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Der Psychoroman ist ein literarisches Genre.

Die Charakteristik der Romane dieser Art ist die Darstellung hypothetischer psychopathologischer Phänomene innerhalb einer Geschichte, die sonst auch unter anderen Genres wie Fantasy, Krimi, Horror etc. klassifizierbar ist.

Die Voraussetzung für Autorinnen und Autoren von Psychoromanen ist die Kenntnis der theoretischen Psychologie: psychische Störungen, therapeutische Techniken und die Geschichte der Psychologie. Die Charaktere und die Ereignisse, die in der Erzählung mit den wichtigsten Merkmalen bestimmter psychischer Störungen beladen werden, müssen die typischen Symptome nach allgemein anerkannten und von der offiziellen Psychologie angenommenen Kriterien aufweisen (z. B. DSM – Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders).

Der Psychoroman soll so geschrieben werden, dass auch Amateure auf dem Gebiet der Psychologie die Geschichte genießen können, da der rein psychologisch-technische Aspekt in die Handlung gewoben wird, ohne sie zu überwältigen.

Das Genre unterscheidet sich von dem psychologischen Roman, da in diesem die Innenfokussierung vorherrscht und der Stoff schwach ist. Der rote Faden der psychologischen Romane ist die interne Exploration, während es im Psychoroman die Abgrenzung einer psychischen Störung ist.

In der Literatur gibt es einige wenige Autorinnen und Autoren, die den Psychoroman geehrt haben, ohne ihn so zu nennen. Ein Beispiel ist Flora Rheta Schreiber, Autorin von Sybil (Henry Regnery Company, Chicago 1973; auf Deutsch: Sybil. Eine Frau mit vielen Gesichtern. Scherz, Bern/München 1974), einem biografischen Roman über eine Frau, bei der eine multiple Persönlichkeitsstörung diagnostiziert wurde.

Sibyl von der Schulenburg schreibt Psychoromane seit 2013, und bald fand ein Kritiker die spezielle Bezeichnung für das absolut neue Genre, das sich nicht auf ein einzelnes Buch beschränkte. Die Besonderheit ihrer Romane ist durch die starken emotionalen Ladungen gegeben, die sie in den Erzählungen von Menschen in psychischen Konflikten vermitteln.

Die betreffenden Charaktere weisen die typischen Symptome einer pathologischen Störung auf, die in der Geschichte erkannt und diagnostiziert wird, und es werden auch Hinweise über die therapeutischen Techniken gegeben, die für die spezifische Erkrankung angebracht sind – oder gar kontraproduktiv wirken. Dadurch wird auch die Fehlbarkeit der psychologischen Wissenschaft ins Licht gerückt.

Psychoromane sind in der Regel Ergebnisse der Fantasie der Autorinnen und Autoren, mit Exazerbationen oder Variationen der Krankheitsverläufe, wie sie den psychologischen Theorien entsprechen würden. Sie sind keine Fachliteratur, sondern Schauspiele der Psychologie.

SIBYL VON DER SCHULENBURG

Der Schatten

Psychoroman

Aus dem Italienischen
von
Nina Schön

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A-9020 Klagenfurt/Celovec, 8.-Mai-Straße 12

Tel. + 43(0)463 37036, Fax + 43(0)463 37635

office@wieser-verlag.com

www.wieser-verlag.com

Copyright © dieser Ausgabe 2017 bei Wieser Verlag GmbH,

Klagenfurt/Celovec

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Carsten Schmidt

ISBN 978-3-99029-254-9
eISBN 978-3-99047-095-4

Für Leda
im Gleichgewicht
zwischen Zucker und Salz
.

Inhalt

Danksagungen:

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Danksagungen:

Wenn ich schreibe, bin ich nie alleine: Mein Geist ist voller Figuren, die einander beim Geschichtenerzählen abwechseln. Das alles sind Menschen, die ihr früher oder später in meinen Romanen antrefft.

Und dann gibt es jene, die mir die Geschichten korrigieren, übersetzen, layouten, veröffentlichen oder promoten; Menschen, die arbeiten, damit meine Inspirationen nicht in den Manuskripten bleiben, sondern bei den Lesern ankommen. Das sind Personen, die große Spuren in meinen Werken hinterlassen und an sie richte ich meinen herzlichen Dank.

