sie kaschierte den Vorwurf mit einer süßlichen Stimme.

»Warum sagst du das jetzt?«

Sie sah ihn erstaunt an. »Sorry«, sagte sie. »Das hätte ich nicht sagen dürfen. Manchmal vergesse ich, wie ich mit dir reden muss.«

»Macht nichts«, sagte er leise. »Geht mir genauso.«

Erneut verließ ein Paar die Wohnung. Es war Mitternacht. Noch immer wusste er nicht, was er von Duyf halten sollte.

»Soll ich heute hier übernachten?«

»Heute passt es mir ganz schlecht.«

»Dann holen wir das bald nach.« Er konnte seine plötzlich aufkommenden Zweifel nicht mehr unterdrücken und schob ein unsicheres »Einverstanden?« hinterher.

»Mal sehen.« Während der Stille, die folgte, wanderte ihr Blick immer wieder zu Duyf. Kaplan erwog einen Seitenhieb auf das Tamtam, mit dem Duyf versucht hatte, seinen Karriereschritt glorios aussehen zu lassen, nachdem er kürzlich durch die Stadtverwaltung als Interims-Schuldirektor abgestellt worden war. Nun könnte er sich endlich »an der Basis mit der alltäglichen Politik und den echten Problemen der Straße auseinandersetzen«. Derart schreckliche Dinge hatte dieser zweitklassige troubleshooter im Radio und der Lokalpresse geäußert. Aber Kaplan fiel nichts Schlagfertiges ein, er war angetrunken und todmüde. »Soll ich dann mal gehen?«, fragte er.

Sie reagierte nicht.

»Darf ich, früheren Zeiten zu Ehren, sagen: Schlaf gut, Schatz?«

»Lieber nicht.«

»Ich ruf dich demnächst wegen eines Termins an, ja?«

Sie schluckte sichtbar. »Ich sagte: Mal sehen.«

»Okay. Soll ich jetzt gehen?«

»Ich sage den andern, du hast noch eine späte Verabredung.«

»Tu, was du nicht lassen kannst.« Er winkte der Garderobiere, gab ihr den Zettel mit seiner Nummer. Wer engagierte denn eine Garderobiere für die eigene Wohnung? »Gib’s zu, ich habe mich gut benommen, oder?«

Ihr Lächeln war echt. »Du hast gut mitgespielt. Danke dafür.«

Das Mädchen überreichte ihm seinen Mantel, ein splittriger Schmerz stach durch sein Hirn, ein Vorbote des morgigen Katers. »Weißt du übrigens, dass man vom Fenster aus das Dach unseres alten Hauses sehen kann?«

»Das weiß ich.« Ihr Blick blieb kurz an seinen Schuhen hängen. »Kannst du in diesem Zustand überhaupt noch fahren?«

»Ich bin müde, mehr nicht.« Er hatte keine Lust auf weitere Fragen, trat auf sie zu, küsste sie auf die Wange und dann auf den Mund. Er schloss die Augen, um den süßen Duft ihres Lippenstiftes voll und ganz wahrzunehmen. Augen auf. »Glückwunsch, übrigens.«

»Hast du überhaupt eine Ahnung, wozu du mir gratulierst?«

Früher am Abend hatte er es gewusst, doch jetzt mussten seine Gedanken erst des längeren durch Alkohol, Schlafmangel und Gesprächsfetzen waten, um in seinem Mund anzukommen. »Nicht so richtig«, sagte er. »Aber ich – ach, lass nur.« Fast hätte er etwas über Stolz gesagt, was ihm Nächte voller Gram eingebracht hätte.

Duyf stand am Fenster und machte keinerlei Anstalten, sich irgendwann noch einmal zu bewegen.

Eva ging mit Kaplan in den Flur. Die junge Studentin, die ihm eine Welt geschenkt und ihn eine gekostet hatte, die Korkstückchen in ihrem Wein liebte, sie fühlte sich noch so nah an.

Ehe er das Apartment verließ, strich er mit der Hand über die Türklinke des Zimmers, hoffte, dass sie es nicht sah. Als er sich umdrehte, warf sie ihm gerade eine Kusshand zu. Der Aufzug war grell erleuchtet. Die letzte Tür. Endlich spürte er den starken Wind, an den er den ganzen Abend gedacht hatte.

4.

Die Kopfschmerzen wurden schlimmer. Kaplan blinzelte mit wässrigen Augen, sogar das Ampellicht war jetzt zu grell. An der Kinkerstraat, die ihn geradewegs zu seiner Wohnung geführt hätte, bog er nicht ab. Er wollte den Abend möglichst in die Länge ziehen, noch flimmernd vom Champagner und der Ankunft Duyfs.

Er atmete tief ein und lenkte den Wagen nach rechts, tiefer hinein nach Amsterdam-West. Er bog links ab, rechts ab, dann wieder nach links. Wo er war, wusste er nicht, doch die Vorstellung, sich zu verirren, hatte etwas Befreiendes.

Nach etwa zehn Minuten verlangsamte er die Fahrt. Er war in Wassernähe, vermutete er. Von ferne war ein leises Rauschen vernehmbar, es war aber nicht das Geräusch des Regens. In rund hundert Metern Entfernung bemerkte er eine Brücke, die er nie zuvor gesehen hatte. Es tat ihm gut zu wissen, dass die Stadt für ihn noch Geheimnisse bereithielt. Die Häuser sahen hier billiger aus als in seiner Gegend, viele Schilder mit der Aufschrift Zu verkaufen, in manchen Fenstern hing eine palästinensische Flagge. Dort stand eine Motorrollergang, die Jungs drehten sich sofort nach ihm um.

