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Der Psychoroman ist ein literarisches Genre.

Die Charakteristik der Romane dieser Art ist die Darstellung hypothetischer psychopathologischer Phänomene innerhalb einer Geschichte, die sonst auch unter anderen Genres wie Fantasy, Krimi, Horror etc. klassifizierbar ist.

Die Voraussetzung für Autorinnen und Autoren von Psychoromanen ist die Kenntnis der theoretischen Psychologie: psychische Störungen, therapeutische Techniken und die Geschichte der Psychologie. Die Charaktere und die Ereignisse, die in der Erzählung mit den wichtigsten Merkmalen bestimmter psychischer Störungen beladen werden, müssen die typischen Symptome nach allgemein anerkannten und von der offiziellen Psychologie angenommenen Kriterien aufweisen (z. B. DSM – Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders).

Der Psychoroman soll so geschrieben werden, dass auch Amateure auf dem Gebiet der Psychologie die Geschichte genießen können, da der rein psychologisch-technische Aspekt in die Handlung gewoben wird, ohne sie zu überwältigen.

Das Genre unterscheidet sich von dem psychologischen Roman, da in diesem die Innenfokussierung vorherrscht und der Stoff schwach ist. Der rote Faden der psychologischen Romane ist die interne Exploration, während es im Psychoroman die Abgrenzung einer psychischen Störung ist.

In der Literatur gibt es einige wenige Autorinnen und Autoren, die den Psychoroman geehrt haben, ohne ihn so zu nennen. Ein Beispiel ist Flora Rheta Schreiber, Autorin von Sybil (Henry Regnery Company, Chicago 1973; auf Deutsch: Sybil. Eine Frau mit vielen Gesichtern. Scherz, Bern/München 1974), einem biografischen Roman über eine Frau, bei der eine multiple Persönlichkeitsstörung diagnostiziert wurde.

Sibyl von der Schulenburg schreibt Psychoromane seit 2013, und bald fand ein Kritiker die spezielle Bezeichnung für das absolut neue Genre, das sich nicht auf ein einzelnes Buch beschränkte. Die Besonderheit ihrer Romane ist durch die starken emotionalen Ladungen gegeben, die sie in den Erzählungen von Menschen in psychischen Konflikten vermitteln.

Die betreffenden Charaktere weisen die typischen Symptome einer pathologischen Störung auf, die in der Geschichte erkannt und diagnostiziert wird, und es werden auch Hinweise über die therapeutischen Techniken gegeben, die für die spezifische Erkrankung angebracht sind – oder gar kontraproduktiv wirken. Dadurch wird auch die Fehlbarkeit der psychologischen Wissenschaft ins Licht gerückt.

Psychoromane sind in der Regel Ergebnisse der Fantasie der Autorinnen und Autoren, mit Exazerbationen oder Variationen der Krankheitsverläufe, wie sie den psychologischen Theorien entsprechen würden. Sie sind keine Fachliteratur, sondern Schauspiele der Psychologie.

SIBYL VON DER SCHULENBURG

Die Hundefrau

Psychoroman

Aus dem Italienischen
von Nina Tamara Schön

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Copyright © dieser Ausgabe 2017 bei Wieser Verlag GmbH,
Klagenfurt/Celovec
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Dr. Carsten Schmidt
ISBN 978-3-99029-253-2
eISBN 978-3-99047-096-1

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Epilog

1.

»Maremma bonina!«, rief Paolo aus, während er seinen Motorroller an der Landzunge abstellte. Hinter ihm lag ein Kilometer Schotterstraße voller Schlaglöcher und Staub, der sie alle einhüllte, doch vor ihm lag das schönste Panorama der Etruskischen Küste. In der Ferne lag das von weißen Segeln gesprenkelte Meer, in dem sich die Sonne spiegelte.

Ein paar Meter darunter, jenseits des in Terrassen angelegten Olivenhains, lag der Bauernhof, der durch die alten Ziegelsteine zu schwitzen schien. Das Dach war noch immer dasselbe wie vor 100 Jahren, als das Haus noch von einer großen Familie bewohnt war und im Stall Kuh und Esel einander Gesellschaft leisteten. An mehreren Stellen waren die Dachschindeln durch Flickmaterial ersetzt worden und der typisch toskanische Hof hätte dringend eine Entrümpelung nötig gehabt. Zu seiner Rechten erhob sich der Wald.

Paolo kratzte sich an seinem hervorstehenden Bauch, bevor er zu dem Gutshof hinunterging; er passierte das letzte Schild mit der Aufschrift Privatbesitz und suchte den Haupteingang. Ihn empfing eine Mischung aus Jaulen, Heulen und Bellen.