Bei der Verwirklichung dieses Buchs habe ich auch mit einer Cake Designerin zusammengearbeitet, die mir wertvolle Ratschläge gegeben hat. Ihr, meiner Tochter Leda Verderio (www.ledaintorta.com), einem künstlerischen Talent mit Hang zum Außergewöhnlichen, widme ich dieses Buch.

Danke.

Prolog

Das Mädchen stieg die Stufen hinauf und wechselte dabei die Füße ab wie die Großen. Die mit Marmor gefliesten Stufen waren hoch und es musste sich an den rostigen Stäben des Geländers festhalten, um sich hochzuziehen. Der alte Sozialbau in dem heruntergekommenen Mailänder Stadtviertel bot keinen Aufzug – und selbst wenn es einen gegeben hätte, wäre es dem Mädchen nicht gelungen, den Knopf in den siebten Stock zu drücken. Nicht einmal auf Zehenspitzen.

Oben angekommen, steckte es den Kopf zwischen die Gitterstäbe des Geländers und sah das Treppenhaus hinunter. Mama hatte das verboten, aber wer wusste schon, wo sie geblieben war. Vielleicht würde sie bald zurückkommen, vielleicht kam sie schon die Treppen hoch, vielleicht…

Die Kleine wandte sich ab und setzte sich auf die letzte Stufe. Sie legte ihr Röckchen im Kreis auf den kalten Marmor und untersuchte minutiös die weißen Schuhe; sie machte den Zeigefinger mit der Zunge nass und rieb einen Matschfleck weg.

In der ungewissen Stille des Treppenhauses löste das Mädchen die blonden Locken, die im Nacken von einem rosafarbenen Band gehalten wurden, und hüstelte.

Die Tür hinter ihr öffnete sich: »Jetzt störst du immer noch?«, schrie ein Mann in Unterhemd und Unterhose.

Das Mädchen fuhr zusammen und wandte sich dem Vater, der hinter ihr stand, zu: »Ich bin runtergegangen… und rauf…«

»Willst du mich verarschen?« Der Mann rülpste und machte einen Schritt über die Türschwelle. »Geh wieder runter, ich bin noch nicht fertig.«

»Lass sie in Ruhe, sie ist doch erst vier.«, ließ sich eine spitze Stimme vom Inneren der Wohnung hören. »Es ist nicht ihre Schuld, wenn du so lange brauchst.«

»Halt die Klappe, Schlampe!«

Das Mädchen erblasste, stand auf und machte Anstalten, den Fuß auf die darunterliegende Stufe zu stellen, die Hand fest an den Stab des Geländers geklammert. »Also«, murmelte es, während es nach unten blickte, »also, Papa, ich gehe sofort.«

»Und zieh dir diese Tussiklamotten aus, sonst wirst du genauso eine Nutte wie deine Mutter.«

Hinter dem hochrot angelaufenen Mann erschien eine Frau im Morgenrock. »Ihre Kleider sind ihr wichtig, das weißt du doch.«

»Die Schlampe hätte sie mitnehmen und nicht mir aufhalsen sollen.«

»Wie fällt sie dir denn schon zur Last?« Die Frau ließ zu, dass der Morgenmantel sich öffnete und ihre schlaffe Nacktheit zur Schau stellte. »Wenn du ficken musst, haut sie ab und wenn sie zuhause ist, hörst du sie nicht einmal.«

»Sie erinnert mich an ihre Mutter.«

»Alle Mädchen erinnern an die Mutter.«

»Allerdings…« Der Mann rieb sich die Nase mit dem schwieligen Handrücken. »He!«, rief er zur Tochter, die an der dritten Stufe angekommen war. »Komm her.«

Das Mädchen drehte sich gehorsam um und stieg wieder bis zum Treppenabsatz des siebten Stocks hinauf.

»Zieh dich aus.«, sagte der Vater.

Die Kleine verstand nicht. Sie richtete die dunklen Augen auf den korpulenten Mann, der nach Alkohol und Schweiß stank. Mit offenem Mund schaute sie ihn an.