Als er einige Minuten später ein freistehendes Haus mit vernagelten Fenstern sah, ging er noch mehr vom Gas und fuhr im Schritttempo weiter. Im Haus brannte Licht, schwach schien es unter den Brettern hindurch. Er schaute sich um, sah niemanden.

Er fuhr näher heran. War das ein altes Bankgebäude? Nein, es sah eher aus wie eine ehemalige Schule: Backsteine, parallele Fenster, ein herrschaftlicher Eingang. Er hielt nicht an, denn das Gebäude erinnerte ihn an das Gymnasium, das er besucht hatte. Ob Hausbesetzer es in Beschlag genommen hatten?

Was waren das für Geräusche – Rufen, Heulen, Hundegebell?

Regen prasselte mit Nachdruck auf den Wagen. Er spähte durch die Windschutzscheibe, sah nur wenig, die Scheibenwischer konnten das Wasser kaum bewältigen, die Gummilippen quietschten. Erst jetzt bemerkte er die Absperrungen, die Gitter rund um das Gelände. Er hielt vor dem ersten Ring aus Absperrgittern an. Zehn Meter weiter gab es noch einen zweiten. Dahinter: zwei Polizeiwagen und drei Mannschaftswagen der Bereitschaftspolizei.

Er stieg aus. Den Regen, so kräftig er auch war, spürte er nicht.

Aus der Finsternis erklang eine Stimme. Kaplan bildete mit den Händen einen Trichter vor seinem Mund und rief ein wenig ratlos: »Hallo?« Die Scheinwerfer eines Polizeiwagens leuchteten auf. Ein Beamter in einer seltsamen dunklen Uniform stieg aus dem Kleinbus und leuchtete ihn mit einer Taschenlampe an. Das Lichtbündel blendete Kaplan. »Hallo, was ist hier los?«, fragte er, wobei er versuchte, seine Augen vor dem Licht zu schützen.

»Das hier ist Privatgelände. Wer sind Sie?«

Kaplan drehte sich um und ging zurück zu seinem Wagen. Es war, als wollte das Licht der Taschenlampe ihn zurückhalten.

»Warten Sie, wer sind Sie?«

Kaplan setzte sich ohne zu zögern ans Steuer, startete seinen noch mit Eva gebraucht gekauften Saab 900 und fuhr los.

 

In seinem Viertel gab es eine Kneipe, in die er manchmal ging: Westerik. Nach längerer Suche parkte er den Wagen in der Nähe, wartete einen Moment, um sicher zu sein, dass man ihm nicht gefolgt war.

Als er die Kneipentür öffnete, schlug ihm der Geruch von schalem Bier entgegen. Er setzte sich an die Theke, bat um ein Handtuch und bekam einen jungen Jenever vorgesetzt. Auch gut. Um den Kater hinauszuzögern, um seinen Körper in den Schlaf zu befördern.

Vor allem eine Frage beschäftigte ihn: Wie konnte man etwas sehen, ohne zu wissen, was es ist?

Beim Abstellen des Glases sah der Barkeeper ihn drei Sekunden lang an: seine traditionelle Art der Begrüßung. Kaplan nutzte den Moment, um sich so beiläufig wie möglich nach der leer stehenden Schule in der Nähe zu erkundigen. Der Barkeeper wandte seinen Blick nicht von ihm ab, während seine Hände automatisch nach einem Bierglas und einem Lappen griffen. Er polierte das Glas und fragte: »Welche Schule?«

»In der Nähe des Wassers«, sagte er.

»Ja, in der Nähe welchen Wassers? Wir sind hier in Amsterdam.« Das Geschirrtuch rieb über das Glas, bis es zu quietschen begann. Der Barkeeper ging zu einem anderen Gast. Von der entgegengesetzten Seite des Tresens klang Lachen herüber.

Kaplan kippte den Schnaps hinunter. Seine Mundwinkel verzogen sich ein wenig. Ein Geschmack, der sich nie verändert hatte, der die Jahre des Erwachsenseins zusammenhielt.

Eine Frau setzte sich zu ihm. Beim Hereinkommen hatte er sie nicht bemerkt, vielleicht hatte sie in der dunklen Ecke beim Spielautomaten gesessen. Wie war doch ihr Name? Sie war Journalistin, und er hatte sich vor ein paar Jahren mit ihr zweimal zum Gespräch in einer Kneipe getroffen wegen eines Artikels, den sie über die Schule schreiben wollte. Es waren zwei gute Abende, sie tranken und lachten. Die Journalistin war neugierig, stellte überraschende Fragen, er legte sich bei der Beantwortung keinerlei Zurückhaltung auf, war ehrlicher, als er es von sich gewohnt war. Zwei Abende lang war er eine sorglose, freundliche Version seiner selbst gewesen. Der Artikel war dann weniger günstig ausgefallen, als er erhofft hatte, aber das konnte er ihr kaum übel nehmen. Maaike, so hieß sie. An diesem Abend trug sie die gleichen halbhohen Stiefelchen wie damals. Sie roch auch genauso, nach Tabak und Parfüm. Warum hätte sie sich ausgerechnet zu ihm gesetzt, wenn sie nicht gewollt hätte, dass er sie ansprach?

»Heißt du immer noch Maaike?«, fragte er.

Sie drehte sich zu ihm, lächelte übertrieben, um zu zeigen, dass sie es nicht nötig hatte zu lächeln. »Ja, natürlich heiße ich immer noch so. Und du bist Abel, oder? Abel …«

»Kaplan.« Noch immer war er stolz darauf, dass dieser Name zu ihm gehörte. Das erste Mal hatte er ihn im Film Der unsichtbare Dritte von Hitchcock gehört. 1976