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DIANA ANFIMIADI

Wahrsagen durch Marmelade

Kulinarische Geschichten

Übersetzt aus dem Georgischen
von Tamar Kotrikadze

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Die Herausgabe dieses Buches wurde gefördert
vom Georgischen Nationalen Buchzentrum und
vom Ministerium für Kultur und Denkmalschutz
von Georgien.

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A-9020 Klagenfurt/Celovec, 8.-Mai-Straße 12

Copyright © dieser Ausgabe 2018 bei Wieser Verlag GmbH,
Klagenfurt/Celovec

Inhalt

Die Heldin

Der Hunger

Die Schule. Der Honigkuchen

Kohlpasteten

Chewssuretien

Fridas Fiesta

Sommeraufgabe

Der Geschmack unsrer Kindheitsbücher

Game of Tastes (Die Geschmacksspiele)

Mexikanische Paprika

Wahrsage durch Marmelade

Der Koch auf einen Bissen

Die Samtengel

Blumen auf Ihrem Teller

Frauengestalten in der Weltkochkunst oder Isabella Beetons Victorianische Zeit

Neujahr

Das Dorf

Paris. Anfang des 20. Jahrhunderts

Kulinarische Träume

Zwei Bücher Zwei Welten

Eine phänomenale Frau und ihre Kochkunst

Eine Reise ins verlorene Georgien

Bilder

Chronik einer angekündigten Liebe

Schetschamandi

Das Neujahrsfest für Gio

Die homerische Suppe

Wort und Sicht

Geschmack der Erinnerung

Meine chewsurische Fantasie

Über die Mädchen

Ein Foto aus dem Album

Der hungrige Don Quijote

Anstatt einer Einleitung:

Die Heldin

Endlich habe ich den Hunger besiegt,

geköpft hab ich diesen

kohlköpfigen Riesen

(durch den Wolf gedreht den Wolf!)

und mir scheint, jeden Krieg

ob kalt oder heiß, den meine Sippe

je führte, habe ich gewonnen

Ich – die Königin der Tortenbaiserkronen!

Der Hunger steht kopflos vor meinem Gericht

(dem heißen Gericht, das ich aus ihm zubereite)

und ihm wachsen hundert neue Köpfe

Ich schleife Gabel und Messer

ich zähle auf

– Frühstück, Abendbrot, Tee, Mittagessen

Trotzdem habe ich den Hunger zerwühlt

habe ihn mit Angst erfüllt

(vorher war’s nur eine Obst- oder Gemüsefüllung)

es ist mir gelungen

Doch immer neue

Kohlköpfe wachsen ihm in Sprüngen

Meine Ernte ist unangemessen:

– Frühstück, Abendbrot, Tee, Mittagessen.

Endlich habe ich den Hunger verschlungen –

er war von Klagen der Hungrigen trunken.

Da – schaut inmitten der Nacht

in der ein Nebelmantel mit Sternenknöpfen prangt

da komme ich – der Drachentöter, Ritter, Übermensch

– der weibliche Gilgamesch!

Der Hunger

Ich schaue mir eine Internetseite an, die »Die Augen der Kinder aus der ganzer Welt« oder so ähnlich heißt. Ich schaue sie an und fühle mich so, als würde ich nie mehr in meinem Leben die Küche betreten. Kinder auf jedem Foto, hungrige Kinder, die sich nach Brot sehnen – und ich bin gerade jetzt beim Nusscremeschlagen. Wenn Kinder hungern, verliert alles seinen Sinn und die allererste Bestimmung der Kochkunst ist ihre Sättigung.

Dann versuche ich, an alle zurück zu denken, die ich je bewirtete, doch es fällt mir schwer; an manche kann ich mich erinnern, andere aber habe ich vergessen. Doch für immer unvergesslich ist mir jedes Gesicht (leider nicht jeder Name), dessen Besitzer je meinen Hunger gestillt hat. Also will ich euch vom Hunger erzählen.

Die Schule. Der Honigkuchen

Es waren schlimme, sehr schlimme Jahre. Nach der vierten Unterrichtsstunde fielen Kinder wie Früchte zu Boden – sie wurden vor Hunger ohnmächtig. Das war die Zeit, wo ich alle kulinarischen Stellen aus meinen Kinderbüchern auf einmal ganz von selbst auswendig konnte.