»Zieh diesen Scheißrock und dieses T-Shirt aus! Beweg dich!«

Die Frau zog den Morgenmantel über dem Busen zu. »Du willst doch nicht etwa…«

Das Mädchen blieb vor dem Mann stehen, den Kopf in den Nacken gelegt, um den Blick des Vaters zu suchen, der knurrte: »Weg mit diesem Frauenfummel!«

Das Mädchen strich über den mit Pailletten versehenen Druck auf dem T-Shirt. »Aber Mama…«

Der unvermittelte Schall einer Ohrfeige hallte durch das Treppenhaus. Das Mädchen fiel auf die Schwelle aus zersplittertem Holz.

»Sprich nie wieder von ihr.«, brüllte der Mann, »oder ich schmeiß’ dich die Treppe runter!«

Das Mädchen legte die Hand auf seine Wange und schaute den Vater durch Tränen an. Leises Schluchzen schüttelte sie.

»Beruhige dich«, schritt die Frau ein, die sich der Kleinen näherte, sie vom Boden hochhob und mit Anmut auf ihre Füße stellte. »Los, komm schon, ziehen wir diese Kleider aus.«

Die Tür der gegenüberliegenden Wohnung öffnete sich und eine alte Frau lugte hervor.

Der Mann lehnte sich nach vorne. »Hau ab, Alte, kümmer dich um deinen eigenen Dreck.«

Eilig schloss sich die Tür wieder.

Über die Kleine gebeugt, zog die Frau ihr das T-Shirt und das Röckchen aus.

»Besser, viel besser, kleine Nutte.«, feixte der Mann, der sich über den hervorstehenden Bauch strich. »Jetzt geh runter und komm langsam wieder rauf.«

Das Mädchen senkte den Kopf und betrachtete beschämt den nackten Bauch, die weiße Unterhose, die aufgescheuerten Knie und die Schuhspitze. Sie zog die Nase hoch und ließ die Tränen die vollen Wangen hinunterlaufen. Sie umfasste den ersten Stab des Geländers und sah nach unten.

Der Tritt des Vaters traf sie, als der rechte Fuß auf der nächsten Stufe nach unten stand und die Hand den rostigen Stab bereits losgelassen hatte. Der winzige Körper beschrieb einen Bogen über die Treppe zum sechsten Stock und fiel ohne einen Schrei auf den Treppenabsatz, man hörte nur den Aufprall des Kinderbauchs auf dem schmutzigen Marmor.

In der Stille, die folgte, sah der Mann oben auf der Treppe erstarrt auf die unbeweglich am Boden liegende Tochter. Die Frau hinter ihm führte die Hand an den Mund und unterdrückte einen Schrei. Niemand bewegte sich.

Es verging die Zeit von drei Atemzügen und das Mädchen öffnete die Augen. Es setzte sich auf und sah hinauf zu den beiden Erwachsenen am oberen Ende der Treppe. Sie fühlte, wie ihr eine warme Flüssigkeit die Schläfe hinunter rann. Als sie das Blut auf den Fingern sah, schrie sie mit der ganzen Kraft ihrer wenigen Lebensjahre, und bitterliches Schluchzen schüttelte den kleinen, halb nackten Körper. »Mam…ma.«

Der Mann seufzte und fuhr sich mit der offenen Hand durch das spärliche Haar. »Scheiße… das ist nur ein Kratzer. Hau ab! Wenn nicht, mach ich, dass du ganz nach unten fliegst.« Er drehte sich um, stieß die Frau in die Wohnung und schlug die Tür hinter sich zu.

Das Mädchen stand auf und versuchte, das Schluchzen zu unterdrücken. Die roten Flecken auf der Unterhose ängstigten es, die blutbefleckten Hände umfassten das Geländer. Für einige Minuten bewegte es sich nicht, zog nur die Nase hoch und rieb sich Blut, Schleim und Tränen in den Arm.

Die Kleine sah nach oben und entdeckte niemanden mehr; auch unten war keine Menschenseele. »Mama.«, murmelte sie, während sie die unteren Stockwerke hinabstieg, eine Stufe nach der anderen, unbeholfen und taumelnd.