Auf der Tenne mit Lehmboden, vor der langen, dem Meer zugewandten Fassade, stand ein schmutziger Geländewagen mit fremdem Kennzeichen. Überall lag Abfall aller Art, Plastik, Dosen, Karton und anderes, herum; nicht ein Quadratmeter war frei von Müll. Die Brise, die vom Meer kam, wehte Paolo den Gestank von Fäkalien und Aas in die Nase. Alle Fenster waren geschlossen: Die innenliegenden, hölzernen Fensterläden waren geschlossen.

»Keiner da?«, rief er in Richtung Natursteinfassade.

Die Tür im Erdgeschoss öffnete sich gerade so viel, dass eine dünne Gestalt hindurchschlüpfen und sie sofort wieder schließen konnte. »Was wollen Sie?«

»Post! Ein Telegramm… Brauch ’ne Unterschrift.«

Die Frau hielt auf den Stufen zum Eingang mit flatternden Augenlidern inne. Sie führte die Hand an die Stirn und blickte zu dem Mann. »Für mich?«

»Giulia Regazzoni… sind das Sie?«

Die Frau, die wohl etwa siebzig Jahre alt war, strich eine graue Strähne hinters Ohr. »Das bin ich, aber ich kenne niemanden.«

»Das hier kommt aus… Bellinzona in der Schweiz.« Der Briefträger näherte sich der Frau mit geöffnetem Registerbuch.

»Oh …«, Giulia hüllte sich fester in die schmutzige Strickjacke und senkte den Blick. »Da gibt es also noch jemanden…«

Zwei Schritte von der Frau entfernt rümpfte Paolo die Nase und blieb stehen. Er streckte den Arm aus und hielt ihr das Buch mit dem an einem Faden befestigten Stift hin.

Mit zitternder Hand kritzelte die Frau hinein und gab ihm das Buch zurück.

Der Postbote zeigte auf das Auto: »Ist das ein Schweizer Kennzeichen?«

»Ja, aber es funktioniert auch hier.« Giulia starrte auf das weiße Kuvert. »Was wollen Sie denn noch …«

Paolo ging zwei Schritte zurück und blickte sich um. Aus der Scheune drangen Hundelaute. »Halten Sie Jagdhunde?«

»Sie sind wie meine Kinder.«

»Ich jag’ ab und zu Wildschweine, aber hier sind wir im Naturschutzgebiet, da schießt man nicht. Was machen Sie hier mit den Hunden?«

»Ich pflege sie, weil keiner sie will. Ich gebe ihnen ein Zuhause.«

»Das scheinen aber ganz schön viele zu sein …«

»Es gibt Unmengen an Streunern. Die Menschen sind schlecht, sie lassen sie einfach zurück.« Die Frau strich sich über die Schulter. »Und die Jäger erst… Bestien!«

Eine neue Dunstwolke erreichte Paolos Nase. »Hier muss irgendwo ein verendetes Wildschwein liegen«.

Giulia blickte in Richtung des Meers. »Kann schon sein.«

»Schade, dass Sie die Hunde hier nicht frei laufenlassen können, aber Zäune darf man hier im Naturschutzgebiet ja leider keine bauen. Dabei gibt es so viel Platz.« Der Postbote blickte nach unten, während er mit der Schuhspitze eine Dose, die am Boden lag, nachzeichnete. »Viel Natur …«

»Ich hab nachgefragt, vor ein paar Jahren, als ich hierhergekommen bin. Sie haben nein gesagt.«

»In der Gemeinde hat es Änderungen gegeben, vielleicht geht’s jetzt, wenigstens hier rund ums Haus.« Der Mann machte eine Kreisbewegung mit seinen Armen, die die Tenne und die Nebengebäude miteinbezog. »Und die Fassade der Scheune könnte auch ein bisschen Putz vertragen.«

»Ich finde, der passt schon so. Gut, er ist ein bisschen abgebröckelt, aber er hält noch.«

»Wenn Sie etwas brauchen, ich mache solche kleinen Arbeiten, auch wenn da und dort ein bisschen Dreck weggeräumt werden soll.«

»Das ist kein Dreck, ich hab nur noch keine Zeit zum Aufräumen gehabt.«

Der Briefträger steckte das Buch in die schwarze Umhängetasche und schwang sich auf seinen Motorroller.

»Warten Sie!«, Giulia bewegte sich zwei Schritte auf den Mann zu. Sie streifte sich die faltige Hand an der völlig verdreckten Hose ab und gab ihm das Kuvert. »Lesen Sie es mir vor?«

Paolo stieg von seinem Roller ab und stellte ihn wieder auf seinen Ständer. Er schob seine Dienstmütze zurück und kratzte sich mit dem kleinen Finger am Kopf. »Ich verstehe kein Schweizerisch …«

»In Bellinzona spricht man Italienisch.«

Der Postbote riss die kurze Seite des Kuverts auf und zog ein Blatt aus dünnem Papier mit dem Poststempel von Verdalmasso heraus. Er hielt es eine Handbreit vor seine Augen und las: »Mama …«.