Wie der kleine Vagabund und sein Freund fast einen Monat lang nur Mohrrüben aßen, bis sie davon krank wurden. Wie man dem kleinen obdachlosen Jungen Knochensuppe und Koteletts zubereitete. Wie Karlsson, der Schelm, durchs Küchenfenster gebratene Frikadellen stahl. Wie Pippi den Fladenteig auf dem Boden ausrollte und noch Vieles dergleichen. Wahrscheinlich hat sich mein kulinarisches Gedächtnis eben zu jener Zeit gebildet. Wie dem auch sei, verzeiht mir, gute Menschen, wenn ich eure Namen nicht mehr weiß, hingegen werde ich nie die leckeren Bissen vergessen, die mir jeder von euch gereicht hat.

Ich besuchte damals den kreativen Kreis für Schüler im »Palast«1, hatte kein Taschengeld, überhaupt nichts, außer einer U-Bahnkarte, die mir eine Nachbarin, eine Flüchtlingsfrau aus Abchasien, schenkte, und einer mit Büchern vollgestopften Schultasche. An jenem Tag schaffte ich es nicht mehr, nach der Schule nach Hause zu laufen, musste also, hungrig wie ich war, nach der Schule direkt zum Palast. Die U-Bahnfahrt glich damals dem schrecklichen Bild aus einem schrecklichen Spielfilm. Das Gedränge der Menschen, die Hand eines kleinen Diebs, die man in der eigenen Tasche entdeckte, Lärm, Geschrei und Gezänk. Als ich endlich am Freiheitsplatz in die Straße hinaufstieg, hatte ich das Gefühl, als öffne sich der Himmel für mich, deshalb mag ich bis heute den »Pionierpalast« so gern.

Kurz gesagt, ich bestieg die Treppe, schritt in Richtung der Palastsäulen und knall … ich weiß nichts weiter, ich verlor das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam, lehnte ich an einer Stufe und hatte meinen Kopf in den Schoß einer älteren Frau gebettet. Als ich mich aufrichtete, nahm die Frau aus ihrer altmodischen lackierten Handtasche einen ins Papier eingewickelten Honigkuchen, es war der einzige, brach ihn in zwei Hälften, entschuldigte sich und sagte, ihr Enkelkind sei wohl auch hungrig, reichte mir dann eine Hälfte des Kuchens und, bevor ich etwas sagen konnte, war sie hinter der breiten kunstvoll verzierten Palasttür verschwunden.

1 Gemeint ist der ehemalige Palast des Zarenstatthalters in Tbilissi, der zu sowjetischen Zeiten als »Pionierpalast« verschiedene Aktivitäten für Schüler anbot, jetzt aber »Palast für Schüler und Jugendliche« heißt.

Kohlpasteten

Ich glaube, ich hab schon einmal von dem Garten erzählt, den unsere Familie in Awtschala2 besaß. Ich mochte den Ort besonders gern – das Haus, das mein Vater gebaut hatte, die Bäume, die mein Großvater gepflanzt hatte und das Gemüse, das meine Mutter anbaute …

An jenem Tag waren wir in unserem Gartenhaus. Es war Frühjahr, Mutter lockerte die Erde, bereitete sie für die Aussaat vor. Auch die kleinen Bäumchen hatten wir schon von der Plastikverpackung befreit, in die sie gegen den Frost eingehüllt waren. Wir reinigten den Hof und verrichteten noch allerlei Arbeiten, bis wir Hunger verspürten.

Mutter hatte etwas zum Essen mit – Brotschnitten und Pflaumenmarmelade. Ich kann mich gut erinnern, wie kalt es war – der Winter hatte nochmals seinen frostigen Schweif geschwungen, wie man bei uns zu sagen pflegt, eigentlich war es kein Schweif, sondern eher eine Frost-peitsche … Wir hatten keine Möglichkeit, Tee zu kochen und bereiteten uns auf unsere kalte Mahlzeit vor, als auf einmal unsere Nachbarin, eine Ossetin, die Hofpforte betrat. Sie hielt in den Händen einen Teller, den sie in ein Handtuch gewickelt hatte und von dem eine milchig weiße Dampfwolke aufstieg – unter dem Handtuch schlummerten heiße Pasteten mit Kohlfüllung.