Vor der letzten Treppe hielt sie inne, schlang ihre Arme um ihren Körper und sah zur Glastür, um zu sehen, ob jemand kam. Sie hörte die Schreie der Kinder, die auf der Straße spielten, aber sie sah sie nicht. Die Eingangshalle war menschenleer, im August leerte sich das Gebäude. Vorsichtig stieg sie die letzten Stufen hinunter, das Ohr zur Eingangstür gerichtet. Dann wandte sie sich hastig nach rechts, streifte die an die Wand gelehnten Fahrräder und schlüpfte in die Rumpelkammer unter der Treppe.

Das Mädchen kauerte sich in eine Ecke zwischen Besen, Eimern und Scheuerlappen. Endlich fühlte es sich etwas geschützt. Die Kleine war müde, ihr war übel und kalt, aber die Tränen liefen nicht mehr. Sie berührte sich an der Schläfe, die ihr wehtat und dort war es sehr nass. Sie nahm einen Lappen aus dem Eimer und legte ihn über das Auge, so wie es die Mama dieses eine Mal gemacht hatte, als sie sich an der Tischkante gestoßen hatte. Sie stöhnte. Sie hörte jemanden beim Haupteingang hereinkommen und hielt den Atem an, bis sie hörte, wie sich die Tür im ersten Stock schloss.

Der Lichtschein, der bei der angelehnten Tür hereinkam, erhellte die weißen Schuhe mit den roten Spritzern. Die Kleine brach erneut in herzzerreißendes Schluchzen aus. »Mam…ma, komm… mich… ho…len.«, schluchzte sie mit gedämpfter Stimme, während sie sich fieberhaft mit dem Lappen, den sie in der Hand hatte, abrieb. Das Weiß der Schuhe verschwand unter einem Film aus Blut und Erde; sie legte die Arme um die Knie, stützte den Kopf darauf und unter Tränen murmelte sie: »Schmutzig…«.

In der Besenkammer zog sich der Lichtschein langsam zurück, die Schuhe standen im Halbschatten und das Mädchen drückte sich in die Ecke und schloss die Welt aus ihren Gedanken aus. Sie senkte die Lider bei der Erinnerung an einen glücklichen Moment, an die Geburtstagstorte… Mamas mit Creme bedeckter Finger, den sie ihr entgegenhielt.

Die Kleine aus dem siebten Stock hörte nicht, wie ein Fahrrad gegen ein anderes schlug, sie hörte auch die Schritte im Hausflur nicht oder das Rollen der Mülltonnen, die nach draußen gezogen wurden.

Die Zeit verging in den alten Mauern von Osten nach Westen. Die Stunden glitten über dem kleinen, zusammengekauerten Kind in der Besenkammer hinweg und behüteten seine Träume.

»Was machst du hier? Ich will nicht, dass ihr hier drinnen spielt.« Die wütende Stimme der Portiersfrau riss das Mädchen aus seiner Traumwelt.

Die Kleine stand auf. Sie sah, dass der Tag vergangen war. Stattdessen brannte das Licht im Foyer. Sie streckte die blutverschmierten Arme und Hände der unbeweglich auf der Schwelle stehenden Frau entgegen.

Die Portiersfrau rümpfte die Nase. »Weg mit diesen dreckigen Händen! Und sag diesem Säufer, er soll dich anziehen.«

Langsam senkte das Mädchen die Arme, ging mit herabhängendem Kopf an der Frau vorbei, näherte sich den Stufen und blickte durch das Treppenloch hinauf. Es atmete tief ein und stellte sich der ersten Treppe, dann der zweiten, ohne den Fuß auf den Stufen zu wechseln. Auf dem Treppenabsatz hielt es inne und als sich die Dunkelheit über die Treppe ausgebreitet hatte, schaltete sie das Licht wieder ein und nahm ihren Weg nach oben langsam wieder auf. Wie ein Roboter stieg sie eine Stufe nach der anderen hinauf, dabei stellte sie immer beide Füße auf jede Stufe einzeln und in jedem Halbstock wartete sie auf das Ausgehen des Lichts neben dem Lichtschalter mit Zeitschaltuhr.