Giulia biss die Zähne zusammen. »Lena… Die Vorzeigeschwiegertochter …«

»Wir reisen Montag, den 9., mit dem Zug um 15:35 Uhr am Bahnhof von Cecina an. Bis bald. Milena.«

Die Frau nahm das Kuvert, das der Mann ihr wiedergab. »Milena…«

»Das ist heute«, sagte Paolo.

»Was?«

»Der Neunte, Montag.«

»Ah …«

»Es ist schon zwei Uhr. Bis nach Cecina braucht man vierzig Minuten.«

Die Frau drehte sich um und stieg zwei Stufen bis zur Tür hinauf. »Ich weiß.«, sagte sie, bevor sie ins Haus schlüpfte.

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Der alte Mitsubishi Pajero fuhr langsam hinunter ins Tal. In der ersten Serpentine rutschte das Kuvert mit dem Telegramm vom Beifahrersitz.

Giulia saß aufrecht hinter dem Lenkrad, den Blick nach vorne gerichtet, die Zähne aufeinandergebissen. »Was zum Teufel …«, murmelte sie ab und an. »Nach all den Jahren …«. Das Auto kam mit 40 Stundenkilometern voran und hinter ihr bildete sich eine lange Schlange auf der Straße, die bis ins Tal führte. Um 16:20 bog der Pajero in den fast menschenleeren Bahnhofsvorplatz ein. Nur noch eine junge Frau und ein Mädchen saßen im Schatten des Bahnhofsgebäudes auf ihrem Gepäck. Die Frau stand auf, als sie den Geländewagen sah.

Giulia parkte mit ein paar gewagten Manövern ein, stieg aus und blieb neben dem Auto stehen.

Die Frau und das Mädchen kamen näher, zwei Koffer hinter sich herziehend. »Mama«, sagte die Frau, ich hatte gar nicht mehr damit gerechnet…«

»Warum bist du gekommen, Lena?«

»Ich brauche Hilfe.«

»Und da kommst du zu mir? Ich kann dir nicht helfen, das musst du selbst erledigen.«

»Zuhause glauben sie, du seist tot, du hast kein Telefon …« Milena betrachtete die Schwiegermutter, das Auto und dann wieder die alte Frau. »Geht es dir gut?«

Giulia nickte und lehnte sich an die Tür des Pajero.

»Du erinnerst dich an Lucia, meine Tochter, deine …«

Das blonde Mädchen erhob den Blick auf die Großmutter. »Hallo.«, murmelte sie, während sie die Finger in die Taschen ihrer Jeans steckte, die an ihren Hüften spannte. Das kurze T-Shirt ließ ein Fettröllchen unbedeckt, das über den Gürtel hing.

»Sie sieht dir sehr ähnlich.«, antwortete Giulia trocken. »Und warum hältst du mich nicht auch für tot?«

»Vielleicht hätte ich das gemacht, aber der Inspektor von der Pensionsbehörde ist gekommen, er will einen Lebensnachweis.«

»Ach, deshalb kommt kein Geld mehr.«

Milena seufzte. »Vielleicht bist du diejenige, die Hilfe braucht. Aber… müssen wir hier mitten auf der Straße stehenbleiben?«

Giulia zog die Augenbrauen hoch und zeigte auf die Bar auf der anderen Seite des kleinen Platzes. »Gut, dann also auf einen Kaffee. Du bezahlst.«

Die drei gingen bis zur Bar.

»Wovon lebst du, Mama?«, fragte Milena mit einem Brötchen vor sich.

»Von Almosen.«

Der Kellner, der der alten Dame den Kaffee brachte, zog geräuschvoll seine Nase hoch. »Es stinkt …«, sagte er und richtete den Blick auf den Boden rund um den kleinen Tisch. »Verdammte Hunde.«

Lucia errötete und blitzte den Kellner zornig an.

»Du hast also nicht wieder mit dem Schreiben angefangen.«

»Ich schaffe es nicht mehr seit… Rodolfo… Ich…«, die Frau biss die Zähne zusammen und erschien noch zerbrechlicher.

»Das ist sechs Jahre her. Nicht einmal eine Karte zu Weihnachten.«

»Ich habe zu tun, ich kann nicht. Ich habe eine Aufgabe …« Giulia untersuchte die Sohlen ihrer Schuhe.