Ich hätte mir nie vorstellen können, dass Kohlpasteten so gut schmecken können.

(Leider weiß ich den Namen dieser Nachbarin nicht mehr, auch Kohlpasteten habe ich seitdem nie mehr gegessen).

2 Ein Stadtbezirk von Tbilissi.

Chewssuretien3

Von Chewssuretien könnte ich viel erzählen: von Expeditionen, vom mit Kondensmilch gesüßtem Kaffee, vom Buchweizenbrei, den man mit Wasser aus dem Fluss Argun kochte. Weiter könnte ich vom frisch gebackenen Brot und geschmolzener Butter berichten, die man bei der einzigen Familie in Ardoti aß4, davon, wie uns einst die Familie Daiauri in Muzo bewirtete. Auch von Späterem kann ich berichten – wie immer wenn wir den Engpass Datwidschwari hinter uns gelassen hatten, die wunderschöne Mutter meines guten Freundes Giorgi Arabuli uns fantastisches Khatschapuri5 anbot …

Doch ein Bild steht mir am deutlichsten vor Augen: Studenten – erschöpft und ausgehungert von der kilometerlangen Wanderung unter der heißen Bergsonne …

Das Dorf Khachabo, wo, wie wir gedacht hatten, niemand mehr wohnt, uns aber ein altes Mütterchen mit unglaublich leckerem kräutergefüllten Gebäck bewirtete, das wir im Schatten am Wegesrand verzehrten und dazu das eiskalte, kristallklare Wasser der chewsurischen Totenquelle tranken.

PS: Als Philologinnen im ersten Studienjahr fanden wir Spaß am Erforschen der Phonetik georgischer Wörter und an etymologischen Studien. Damals hatte meine Freundin Keto einen interessanten Gedanken geäußert oder gar in einem Gedicht ausgesprochen, genau weiß ich das nicht mehr, und zwar: das georgische Verb »gameteba«, das so viel wie »jemandem etwas ohne zu knausern geben« bedeutet, meint, dass man das Weggegebene vermehrt (georgisch: meti – mehr) und zurück bekommt und das weggegebenes Korn zu einem Haufen wird.

Dieser Gedanke kommt mir plötzlich in Erinnerung. Er gefällt mir.

Bis man den eigenen Hunger stillt, ist es viel besser, den Hunger anderer Menschen zu bewältigen – den Hunger, diesen hundertköpfigen Riesen.

3 Eine Bergregion in Georgien.

4 In manchen Bergdörfern Georgiens wohnen zurzeit nur ein paar Familien, manchmal sogar nur eine einzige.

5 Khatschapuri – georgisches Nationalgericht, runder Hefefladen mit Käsefüllung.

Fridas Fiesta

Für Frida Kahlos und Diego Riveras Hochzeit Festspeisen zu kochen übernahm Diegos erste Frau Lupe Marin freiwillig. Wie die meisten mexikanischen Frauen hatte Lupe ein ausgezeichnetes Kochtalent und einen makellosen Geschmack, geerbt von ihrer Großmutter Isabel. Das damals in Mexico populärste Kochbuch »Praktische Ratschläge für Hausfrauen« besaß in Lupe, dieser schönen Frau, eine ehrenwerte Leserin und Köchin.

Am Hochzeitstag, dem 26. August, zog die einzigartige, mit großem Talent begabte Braut Frida Kahlo ein mexikanisches, bunt geblümtes Kleid an. Die einfache Terrasse verwandelte sich für diesen einen Tag in einen wundersamen, ungemein schönen Ort mit bunten Tischdecken, kontrastfarbigem Papierschmuck und feinen Speisen … Für die Beköstigung am Hochzeitsfest hatte die Braut besonders gesorgt, denn sie meinte, schmackhafte Hochzeitsspeisen seien ein gutes Zeichen und verhießen ein glückliches Leben.

Die Gäste hatten eine breite Auswahl – außer Lupes Gerichten wurden Ihnen Speisen aus dem nahe gelegenen Restaurant angeboten.