Oben auf der vierzehnten Treppe steckte das Mädchen erneut den Kopf zwischen die Stäbe und schaute hinunter. Sie dachte, es wäre schön, fliegen zu können. Sie bewegte sich zurück und setzte sich neben das Geländer. Sie umklammerte einen Stab und hielt ihn fest. Sie wartete, dass das Licht ausging, dann hüstelte sie.

Die Tür öffnete sich, aber das Licht ging nicht an.

»Wo zum Teufel warst du bis jetzt?«, brüllte der Mann.

Die Kleine wagte es nicht, sich zu bewegen. Sie blieb zitternd mit dem Blick auf den untenliegenden Treppenabsatz gerichtet, sitzen, auf jenen mit Blut befleckten Treppenabsatz. Sie hörte, wie der Vater zurück in die Wohnung ging und wenig später zurückkam: Das Licht aus der geöffneten Wohnungstür warf den riesigen Schatten des schwankenden Ungeheuers mit erhobenem Messer an die Wand.

Entsetzt versuchte das Mädchen aufzustehen, aber eine Hand hielt es wie festgenagelt auf der Marmorstufe. Der Mann kniete sich knurrend hinter sie und packte sie an dem langen blonden Pferdeschwanz.

»Papa, ich bin brav«, weinte die Kleine, »ich mache es nicht mehr.«. Es gelang ihr nicht, den Inhalt ihrer Blase zurückzuhalten und sie entleerte sich in die blutbefleckte Unterhose und tröpfelte auf die darunterliegenden Stufen.

Der Geruch von Wein und Schmierfett hüllte das schluchzende Kind ein. Sie sah den Schatten der Klinge herabsinken und versuchte, sich zu befreien, aber es war nutzlos. Sie schrie »Mama!« und drückte fest die Augen zu, als der Mann mit dem Messer an den Nacken drang.

Das Licht im Treppenhaus schaltete sich ein. »Was ist los?«, fragte die Frau im Morgenmantel.

»Ich wollte kein Mädchen.«, antwortete der Mann mit dem gezückten, schmutzigen Messer, während er aufstand.

Das Mädchen öffnete wieder seinen Blick auf die Welt. Es atmete langsam ein und wimmerte kaum noch.

»Jetzt zieh dir eine Hose und ein T-Shirt an.«, befahl der Mann. »Und diese lächerlichen Schuhe, die schmeißt du weg.«

Die Kleine stand auf und drehte sich um. Auf dem Boden lag ein Schopf blonder Haare, der von einem rosafarbenen Band zusammengehalten wurde. Sie fasste sich an den leeren Nacken und trat mit von Tränen und Blut überströmtem Gesicht auf das Scheusal zu.

»Willkommen, Alex«, sagte der Vater.

1.

An diesem ersten Oktobertag trieb der Wind die toten Blätter in den Hof des alten Wohnhauses mit Gemeinschaftsbalkonen in Mailand. Eine athletische Gestalt in Lederjacke und enganliegenden Jeans ging durch das Tor hinein, das auf den stark frequentierten Gehweg führte und ließ den Türflügel leise ins Schloss fallen. Der unbeständige Lärm des Abendverkehrs und die Neonlichter blieben draußen.

Alex blinzelte beim Anblick des kleinen, auf drei Seiten freistehenden Gebäudes, das sich im Hof abhob. Das Weiß des winterlichen Gartens durchschnitt die Dunkelheit, und die von innen getünchten Glasfenster ließen weiches Licht hindurchscheinen. Eine verschwommene Form bewegte sich hinter den weißen Scheiben.

Die Sohlen des neuesten Nike-Modells gruben sich in das Kopfsteinpflaster und steuerten ohne Zögern in eine der Ecken, in der das Gebäude im Palladio-Stil auf das alte Mauerwerk traf. Jemand hatte versucht, ein Blumenbeet an dieser kalten und dunklen Stelle anzulegen, aber am Ende hatte die Finsternis gewonnen und die einzige vorhandene Vegetation waren die trockenen Blätter, die der Wind zusammengetragen hatte.