»Aber wir sind deine Familie! Alle haben gelitten, nicht nur du.«

»Willst du mir sagen, ich habe kein Recht darauf, alleine zu trauern?«

»Du antwortest nicht auf meine Briefe …« Milena setzte ihre Sonnenbrille auf und zog die Nase hoch.

Lucia legte das halbe Brötchen auf den kleinen Teller und tätschelte die aufgedunsene Hand der Mutter. »Nicht weinen, Mami!«

Zwei Tropfen bahnten sich ihren Weg unter den dunklen Brillengläsern nach unten. »Es ist nichts… nur die Allergie gegen die Platanen.«

Giulia verschränkte die Arme. »Wie auch immer: Warum bist du gekommen?«

»Das ist schwer zu erklären, und …«, murmelte Milena.

»Also ich fahre wieder nach Hause, sie warten auf mich.« Giulia rückte den Stuhl nach hinten.

»Mama …«

Sie schwieg.

»Ich muss dich bitten, Lucia bei dir aufzunehmen, für ein paar Tage, eine Woche.«

Giulia schaute erst die Schwiegertochter und dann die Enkelin an. Sie schüttelte den Kopf.

»Es ist ein Notfall, sonst hätte ich dich nicht gefragt. Ich muss fortgehen… ins Ausland.«

Giulia verlagerte ihr Gewicht wieder auf den Stuhl. »Ausland?«

»Ja… ich erkläre dir das dann, aber es geht um Leben und Tod.«

»Kommt nicht in Frage.«

»Lucia findet sich zurecht, sie putzt und kann kochen.«

»Ich weiß nicht, wohin mit ihr, ich habe keinen Platz, wir haben nicht einmal etwas zu essen.«

»Ihr reicht ein winzig kleines Plätzchen und sie muss nur wenig essen.« Milena lächelte die Tochter an. »Wie ein Kätzchen, nicht wahr, Liebling?«

Lucia nickte mit verschränkten Armen, sodass das Doppelkinn ihr Unterkiefer begrub.

Giulia neigte den Kopf zur Seite und betrachtete die Enkelin. »Ein Kätzchen… Nein, kommt gar nicht in Frage, außerdem hab ich kein Geld mehr.«

»Gut Mama, ich lass dir welches da, wie viel brauchst du?«

»Wofür?«

»Mama …«

Giulia rieb die Handflächen aneinander. »Na gut, mach du… Ich geb’ es dir dann zurück, wenn die Pension kommt.«

Milena nahm das Portemonnaie aus der Handtasche und zog ein paar Scheine heraus. Sie legte sie auf den Tisch und ließ sie bis zu ihrer Schwiegermutter gleiten. »Hier …«

Giulia packte das Geld und steckte es in die Tasche, dann stand sie in einer fließenden Bewegung auf. »Na gut, aber wenn sie nicht gehorcht, setze ich sie in den Zug zurück nach Bellinzona.«

»Mami«, bat Lucia mit verkniffenem Gesicht, »lass mich mit dir kommen… ich störe dich auch nicht.«

»Ich kann nicht, mein Schatz, ich kann wirklich nicht. Ich hab dich sehr lieb und auch die Oma hat dich lieb, du wirst schon sehen.« Milena sah die Schwiegermutter an, die sich zu ihrem Auto bewegte. »Ich breche sofort auf, das weißt du… Wir hören uns. Ich muss wissen, dass es dir gut geht.«

Lucia nickte mit Tränen in den Augen. »Ich weiß, Mami.«

Milena ließ Geld auf dem Tisch liegen und streichelte die Wange ihrer Tochter. »Zu deinem Geburtstag sind wir wieder zusammen, wir werden in Bellinzona sechzehn Kerzen auspusten.«

Giulia wartete hinter dem Steuer darauf, dass die Schwiegertochter das Gepäck der Tochter einlud und die Enkelin stieg in den Pajero ein. Ohne ein weiteres Wort verließen sie den Bahnhofsvorplatz.

Lucia winkte ihrer Mutter mit ausladenden Bewegungen aus dem hinteren Autofenster.

»Ich hab viel zu tun.«, sagte Giulia. »Ich hab keine Zeit für dich.«

Lucia sank auf dem Rücksitz zusammen und schloss die Augen.

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Der Parkplatz des Supermarkts war voller Autos mit ausländischen Kennzeichen. Holländer, Deutsche und Franzosen erkämpften sich einen Stellplatz neben Schweizern und Belgiern. Giulia parkte den Pajero mit zwei Rädern auf dem Blumenbeet. »Warte auf mich.«, sagte sie, bevor sie ausstieg und mit einem Einkaufswagen im Geschäft verschwand.