Für das Hochzeitsfest ihres ehemaligen Mannes bereitete Lupe mexikanischen Reis mit Wegerich Blättern, Gänsefüße in grüner und roter Soße, roten Chilipfeffer, gefüllt mit Fleisch und Käse, Austernsuppe, Fleischbraten mit rotem Maisbrei, mexikanische schwarze Mole-Poblano-Sauce, Früchtekuchen und vielfältig verschnörkelte Desserts.

Die Hochzeitstorte war mit Eistauben und Zuckerrosen geschmückt, das Geschirr aus besonderem Porzellan, der einheimische Tequila eine großartige Krönung des Fests.

Hier sind einige Rezepte von dieser Festmahlzeit:

Austernsuppe

1 große Zwiebel

2 Zehen Knoblauch

4 Esslöffel Butter

3 Esslöffel Mehl

2 Tomaten – klein geschnitten oder faschiert

Salz

Pfeffer

¾ Kilogramm Austern samt eigenem Saft

2 Teetassen Hühnerbrühe

30 Gramm Petersilie – klein geschnitten

blockförmig geschnittene Brotkruste

Zwiebel und Knoblauch in Butter braten, später Tomaten, Salz und Pfeffer hinzufügen. Ca. 10 Minuten auf kleinem Feuer schmoren. In der Hühnerbrühe Austern kochen, danach das geschmorte Gemüse und die geschnittene Petersilie hinzufügen. Brotblocks in die Terrine hineingeben, darauf die Suppe gießen und servieren.

Käsegefüllte Pfefferschoten

16 Stück Pfefferschoten (geschält, gesäubert, gebraten)

4 Löffel fein geriebener Käse

Maisöl

Für die Tomatensoße:

3 Esslöffel Olivenöl

1 Zwiebel

1 Ei

2 geriebene Mohrrüben

10 mittelgroße Tomaten, geschält und klein geschnitten

1 halber Esslöffel Weinessig

3 Esslöffel Zucker

Salz

Pfeffer

2 Teelöffel ausgetrockneter Oregano

Die Pfefferschoten mit Käse füllen und leicht mit Mehl panieren.

Eiweiß und Eigelb trennen und getrennt schlagen, dann vermischen. Die Pfefferschoten darin rollen und in viel Öl braten, bis sie goldfarbig sind. Auf einem Blatt Papier zum Trocknen legen.

Für die Tomatensoße Mohrrüben und Zwiebel im Öl schmoren. Tomaten, Zucker, Salz und Pfeffer nach Geschmack dazu geben. 10 Minuten lang schmoren, Essig hinzufügen, die Pfefferschoten hineinlegen, mit Oregano bestreuen und noch 10 Minuten lang weiter schmoren.

Jener Tag war nicht nur von Liebe und Freude geprägt, es fehlte ihm auch an Intrigen nicht. Diegos erste Frau, die in ganz Mexico für ihre Schönheit berühmte Lupe Marin, hatte an diesem Tag auf die körperlichen Mängel der Braut angespielt, was die nach südlicher Art temperamentvolle Frida nicht dulden konnte … hätte sich Rivera nicht eingemischt, wäre einer von den beiden Frauen ein Unglück geschehen.

Von diesem Tag an begann Fridas Leben mit ihrem geliebten und gehassten Mann, dem Mann, der ihr Glück und ihr Unglück zugleich war.

Obwohl Frida mit 18 Jahren einen Unfall erlitt, der ihre Gesundheit für immer ruinierte und sie fast zum Krüppel gemacht hatte, gab es ihr Leben lang kein traditionelles oder Familienfest, dass sie nicht zu einem kulinarischen Wunder und einer jubilierenden Fiesta machte, Freunde einlud und ihr buntes Haus in einem Festwirbel kreisen ließ.