Alex zog die schwarze Mütze über die Stirn, spitzte die Ohren und hob den Blick zu den Fenstern der Wohnungen, die da und dort beleuchtet waren. In der Ecke blieb es dunkel. Dem großen, blinden Fenster auf der Suche nach einem bestimmten Punkt zugewandt, legte sich eine behandschuhte Hand auf das angeschlagene Fenster und eine hakenförmige Nase drückte sich auf das Glas, wo die Farbe nicht hinreichte.

Die Pupille des dunklen Auges zog sich stark zusammen, als sie von dem Licht des Ateliers für Cake Design in dem kleinen Bauwerk aus dem achtzehnten Jahrhundert getroffen wurde. Alex blinzelte ein paar Mal, und das milchige Licht, das die kleine Küche auf der anderen Seite des Glases durchflutete, störte nicht mehr. Die roten und grünen LEDs der Elektrogeräte leuchteten zwischen den Möbeln in Sahneweiß, Beige, Creme, Elfenbein und verschiedenen anderen Weißtönen auf.

Die Küche war ordentlich und menschenleer.

Alex löste sich vom Fenster, blickte sich um und ging weiter zur nächsten Glasscheibe. Die Hände stützten sich erneut auf ein Stück verkrustetes Holz und die Nase traf auf die Kühle der Scheibe. In dem dunklen Auge hoben sich eine Schichttorte und die in eine Kugel aus Fondant gegrabenen Hände einer Frau ab. Der rosafarbene Mund murmelte stumme Worte.

»Valentina…«, raunte Alex.

Die Lippen hielten inne. Die Hände schwebten für einige Sekunden in der Luft, dann kehrten sie zu der Zuckermasse zurück, um sie zu kneten. Um den Mund erschien eine Grimasse des Schmerzes.

Die Hand des schwarzen Schattens zog sich auf dem Fenster zusammen.

Ein Nudelholz rollte auf der Masse vor und zurück. Vor und zurück. Die steifen Finger lösten die Ränder der Masse und zogen sie nach oben, sodass sich einige Risse bildeten.

»Versuch’s nochmal…« Alex stützte die Handfläche auf dem Glas ab und zog sie dann zurück.

Die Hände der Cake Designerin zitterten leicht; eine massierte die andere an den Gelenken. Darunter lag die Masse in Fetzen.

Alex’ warmer Atem hinterließ einen Hauch Kondenswasser auf dem Glas. »Los…«

Im Inneren des weißen Häuschens sanken Valentinas Mundwinkel nach unten. Die Frau ließ den Fondant auf dem Tisch liegen und ging in die Küche.

Alex schlug den Kragen der Jacke hoch, rieb die Hände an den muskulösen Oberschenkeln und bewegte sich zum Küchenfenster. Erneut spähte das Auge durch das Glas: Eine weiße Schüssel wurde aus dem Kühlschrank genommen und auf die Marmorplatte gestellt. Ein Finger versank hinter dem Rand, kam voller weißer Creme heraus und verschwand zwischen Valentinas vollen Lippen.

Alex’ Herzschlag wurde schneller; Hitze stieg die Lenden entlang hoch bis in den Kopf. Der schwarze Körper presste sich gegen das große Fenster, die Wange klebte an dem Glas. »Ich weiß, dass du mich liebst.«, hauchte die Gestalt mit geschlossenen Augen. Das Becken bewegte sich in den Jeans hin und her; der metallene Knopf schrammte mit einem Quietschen an das Fenster.

Der Schatten löste sich schlagartig von dem Fenster. Er sah nach drinnen: Niemand hatte die dunkle Silhouette bemerkt, die sich an die weiß getünchte Scheibe drückte. Erneut bezog die Gestalt Stellung an dem Fenster hinter dem Arbeitstisch, der Wind hatte die beiden Striche aus Tränen in ihrem Gesicht bereits getrocknet. Ein Plastikspatel glättete die Creme auf der Torte.