Eine Viertelstunde später öffnete die Frau die Heckklappe und lud die Waren ein, sodass das Auto schwankte. Giulia verschwand erneut und nach fünf Minuten lud sie weitere schwere Kisten und sperrige Einkaufstüten ein. Der Pajero sank mit den Hinterreifen ein.

»Gut«, sagte die Frau, während sie wieder hinters Lenkrad stieg, »wir haben etwas zu essen.«

Lucia nickte schwach und strich die verschwitzten Haare von der Stirn. Sie sah nach draußen, in das Grün der toskanischen Felder, während der Geruch von Exkrementen sich mit dem der gerade eingeladenen Fracht vermengte. Sie lehnte den Kopf an die Rückenlehne und schloss die Augen.

Der Geländewagen fuhr langsam die Straße ins Tal entlang und zog eine Kolonne ungeduldiger und hupender Autos hinter sich her. Giulia legte in aller Ruhe den Blinker ein und bog ab. Nach ein paar Kilometern mit leichter Bergfahrt schaltete sie zurück und bewältigte die erste Serpentine. Auf der einen Seite der Straße hoben sich Seekiefern und Korkeichen empor, auf der anderen reichte der Blick bis hin zur Küste. In der Ferne ragten die Inseln Elba und Capraia aus dem Meer.

Als sie die Serpentine hinter sich gelassen hatte, brummte sie: »Na siehst du …«, fuhr an die Seite und schaltete den Motor aus.

»Was ist?«, fragte Lucia.

»Eine Mieze… sie ist klein… und arm, so allein.« Giulia stieg aus.

Auch Lucia stieg aus. Sie sah das Objekt, das die Aufmerksamkeit der Großmutter erregt hatte: Ein Kätzchen, ein paar Monate alt, lag ausgestreckt im hohen Gras am Straßenrand. Es blickte die Frau, die sich ihm näherte, mit großen Augen an, öffnete das Mäulchen, um zu miauen, doch es kam kein Ton heraus.

»Ich bin da… alles ist gut… miez, miez…«

»Sie wird einen Besitzer haben, vielleicht in diesem Haus dort unten.« Lucia zeigte auf das Gebäude unter der Straße.

»Nein, das ist ein Streuner.«

»Aber… ich glaube, es geht ihm gut.«

»Was willst du schon wissen? Die Katzen, die versteh ich sofort, es geht ihr schlecht.« Giulia kniete sich hin, um das Tierchen aufzuheben.

Die Katze sprang plötzlich auf und lief drei Meter fort. Mit der Pfote schlug sie ein paar Mal nach einem Grashalm. Sie setzte sich hin und betrachtete die Frau erneut.

»Miez, miez…«

»Oma…«

»Sei still, du erschreckst es.«

»Dort ist seine Mutter.« Lucia zeigte auf eine erwachsene Katze, die durch das Gras heranschritt.

Giulia richtete sich wieder auf, beobachtete die Katze und das Kätzchen, das zu seiner Mutter lief. Die Frau seufzte und ging zurück zum Auto.

Der Pajero nahm wieder Fahrt auf und nach einigen Serpentinen erreichte er Verdalmasso. Giulia schlug das Lenkrad nach links ein und bog in die weiße, holprige Straße ein; Lucia klammerte sich am Türgriff fest.

Endlich hielt das Auto in der Tenne des Landsitzes. Der Chor der Hunde war ohrenbetäubend.

»Essen ist fertig!«, rief Giulia, sowie sie einen Fuß auf den Boden gesetzt hatte. Sie ging direkt zum Geräteschuppen und kam eine Schubkarre schiebend wieder zurück.

Das Gebell wurde noch lauter.

Lucia stieg vorsichtig zwischen dem Abfall aus; sie ging um das Auto herum und wartete, dass die Großmutter das Tor öffnete.

Giulia öffnete und stellte die Schubkarre daneben.

Das Mädchen betrachtete die enorme Menge an Schachteln mit Hundefutter und Trockenfutter im Kofferraum des Geländewagens. Sie streckte die Hand nach dem Griff ihres Koffers aus.

»Warte!«, wies sie die Großmutter an, »Lass das hier. Hilf mir jetzt!«

Lucia packte die Ecke eines Sacks und mit Giulias Hilfe ließ sie ihn in die Schubkarre fallen. Gemeinsam schoben sie das Futter bis zum Eingang der Scheune. Der Gestank nach Exkrementen war überwältigend. Tausende Fliegen schwärmten rund um das landwirtschaftliche Gebäude.

»Bleib hier und füll die Wassereimer auf.«, ordnete Giulia an, bevor sie den Zubau betrat.