Sommeraufgabe

Ich sehe schon, mein Liebes, wie hastig du deine Tasche eingepackt hast, Bücher, Hefte, Kugelschreiber und manch andere Dinge, zum Lernen bestimmt oder – Gegenteiligem. Du hast es eilig, ich weiß, in deinen Augen sehe ich schon das Meer, struppige Wellen, sonnigen Strand, ein buntes Handtuch, Freunde, einen Ball, ein Tretboot … oder nein, vielleicht ist es auch ein Walddickicht, kühl, geheimnisvoll, mit himmelhohen Tannen, mit raschelndem Unterholz, mit da und dort flüchtigen Eichhörnchen … Kurz, ich sehe, dass du nicht mehr bei mir bist, ein paar Tage bleiben noch, bis für dich die Freiheit – die Ferienzeit – beginnt. Ich weiß, dass ich dich ganz umsonst in diesem Klassenzimmer aufhalte, wo auch die Tafel bereits eine imaginäre Inschrift trägt – Das Schuljahr ist zu Ende! Freiheit!

Und ich – was mache ich? Ich verlange von dir, die Sommeraufgabe zu notieren, schwenke mit der Bücherliste, was wird es wohl sein – Übungen oder theoretisches Material? Ob es zu viel ist? Ob dir zum Spaßhaben noch Zeit bleibt? Das versuchst du eben zu erraten. Ich verstehe dich gut, doch wir wissen ja beide genau, was man tun muss, damit der Spaß am bekömmlichsten ist.

Willst du die Liste der Sommerlektüre notieren? Bevor man zu den Büchern gelangt, hat man im Sommer eine Menge anderes zu lesen:

Wohin du auch reisen magst, lies die Umwelt. Lies die Bäume, die Tiere, das Wetter, die Menschen und ihre täglichen Beschäftigungen. Wenn du aufs Land fährst, studiere die Sommerlandarbeiten, schau mit genauerem Blick, hör zu, wie früh das Dorf aufsteht, wie behutsam es in der Morgendämmerung zu ruscheln beginnt. Man geht in die merkwürdig fröstelige Kühle hinaus; zuerst kommt das Vieh, dann der Garten, das Feld, der Weinberg … Lies, wie die kleinen Kälber ihren Heimweg auswendig können und wie gut sie abends ihr Haus finden. Wie jedes Wesen – von den Winzigsten bis zu den Großen – in einer wunderbar geordneten Regelmäßigkeit lebt. Lies die Augen der Kinder, die im Hof spielen, ihre schmutzigen Knie, ihre Findigkeit, Uneigennützigkeit, Freiheit … Lies die Finger, die sich abends um die dampfende Tasse heiße Milch schließen und den Geruch dörflichen Brotes, das besonders gut schmeckt. Lies den Fluss des Dorfes, die Fische, die Angel, das Netz, die Hüte der Fischer, das Gras am Flussufer, eine Wasserschlange, die sehr selten zwischen den Steinen herausgleitet. Lies die Angst, die Angst und die Einbildungskraft und dazu noch Rücksicht auf etwas Größeres, Geheimnisvolles, das lebt, wächst und sich entwickelt, obwohl wir es dabei so sehr stören. Lies die Dorfmärchen aus den Berichten der alten Männer, die Liebesgeschichten aus den Erinnerungen der alten Frauen, das Leben, die Erfahrung – das ist die beste Lektüre!

Bist du am Meer? Da gibt’s ja auch eine Menge zu lesen. Das Meer am Morgen und das Meer am Abend, im Sonnenuntergang. Besonders aufmerksam sollst du sein Rauschen lesen, die Stimmen der Wellen, seine Kühle, diese leichte, flüchtige Erschütterung, wenn man vom heißen Strand ins Wasser steigt, die das Herz etwas schneller schlagen lässt und es mit Freude erfüllt.

Lies die Augen der Liebespaare, die einander sogar von der Berührung mit den Wellen behüten. Das vorsichtige Watscheln der Kleinkinder über Sand und Steine und das Tosen der Wellen, die von den ins Wasser geworfenen Steinen erschrocken sind, sollst du auch lesen. Lies die Möwen und die merkwürdigen, ein wenig klebrigen und scharf riechenden Pflanzen, die da und dort im Sand wachsen. Die flirrenden Silhouetten der Schiffe am Horizont, die ins Meer gestiegene Sonne und ihre feuerrote Inschrift auf der gekräuselten Wasseroberfläche.

Was sonst? Was sonst noch lesen?