Alex’ Zunge kam zwischen den spröden Lippen hervor und machte sich daran, das Glas zu liebkosen. Ein Tropfen Speichel floss aus dem Mundwinkel und glitt nach unten, gefolgt von einem weiteren und noch einem. Die Hand des Schattens streichelte die Scheibe und den weißen Zement des Gebäudes, dann sank sie nach unten, um sich am Schenkel abzutrocknen. Mit geschlossenen Augen und geöffnetem Mund lehnte sich der Schatten an den Marmorpfosten, keuchte und ließ sich gehen. »Valentina…«, kam ein Stöhnen über die Lippen.

Als die Augen sich wieder öffneten, war das Nudelholz dazu übergegangen, den Fondant auszurollen. Alex lehnte die Wange an und seufzte. Die Finger fest um das Holz geklammert, entfuhr dem Körper ein Schluchzen. »Mein Schatz.«, brachte er tonlos hervor. Durch einen Schleier aus Tränen starrte das Auge auf die Hände der Designerin und wurde, den Bewegungen folgend, müde. Die schemenhafte Gestalt rieb sich die steifen Muskeln unter dem Kragen der Lederjacke und die geröteten Wangen.

Die arthritischen Finger modellierten eine Rose, sie hielten sie hoch, gegen das Licht und die vollen Lippen zogen sich zusammen. Die Blume aus Zucker fiel auf den Tisch und die Finger fuhren durch Valentinas dichtes, mahagonifarbenes Haar. Die grünen Augen glänzten.

Alex löste sich von der Scheibe und zog sich die Mütze bis zu den Augenbrauen hinunter. Ein Miauen erhob sich aus der dunklen Ecke des vertrockneten Blumenbeets. Der Schatten stieß ein Zischen aus und ein Fellknäuel schoss aus der Dunkelheit, um die Flucht anzutreten.

Alex schlug mit der Faust auf zersplittertes Holz.

»Versuch’s nochmal, verdammt!«, knurrte die finstere Gestalt mit zusammengebissenen Zähnen.

Valentinas Augen blickten weit aufgerissen in die Richtung, aus der das dumpfe Geräusch draußen am Fenster kam. Nach einigen Sekunden rief sie mit hoher Stimme: »Colette… Mieze? Bist du das?«

Es kam Bewegung in das Atelier, die Hände verschwanden vom Tresen und man hörte das Türschloss klicken.

Alex rieb sich das gerötete und müde Auge und ging ein Fenster weiter, um zu sehen, wie eine getigerte Katze mit gestreiftem Fell auf dem Rücken und einer weißen Kehle von Valentinas Händen aufgenommen wurde.

»Colette, Schätzchen.« Die Katze rieb ihr Gesicht am Kinn der Besitzerin.

Plötzlich zitterten die Scheiben mit einem dumpfen Grollen unter einem Windstoß.

Alex lehnte sich an das Fenster und hatte erneut Sicht auf die Frau von hinten und auf ihre Hände, die Rosen, kleine Zyklamen und Gardenien mit klebrigen Fingern formten und verharrte noch ein bisschen, um ihr zuzusehen.

»Die Inspiration…«, murmelte der Schatten.

Alex schüttelte den Kopf, rieb sich energisch die Hakennase, ordnete eine Haarsträhne, die unter der Mütze hervorgekommen war und sah nach oben zu den langen Balkonen, denen dieser Typ Haus seinen Namen verdankte, wo der Wind im Slalom zwischen den Gitterstäben blies. Die Schattengestalt feixte, stieg bis zum Balkon im obersten Stock hinauf und sah nach unten, auf das Glasdach des Gewächshauses, das unter den Balkon des ersten Stockwerks hineinragte. Valentinas Schatten am Arbeitstisch ließ sich durch die dünne Farbschicht, die auf das Glasdach gesprüht worden war, erahnen.

Alex bewegte sich, entlang des Geländers tastend, über den Balkon. Als die dunkle Gestalt gefunden hatte, was er suchte, kehrte sie zurück über das weiße Häuschen, streckte die Arme aus und löste den Griff.

Sie sah durch das Loch im Glas: Drei Stockwerke weiter unten lag ein Blumentopf aus rotem Terracotta. Die Erde, die er enthalten hatte, war überall verteilt und auf dem beigefarbenen Boden blieben dunkle Zyklamen in einem Bett aus grünen Blättern mit weißen Sprenkeln liegen.

»Vale… schau mal!«

2.