Der Lärm, den die Hunde verursachten, wurde unerträglich: Bellen, Heulen, Knurren und Winseln von einer Vielzahl von Tieren vereinte sich zu einem einzigen Chor. Giulias Stimme schien den Rhythmus zu bestimmen. »Ich komme, meine Lieblinge … schaut … ich komme.«

Plötzlich verstummte alles.

Lucia blickte hinunter auf die Reihe von Eimern und Plastikbehältern, die sich am Eingang sammelte. Die Sonne war bereits untergegangen, das Licht nahm rapide ab. Sie suchte einen Wasserhahn oder einen Schlauch, fand allerdings nichts.

Sie ging um die Scheune herum und versuchte, nicht zu tief einzuatmen. Vom Inneren drang das Geräusch der fressenden Hunde an ihr Ohr, viele spitze Zähne, die das Trockenfutter zermalmten. Lucia schlang die Arme um ihren Körper, schaute nicht auf den Boden, stolperte und fiel mit dem Gesicht nach unten hin.

Das Mädchen tauchte mit den Händen in den Schlamm, stieß sich ab, um aufzustehen, und rümpfte die Nase. Sie setzte sich hin und betrachtete die Erdflecken auf ihrem T-Shirt. Sie versuchte, das Gröbste abzustreifen, tat dabei allerdings nichts anderes, als die Situation noch zu verschlimmern. Sie seufzte und schaute einen Meter weiter hinüber: Zwei Hundeaugen waren auf sie gerichtet.

Lucia schrie. Etwa ein Dutzend Hundekadaver lag hinter dem Schuppen übereinander. Die Augen des zuoberst liegenden ragten aus dem knochigen Kopf, aus dem offenen Brustkorb trat eine zähe Flüssigkeit aus. Ein Schwarm Fliegen schwirrte um die Pyramide aus ausgemergelten Körpern.

Lucia stand in einer einzigen Bewegung auf und rannte zur Vorderseite des Schuppens. Keuchend wartete sie auf die Großmutter, und versuchte immer noch, den Schlamm aus T-Shirt und Jeans zu bekommen.

»Warum hast du die Eimer nicht aufgefüllt?«, fragte Giulia schroff, als sie aus dem dunklen Tor trat.

»Ich hab kein … kein …« Lucia zeigte auf den Schuppen.

»Du hast kein Wasser gefunden. Das hier ist kein Grand Hotel.« Giulia näherte sich der Brunneneinfassung und betätigte den Hebel der Handpumpe. »Hier ist es.«

Lucia zeigte erneut auf den Schuppen. »Hinten … hinten … Tote.«

»Ah ja, es waren viele krank. Ich muss sie morgen wegräumen.« Giulia trocknete sich eine Träne mit ihrem schmutzigen Ärmel.

»Ich muss mich duschen, ich bin in den Matsch gefallen… Ich bin schmutzig.«

»Jetzt fang nicht an zu heulen wegen ein bisschen Erde. Wir sind am Land und es wird besser sein, dich gleich daran zu gewöhnen.«

Lucia betrachtete das große Steinhaus mit der Loggia auf der kurzen Seite, wo der Wald begann. »Darf ich hineingehen?«

»Ich hab’s deiner Mutter ja gesagt, dass ich nicht weiß wohin mit dir. Du kannst im Auto bleiben, deine Tasche ist ja schon dort.«

Lucia erstarrte. »Aber ich … allein … in der Nacht …«

»So ein Theater! Es gibt Leute, die in diesen Hügeln zelten und sie bezahlen, um das machen zu dürfen.«

»Es ist kalt … dunkel …«

»Ich bringe dir gleich eine Decke und etwas zu essen.«

Das Mädchen ging zu seinem Gepäck im Pajero. Sie zog die Tasche zu sich und wühlte darin, bis sie das Sweatshirt, nach dem sie gesucht hatte, fand. Sie zog es an und nahm einen Gegenstand an sich, bevor sie sich auf die Rückbank schleppte.

Giulia schloss das Tor. »Du weißt, wo das Wasser ist. Die Toilette ist im Gebüsch, wo auch die Aprikosen und Pfirsiche sind.«

Lucia kauerte sich zusammen und versuchte, sich aufzuwärmen. Sie zuckte zusammen, als sie ein Klopfen am Autofenster hörte. Die Großmutter gab ihr eine fleckige und übelriechende Decke; in der anderen Hand hielt sie eine offene Konservenbüchse mit einer darin steckenden Gabel, in der sich eine Fleischmasse befand. Es gab kein Etikett. »Nimm, iss: Das ist was Gutes.«

Die Jugendliche nahm die Decke und das Essen, verriegelte die Autotüren und kostete das Fleisch. Es war nicht schlecht, sie aß auf. Dann wickelte sie sich in die Decke und zog das Handy aus ihrer Jeanstasche. Sie drückte auf eine Taste und hielt das Telefon ans Ohr.

Kein Ton kam aus dem Gerät: Sie hatte keinen Empfang.

Lucia konnte nicht länger die Tränen zurückhalten, sie versteckte das Gesicht hinter den schmutzigen Händen und schluchzte.

»Mami…«

2.

Die Sonne stand knapp über dem Berg, als Lucia aufwachte, sie öffnete die Augen und sah die graue Rückenlehne vor sich. Sie setzte sich auf und schaute durch das hintere Ausstellfenster: Zwei junge Wiedehopfe pickten am Fuße eines alten Olivenbaums.

Das Mädchen suchte sein Mobiltelefon, drückte die Taste für die Wahlwiederholung und lauschte. Das Geräusch bedeutete, dass sie keinen Empfang hatte, wie am Abend zuvor. Lucia seufzte, während sie das Telefon wieder in die Hosentasche steckte, dann stieg sie aus dem Geländewagen.

Die Fenster des Hauses waren immer noch verschlossen. Das alte Gebäude lag umrahmt von herumliegendem Abfall, nur der Gestank schien umher zu wallen.

Lucia ging ein paar Schritte in Richtung Scheune. Auch hier war es still, auch wenn die Stille eine andere war als die des Hauses: Sie war weniger tief, eher wie das Schweigen von Wartenden.

Der obere Teil des Anbaus war mit den charakteristischen Mandolata-Gitterfenstern aus Backstein gebaut worden, damit die Luft zur Lagerung des Heus hindurchströmen konnte. Das untere Stockwerk hatte an drei Seiten je zwei hohe Fensterchen mit Eisengittern. Das Tor war geschlossen.

Ein plötzliches Geräusch drang vom Feld hinter dem Gebäude, das die Hunde beherbergte und ab und an unterbrach Geheul die Stille. Dann vereinten sie sich einer nach dem anderen zu einem langsamen und hohen Gesang.

Lucia hielt sich die Ohren zu und zog den Kopf ein. Sie schloss die Augen und als der Chor des Heulens verebbte, öffnete sie sie wieder. Die Großmutter bog gerade um die Ecke der Scheune, in einer Hand hielt sie eine Schaufel, in der anderen einen Eimer. Sie ließ die Gerätschaften vor dem Türchen des Anbaus liegen und wandte sich an die Enkelin: »Hilf mir!«

»Was…«, Lucia senkte die Hände, »was ist mit den Hunden passiert, dort… dort hinten?«

Giulia zuckte die Schultern und schaute in Richtung des Feldes. »Sie schlafen, es geht ihnen jetzt gut.«

»Aber… Ich wollte sagen… warum sind sie so dünn?«

»Ich hab’s dir schon gesagt, es geht irgendeine Krankheit um, die sie alle holt. Steh da nicht wie angewurzelt herum, es gibt viel zu tun!«

»Aber…«

»Hör auf, Fragen zu stellen!« Giulia kniete sich hin, um eine Sichel aufzuheben, und reichte sie dem Mädchen. »Geh dort hinten hin«, sagte sie, während sie auf die grüne Wiese hinter dem Schuppen zeigte, »und schneide ein Bündel Gras«.

Lucia nahm die Sichel mit zwei Fingern und hielt sie hinabhängend in die Luft. »Ich weiß nicht, wie man die verwendet.«

»Das wirst du lernen. Es ist wie Salat schneiden.«

»Wie viel?«

»Nicht zu viel, denn es muss noch eine Weile reichen.«

Das Mädchen ging auf die Wiese und hielt sich von der Scheune fern, sie blickte oft in Richtung des Anbaus, doch wo sie am Vorabend noch die Tierkadaver gesehen hatte, war nur eine grünliche Lache, die in der Erde versickerte.

Im hohen Gras angelangt, atmete Lucia die Meeresbrise ein, ein salziger Duft, der die ekelhaften Gerüche einige Meter weiter an den Berg trieb. Zwischen dem üppigen Gras wuchsen vereinzelt Wiesenblumen.

Lucia kniete sich hin und riss, sich mit der gebogenen Klinge behelfend, die Büschel aus, legte sie zu einem Bund und trug ihn auf die Tenne. Die Großmutter deutete ihr, ihr zu folgen und machte sich auf den Weg entlang der Vorderseite des Hauses. Das Mädchen mit dem Gras im Arm folgte ihr schweigend mit auf den Boden gerichteten Augen, dem größten Abfall ausweichend. Am Ende der steinernen Mauer schlüpfte die Frau durch eine bogenförmige Öffnung unter der Treppe, die zu einem Balkon führte.