Im Mailänder Bezirk Quarto Oggiaro füllte der Abendverkehr die Straßen, die direkt zwischen den Sozialbauten hindurchführten. Die Grünflächen zeigten bereits Herbstfarben und die ersten vertrockneten Blätter wirbelten über die Spritzen, die Drogenabhängige liegengelassen hatten.

In der Zweizimmerwohnung im dritten Stock eines Gebäudes, das vielen anderen glich, schaltete Alex den Computer und den Farbdrucker in einer Ecke der Küche an. Das letzte Tageslicht kam durch die schmutzigen Fensterscheiben herein. Das grüne LED-Lämpchen des Druckers ging an und Alex tippte einige Kommandos. Nach einem Blick auf die Uhr, entwich ein Seufzer und während das Gerät das Fotopapier aus dem Papierfach zog, wurde der Kühlschrank zwei Schritte weiter geöffnet. Der Griff führte zu einer Bierflasche in dem Sechserpack aus dem Sonderangebot, deren Kronkorken mit dem an der Wand befestigten Flaschenöffner aufgehebelt wurde.

Alex nahm einen Schluck, sah erneut auf die Uhr, massierte sich den Hals, und ging um den Tisch mit der Resopalplatte herum. Die leere Flasche wurde auf den Tisch gestellt und der Platz auf dem Bürohocker vor der Tastatur eingenommen. Es folgten ein Klick auf den Balken mit den Favoriten, »Therapie« genannt, und das Warten auf die Verbindung.

Im Browser erschien die Adresse www.animaterapia.it/chat/stanza.2.html/ und wenig später ein Icon und der Schriftzug »online«. Alex klickte auf das Icon auf dem Bildschirm und die Buchstaben des Alphabets folgten aufeinander: Chatroom 2 – Zuccala – Sitzung Nr. 6

# – Hallo Alex, wie ist es dir seit letztem Mittwoch ergangen? –

– Hallo Doc gut, y? –

– Untersteh dich, keine Abkürzungen, nur Emoticons. –

Alex hob den Mittelfinger zum Computer und tippte die Antwort:

– Sie liebt mich, das weiß ich ganz genau <3 –

– Hat sie dir das gesagt? –

– gestern haben wir durch die scheiben \o/ ich war hinter ihr und sie hat sich drinnen die finger voller creme abgeleckt und dann habe ich ihr blumen von oben geschickt –

– Ich verstehe nicht.–

Alex lächelte und tippte mit zwei Fingern. Der Daumen bediente die Leertaste.

– Du bist 1 seelenklempner 1 mentalist oder? rate –

– Sei ernst, die Therapie ist kein Spiel. –

– das entscheide ich was es ist so musst du auch 1 bisschen geduldig sein. –

– In Ordnung, möchtest du noch näher darauf eingehen? Versuch, Satzzeichen zu verwenden. –

– Ich war da draußen in der kälte es war ein eiskalter wind aber ich hatte nix anderes im kopf als sie meine vale die f mich die show gemacht hat sie hat mit meinem schatten gespielt sie wusste dass ich da war es gefiel ihr… ^-^ –

– Was ist der Schatten für dich? –

– Mein alterego 1 Ding das bei mir ist es ist in mir und arbeitet um alle zu versorgen –

– Wie ein anderes Selbst? –

– genau ich bin ich… aber ich bin auch der schatten…

– Fühlst du dich eher als der eine oder der andere? –

Alex’ Hand hielt in der Luft inne. Dann sank sie entschlossen auf die Tastatur.

– ich bin beides und auch noch mehr –

– Dein Schatten löst sich von dir? –

– :-? –

– Bewegt er sich von allein? –

– auf jd fall wie jack the ripper pass auf doc –

– Wer ist hier in der Therapie mit mir? –

– der schatten wusstest du das nicht? hahahaha –

– Wenn Alex der Schatten ist, wer ist das Ich? –

Alex lehnte sich an die Rückenlehne des Hockers auf Rollen, rieb sich die Nase und ging zum Fenster. Auf dem Bildschirm erschien weitere Schrift:

– Bist du noch da, Alex? Ich habe dich gefragt, wer das Ich ist. –