Ein starker Ammoniakgeruch löste bei Lucia einen Hustenanfall aus. Der Raum war dunkel und es dauerte ein paar Sekunden, bis sie die Kruppe eines grauen Pferdes ausmachen konnte. Das Pferd mit seinen Knochen unter dem vergilbten Fell stieß fast an die niedrige Decke. Das Tier war an seinen Platz angebunden, ohne die Möglichkeit, sich zu strecken.

Die Atmung des Pferdes ging geräuschvoll, die Flanken hoben sich jedes Mal, wenn es die beißende Luft einatmete.

»Wirf das Gras in den Futtertrog!«, ordnete Giulia an, während sie die knochige Kruppe streichelte.

Lucia verharrte unbeweglich. Sie betrachtete das Bett aus Exkrementen, auf dem tausende Fliegen ein Festmahl hielten, eine Bracke aus Fäkalien und Jauche, in der die Hufe der Stute verschwanden.

Selva drehte den Kopf nach dem Mädchen um. In dem schwachen Licht, das von der Tür hereindrang, waren die Mulden über den Augen schwarze Löcher ohne Grund. Die Ohren drehten sich in Lucias Richtung und die Nüstern bebten. Ein leiser Lockruf richtete sich an die Jugendliche mit dem Arm voller Gras.

Lucia sah ihre schönen Sportschuhe an. Sie seufzte, ließ sie in dem Schmutz versinken und legte das Gras in den Trog. »Ist das deins?«, fragte sie die Großmutter von der anderen Seite des Schimmels aus, die ihr Maul im Gras versenkt hatte.

»Sie wollten sie umbringen.«

»Warum?«

»Sie sagten, sie sei alt, krank.«

»Ich mag Pferde. Ich gehe oft in den Reitstall und …«

»Sie hat lange Zeit einen Wagen gezogen und ist dann gestürzt.« Giulia führte die Hand auf den eingefallenen Rücken der Stute. »Hier hat sie einen Zufluchtsort gefunden.«

Lucia starrte auf die hervorstehenden Rippen und die Haut, die bei jedem vergeblichen Versuch, sich von den Fliegen zu befreien, zuckte, während der Schweif apathisch herabhing. Die Hand des Mädchens berührte leicht den grauen Hals. »Papa mochte Pferde.«

Giulia presste die Kiefer aufeinander und schüttelte den Kopf. Sie rückte die Spange in ihren grauen Haaren zurecht und ging, von einem Schwarm Fliegen begleitet, hinaus.

Lucia füllte das Wasser in den Eimern wieder auf, wobei sie die Pumpe des Brunnens mit beiden Händen in Bewegung setzte. Sie nahm die an den Schuppen gelehnte Schaufel und den Eisenbesen mit und trug alles zum Eingang des Stalls. Als Selva den letzten Grashalm gefressen hatte, brachte sie ihr einen Eimer mit Wasser, band sie los und führte sie hinaus auf die Koppel unter den Pflanzen. Die Stute ließ sich auf den weichen Boden fallen.

Drei Stunden später war der kleine Stall vom Mist befreit, der Boden trocknete und durch das kleine, offene Fenster kamen Licht und Luft herein. Das Mädchen sammelte Gras entlang der Gräben und befüllte Selvas Futtertrog, dann befüllte sie den daneben mit trockenem Laubwerk.

Um ein Uhr ging Lucia auf die Suche nach Essen für sich. Sie sammelte Obst und aß es, während sie auf den Schuppen blickte. Die Hunde hatten wieder begonnen, sich Gehör zu verschaffen. Ein dumpfes Kläffen schwang in der Luft, es klang wie das Röcheln eines verletzten Tiers. Sie schaute in Richtung des Hauses, warf den Aprikosenkern weg und bahnte sich ihren Weg zum kleinsten Anbau, der zur Tenne zeigte. Die Tür war mit einem Vorhängeschloss versperrt, aber durch die schmutzigen Fensterscheiben konnte man landwirtschaftliches Werkzeug ausmachen: ein kleiner Traktor, eine Gartenspritze zum Schultern und eine Heckenschere. Dahinter lagen aufeinandergestapelte Säcke, Tonnen und Kisten aus Plastik.

Sich an die Gitterstäbe des kleinen Fensters klammernd, versuchte sie zu erkennen, was sich sonst noch in dem Geräteschuppen befand.

»Was suchst du?«, Giulias Stimme traf Lucia hinterrücks.

Die Jugendliche ließ die Stäbe los und drehte sich um: »Eine Leiter, um die höher hängenden Aprikosen zu ernten.«

»Dort drinnen gibt es nichts … Zeug, das sie für die Oliven verwendet haben. Du solltest nicht so neugierig sein.«